Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1874
Christus der Diener 3
Das Kommen des himmlischen Bräutigams . . 12
Wie kennen wir Christum? 16
Praktische Betrachtungen über die Psalmen . . 20
Betrachtungen über 4. Mose 14 .. . . 23
Gott ist es, der rechtfertigt 31
Kein Brot im Schiff 36
Der Herr Jesus in Johannes 11 und 12 . . . 40
„Er starb für mich" 42
„Gott ist für uns" 44
„Verschlungen ist der Tod in Sieg" ... . 61
Die Grundwahrheiten der Versammlung:
und der 'Verfall der Christenheit . . . 1119
Wir sind dem TJesetz gestorben . . * . . . 136
Unsere wahre Stellung 138
Unter Gnade 141
Die Verantwortlichkeit 146
Die Fußwaschung 155
Vergeben und vergessen 160
Das Abendmahl des Herrn 161
Gefahr und Rettung 172
Die Gefühllosigkeit der Sünde 175
Die Ruhe 178
Der König David und sein neuer Wagen . . . 181
Das fälschlich beruhigte Gewissen ... . 206
Der unausforschliche Reichtum Christi . . . 226
„Eins aber ist not"! 238
Bist du wiedergeboren? 241
Christus, der Diener
Die Erscheinung des Sohnes Gottes — des „ewigen Lebens, welches bei dem Vater war" — in der Welt hatte den Zweck, den Vater zu offenbaren und uns mit dem Sohne in
eine und dieselbe Gemeinschaft des Vaters einzuführen. Er, Der „bei Gott", und Der „Gott" war, erniedrigte Sich Selbst, indem Er Knechts gestalt annahm und bis zu uns hernieder
kam, um uns Seiner Natur teilhaftig zu machen. Sein Kommen geschah in einer unerwarteten Weise. Wohl hatte Johannes der Täufer Zeugnis von Seiner Hoheit gegeben; aber
daß Er, „der Abglanz der Herrlichkeit des Vaters, der Abdruck seines Wesens", in einer so demütigen Gestalt erscheinen würde, hatte niemand erwartet.
Die Beweggründe der Fleischwerdung Jesu waren außer dem Hauptzweck, den Vater zu verherrlichen und Sein Blut für unsere Sünden zu vergießen, verschiedener Natur. Zunächst kam Er als ein großer Prophet, um mit uns in einer uns vertrauten Sache von den großen Dingen zu reden, die im Herzen des Vaters verborgen lagen. Gott erweckte einen
Propheten, Der uns gleich war, um uns Seine Geheimnisse durch die Lippen eines Menschen zu offenbaren. Ferner kam Er, um, indem Er zur Offenbarung Gottes unter den Kindern
der Menschen umherwandelte, die Werke des Vaters zu tun.
Er war das lebendige Brot, das vom Himmel hernieder kam und „Fleisch ward", um nicht nur Sein Blut zur Vergebung der Sünden zu vergießen, sondern auch Sein eigenes Leben
mitzuteilen. „Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel hernieder gekommen ist; wenn jemand von diesem Brot isset, so wird er leben in Ewigkeit. Das Brot aber, das
ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt . . . Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, hat das ewige Leben . . . Wer mein Fleisch
ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mdr und ich in ihm" (Joh 6, 51. 54. 56).
Diese außergewöhnliche Person, die als Sohn Gottes, kommend vom Himmel aus dem Schöße des Vaters, unserem Glauben geoffenbart ist, zeugte stets von Sich Selbst, in keiner anderen Beziehung zur Erde zu stehen, als daß Er gekommen sei, um einer rebellischen Welt Segen und Frieden zu bringen. Oft versicherte Er, daß Er kein anderes Ziel verfolge, als den Vater zu verherrlichen, das „Opfer für die Sünde zu vollbringen", die Seinigen zu retten und als der
„Gesandte" die bis jetzt verborgenen Dinge zu offenbaren, während Er zu gleicher Zeit die Fähigkeit mitteilte, den Vater zu erkennen und zu verstehen. Er kam vom Himmel
um vom Himmel zu reden; denn „der von der Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde" (Joh 3. 31). Wir hören das geheimnisvolle Wort: „Ihr seid von dem, was unten ist, ich bin von dem, was oben ist" (Joh 8, 23). Er war und blieb stets „der Sohn des Menschen, der im Himmel ist" (Joh 3, 13); und als solcher offenbarte Er den Vater, Der im Himmel ist. Er redete nur von Sich Selbst, als dem „Gesandten" Gottes, dem Diener des Vaters. Er stellte die Botschaft, nie den Boten in den Vordergrund; alle Seine Gedanken waren auf Den gerichtet, Den zu offenbaren Er gekommen war. „Ich suche nicht meine Ehre; es ist einer, der sie sucht und der richtet" (Joh 8, 50). Nie sucht Er Sich Selbst.
Er war eins mit dem Vater, ehe die Welt war; Er war die Wonne des Vaters von Ewigkeit her; und Er kam in die Welt, um von dem, was von Anfang war, zu reden und die Geheimnisse des Vaters, die außer Ihm niemand kannte, zu offenbaren; aber nichtsdestoweniger war in Ihm nicht so
sehr der Bote, sondern die Botschaft der Gnade zu erkennen. Wie hätte der natürliche Mensch Ihn, den auf der Erde wandelnden geheimnisvollen Fremdling erkennen können!
Die Ihn Umgebenden fragten: „Ist dieser nicht der Sohn des
Zimmermanns"? Andere sagten: „Wir wissen nicht, woher er ist". Etliche aber waren durch den Geist Gottes befähigt worden, in Ihm den Gesandten Gottes —• „den eingeborenen
Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit" — zu erkennen; und „denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt,
4
noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem. Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind" (Joh 1, 12. 13). Das Auge, das Ihn zu erkennen vermochte, schaute die Herrlichkeit; das Ohr, das auf Ihn lauschte, hörte Worte vom Himmel; die Hände, die Ihn betasteten, berührten das ewige Leben. Der Sohn war erschienen, um das, was Er offenbarte, auch mitzuteilen. Man konnte Ihn sehen, hören und betasten.
Das ewige Leben war für die vorhanden, die dieses Wort des Lebens sahen, hörten und betasteten. Wenn das durch den Glauben geöffnete Auge des armen Sünders sich auf Ihn heftete, so empfing er das Licht vom Himmel — das Leben Dessen, Den er geschaut hatte; das hörende Ohr teilte dem Herzen das mit, was es gehört hatte; und wenn die Hand Ihn betastete, so ging Kraft von Ihm aus. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, daß uns, als den Sündern, die Dinge aus Gnaden geoffenbart worden sind, und daß das ewige Leben nicht eher mitgeteilt werden konnte, als bis die Schuld beseitigt war und wir eine vollkommene Gerechtigkeit besaßen. Bevor das Blut vergossen war, konnten die Jünger wenig von 'der Tragweite der Worte verstehen:
Glückselig aber eure Augen, daß sie sehen usw.". Und was sahen sie „Die Herrlichkeit eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit". — Und was sie sahen und hörten und mit ihren Händen betasteten, wurde ihnen gegeben — nämlich: das ewige Leben, das im Schoß des
Vaters war. Und Jesus, kommend vom Vater, hatte nichts zu tun mit der Welt, noch mit dem, was in der Welt war. Er war i n der Welt, aber nicht vo n der Welt. Hienieden für eine kurze Zeit und beauftragt mit einer Botschaft der Liebe, lebte Er getrennt von der Welt, von all ihren Grundsätzen und all ihren Gewohnheiten. Er mischt Sich nicht in ihre geräuschvollen Szenen, sondern Seine Gedanken waren stets bei dem Vater. Er war von oben; Sein Platz war in der Gegenwart des Vaters. Wie beachtenswert sind daher die auf die Seiragen sich beziehenden Worte: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin" (Joh 17)!
Er gibt ihnen nicht ein Gebot, daß sie sich anstrengen sollten, um wie Menschen vom Himmel zu sein, sondern Er sagt: „Sie sind nicht von der Welt"; sie sind von oben geboren; sie sind in der Tat himmlisch. „Was aus dem Fleische
geboren ist, ist Fleisch; und was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist" (Joh 3, 6). Der Mensch, dem der Odem des Himmels eingehaucht ist, ist ein himmlisches Wesen geworden. Der Herr Jesus sagte zu wiederholten Malen zu den Juden: „Ich bin von dem, was oben ist; ich bin nicht von der Welt; ihr wisset nicht, woher ich bin". Er wußte, woher Er kam und wohin Er ging, die anderen wußten es nicht.
Ebenso ist es mit den Gläubigen. „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Gottes Kinder heißen sollen! Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil ihn nicht erkannt hat. Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder, und es ist noch nicht geoffenbart worden, was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es geoffenbart worden ist, wir ihm gleich
sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist" (1. Joh 3, 1. 2). Wir besitzen wirklich das Leben aus Gott; wir sind von oben geboren, und dorthin geht unser Weg, obgleich
andere es nicht wissen. Ist das nicht die Bedeutung der Stelle: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht;
also ist jeder, der aus dem Geiste geboren ist" (Joh 3, 8).
Wir sind von oben; wir sind sowenig von der Welt, wie Christus von der Welt war. Würde man einen Gläubigen fragen, woher er sei, so müßte seine Antwort in der Sprache
Christi sein: „Ich bin von dem, was oben ist". Das, was von Christo wahr ist, ist ebenso wahr von denen, die Ihm angehören, obwohl andere nicht zu beurteilen wissen, woher sie
kommen, noch wohin sie gehen. Das ist nicht eine bloße edensart, das ist Wahrheit •— nicht ein Schatten, sondern Wirklichkeit. Wir sind nicht bloß veränderte oder verbesserte
Wesen mit besseren Gedanken, besseren Gefühlen; nein, weit mehr als dieses. Wir sind aus Gott geboren, Söhne und Töchter des Herrn, des Allmächtigen (2. Kor 6, 18). Wir besitzen in Wahrheit das Leben, das im Anfang im Schöße des Vaters war. Wir haben einen himmlischen Ursprung und müssen uns daran erinnern, so oft wir mit dieser Welt zu tun haben, in deren Mitte wir uns befinden.
Was sagt Jesus in Joh 17? „Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt" (V. 18). Von wo kam Jesus in die Welt? Kam Er von Nazareth?
Nein; Er kam von oben — vom Himmel — aus dem Schöße des Vaters. Von dort, woher Er Selbst kam, sind auch wir gesandt; wir sind nicht von der Welt, gleichwie Er nicht von
der Welt war. Wir sind aus Gott geboren; und der Dienst, für den wir gesandt sind, ist der Dienst Christi. Geliebte! Wir haben hienieden nur eine kurze Zeit in Liebe und Selbstverleugnung zu dienen, und zwar in der Erwartung, daß der Herr komme, um uns zu Sich zu nehmen, damit wir
für immer bei Ihm sind.
Im Hebräerbrief wird Melchisedek wie jemand bezeichnet, der unerwartet erschien, ohne daß man wußte, woher er kam, und der sich wieder so plötzlich zurückzog, ohne daß man wußte, wohin er ging. Diese geheimnisvolle Person kam zu Abraham, der erschöpft aus dem Kampf zurückkehrte mit Brot und Wein, und verschwand den Blicken wieder, nachdem er Abraham gesegnet hatte. Ebenso kam Christus, „weder Anfang der Tage, noch Ende des Lebens habend" (Hebr 7, 3).
„Er ward Fleisch"; aber Er blieb immer das ewige Wort, der eingeborene Sohn Gottes. Niemand kannte Ihn, mit Ausnahme der Gläubigen, deren Vorbild Abraham ist, der, indem er den Zehnten gab, dem Priestertum und dem Königtum huldigte.
Wir haben als einen Gegenstand für unser Herz jemanden
nötig, der vollkommen den Vater kennt, der alle Seine Gedanken und Gefühle versteht, und der zu gleicher Zeit fähig
ist, mit uns zu sympathisieren. Denkt euch einen Menschen,
von Gott kommend, aus dem Heiligtum, Seiner verborgenen
Wohnung — eins mit Gott, und der zugleich wie Aaron aus
der Mitte des Elends Seines Volkes hervortritt — eins mit
dem Menschen; und ihr habt das Priestertum des Herrn Jesu, „Priester geworden ewiglich nach der Ordnung Melchisedeks". — Welch ein Vorrecht, eins zu sein mit dieser göttlichen Person, mit diesem menschlichen Wesen, mit dem
hochgepriesenen Sohne Gottes! Wer sind wir? — Solche, wie
Er Selbst war — „nicht von dieser Welt".
7
Es ist sicher wahr, daß wir mit den Gedanken und Überlegungen des Herzens geendigt haben müssen, bevor wir
diese Herrlichkeit gründlich erkennen können; aber wie tief
wir auch unser Elend fühlen mögen, so wird doch die Kraft
der Wahrheit, daß wir aus Gott geboren und eins mit Christo sind, unsere Seelen erfüllen und die Frage in uns hervorrufen: „Was haben wir zu tun und was ist das Ziel
unserer Wirksamkeit hienieden"? Der sittliche Mensch verfolgt seinen Weg in ehrbarer Weise; aber hat denn der
Christ, als ein himmlischer Mensch, nichts weiter zu tun, als
sittlicher zu sein, als er es früher war? Hat er in seinem
Betragen nichts weiter zu zeigen, als ein höheres Maß von
Sittsamkeit, wie ehedem? In der Tat, von dem Augenblick
an, wo wir wissen, daß wir oben — aus Gott — geboren
sind, muß auch das Bewußtsein bei uns erwachen, daß wir
von Natur, von Geburt, selbst höher als die Engel gestellt
sind; denn obwohl sie als Diener vor dem Herrn stehen,
sind sie doch nicht gleich uns Kinder, Söhne und Töchter des
Allmächtigen. Wir müssen also wissen, wie wir als Kinder
Gottes in einer dieser Stellung angemessenen Weise wandeln
können und uns die Frage vorlegen: „Warum sind wir, obwohl wir nicht von der Welt sind, dennoch in der Welt
zurückgelassen"? „Gleichwie Du mich in die Welt gesandt
hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt". — Welches
sind die Gefühle, die Gedanken, die Beweggründe, die Bedürfnisse, welches ist die Tätigkeit eines Menschen, der aus
Gott geboren ist? O Geliebte, möchten sich doch die Worte:
„Gesandt in die Welt" •— tief in unsere Herzen einprägen!
sie drücken klar aus, daß wir vorher von der Welt ausgegangen sind. Wir sind Menschen, die, obwohl sie hienieden
gelassen sind, dennoch ihren Platz im Himmel haben, und
zwar nicht nur in bezug auf unsere Neigungen, sondern
auch bezüglich unserer Natur, die von oben ist. Wir sind aus
Gott geboren und besitzen das Leben Dessen, Der im Schoß
des Vaters ist, geoffenbart auf der Erde als der „Sohn des
Menschen", Der, obwohl Er Fleisch und Blut angenommen
hatte, „im Himmel ist".
Sicher werden wir in dem Grade, wie sich dieses Leben
in uns verwirklicht, auch dieselben Gedanken, Gefühle und
8
Beweggründe haben, die wir in Christo erblicken. Seine
Wünsche, Seine Genüsse, Seine Neigungen werden die Bedürfnisse der neuen Natur sein. Dieses Leben kann sich in
uns nur dem Muster gemäß offenbaren, das Jesus, Der
alles für uns ist, zurückgelassen hat. Wir sehen Ihn, wie Er
Sich umgürtet, um den Jüngern die Füße zu waschen, und
wie Er, indem Er den in seiner Unwissenheit sich weigernden
Petrus belehrt, Seine Liebesarbeit bis ans Ende fortsetzt.
— Nun sind wir berufen, Seinen Platz einzunehmen. Wir
sind Schuldner Christi; wir schulden Ihm unseren Dienst.
Nur Seine Gnade kann uns zu diesem Dienst befähigen;
Seine Liebe kann sich so reichlich in unsere Herzen ergießen,
daß der Geist uns treiben wird, diejenigen, die uns umgeben,
zu bedienen und ihnen die Füße zu waschen. Es ist möglich,
daß man zu uns sagt: „Du sollst nicht meine Füße waschen".
Aber ließ Sich der Herr Jesus dadurch zurückhalten? Wenn
Christus als Diener, unser Diener, in uns ist, dann ist es
unser Bedürfnis zu dienen. Wie könnten wir auf den Herrn,
Der in unendlicher Gnade Sich umgürtet, um uns die Füße
zu waschen, unser Auge richten, ohne angetrieben zu werden, uns gleichfalls zu umgürten und zu tun, wie Er getan
hat? Wie könnten wir uns in der Gegenwart des Sohnes
Gottes befinden, Der Sich erniedrigt und Sich vor unseren
Augen bückt, ohne daß wir uns ebenfalls tief erniedrigen?
Wie könnten wir Ihn anschauen und dabei müßig und
gleichgültig bleiben! Ja, in der Tat, wir sind für dieses alles
Seine Schuldner. Lasset uns Ihn lieben, Seine Wünsche erfüllen und uns beeifern das zu tun, was Er getan hat! Von
Seiner Berührung, wenn Er unsere Füße wäscht, geht eine
Kraft aus; und unsere Herzen werden in der Ausübung dieser Gnade und Liebe Seinem Bilde gleichförmig gemacht.
Seine Gnade wirkt in uns das, was in Ihm ist; sie macht
uns zu Dienern und erfüllt uns mit dem, wovon das Herz
Christi erfüllt ist.
Das Leben Gottes in der Seele ist Liebe. Wenn die Liebe
Gottes in das Herz ausgegossen ist, zerstört sie die scheußliche Selbstsucht und die hassenswürdigen Leidenschaften,
die sich darin befinden, und dringt es, sich zu beschäftigen
mit denen, die der Vater Jesum gegeben hat — mit Seinen
9
Schafen und Seinen Lämmern. Wir sind der göttlichen Natur teilhaftig geworden, um nicht nur wegen des daran geknüpften Segens glücklich, sondern auch fähig zu sein, andere glücklich gemacht zu sehen. Denn die Liebe •— diese göttliche Liebe — liebte, als es noch nichts liebenswürdiges in
dem Gegenstand ihrer Zuneigung gab. O möchten wir doch
die Diener anderer sein, wenn sie unseren Dienst wollen;
und möchte unsere Liebe sie auch dann, wenn sie unseren
Dienst nicht wünschen, noch verfolgen! Die Kirche auf der
Erde ist mit Finsternis vermischt; und inmitten des Verderbnisses leuchten die Heiligen wie Silberfünkchen im Staube.
Es steht geschrieben: „Liebet nacht die Welt, noch was in
der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe
des Vaters nicht in ihm" (1. Joh 2, 15). Was haben wir nun
zu tun? Die Heiligen aus der Welt zu sammeln. Der Herr
Jesus zeigt uns Selbst in Luk 15, wie Er dem verlorenen
Schafe nachgeht; und ebenso in Matth 18, 12. 13, wie Er
das Verlorene sucht und sammelt. Unser Dienst kann verschiedener Art sein; aber die Tätigkeit der Liebe erschlafft
nie. Wo es irgendein venirrtes Kind Gottes gibt, da wird
sich die Energie des „ewigen Lebens" — die Liebe — mit
ihm beschäftigen, um ihm die Füße zu waschen. Und selbst
wenn man unseren Dienst abweist, werden wir nicht entmutigt werden. Gibt es Heilige, die sich in einem schlechten
Zustand befinden, so laßt uns mit Ausharren und unter
Gebet über sie wachen. Sicher gibt es eine Verschiedenheit
des Charakters zwischen dem Dienste des Herrn Jesu und
dem unsnigen; dennoch muß Sein Wunsch der unsrige sein,
„die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu sammeln". Wo
sich auch irgendein Kind Gottes befinden mag, und wie
groß auch die Vorteile sein mögen, die es verblenden —
die Energie des ewigen Lebens sollte es erreichen. Das Herz
Christi — Seine liebe — umfaßt alle Heiligen. Er trägt sie
alle vor Seinem Vater auf Seinem Herzen, wo sie wie Edelsteine als solche glänzen, die zuvor zu Erben der Herrlichkeit bestimmt sind.
Wir haben nichts mit den Umständen zu tun. Christus
ist stärker als der, der in der Welt ist; und das ewige Leben
kann durchs nichts gehemmt werden. Laßt uns nicht in ei10
nem Sektengeiste, sondern als Diener aller Heiligen unseren
Weg fortsetzen. Die Liebe umfaßt alle, die Christo angehören, mögen sie fern oder nah sein — sie sind alle Schafe,
tue der Weide bedürfen. Dieser Liebesdienst wird aber nicht
nur von solchen erwartet, die eine besondere Gabe empfangen haben. Wenn wir etwas von der Liebe, 'die Ohristtun zu
uns herabsandte, verstanden haben, so wird alles, was von
dieser Liebe in unseren Herzen ist, diesen Dienst ausüben.
Unsere Selbstsucht und unsere Gleichgültigkeit werden durch
den Gedanken an die Liebe Christi überwunden. Es wird uns
vielleicht Geringschätzung oder gar ein harter Empfang zuteil; aber wenn auch! — die Liebe Christi wandte sich an
völlig Undankbare und Unwürdige. Auf welche Weise handelt diese unter den Menschen geoffenbarte „Liebe des
Christus? Wie wird die Macht angewandt? Welches ist ihr
Weg? Ist ihr Weg ein leichter, und schreckt sie zurück vor
Geringschätzigkeit und Kälte? O nein; die Liebe Christi
sucht die undankbaren Kinder Gottes, um sie zu bewahren
und ihnen die Füße zu waschen. Laßt uns nicht Ruhe suchen,
noch der Ruhe pflegen. Erinnern wir uns daran, daß Christus
umgürtet ist, und daß Er zu einem jeglichen von uns sagt:
„Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu
waschen" (Joh 13, 14).
Ich rede nicht davon, wie weit wir es bringen können.
Aber, erwarten wir nicht den Herrn? Wünschen wir nicht in
Ihm erfunden zu werden, umgürtet an den Lenden, um Seinen Jüngern die Füße zu waschen? Die Liebe ist gleich einem
ins Wasser geworfenen Stein, der immer größer und größer
werdende Wellenkreise bildet. — Derselbe Grundsatz, der
zwei Herzen eng zusammen verbindet, muß alle umfassen.
O möchte doch der Herr uns verstehen lassen, welches unser
Platz ist, damit wir mit dem Apostel sagen können: „Der
Tod ist wirksam in uns, das Leben aber in euch" (2. Kor
4, 12)! Möchte es doch in Wirklichkeit unser Wunsch sein,
daß die Liebe Christi in dem Maße unser Herz erfülle, daß
nicht ein einziger selbstsüchtiger Gedanke darin zurückbleibe! Ja, möge der Herr uns die Gnade verleihen, uns ganz und gar selbst zu vergessen!
Das Kommen des himmlischen Bräutigams 1. Thessalonicher 4, 13-18.
Welch eine herrliche Offenbarung bezüglich der Wiederkunft Jesu liefert uns der oben bezeichnete Abschnitt des
Thessalonicher-Brief es! Die Traurigkeit der Thessalonicher
über ihre entschlafenen Brüder war die Veranlassung für die
Mitteilung dieser Offenbarung. Weder sie noch die Korinther
hatten bis zu dieser Zeit die Offenbarung bezüglich der
Aufnahme der Versammlung empfangen. In 1. Kor 15 sagt
Paulus: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis". Bis zu diesem
Augenblick war die Aufnahme der Versammlung für sie ein
Geheimnis geblieben. Hier zu den Thessalonichern sagt der
Apostel: „Dieses sagen wir euch im Worte des Herrn". Zwar
glaubte man in beiden Versammlungen an die Ankunft Christi, und die Thessalonicher sehnten sich mit großem Verlangen nach ihr; aber weder die näheren Umstände dieser
Ankunft, noch der Unterschied zwischen dem Kommen Jesu
in die Luft für die Versammlung, und Seinem Kommen auf
die Erde zur Aufrichtung Seines Königreichs waren ihnen
geoffenbart. Diese Offenbarungen empfingen sie erst jetzt.
Wie gesagt, die Gläubigen zu Thessalonich waren über die
Brüder betrübt, die entschlafen waren, weil man meinte, daß
sie bei der so sehr ersehnten Ankunft des Herrn nicht gegenwärtig sein würden. Sie hingen an den Entschlafenen mit
solcher Liebe und schätzten die Ankunft des Herrn so hoch,
daß der Gedanke, jene bei der Erscheinung Jesu nicht in ihrer
Mitte zu sehen, ihnen fast unerträglich war. Dieses liefert
den klarsten Beweis, daß sie noch nichts von der Aufnahme
der Versammlung wußten; denn hätten sie sie gekannt, so
würden sie nicht traurig gewesen sein. Wir können unmöglich um dieser Ursache willen über die Entschlafenen traurig
sein, da wir wissen, daß sie, ebenso wie wir, dem Herrn
entgegengerückt werden in die Luft.
Der Apostel ist nun bemüht, die trauernden Thessalonicher zu trösten. Zunächst sagt er ihnen, daß es mit den Entschlafenen ebenso gehen werde, wie es mit dem Herrn Jesu
12
selbst gegangen sei. „Wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird Gott auch die, die entschlafen sind, mit ihm bringen". Der Herr Jesu ist gestorben und auferstanden, und Er kommt wieder. Denselben
Verlauf wird es mit den Entschlafenen nehmen; sie sind
gestorben, und sie werden auferstehen und mit Jesu wiederkommen. Welch ein Trost war dies für die Thessalonicher!
Die Entschlafenen Brüder sollten, ebenso wie sie, der herrlichen Erscheinung Jesu in der Luft beiwohnen. „Seid nicht
betrübt", sagt der Apostel, „die Brüder sind zwar gestorben;
aber sie werden auferstehen. Denkt nur an den Herrn Jesus
Selbst, Der auch gestorben und auferstanden ist, und seid
versichert, daß, wenn er wiederkommt, Gott auch die Entschlafenen mit Ihm zurückkehren lassen wird". — Wie erfreut werden diese Gläubigen gewesen sein, als sie diese
Zeilen lasen! Ihre teilnehmende Liebe war betrübt gewesen,
weil nach ihrer Meinung die Entschlafenen einer großen
Freude beraubt waren; aber jetzt wurde ihr Herz wieder erquickt und erfreut.
Jedoch geht der Apostel noch einen Schritt weiter. Er sagt
nicht nur, daß die Entschlafenen bei der Ankunft des Herrn
auf Erden erscheinen werden, sondern er teilt ihnen auch mit,
daß sie mit den übriggebliebenen Lebenden zugleich dem
Herrn in die Luft entgegengerückt werden sollen. Dies mußte
vor allem zuerst geschehen. Denn um mit dem Herrn bei
Seiner Ankunft auf Erden erscheinen zu können, müssen
wir vorher bei dem Herrn sein. Und wie kommen wir zum
Herrn? Dieses beantwortet der Apostel dadurch, daß er ihnen eine direkte Offenbarung mitteilt, indem er sagt: „Denn
dieses sagen wir euch im Worte des Herrn, daß wir, die
Lebenden, die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, den
Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden" (V. 15). Es
gibt also Gläubige, die auf der Erde leben bleiben bis der
Herr kommt. Ja, der Apostel sagt sogar in 1. Kor 15 ausdrücklich: „Wir werden nicht alle entschlafen". Keineswegs
werden daher alle Gläubige sterben; o nein, es werden
Gläubige übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn. Diese
werden nicht sterben, sondern in einem Augenblick, in einem
Nu verwandelt werden. Die Gläubigen nun, die bis zur An13
kunft des Herrn übrig bleiben, werden nicht für sich allein
und auch nicht früher, als die in Jesu Entschlafenen, dem
Herrn entgegengehen. Sie werden denen nicht zuvor kommen, die entschlafen sind. Sie werden zusammen und in
demselben Augenblick den Herrn seihen und Ihm begegnen.
Und wie wird dieses geschehen? Der Apostel offenbart
uns dieses Geheimnis. Der Herr wird vom Himmel herniederkommen. Der geliebte Bräutigam kommt Selbst, um Seine Braut abzuholen und in das Haus des Vaters zu führen.
Er sendet keine Engel, um uns abzuholen, und auch keinen
feurigen Wagen mit feurigen Pferden, wie dieses bei Elia
der Fall war, o nein — Er kommt Selbst. Sobald der vom
Vater bestimmte Augenblick da ist, sobald Er der Versammlung das letzte Glied beigefügt hat, verläßt Er Selbst den
Thron des Vaters, um Seine Braut zu Sich zu nehmen. Wde
unaussprechlich groß ist Seine Liebe gegen uns! Und wo erscheint Er? Nicht auf der Erde, sondern in der Luft. Erst
dann, wenn Er erscheint, um Sein Reich aufzurichten, wird
Er auf die Erde kommen. Aber wenn Er kommt, um Seine
Braut abzuholen, dann steigt Er hernieder vom Himmel und
bleibt in der Luft, wo wir Ihm entgegengerückt werden. Und
in welcher Weise kommt Er? Er kommt „mit gebietendem
Zuruf, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune
Gottes". Die in Christo entschlafen sind, werden auferweckt
werden. Die Stimme des Sohnes des Menschen wird sie aus
ihren Gräbern hervorrufen. Es ist der vollkommene Triumpf
über den Tod. Dann ist der Tod verschlungen in den Sieg.
Die Posaune Gottes wird das Signal sein. In einem Augenblick, in einem Nu werden die Tausende und aber Tausende
der Gläubigen in neuen, verherrlichten Leibern ihre Gräber
verlassen; und in demselben Augenblick werden auch die
noch übrig gebliebenen Lebenden verwandelt werden (1. Kor
15). Ihre sterblichen und verderblichen Leiber werden plötzlich in unsterbliche und unvererbliche Leiber umgewandelt
sein. Dann ist die ganze Versammlung zusammen; dann ist
die Braut nicht nur gerettet, sondern auch, selbst in betreff
des Leibes, Jesu gleichförmig. Denn Er wird „unseren Leib
der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit mit Seinem
Leibe der Herrlichkeit" (Phil 3, 21). Und dann werden die
14
auferweckten Entschlafenen zugleich mit den verwandelten
Lebenden „in Wolken dem Herrn entgegengerückt werden
in die Luft, und also werden sie allezeit bei dem Herrn sedn".
Wie herrlich wird dieses sein! Welch eine Freude, Jesum
' zu sehen von Angesicht zu Angesicht und Ihm gleich zu
sein! Welch eine Freude, dort mit allen Erlösten bei Ihm zu
sein! Keiner von ihnen wird fehlen. Die Entschlafenen sind
auf erweckt, die übrig gebliebenen Lebenden verwandelt;
alle sind beieinander und Jesu gleich. Und in Wolken gehüllt, damit die Welt nicht ihre Aufnahme sehe, verlassen
sie diese Erde und eilen mit der Stimme des Jubels dem
Herrn entgegen, um bis in alle Ewigkeit in Seiner Gemeinschaft, in Seiner unmittelbaren Nähe zu bleiben und Ihn zu
umringen. Wie wird das Herz der Thessalonicher voll seliger
Freude geklopft haben, als sie diese Worte lasen, wie wird
ihr Antlitz in himmlischem Entzücken gestrahlt haben! Fortan hatten sie nicht mehr nötig, über die entschlafenen Brüder zu trauern; ihr Herz war völlig zur Ruhe gebracht. „So
ermuntert nun einander mit diesen Worten" (V. 18).
Sind jene Worte nicht auch eine Ermunterung für uns?
Ja, wirklich, die Predigt von der Wiederkunft Jesu ist ein
wahrer Trost für das müde Herz eines Pilgers. „Siehe, ich
komme bald"! ruft der Bräutigam uns zu. „Amen, ja komm,
Herr Jesu"! antwortet die Braut. Ein Glück ist es, wenn wir
in diesen Ruf miteinstimmen. Lange genug hat die Kirche
diese glückselige Hoffnung und Erwartung aus dem Auge
verloren. Haben wir sie kennengelernt, nun dann laßt uns
auch mit Freude rufen: „Komm"! O möchten auch wir uns
diese Worte zum Trost dienen lassen! Möchten auch wir
uns einander zurufen: „Der Herr kommt bald"! Was kann
ein Herz mehr erfrischen und beleben, als der Glaube an
diese selige Ankunft? Was ist mehr geeignet, uns von der
Welt loszumachen? Was vermag uns bei allen Leiden und
Mühsalen dieser Erde mehr zu trösten? Ja, mit diesen Worten verscheucht man die Sorgen und die Traurigkeit, man
lindert die Schmerzen und die Leiden, man belebt den Mut
und das Vertrauen. Rufen wir uns daher beständig die
Worte zu: „Der Herr Jesus kommt; ja, Er kommt bald"!
Und der Herr wolle geben, daß unser Herz jedesmal, bei
15
jeder Erinnerung daran mit brünstigem Verlangen sagen
möchte: „Amen, komm, Herr Jesu"! —
Wie kennen wir Christum?
In 2. Kor 5, 16 haben wir eine klare Bezeichnung der Art
und Weise, in der wir jetzt Christum kennen; denn wir lesen: „So denn kennen wir von nun an niemanden nach dem
Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische
gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr
also". Seit Christus gen Himmel gefahren ist, kann Er nicht
mehr als ein Mensch im Fleische, als ein lebender Messias
gekannt haben,, so 'kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr
in einer weit wundervolleren Weise, als früher. Sein Tod
war der Schluß der Geschichte des Menschen »in Verantwortlichkeit; aber auferstanden aus den Toten ist Er sowohl das
Haupt der neuen Schöpfung, als auch das Haupt Seines
Leibes, der Kirche.
In diesem Verhältnis kennen wir Ihn jetzt. Christus, das
Haupt, ist in der Herrlichkeit, nicht gesehen und nicht gekannt von dem Menschen im Fleische. Wir, die Glieder Seines Leibes, sind auf der Erde, und der vom Himmel gesandte Heilige Geist vereinigt uns mit dem Haupte in der
Herrlichkeit, indem Er uns diese unsere Verwandtschaft zum
Bewußtsein bringt. Wie wunderbar ist unser Platz; aber wie
schwach erkennen wir ihn!
Christum nach dem Fleische zu kennen, bezeichnet eine
jüdische Stellung. Thomas liefert uns dafür eine Erklärung:
„Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du
geglaubt. Glückselig, die nicht gesehen und geglaubt haben"
(Joh 20, 29). Die glückseligere Art, Christum zu kennen,
finden wir in den Worten ausgedrückt: „Welchen ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen, liebet, an den glaubend, obgleich
ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlocket" (1. Ptr 1, 8). — Es ist höchst
interessant zu beobachten, wie der Herr Seine Jünger auf
diesen Wechsel vorbereitet. In Joh 14 teilt Er ihnen mit, daß
Er im Begriff stehe, sie zu verlassen. Sie kannten in Ihm nur
16
den Messias auf de r Erde ; und alle ihre Hoffnungen
überschritten diese Grenze nicht. Sein Tod durchkreuzte diese
Hoffnungen ganz und gar; und ein Verlust der Hoffnungen
hätte den Gedanken in ihnen wachrufen können, daß alles
Irrtum und Täuschung gewesen sei. Doch der Herr Jesus
sagt: „Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubet an Gott,
glaubet auch a n mich" . Dann teilt Er ihnen mit, daß als
die Folge Seines Hingangs der Sachwalter kommen werde.
Daß Seine Jünger wenig von diesem verstanden, ist augenscheinlich; nichtdesroweniger stellte Er sie moralisch in die
Stellung, die sie nachher einnehmen würden. Während in
der Welt sich ihre Hoffnungen an einen abwesende n
Christus knüpften, sollte der herniedergesandte Sachwalter
in ihnen wohnen und für immer bei ihnen bleiben. Im Blick
hierauf sagt Er, nachdem Er auferstanden war, zu Maria:
„Rühre mich nicht an"! Welch eine unbegreifliche Veränderung — könnte man sagen — bei Ihm, Der sonst nie ein
treues Herz von Sich abwies! Allein wir sehen Ihn hier bemüht, die Seele des weinenden Weibes von der Wahrheit zu
überzeugen, daß sie Ihn nicht mehr, wie sie es früher getan
hatte, nach dem Fleisch kennen sollte.
Es ist sehr rührend zu sehen, daß, selbst nachdem Er von
den Toten auferstanden war, Seine Jünger sich stets an Ihn,
als einen irdischen Befreier klammerten und ihre Gedanken
die Grenzen dieser irdischen Stellung nicht zu überschreiten
vermochten. So hören wir die nach Emmaus wandelnden
beiden Jünger über ihre getäuschten Hoffnungen reden, indem sie sagen: „Wir aber hofften, daß er der sei, der Israel
erlösen sollte" (Luk 24, 21). Und beim letzten Zusammentreffen sagen die Jünger zum Herrn: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich dem Israel wieder her"? —
Aber es gab etwas weit Höheres und Vortrefflicheres, als
dieses; sie sollten die Zeugen eines abwesende n Christus sein, den die Welt verworfen hatte. Sie betraten den
Weg zum Himmel und sollten Ihn nicht mehr nach dem
Fleische kennen. Der Heilige Geist war auf die Erde gesandt,
um in ihnen zu wohnen, um ihnen die Kraft zum Zeugnis
mitzuteilen und, wie wir es anderswo finden, sie mit dem
Herrn in Herrlichkeit zu vereinigen und Ihn zu offenbaren.
17
Dies konnte nie der Fall sein, solange Er auf der Erde war.
Sowohl in Seinem Leben als auch in Seinem Tode war Er
durchaus allein; aber nachdem Er auferstanden und zur Höhe
gefahren ist, sind wir durch die Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes mit Ihm vereinigt. Darum sagt
Jesus: „Es ist eudi nützlich , daß ich weggehe; denn
wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch
kommen" (Joh 16, 7). Ja, es war ihnen nützlich, weil sie,
einsgemacht mit Ihm Selbst, Ihn in einer weit innigeren
Beziehung kennen sollten.
Verweilen wir einen Augenblick bei der praktischen Wirkung dieser Sache. In Petrus finden wir eine Erläuterung.
Das Auge auf Jesum geheftet, vermochte er die wilden, tobenden Wellen des Sees zu überschreiten. Auch Stephanus
„blickt unverwandt gen Himmel", sieht dort Jesum und gedenkt, sein eigenes Leid vergessend, seiner Feinde mit den
Worten: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu"! Welch
eine herrliche Offenbarung des Geistes Christi! Die Art und
Weise dieser Gleichförmigkeit findet einen Ausdruck in den
Worten: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die
Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach
demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch
den Herrn, den Geist" (2. Kor 3, 18). Wir sehen also in der
Erkenntnis Christi in Herrlichkeit eine umwandelnde Kraft ,
die uns nicht beim Anschauen Seines niedrigen Pfades auf
Erden, sondern beim Anschauen dessen, was Er jetzt ist,
zuteil wird.
Es ist unser gesegnetes Vorrecht, Ihn zu kennen, wie Er
ist. Unsere Bekanntschaft knüpft sich nicht an Seine frühere
Stellung, wir kennen Ihn als unseren verherrlichten Herrn
im Himmel, so wie man einen Freund nicht in seiner früheren, sondern in seiner jetzigen Stellung kennt. Welch eine
bewundernswürdige Sache ist diese vertrauliche Bekanntschaft mit dem Herrn! Wie gering unsere Kenntnis in dieser
Beziehung auch sein mag, so ist sie doch das Geheimnis aller Kraft. Wie klar schauen wir diese Wirkung in dem Apostel Paulus, wenn er sagt: „Ja, wahrlich, ich achte auch alles
für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Ghristi Jesu, meines Herrn"; und als ob er erst jetzt recht be18
gönnen wollte, die Tiefen in Ihm zu erforschen, fährt er fort:
„Um ihn zu kennen . . ." (Phil 3, 8. 10).
Ach! wenn wir Ihn nur ein wenig mehr kannten, wie würde dann die Welt ihre Reize für uns verlieren, wie bereitwillig würden wir dann das Ich und das Fleisch verleugnen,
und mit welcher Kraft würden wir dann Trübsale und
Schwierigkeiten verleugnen! Mit einem Wort, je tiefer unsere Erkenntnis in Christo ist, desto mehr Kraft zur Anbetung, zum Dienst und zum Wandel würde sein. Haben wir
nicht über Mängel und Gebrechen und über Geistesdürre zu
klagen? Was ist die Ursache? Wir sind nicht genug mit
Christum in der Höhe beschäftigt. Klagen wir nicht oft darüber, daß unser Herz so wenig zu Lob und Anbetung gestimmt ist? Die Ursache ist, weil Christus unsere Herzen
so wenig anzieht; denn gerade in dem Maße, wie wir Ihn
kennen, wird das Herz an Ihn mit Freude denken, als wäre
Er persönlich in unserer Mitte. Unsere Erinnerung an Ihn
in den Tagen Seines Leidens und Sterbens wird, wenn wir
in Seinem Namen versammelt sind und die Zeichen Seines
gebrochenen Leibes und Seines vergossenen Blutes vor uns
sehen, umso wahrer und wirklicher sein, je tiefer unsere
praktische Erkenntnis Seiner Selbst in Herrlichkeit ist.
Eine andere praktische Wirkung unserer Erkenntnis wird
die sein, daß wir diese Welt als „ein dürres und trockenes
Land, wo kein Wasser ist", betrachten, weil Er, Der allein
unsere Neigungen befriedigen kann, anwesend, verleugnet
und verworfen ist. Dann wird die glückselige Hoffnung Seiner Wiederkunft klar und hell in uns sein. Dann begehren
wir Ihn zu sehen. Diese beiden Dinge sind miteinander verbunden. Wir gedenke n Seiner, bis Er kommt ; aber
der Grad dieser Zuneigung hängt ab von unserer Er -
kenntni s Seiner Selbst in der Stellung, die Er jetzt einnimmt.
Richten wir uns selbst in bezug auf diese Dinge! Ich glaube, daß es keine Zeit gab, wo eine zunehmende Erkenntnis
Christi so notwendig war, als in der Gegenwart. Der Strom
der Kälte und Gleichgültigkeit wälzt sich rmit Macht über
die Christen; und ein bloßes Verständnis davon wird uns
keine Kraft geben, um Widerstand leisten zu können. Nur
19
Christus, als der gekannte und geliebte Gegenstand unserer
Herzen, vermag uns zu bewahren. In Matth 2, 3-6 finden
wir das Beispiel eines Verständnisses ohne Glauben. Die
Hohenpriester und Schriftgelehrten hatten eine völlig richtige Erkenntnis der Prophezeiung bezüglich der Geburt Jesu;
aber, wie wir wissen, entfernte diese Erkenntnis sie nicht
von dem Hofe des Herodes. Den Magiern aus dem Morgenlande wurde es überlassen, das Kindlein zu erforschen.
O möchte doch der Herr den ersten Platz in unseren Herzen haben; denn das allein gibt uns Kraft, treu vor Ihm zu
wandeln.
Dich zu kennen, das ist Leben,
Dich zu loben — sel'ge Lust.
Praktische Betrachtungen
über die Psalmen
Der Zweck der folgenden Betrachtungen ist nicht, die
Psalmen zu erklären, sondern aus ihnen einige, geistliche
Belehrungen und einige Erbauung für unsere Seelen zu ziehen. Die Erklärung der Psalmen ist in anderen Schriften
versucht worden zu geben. Die Psalmen werfen ein ganz
besonderes Licht auf die Regierung Gottes und auf das Mitgefühl des Geistes Christi mit Seinem Volk. Zunächst sind
die Juden der Gegenstand und der Mittelpunkt der Entfaltung derselben. Doch, obwohl ein großer Unterschied besteht
zwischen dem Zustand der Juden und dem unsrigen, so wie
zwischen den Beziehungen eines Volkes zu Jehova und denen eines Kindes zum Vater, so sind doch die Wege Gottes
als Regierung auch auf uns Christen anwendbar. Wenn es
auch nicht der höchste Standpunkt ist, auf dem der Christ
gesehen wird, so ist es doch ein höchst wichtiger und interessanter, der die ganze Entfaltung der göttlichen Sorgfalt Dessen ans Licht stellt. Der die Haare unseres Hauptes gezählt
hat. Ebenso treten der Ernst und die Wachsamkeit hervor,
die erforderlich sind zu einem Wandel vor Gott, Der niemals
abweicht von Seinen heiligen Wegen; Der Sich nicht spotten
läßt, noch Seine Augen abwendet von dem Gerechten, ob20
schon Seine Gnade in allem wirksam ist, um uns vollkommen zu machen vor Ihm, gemäß diesen Wegen. Die Regierung Gottes, angewandt auf den Wegen des Christen, ist
besonders vorgestellt dn den Episteln Petri. Siehe z. B. 1. Ptr
1, 17; 3, 10-15, sowie den Geist und Ton der ganzen Epistel.
Diese Regierung ist in der zweiten Epistel fortgeführt bis
auf die Vollendung aller Dinge. Die erste Epistel stellt mehr
die Regierung der Gerechten vor, die zweite das Gericht der
Gottlosen, obschon dieses Gericht auch in der ersten angedeutet wird, als die Beendigung der Macht des Bösen und
die Befreiung des Gerechten. Petrus war der Apostel der
Beschneidung; deshalb steht ihm bei seinen Belehrungen
besonders die Regierung Gottes vor Augen.
Psalm 1. Diese Regierung auf der Erde, sowie der Charakter derer, die durch diese Regierung gesegnet sind, ist
klar ausgedrückt in dem ersten Psalm. Es ist darin die Rede
von dem, der nicht steht auf dem Wege der Sünder, sondern
im Gesetz Jehovas seine Wonne hat und darüber sinnt Tag
und Nacht. Unterwerfung unter den Christus, als den Verwalter dieser Regierung in Gottes Ratschlüssen am Ende dieser Prüfungszeit, ist der Gegenstand des zweiten Psalms.
Ich will hier nur einige Worte sagen über den ersten dieser
beiden Psalmen, die die Grundlage von allen den übrigen
bilden. Der Rat der Gesetzlosen, der Weg der Sünder, und
der Sitz der Spötter sind gemieden. Obschon hier in Verbindung mit der menschlichen Verantwortlichkeit im Wandel,
ist man doch bewahrt vor dem Bösen. Ohne die Kraft dieser
Worte näher auslegen zu wollen, mögen doch einige Bemerkungen darüber hier ihre Stelle finden. Die Gesetzlosen
haben Pläne und Ratschläge nach ihrem eigenen Willen, sie
haben ihre eigene Anschauung der Dinge und ihre eigenen
Wege zur Erreichung ihrer Zwecke; da wird der Gerechte
nicht gefunden. Der Sünder hat einen Weg, auf dem er nach
seinem eigenen Wohlgefallen wandelt; der Gerechte wandelt
nicht mit ihm. Die Spötter gefallen sich darin, Gott zu verachten; da wird der Gerechte nicht sitzen. Aber das Gericht
wird kommen, und dann werden auch die Sünder nicht Einlaß finden in die Versammlung der Gerechten, die dann zur
Ruhe gebracht sind durch die Herrlichkeit Gottes.
21
Psalm 2. Dieser Psalm kündigt die Aufrichtung des irdischen Triumphes Christa und Seines Königtums in Zion an,
wenn die Nationen Ihm zum Erbteil gegeben sein werden.
Dies ist noch nicht erfüllt. Die Regierung Gottes stellt die
Gläubigen nicht sicher vor dem Leiden, was dann doch der
Fall sein wird; sie läßt aber das Leiden zu geistlicher Segnung ausschlagen und bewahrt den Überrest vor dem Zorn,
indem sie für unsere kleine Trübsal eine herrliche Belohnung
gibt. Für uns aber offenbart Sich Gott als Vater in den
Trübsalen. Wir rufen Den als Vater an, Der ohne Ansehen
der Person richtet nach eines jeglichen Werk, und wandeln
die Zeit unserer Fremdlingschaft in Furcht, wissend, daß wir
erlöst sind.
In diesem Psalm sind die Könige aufgefordert, sich zu
unterwerfen, bevor das Gericht über die Erde kommt. Aber
dieses Gericht ist noch nicht ausgeführt, und wir haben unsere eigene Aufgabe in Geduld zu lernen. Dieses wollen die
Psalmen uns lehren.
Psalm 3. Laßt uns jetzt die Belehrungen der ersten folgenden Psalmen untersuchen. Der Bedränger sind viele, aber
der erste Gedanke des Glauben ist: „Herr". Da fühlt sich
die Seele in Sicherheit und betrachtet von hier aus die Bedränger. Jehova wird so der Gegenstand des Vertrauens.
Wenn „der Herr" in das Herz kommt vo r denen, die mich
bedrängen, so steht alles gut. Unser Geist sieht Ihn beteiligt
bei den Ereignissen und ist in Frieden. „Er ist ein Schild
um mich her, meine Herrlichkeit, und der mein Haupt emporhebt". Von der anderen Seite ist es nicht ein lässiges,
sorgloses Hinblicken auf das Böse und Gute, noch ein ungültiges Vertrauen. Verlangen und Abhängigkeit sind wirksam — die Bande zwischen der Seele und Jehova. Ich
schrie , und Er hörte. Das ist gewiß. „Dies ist die Zuversicht, die wir zu ihm haben, daß, wenn wir etwas nach seinem
Willen bitten, er uns hört", und wenn Er hört, so haben wir
die Bitte. Wenn wir aufrichtig sind, so begehren wir nicht
etwas zu haben, was nicht mit Seinem Willen übereinstimmt,
aber es ist unendlich tröstlich, inmitten der Prüfungen und
Schwierigkeiten der Erhörung und des Armes Gottes sicher
zu sein in allem, was nach Seinem Willen ist. Daraus ent22
springt Ruhe und Frieden. „Ich legte mich nieder und schlief;
ich erwachte, denn Jehova stützte mich". Wie bestimmt und
wie einfach! Ist es so bei dir, mein Leser? findet jede Not
dein Herz ruhend in Gott als deinem Vater, so daß sie,
wenn sie noch größer wird, deinen Geist ruhig, deinen
Schlaf süß sein läßt, indem du dich niederlegst, schläfst und
aufstehst, als ob alles Frieden um dich her wäre, weil du
weißt, daß Gott ist und daß Er über alles gebietet? Ist Er
so zwischen dir und deiner Not und deinen Bedrängern?
Und wenn Er es ist, was kann dir dann begegnen. Die „Tausende von Feinden" machen keinen Unterschied, wenn Gott
da ist. Der Assyrer ist geflohen, bevor er aufstehen kann,
um zu bedrängen oder die Drohungen auszuführen, die
eigentlich nur verraten, daß er sich fürchtet. Wir sind töricht, wenn wir die Schwierigkeiten und Prüfungen nach
unserer Kraft abmessen, anstatt nach der Kraft Gottes, die
für uns ist, wenn wir Sein sind. Was machte es aus, daß die
Städte Kanaans himmelhohe Mauern hatten, wenn sie fielen
beim Schall einer Posaune? Hätte Petrus besser auf einem
ruhigen See wandeln können als auf einem stürmischen?
Unsere Weisheit ist, zu wissen, daß wir nichts tun können
ohne Jesum, mit Ihm aber alles, was nach Seinem Willen
ist. Das Geheimnis des Friedens ist, mit Ihm beschäftigt zu
sein um Seiner Selbst willen, und wir werden Frieden finden
in Ihm und durch Ihn, und werden mehr als Überwinder sein,
wenn Trübsal kommt. Nicht daß wir unempfindlich gegen
die Prüfung sind, aber wir werden Ihn und Seine zärtliche
Sorgfalt für uns finden, wenn die Trübsal kommt.
Betrachtungen über 4. Mose 14
Wir finden in dem vorgenannten Kapitel das Volk Israel
an den Grenzen Kanaans. Man hatte die versuchungsreiche
Wüste durchschritten und man hatte die herrlichsten Erfahrungen von der Macht und Treue Jehovas gemacht. Wenn die
Pilger auf diese Macht und Treue ihren Blick geworfen hätten, so würden sie mit Zuversicht und voll freudigen Mutes
ihre Füße auf den Boden des ihnen verheißenen Landes
gestellt haben. Jedoch anstatt auf die unzweideutigen Bewei23
se der Macht und Treue Gottes zurückzuschauen, hefteten
sich ihre Blicke vielmehr auf die Riesen des Landes, und wie
immer, wenn der Unglaube das Herz beherrscht und das
Auge die Schwierigkeiten betrachtet, stellen auch sie die Riesen Kanaans über den allmächtigen und ewigen Gott, der
sie bis dahin mit so mächtiger Hand geleitet hat. Wenn wir
uns ihres Schreiens in 2. Mose 14, 10 erinnern, und der
wunderbaren Hilfe, die ihnen dort zuteil wurde, so ist es
uns klar, daß nur, wenn sie Gott völlig beiseite setzten, eine
so trostlose Verwirrung entstehen konnte, daß alle in lautes
Weinen ausbrachen und ausriefen: „O wären wir doch im
Lande Ägypten gestorben"! cder „Wären wir doch in dieser
Wüste gestorben"! — Aber das ist der Mensch in seinem
Unglauben; er sieht nichts von Gott. Wie könnte dies auch
möglich sein? Er sieht die Schwierigkeiten, die sich zwischen
ihm und Gott befinden, während der Glaube Gott schaut
und Ihn immer zwischen sich und die Schwierigkeiten bringt.
Die Kinder Israel sollten den Platz, den Jehova für sie
bereitet hatte, in Besitz nehmen; aber sie konnten wegen
ihres Unglaubens nicht eingehen. Auch wir sind berufen,
unsere himmlische Stellung einzunehmen; aber wir vermögen
dies nur durch den Glauben. Wenn wir damit beschäftigt
sind, unsere Kraft mit der Kraft des Feindes zu. messen,
gegen den wir im Kampf stehen, ist das nichts anderes als
Unglauben, der ohne Zweifel zur Folge hat, daß wir unterliegen; wenn wir aber Gott einführen, auf Sein Wort unser
Vertrauen setzen, uns Seine Kraft, Seine Treue, Seine Ehre
vergegenwärtigen, so werden wir dieselbe Erfahrung machen,
die auch Israel am Roten Meer machen durfte. (2. Mose 14,
14). „Jehova wird für euch streiten, und ihr werdet stille
sein". Jeder, der auf den Herrn allein sein Vertrauen setzt,
wird in einem solch seligen Stillesein seine Pfade gehen, zur
Verherrlichung des Namens Jesu und zu seinem eigenen
Glück.
Der Weg nach Kanaan ist leicht und ist schwer. Leich t
weil man nichts zu tun hat, weil ein anderer für uns streitet, weil der Herr alle Sorgen übernimmt; schwe r •— ja
unmöglich, wenn wir selbst auf dem Plane sind, wenn wir
die Treue und Macht Gottes außer acht lassen, wenn da.s
24
Auge nur auf die Riesen sieht und das elende Ich in den
Kampf gehen soll. Und dennoch, wie oft ist es der Fall, daß
wir uns in diesem zuletzt genannten Zustand befinden!
Wie leicht vergessen wir es, daß der Gerechte nur durch
Glauben lebt, wie schnell öffnen sich unsere Augen, um auf
die Umstände zu sehen; wie bereit sind unsere Herzen, sich
mit den Schwierigkeiten einzulassen, trotzdem wir die Vorbilder Israels kennen und die Treue Gottes in unserem eigenen Leben so oft erfahren haben!
Der Herr erwartet von uns, daß wir stets den Platz des
Glaubens einnehmen; denn je völliger und entschiedener wir
uns auf diesem gesegneten Beden bewegen, umso mehr kann
Er Sich an uns verherrlichen. Wenn wir durch Glauben wandeln, so ist es immer der Herr, zu. Dem wir emporschauen
und von Dem wir alles erwarten, während sich der Unglaube stets nach etwas Sichtbarem umschaut. Am Fuße des
Horeb machten sich die Kinder Israel ein Kalb, und hier im
vierten Vers unseres Kapitels wollen sie sich ein Haupt
wählen, um nach Ägypten zurückzukehren. Wenn sie glaubten, daß ein Kalb sie nach Ägypten geführt habe, so war es
auch nicht schwer zu glauben, daß ein Haupt sie wieder
dorthin zurückbringen könne. Welch ein schmerzlicher Gedanke, solch ein Volk wieder auf dem Rückweg nach Ägypten zu sehen! Ach! es ist stets der Charakter des Unglaubens,
zurückzukehren. Er läßt uns nicht auf dem Platz, den wir
eingenommen haben; er führt nur zurück. Welch eine ernste
Wahrheit für uns, und besonders für eine Seele, deren sich
der Unglaube bemächtigt hat, für eine Seele, die im Zurückweichen begriffen ist! Ägypten •— die Welt — ist der Platz,
wohin sie zurückkehrt. Sie schaut sich nach einem Haupte
um, um sich dorthin leiten zu lassen. Es ist nicht die Hand
Jesu, woran sich eine solche Seele festklammert; denn Er
geleitet niemanden zurück nach Ägypten. Dieses Haupt,
dieser Führer ist ein anderer, — Satan selbst. O möchte dieses jedem Weichenden ins Bewußtsein gebracht werden, um
vor sich selbst zurückzuschrecken und die Hand Jesu wieder
zu ergreifen, damit es nicht mit ihm rückwärts gehe nach
Ägypten.
Welch ein liebliches Bild stellen dagegen Josua und Kaleb
25
diesem Volk gegenüber dar! In ihren Herzen zeigt sich keine
Furcht; im Gegenteil, sie besitzen Kraft genug, um einer
solchen Menge gegenüber ein Zeugnis für Gott zu sein.
Wenn man sich vor dem Feind fürchtet, so verkleinert
man Gott, indem man Ihn nicht für stark genug hält, den
Feind zu überwinden. So schließt also der Unglaube die
Geringschätzung Gottes in sich, was wir mit allem Ernst
erwägen sollten. Nicht nur, daß Glaube und Unglaube nicht
zusammen gehen können, sondern sie sind einander völlig
entgegengesetzt. Als in Josua und Kaleb sich der Glaube in
seinem Zeugnis offenbarte, wollte das Volk sie steinigen;
und doch hatten diese beiden Zeugen nur die Wahrheit gesprochen. Ach, wie groß ist die Macht des Unglaubens über
das menschliche Herz! Die Wahrheit findet darin keine Stätte. So war es damals, und so ist es jetzt. Dagegen sind Lüge
und Irrtum stets willkommen. Josua und Kaleb mußten den
Widerspruch des ganzen Volkes erfahren; an 600 000 Stimmen erhoben sich gegen die Stimme zweier Männer, die die
Wahrheit sagten und Gott glaubten. So war es, so ist es,
und so wird es stets sein bis zu dem Augenblick, der uns
in Jes. 11, 9 geschildert wird.
Wie wichtig war es, in einem solchen Augenblick die
Wahrheit aufrechtzuerhalten und dem Drängen so vieler
Menschen Trotz zu bieten! Doch Josua und Kaleb hatten
die Zuversicht, daß das Land ihnen gehöre und daß es in
ihren Besitz gelangen werde; ja sie wußten, daß, wenn auch
600 000 Menschen den Tod fanden, sie dennoch am Leben
bleiben würden, um den Lohn ihres Glaubens zu. finden.
Glückselige Männer! Welch ein Kontrast zwischen ihnen und
der ungläubigen Menge! Wieviele Kinder Gottes gibt es,
die sich nicht bis zu der Höhe der göttlichen Offenbarung
erheben können, um ihren Platz als Heilige und Geliebte
Gottes einzunehmen! Stets umgeben von der dunklen Wolke
der Zweifel, haben sie, da sie sich selbst und die Schwierigkeiten betrachten, nie jenen Mut und jene Zuversicht, wodurch Gott verherrlicht wird. Der Christ sollte immer glücklich und immer fähig sein, Gott zu loben; seine Freuden
sollten ihre Quellen nicht auf der Erde haben, sondern sie
sollten im Himmel entspringen, den das Auge des Glaubens
26
stets offen findet. Leider fehlen wir darin oft; und das ist
der Unglaube, der Gott verunehrt und das eigene Herz zu
Boden drückt. Der Glaube erhebt das Herz über die dumpfe,
kalte Luft dieser Welt in die strahlende und erwärmende
Sonne der Gnade; und dort kann das Herz nidit mehr gefesselt werden von dem Nebel des Unglaubens.
In diesem kritischen Augenblick erschien (V. 10) die Herrlichkeit Jehovas, mit der Absicht, das Gericht zu üben und
Moses zu einem großen Volke zu machen. Welch herrliche
Aussichten eröffneten sich jetzt diesem Mann Gottes! Jehova Selbst machte ihm das Anerbieten, daß er das Haupt
einer großen und mächtigen Nation werden solle. Doch
von der Annahme dieses Anerbietens hing die Vernichtung
des Volkes ab. Was tat Moses in diesem Augenblick? Dachte
er an sich? Wünschte er etwas für sich? Überlegte er etwa
lange, was da zu tun sein? Nichts von allem. Da er durchdrungen war von dem Geiste Christi und geleitet war von
der Liebe zu andern, läßt er, indem er sein eigenes Interesse gänzlich beiseitesetzt, nicht lange auf seine Antwort
warten (V. 13-19). Er erinnert Gott daran, daß es die Ägypter hören, und daß sie urteilen würden, Jehova habe Sein Volk
nicht in das Land zu bringen vermocht. Es handelte sich
augenscheinlich in seinem Herzen um den Ruhm und die
Verherrlichung Gottes, sowie um die Erhaltung des Volkes.
Dieses erfüllte so sehr sein Herz, daß er nicht einen Augenblick daran dachte, was Jehova ihm zu seinen Gunsten eröffnet hatte. Er tritt angesichts der unbeschnittenen Völker
für die Ehre Jehovas, und für Dessen Volk an den Riß. Er
offenbart in dieser Sache die Gesinnung Christi Jesu, Der
allezeit dieselben beiden Ziele vor Seiner Seele hatte, nämlich die Verherrlichung des Vaters und die Errettung der
Sünder.
Moses hatte dieselbe Gesinnung geoffenbart, als Israel
das goldene Kalb gemacht hatte; und er sprach jetzt ebenso
entschieden für die Ehre Gottes. Der Glanz des Ruhmes
Gottes mußte um jeden Preis aufrechterhalten bleiben. O
möchte dies doch auch unter allen Umständen der Grundsatz
unsere Herzen sein! Aber nicht nur verherrlichte Sich Jehova
dadurch, daß Er das Volk nach Kanaan brachte, sondern auch
27
dadurch, daß Er dem Volk vergab. Durch Seine Gnade, durch
Seine Geduld, durch Seine Langmut wurde Sein Ruhm erhöht. Ja, unser Gott ist bewundems- und anbetungswürdig
in allen Seinen Wegen. Wie ward Er Sich an Israel und in
reichem Maße an den Nationen verherrlichen, wenn Er vergeben und die Erde voll werden wird der Herrlichkeit Jehovas (V. 21)!
Indes darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß es
außer der Gnade auch eine Regierung Gottes gibt. Beide
gehen zusammen, wie wir dies in den Versen 20-25 sehen.
Die Vergebung ist in Vers 20 ausgesprochen, und dann folgt
die Regierung. Jehova gibt Seine Rechte in bezug auf Sein
Volk nicht auf; und Seine Wege sind ernst. Welche Tragweite hat oft eine einzige unserer Handlungen! Und obwohl
der Herr völlig bereit ist zu vergeben, so tragen wir doch
in manchen Fällen die Früchte unserer Torheit. Die Aussprüche Jehovas in den Versen 26-35 liefern den Beweis dafür.
Wie treffend ist das Beispiel dieses Volkes für uns, und
auf welche herrliche, liebliche und zugleich ernste Weise
offenbart Sich Gott unter ihnen! Wir sehen sowohl Seine
Macht als auch Seine Gnade, sowohl Seine Langmut als
auch Seine Zucht, sowohl Seine Barmherzigkeit als auch
Seinen Ernst, Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit hervorstrahlen; und es ist anbetungswürdig, Seine Geduld zu sehen, die nicht aufhörte, so daß Er trotz allen Ihm so schmerzlichen Vorkommnissen dennoch nicht von Seinem Volke abließ. Welch eine tröstliche, aber auch welch eine ernste Lehre
liefert uns die Geschichte Israels. Sind unsere Herzen anders,
als die der Israeliten? Sind wir weniger in Gefahr, dein
Unglauben Raum zu geben, wie sie es waren? Haben wir es
nicht mit demselben Gott zu tun, mit dem Israel zu tun
hatte? Und ist 'die Sünde bei uns, bei einem so geliebten
himmlischen Volk, nicht weit schwärzer und verwerflicher,
als sie es bei dem irdischen Volk war?
Israel war berufen, das ihm verheißene Land in Besitz zu
nehmen, und ebenso sollen auch wir durch den Glauben
von den unserer neuen Stellung angemessenen himmlischen
Gütern Besitz nehmen; wir müssen den Jordan überschreiten. Das Blut des Lammes hat uns dn Ägypten vom Gericht,
?*
und das Rote Meer von der Macht des Feindes befreit; aber
beim Eintritt in Kanaan müssen wir um jeden Fußbreit
Land kämpfen. Unser Kampf ist mit Satan, der seinen Platz
in den himmlischen örtern hat. Wir — gestorben der Welt
und Besitz nehmend von unseren himmlischen Gütern —
erfahren, daß Satan uns alles streitig machen möchte. Hier
ist von keinem Kampf mit der Sünde die Rede, obschon es
sich von selbst versteht, daß man über das Fleisch wachen
muß. Es handelt sich hier um die Behauptung unserer himmlischen Stellung. Daß die Sünde nicht in der Mitte Israels
sein durfte, ist eine andere Sache, als der Einzug dieses Volkes in Kanaan. Wir sind berufen, in Neuheit des Lebens
zu wandeln, und wir sind berufen, im Glauben unsere gesegneten himmlischen Güter in Besitz zu nehmen. Wie es
in der Wüste nur Manna gab, aber das Volk in Kanaan von
den Früchten des Landes aß, so gibt es für uns in dieser
Welt nur Speise von oben; aber durch den Glauben genießen
wir auch schon die Früchte des himmlischen Kanaan, und
diese bieten eine Fülle, eine reiche Fülle aller Art von Genuß für die Seele. Während unsere Füße diese Wüste durchschreiten, erheben sich unsere Blicke nach oben, und wir
sehen, was wir in Jesu sind, welchen Platz wir in dem Herzen des Vaters haben, welche Liebe gegen uns ausströmt,
welches Erbe unser Teil ist und welche Güter im Himmel
unsere Schätze sind. Ach, wieviele Herzen unserer Brüder
sind beschäftigt mit dem, was auf Erden ist! Ihre Blicke erheben sich nicht, um ihre himmlischen Güter zu beschauen
und sich daran zu erquicken; sie fühlen sich nicht in jener
seligen Nähe Gottes, die allein das Herz wahrhaft befriedigt,
und sie haben darum auch kein Verlangen, im Glauben droben ihren Platz einzunehmen und von da auf eine böse, dem
Urteil verfallene Welt hdnabzublicken. Sie sind nicht in Wirklichkeit von der Welt und ihrem Wesen getrennt und genießen daher auch nicht die Nähe und Gemeinschaft Gottes
in dem Maße, wie sie es tun würden, wenn sie an dem
Vaterherzen Gottes ruhten.
In den Versen 36-38 sehen wir, daß Jehova die Kundschafter, die das Volk zum Murren gebracht haben, durch
den Tod wegnimmt. Sie tragen alsbald die Früchte ihres
29
Unglaubens, während Josua und Kaleb, die Männer des
Glaubens, am Leben bleiben. Das Volk hatte in der Wüste
zu sterben verlangt; und Jehova tat ihnen (V. 29) nach
ihren Worten. Die Folgen eines Wortes des Unglaubens bestanden darin, daß 600 000 Männer in der Wüste ihr Grab
fanden, indem der Herr mit den zehn Kundsdiaftern, die
das Volk murren gemacht hatten, den Anfang madite. Während die Kinder Israel noch an dem einen Tage die köstliche
Verheißung hörten, daß die mächtige Hand Jehovas sie in
das Land bringen werde, blieb ihnen an dem anderen Tag
nur die trostlose Aussicht, daß 600 000 Grabeshügel sich
in der Wüste erheben würden. Jede Hoffnung, die verheißenen Segnungen zu empfangen, war abgeschnitten; sie
hatten den Tod in der dürren Wüste gegen die von Milch
und Honig fließenden Fluren Kanaans eingetauscht. Wie
ernst reden diese Tausende von Gräbern der Wüste! Sind
sie nicht ein Zeugnis des Mißfallens Gottes an dem Unglauben? Sagen sie uns nicht, wie sehr wir Ihn betrüben, wenn
kein Vertrauen zu Ihm in unseren Herzen ist? Verkündigen
sie uns nicht, welches die traurigen Folgen unseres Murrens
sein können, und wie Er niederzuschlagen vermag, was sich
wider Ihn erhebt? Ja ihre Sprache ist ernst. Am Schluß unseres Kapitels sehen wir, wie die Kinder Israel sich bereit
zeigen, in das Land zu ziehen und den Kampf aufzunehmen.
Aber sie kommen nach ihrem eigenen Willen; Jehova hat
sie nicht gerufen. Und nach ihrem eigenen Willen ziehen sie,
trotz der Mahnung Moses, in den Streit. Doch der Ausgang
konnte nicht zweifelhaft sein; ein solcher Weg mußte notwendig mit der Niederlage des Volkes endigen.
In dieser Geschichte ist ein wichtiger Grundsatz Gottes
enthalten, nämlich, daß, wenn wir uns nicht im Glauben
auf Ihn stützen wollen, Er auch nicht mit uns auszieht in
unserem Unglauben. Und ach! wie oft geschieht es, daß wenn
der Herr ruft, wir nicht folgen wollen, und daß wir, wenn
wir unsere Torheit erkannt haben, dann gehen wollen, wenn
Er es nicht geheißen hat. Der Herr kann keinen Eigenwillen
erlauben. Wir müssen still sein und vorwärts gehen, wenn
der Herr voran geht; und haben wir, ohne zu folgen, den
rechten Augenblick vorüberziehen lassen, so bleibt uns nichts
30
übrig, als auf die ferneren Wege und Wanke des Herrn zu
warten, und wir dürfen uns nicht nach eigenem Willen und
Gutdünken vorwärts bewegen. Gott allein kennt den richtigen Augenblick für uns; und gesegnet ist es, Ihm stets zu
folgen und uns nicht mit den Folgen zu beschäftigen. Er,
Der uns auffordert, Ihm zu folgen, wird uns auch sicher leiten, so daß wir nichts zu fürchten haben; denn alles, was
uns begegnen könnte, begegnet zuerst Dem, Der voran geht,
Ihm, dem treuen und mächtigen Gott. Auch haben wir nicht
zu untersuchen, ob wir das kennen, was uns zustoßen könnte; denn Der uns vorangeht, kennt schon alles, was kommen
wird, im voraus; und nicht wir stehen auf dem Plane, sondern
der Herr, Der alles nach Seiner Weisheit ordnen wird. Wären die Kinder Israel der voranziehenden Wolke gefolgt, so
würden gerade diese Riesen eine umso herrlichere Gelegenheit gewesen sein, die Macht Gottes zu sehen; denn je
größer und mächtiger sich diese Feinde erwiesen hätten, umso größer wäre der Triumph gewesen, sie zu überwinden
und zu vernichten. Die Schwierigkeiten auf unserem Weg
dienen eigentlich nur zur Verherrlichung Gottes, wenn wir
Ihm im Glauben folgen, während sie zu Seiner Verunehrung
dienen, wenn wir dem Unglauben Raum geben.
Der Herr verleihe uns die Gnade, durch Glauben unseren
Pfad fortzusetzen und stets zu bedenken, daß wir uns durch
Unglauben von unserem Gott trennen, und Er nicht mitunsgehen kann! Mögen wir allezeit auf Seinen Ruf warten und
nicht nach eigenem Willen unsere Kämpfe beginnen!
Gott ist es, Der rechtfertigt
„Sie scheinen in ihrem Leiden recht glücklich zu sein",
sagte jemand zu einer sterbenden Frau, „worauf setzen Sie
denn eigentlich Ihr Vertrauen"?
„Ich vertraue auf die Gerechtigkeit Gottes", war die Antwort.
„Wie, auf die Gerechtigkeit Gottes"? fragte der Besucher
verwundert zurück. „Wenn Sie sich auf die Barmherzigkeit
Gottes stützten, so würde ich das begreifen können; aber so
31
vertrauen Sie ja auf eine Sache, die Sie wegen Ihrer Sünden
notwendig verdammen muß".
„Ich sage, was ich meine", erwiderte die Sterbende; „und
obwohl ich von Natur eine große Sünderin war, so ist dennoch die Gerechtigkeit Gottes der Grund meiner Hoffnung
für den Himmel; denn ich lese in Röm 3, 26, daß Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist.
Diese Worte enthalten eine sehr beachtenswerte Wahrheit.
Es hieße offenbar, sich in die Arme des Gerichts werfen,
wenn ein überführter, strafbarer Verbrecher sein Vertrauen
auf die Gerechtigkeit des Gerichtshofes, vor dem er angeklagt ist, setzen wollte. Die Gerechtigkeit wird unbedingt
seine Bestrafung fordern. Es würde daher eine große Torheit
sein, in einem solchen Fall auf die Gerechtigkeit zu vertrauen. Doch in dem Fall jener Sterbenden, liegt die Sache anders.
Es ist wahr, Gott ist heilig, so daß selbst die Engel in
Seiner Gegenwart ihre Angesichter verhüllen; und dennoch
hatte die sterbende Frau, die nach ihrem eigenen Geständnis
von Natur eine große Sünderin war und jetzt vor Gott zu
erscheinen im Begriff stand, nicht Unrecht, wenn sie in betreff ihrer Errettung auf die Gerechtigkeit Gottes ihr Vertrauen setzte. Und was gab ihr dazu den Mut? Wie kann
jemand, der sich als schuldig bekennt, auf Erlassung seiner
Schuld rechnen, wenn er sich auf die Gerechtigkeit Gottes
stützt?
Das ist eine wichtige und beachtenswerte Frage und verdient unsere ernste Aufmerksamkeit. Die oben angeführte
Stelle in Röm 3, 26 ist das Resultat der Beweisführung in
der vorhergehenden Stelle. Doch laßt uns den Zusammenhang prüfen. Es gibt in diesem Kapitel drei beachtenswerte
Punkte zu betrachten.
1) „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum
Christum".
2) „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Gerechtigkeit Gottes"; und
32
3) Die Gerechtigkeit Gottes ist „gegen und und auf alle,
die da glauben".
Es ist augenscheinlich, daß, wenn all e gesündigt haben,
nieman d irgendeine Gerechtigkeit vor Gott besitzt oder
ein eigenes Verdienst beanspruchen kann. Aber wir finden,
daß die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart ist; und nicht nur
dieses, sondern auch, daß, während sie zu allen hin ihre
Richtung nimmt, sie auch allen zugerechnet wird, die da glauben. Das will sagen: Wenn der Mensch keine Gerechtigkeit
vor Gott besitzt, so besitzt Gott Gerechtigkeit für den Menschen, ja für alle Menschen. Und welchen wird sie zuteil?
Denen, die glauben. Die Gerechtigkeit Gottes ist auf denen,
die glauben. Mit anderen Worten, wer unter allen, die gesündigt haben, glaubt, ist gerechtfertigt — grechtfertigt aus
Glauben.
Aber hier entsteht die Frage: „Wie kann ein heiliger Gott
Seine Heiligkeit aufrechterhalten, und dennoch einen Sünder
rechtfertigen? In den Versen 24 und 25 finden wir die Antwort: „Und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durc h di e Erlösung , di e inChristo]« ,
sudst ,
d e n Got t dargestell t ha t z u eine m Gnaden -
stuh l durc h de n Glaube n a n Sei n Blut" . —
O möchten diese Worte in ihrem vollen Glanz in unsere
Herzen leuchten und sie mit Anbetung erfüllen; Ja, mein
teurer Leser, die Erlösung, die in Christo Jesu ist, das Werk
Christi auf dem Kreuze, liefert die Antwort. Dort hat Jesus
als Stellvertreter das Gericht und den Zorn Gottes getragen
und den unbeschreiblich bitteren Kelch bis auf den letzten
Tropfen geleert. Er nahm den Platz des schuldigen Verbrechers ein und litt an seiner Statt. Er vergoß Sein Blut zur
Vergebung der Sünden. O wunderbare Gnade! Und dann?
das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit, das auf das freiwillige Opfer gefallen war, kehrte befriedigt in seine Scheide
zurück; und der Gott, Der in Seiner Barmherzigkeit Seinen
eingeborenen Sohn sandte, damit wir durch Ihn leben möchten, ist Es, Der jetzt aufgrund jenes wunderbaren und vollkommenen Werkes, umsonst, au s freie r Gnade , rechtfertigt. Nichts steht dem Ausfluß Seiner Liebe mehr im Wege. Seine Gnade ist die Quelle, das Werk Christi auf dem
33
Kreuz der Grund, die freie Rechtfertigung des Sünders das
köstliche Resultat; — und dieses alles — beachten wir es!
— während Gott Seinen Charakter aufrechterhält.
Ich denke bei dieser Gelegenheit daran, daß mir jemand,
der an den Herrn Jesum gläubig war, vor etlichen Jahren
klagte, der Gedanke an die Gerechtigkeit Gottes beunruhige
ihn immer wieder. Ich stand gerade mit ihm vor seinem
Hause. „Wenn die Tür Ihres Hauses verschlossen wäre, so
daß wir nicht hineinkommen könnten, so würden wir in diesem Zustand sicher den Stürmen der Nacht ausgesetzt sein,
wenn wir uns aber dm Innern des Hauses befänden, würden
dann nicht dieselben Mauern, die in unserem ersten Zustand
eine Schranke gegen unsere Sicherheit bildeten, unser Schutz
und Schirm gegen den Sturm sein? Ebenso verhält es sich
mit der Gerechtigkeit Gottes. Solange der Mensch in der
Sünde und im Unglauben vorangeht, ist er dem Zorne Gottes ausgesetzt; sobald er aber durch Gottes Gnade glaubt,
dann ist die Gerechtigkeit Gottes fü r ihn".
O wie bedeutungsvoll sind die Worte: „Gott ist es, der
rechtfertigt". Wie wunderbar! Der Heilige Gott, Der die
Sünde verabscheut, tritt als Rechtfertiger ins Mittel! Wie
unendlich kostbar ist die Erlösung in Christo Jesu, Der es
möglich gemacht hat, als ein gerechter Gott den zu rechtfertigen, der an Jesum glaubt.
Doch richten wir unser Auge noch auf eine andere Stelle,
die ebenso bezeichnend, wie treffend ist. „Den, der Sünde
nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß
wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm". (2. Kor 5, 21).
Das ist ein beachtenswerter Ausdruck. Der Zusammenhang
wird uns darüber Aufschluß geben. Christus, Der für alle
gestorben ist, hat dadurch den Beweis geliefert, daß alle im
Tode sind, und daß sie daher durch nichts außer durch Seinen Tod, erlöst werden konnten. Der Zweck Seines Todes
war, daß die Erlösten zur Ehre Gottes leben sollten, denn
wir lesen: „ . . . auf daß, die, die leben, nicht mehr sich
selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist
auferweckt worden" (2. Kor 5, 15). Da sich alle im Tode
befanden, so konnte die Erscheinung Christi im Fleische
ihnen nichts nützen. „Daher kennen wir von nun an nie34
manden nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum
nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch
jetzt nicht mehr also. Daher, wenn jemand in Christo ist,
da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe,
alles ist neu geworden. Alles von dem Gott . . ." V. 16-18).
Nichts kann deutlicher und treffender sein. Wir sehen Christum, zur Sünde gemacht, am Kreuze sterben als ein Opfer
für die Sünde; und dies ist das totale Ende des Alten, ja,
das Ende von allem, was mir, einem toten und verlorenen
Sünder angehörte. Am Kreuze sehe ich durch den Glauben
das Ende des eigenen Ichs, das Ende von allem, was mit diesem Ich in Verbindung war. Christus, auferstanden aus den
Toten, ist der Anfang der neuen Schöpfung. Er ist „der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten. Dies wird uns noch
deutlicher in den beiden ersten Kapiteln des Epheserbriefes
gezeigt. Wie Gott Christum auferweckt hat, so hat Er auch
uns, die wir tot waren in unseren Vergehungen und Sünden"
mit Christo auferweckt. Er hat uns nicht nur versöhnt, sondern uns auch „mitsitzen lassen in den himmlischen örtern
in ihm". Diese neue Schöpfung ist so ganz und gar von
Gott, daß wir, einsgemacht mit Christo, dem „Erstgeborenen
aus den Toten", in Ihm Gottes Gerechtigkeit geworden sind.
Wir waren tot in den Sünden und in den Vergehungen; aber
Gott hat uns ein neues Leben geschenkt und erblickt uns als
eine neue Schöpfung in Christo, in der keine Sünde ist, und
deren Charakter vollkommene Heiligkeit und vollkommene
Gerechtigkeit ist. Uns betrachtet in dieser neuen Schöpfung,
sind wir das, was Gott aus uns gemacht hat; denn alles ist
neu geworden, und alles ist aus Gott; und darum ist der
mit Christo auferweckte Gläubige die Gerechtigkeit Gottes.
Also jetzt, nachdem die Gerechtigkeit Gottes durch den
Tod Christi völlig befriedigt ist, konnte Paulus im Blick auf
den aus den Toten Auferstandenen sagen: „So sei es euch
nun kund, Brüder, daß durch diesen euch Vergebung der
Sünden verkündigt wird; und von allem, wovon ihr in dem
Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird in
diesem jeder Glaubende gerechtfertigt" (Apg 13, 38. 39).
Möge der Herr uns leiten zu den grünen Auen und zu den
stillen Wassern dieser kostbaren Wahrheit! „Gott ist es, der
35
rechtfertigt". Ebenso gewiß wie Jesus gestorben und auferweckt ist, ebenso gewiß wird uns die Gerechtigkeit Gottes
zugerechnet. Der gerechte Gott ist jetzt der unsrige auf
Grund des Glaubens. Dies in seiner Fülle und in seinen
gesegneten Folgen zu genießen, wird bald unser ewiges Teil
sein. Der Apostel sagt: „Wir erwarten durch den Geist aus
Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit" (Gal 5, 5). Wie
gesegnet ist diese Hoffnung der Gerechtigkeit! Jetzt durch Zurechnung, bald werden wir uns für ewig in dem vollen Genuß des Schauens befinden. „Wenn er geoffenbart werden
wird, werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist".
O hochgelobter Herr und Heiland, vermehre unseren
Glauben!
Kein Brot im Schiff
oder
Christus alles in allem
(Markus 8, 10-28)
Das Erste, was wir bei der Betrachtung des Evangeliums
zu lernen haben, ist, daß Christus Sich Selbst für uns hingegeben hat; und das Zweite, daß wir alles für Ihn aufzugeben haben. In der oben bezeichneten Geschichte finden wir
beides. Wenn wir uns aber auch in gewissem Sinne sagen
können, daß wir das Erste bereits gelernt haben, so vergeht
doch für manchen oft eine lange Zeit, bevor er als ein völlig
ruinierter Sünder erkannt hat, daß Christus unter allen Umständen für ihn ist. Jedoch sicher wird der Tag kommen, daß
wir nichts mehr haben als Christum. In solchen Schmerzensmomenten, wo alles uns verläßt, wo wir die Nichtigkeit aller
Dinge erfahren müssen, machen wir in der uns umgebenden
Finsternis die Entdeckung, daß Christus allein für uns ist.
— Wir sehen dies in der Geschichte des Jonas vorbildlich
vor unsere Augen gestellt. Allerdings war er bekehrt; aber
in der Tiefe des Wassers mußte er lernen, daß nur Gott ihn
zu retten vermochte.
Vor allem habe ich Christum als Heiland. Um für Ihn leben zu können, muß ich zunächst wissen, daß Er völlig fü r
36
mich ist. Wir sehen in Luk 5, daß der Herr den Petrus belehrt. Aber in welcher Weise belehrt Er ihn? Es war in dem
für einen Fisdier bedeutsamen Augenblick, als das Schiff
voller Fische war, daß Petrus in der Gegenwart Gottes sein
Nichts erblickte und ausrief: „Herr, ich bin ein sündiger
Mensch"! Zu den Füßen Jesu liegend, opferte er seine Zeit
und sein Schiff dem Herrn. Ein religiöser Mensch ist befriedigt, wenn er sein Geld für die Ausbreitung des Evangeliums
hingibt. Vielleicht haben manche von uns lange Jahre in
einer solchen oberflächlichen Weise hingebracht.
Es gibt aber eine Zeit im Leben des Christen, wo er fühlen muß, wie alles ihn unbefriedigt läßt, aber auch, daß
Christus völlig genug ist, um sein Herz zu befriedigen. Petrus und seine Gefährten brachten in einer für sie als Fischer
höchst verlockenden Periode ihre Schiffe ans Land, verließen
alles und folgten Jesu nach. Auf diesem Wege machten sie
Erfahrungen. Man hat oft Gelegenheit, am Sterbebett die
Worte zu hören: „Ich habe erfahren, daß nichts befriedigen
kann, als nur Christus allein". Und muß unser Herz dies
nicht bestätigen? Im Lebenslauf einer solchen Person ist der
Tag gekommen, wo sie gefunden hat, daß Christus in allem
genug ist. Natürlich setzen solche Erfahrungen voraus, daß
man Jesum schon länger kannte; und dies zeigt uns auch
die Geschichte Petri.
Es ist eine schwere Aufgabe, die wir zu lernen haben,
nämlich daß auf alles das Urteil des Todes geschrieben ist.
Wenn wir die Schriften betrachten, so finden wir dies in
jeder Geschichte. Christus unterweist die Seinen, auf daß sie
praktisch lernen, was Tod und Herrlichkeit ist. Die Frage ist
immer: Ist Er in allem genug? Er seufzte tief in Seinem
Geiste am Grab des Lazarus, und warum? Er sah den Unglauben des Volkes, das Ihn nicht erkannte als Den, Der in
allem genug für sie war.
„Und sie (die Jünger) vergaßen Brote mitzunehmen und
hatten nichts bei sich auf dem Schiffe als nur ei n Brot". —
Man kann sich wirklich keinen hilfloseren Zustand denken,
als in einem Schiffe auf dem See ohne Brot zu sein. Aber
der Herr ist beschäftigt, Seine Jünger zu belehren, daß Er
Selbst genug für sie ist. Er vermehrt das Brot nicht um einen
37
Bissen, sondern Er prüft ihren Glauben, als wollte Er sagen:
„Bin ich euch denn nicht genug, selbst wenn sonst auch alles
mangelt? Habt ihr nicht Gelegenheit gehabt, meine Macht
kennenzulernen? Seid ihr noch so unverständig"? — Wir
haben nicht nötig, besorgt zu sein. Der Herr segnet uns oft
reichlich nach Seiner Barmherzigkeit, damit wir Ihn kennenlernen, und damit Er genug für uns sei in einer Zeit, wo
diese Segnungen ausbleiben. Nicht als ob die Gaben den
Wert des Gebers bestimmen, sondern vielmehr verleiht Er,
der Geber, den Gaben ihren Wert. Was hatte Jonas zu lernen? Nicht allein, daß in ihm der Tod, sondern daß hienieden alles im Tode sei.
Wir haben zwei Dinge zu verstehen — das Leben in dem
Sohne Gottes u n d den Tod hienieden. „Allezeit das Sterben
Jesu am Leibe umhertragend, auf daß auch das Leben Jesu
an unserem Leibe offenbar werde". Wir dürfen uns nicht
entsetzen, dürfen nicht zurückschrecken; denn der Glaube
sieht nie auf die Schwierigkeiten, sondern auf Den, Der in
allen Schwierigkeiten genug ist. Der Mann des Glaubens
läßt sich nicht durch die Umstände beeinflussen. Wir sehen
z. B., daß Moses, als er vom Berge herabstieg, 600 000
Menschen entgegentrat, als wären sie nichts. Er stand vor
Gott. Er dachte nicht an sie, fürchtete nicht ihre überlegene
Macht, sondern rechnete auf Gott. Die Jünger hingegen
überließen sich nicht dem Herrn. Sie hätten sich dem Herrn
gegenüber kräftig erweisen, d. h. Gebrauch machen sollen
von der Macht des Glaubens. Wir finden diesen Unterschied
zwischen David und Jonathan. Jonathan mochte ein stärkerer
Mann sein, als David; aber David zeigte sich als ein Mann
von Kraft, der vor Goliath nicht zurückbebte.
Wir werden in der Geschichte unseres täglichen Lebens
lernen müssen, daß Christus genug für uns ist, und dürfen
uns nicht im Mindesten durch das entmutigen lassen, was
wir um uns her sehen; ja, wir dürfen unseren Mut nicht
sinken lassen, wenn auch kein Brot im Schiffe ist. Der Wendepunkt unseres Lebens ist, daß wir, indem wir durch die
Wüste pilgern, es mit dem auferstandenen Christus zu tun
haben und nicht mit den Umständen, in welcher Weise sich
diese uns auch entgegenstellen mögen. Dann wird das Re38
sultat sein, daß wir zwar keine Hilfsquellen haben, aber darum nicht im Mindesten entmutigt sind; wir haben Christum.
Paulus konnte von dem strengsten Richterstuhl der Welt sagen: „Alle verließen mich"; .. . es war kein Brot im Schiff
— „Der Herr aber stand bei mir und stärkte mich, auf daß
die Predigt vollbracht werde und alle die aus den Nationen
hören möchten; und ich bin gerettet worden aus dem Rachen
des Löwen" (2. Tim 4, 16. 17). Wir dürfen den Mut nicht
verlieren, auch nicht handeln gleich solchen, die sich immer
Erleichterung zu verschaffen suchen, und zwar durch Veränderung der Umstände. Wir werden nie anders eine erhabene Stufe von Kraft erlangen, als wenn wir, statt den Herrn
zu bitten, daß Er unsere Umstände ändern möge, zu Ihm
sagen: „Herr erhebe mich über die Umstände"!
In dem alten Zustand war alles größer, als der Mensch,
in dem neuen ist der Mensch in Christo größer, als alles.
— Wenn ich um die Wiedergenesung meines kranken Kindes
bete und es mir wieder zurückgegeben wird, so werde ich in
dieser Prüfung nicht dieselbe Erkenntnis von Gott erlangt
haben, als wenn ich angesichts dieser Prüfung mich Seinem
Willen überlassen hätte. Wenn ich im Herrn ruhe und lasse
Ihn tun, was Ihm gefällt, dann ist Christus genug für mich.
Das ist nicht nur jenes erbärmliche Zufriedensein mit etwas,
das doch nun einmal nicht zu ändern ist. Der Glaube ist es,
der mir den Pfad des Lebens zeigt, und wenn wir durch
Glauben wandeln, so befinden wir uns auf diesem Pfad und
legen alles in die Hand Dessen, Der die Liebe ist und der
alles nach Seiner Weisheit ordnet. Gott kann nicht Seine
Liebe dadurch beweisen, daß Er uns dieses und jenes gibt.
Der Beweis Seiner Liebe ist die Herrlichkeit, wo Er jeder
Art von Entbehrung begegnet ist. Aber, wie bereits gesagt,
wir dürfen nicht zurückschrecken, nicht verzagt sein. Allerlei
Drangsale sind unser Teil und ich will nicht, daß jemand
in betreff ihrer unempfindlich sei; aber es ist ein Unterschied zwischen dem Kampf einer Seele, die von seiten der
Barmherzigkeit eine Milderung der Umstände begehrt, und
dem Kampf einer Seele, die ohne diese Barmherzigkeit zu
beanspruchen, lernt, in den Schwierigkeiten mit Gott zu
wandeln. Würde nun vielleicht jemand sagen: „Auf einem
39
solchen Weg möchte mich Gott in zu große Trübsale bringen", so erwidere ich: „Er liebt mich unendlich mehr, als ich
mich liebe". Und wenn ich anders sprechen würde, so wäre
das ein Beweis, daß ich weder das Heil noch die Liebe Seines Herzens verstände.
Ich weiß wohl, was Trübsale sind. Aber wozu dienen sie?
Mich zu Ihm zu bringen, so daß „der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, mein Herz und meine Sinne in Christo Jesu bewahrt". Es mag sein, daß ich keine Linderung erfahre; aber die Segnung von Ihm Selbst, „der Friede Gottes,
der allen Verstand übersteigt und Herz und Sinne in Christo
bewahrt", ist zwischen meiner Seele und der Trübsal. Maria
war, als sie zum Grabe ihres Bruders Lazarus schritt, befriedigt in der Gegenwart Jesu.
Möchten wir doch stets die Wahrheit verstehen, daß hier
auf alles das Urteil des Todes geschrieben ist, und daß Chritus Selbst für uns ist. Wir haben inmitten des Elends, das
uns hier umgibt, zu lernen, daß Christus für alles genügend
ist; nur dann werden wir mit glücklichem Herzen und zum
Preise Seines Namens unsere Pfade pilgern.
Der Herr Jesus in Johannes 11 und 12
Diese Kapitel zeigen uns die verschiedenen Richtungen
in welchen sich die Gedanken des Herrn gegenüber den
Gedanken der Menschen bewegen. Seine Gedanken über
Elen d und Glückseligkei t sind ganz anderer Art,
als die Gedanken der Menschen.
Das elfte Kapitel zeigt uns eine Szene menschlichen
Elends. Die teure Familie in Bethanien war mit Krankheit
heimgesucht worden; und die Stimme der Freude und des
Dankes hatte sich in Trauer und Wehklagen gewandelt.
Aber Er, Der unter allen die innigsten und zärtlichsten
Symphatieen hat, ist der ruhigste unter ihnen; denn Er
lebte in der Voraussicht der Auferstehung, was Ihn über
das Krankenzimmer und über das Totengrab hinwegsehen
ließ.
Als Jesus hörte, daß Lazarus krank war, blieb Er zwei
40
Tage an dem Orte, wo Er war. Als aber die Krankheit Lazarus' mit dem Tod endigte, begann Er Seine Reise mit der
sicheren und herrlichen Aussicht der Auferstehung. Dies
machte Seine Schritte fest und ruhig. Und als Er der Stätte
des Kummers nahte, blieb Sein Verhalten ganz dasselbe. Mit
erhabener Ruhe antwortet Er auf die Betrübnis des Herzens
Marthas, und zwar von einem Standpunkt aus, auf den Ihn
die Kenntnis einer weit über die Macht des Todes hinausreichenden Macht gestellt hatte. Und obwohl Er noch weiterzugehen hatte, zeigte Er durchaus keine Eile; denn als Maria
sich Ihm nähert, befandet Er Sich noch an dem Ort, wo
Martha Ihm begegnet war. Aber — es ist überflüssig zu
sagen, — der herrliche Ausgang der Dinge rechtfertigt sowohl die Ruhe Seines Herzens, als auch die Verzögerung
Seiner Reise. So war es mit Jesu hinieden. Der Pfad, den
Er wandelte, war Sei n eigene r Pfad . Während andere
durch Kummer und durch Gedanken des Todes niedergebeugt
waren, bewegte Er Sich in dem Sonnenschein der Auferstehung.
Doch obwohl das Verständnis der Auferstehung den Gedanken des Herrn eine andere Richtung gab, so blieb doch
Sein Herz empfänglich für den Kummer anderer. Sein Herz
offenbarte keine Gleichgültigkeit , sondern göttliche
Erhabenhei t gegenüber den Leiden dieser Zeit. Er
weinte mit der weinenden Maria und mit denen, die sie begleiteten. Seine Seele aber bewegte sich in den Strahlen jener Region, in die der Tod nicht einzudringen vermag und
die weit entfernt liegt von dem Grabe Bethaniens; aber Er
konnte das Tränental besuchen und weinen mit den Weinenden.
Doch während der Mensch voller Erwartung herrlicher und
glänzender Dinge auf der Erde war, war Seine Seele mit
dem heiligen Bewußtsein erfüllt, daß hienieden auf alles, wie
anziehend und reizend es auch scheinen mag, das Urteil des
Todes geschrieben ist, und daß wahre Glückseligkeit und
Ehre nur in anderen und höheren Regionen erwartet werden
kann. Dies sehen wir im zwölften Kapitel.
Viele, als sie von der Auferweckung des Lazarus gehört
hatten, kamen zusammen <und begrüßten Jesus als den König
41
Israels. Auf dem Fest der Laubhütten empfangen sie Ihn mit
königlichen Ehren, ein Vorbild dessen, was einmal in großer
Herrlichkeit geschehen wird. Auch eilen die Griechen herbei
und nehmen als Anbeter neben Israel ihren Platz ein. Sie
kommen zu Philippus, gleichsam den Zipfel eines jüdischen
Mannes ergreifend (Sach 8, 23), und wünschten Jesum zu
sehen und zu verehren. Aber Jesus verhält sich in diesem
allem in Zurückgezogenheit. Er wußte, daß die Zeit dieser
Festlichkeiten und Feiertage noch nicht gekommen war.
Während ihre Gedanken von den Herrlichkeiten des Königrums erfüllt sind, beschäftigt sich Sein Geist mit dem Tode;
denn wir hören Ihn sagen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt,
so bleibt es allein".
Dies war der besondere Pfad des Geistes Jesu.. Di e Auferstehun g wa r fü r Ih n alles . Sie erhellte Seinen
Pfad inmitten der Schwierigkeiten dieses Lebens. Es gab
für Ihn keine Hoffnung inmitten der Erwartungen und Anerbietungen dieser Welt. Die Auferstehung war für Seine
Seele der heitere Sonnenstrahl, während sich über Bethanien
schwere und finstere Wolken gelagert hatten; und während
andererseits der über Jerusalem leuchtende Glanz eines prunkenden Festtages vor diesem herrlichen Ereignis erbleichen
mußte. Der Gedanke an die Auferstehung heiligte Sein Gemüt ebensowohl inmitten der Leiden, als auch der Freuden,
die Ihn umgaben. Die Auferstehung war für Ihn alles. Sie
machte Ihn zu einem vollkommenen Muster jenes schönen
Grundsatzes des Geistes Gottes: „Die Weinenden seien als
Nichtweinende und die sich Freuenden als sich nicht Freuende".
Geliebte! Möchte diese Gesinnung auch unser Herz erfüllen! Der Herr gebe, daß der Glaube und die Hoffnung
des Evangeliums die wahre Glückseligkeit unserer Herzen
durc h di e Wirksamkei t des in uns wohnenden
Geistes bilden!
„Er starb für mich"
Ein Reisender kam jüngst auf seiner Wanderung durch
die südlichen Staaten Amerikas an einem Platz vorbei, wo er
42
einen Mann bemerkte, der sich über einen frischen Grabeshügel beugte und mit tränenbenetzten Augen in den sorgfältig umgegrabenen Boden Blumen pflanzte. Nachdem er
den Mann eine Zeitlang beobachtet und seine tiefe Traurigkeit wahrgenommen hatte, sagte er zu ihm: „Jedenfalls
trauern Sie über dem Grabe Ihrer Frau, nicht wahr"? „O
nein", war die Antwort, „ich habe meine Frau nicht verloren". „Dann" fuhr der Reisende fort, „benetzen Ihre Tränen das Grab eines vielgeliebten Kindes"? „Nein", erwiderte
der Trauernde, „ich habe weder Frau noch Kind verloren".
„Darf ich denn wissen", fragte der Reisende, „wessen Tod
die Ursache Ihrer so großen Trauer ist"? „Ich pflanze diese
Blumen und vergieße diese Tränen für jemanden, de r fü r
mic h starb" , sagte der Leidtragende: „Ich war im letzten Kriege als Soldat einberufen. Ich hatte Frau und Kinder,
die, wenn ich fiel, unversorgt zurückgeblieben wären. Da
trat mein Freund in mein Haus und sagte: „Ich habe weder
Frau noch Kinder und will daher statt deiner ins Feld ziehen". Er tat es und wurde an einer Schlacht verwundet.
Kaum vernahm ich, daß er sich im Hospital in einem sehr
gefährlichen Zustand befinde, eilte ich zu ihm; aber ich fand
ihn bereits in seinem Grabe. Dieser Hügel deckt seine Gebeine. Er ist für mich ins Grab gestiegen, und in dankbarer
Erinnerung pflanze ich diese Blumen und benetze sie mit
meinen Tränen.
Der Leidtragende ließ nachher auf das Grab einen Stein
setzen, mit der einfachen, aber rührenden Inschrift:
„Erstar b fü r mich" .
Es werden sicher wenige sein, die nicht durch diese kleine,
rührende Geschichte bewegt werden; aber, mein teurer Leser,
wie wenige gibt es, die berührt worden sind durch eine Tatsache, die noch viel wunderbarer und weit rührender ist.
Die Heilige Schrift sagt: „Größere Liebe hat niemand, als
diese, daß jemand sein Leben läßt für seine Freunde" (Joh
15, 13); aber der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat
Sein Leben für Seine Feinde hingegeben; „denn wenn wir,
da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den
Tod seines Sohnes usw." (Röm S, 10). Er starb für unsere
43
Sünden; Er starb für uns, um uns zu Seinen Freunden zu
machen. Kannst du, mein Leser, sagen, daß du einer bist, den
Er für Sich gewonnen hat? Kannst du sagen: „Er starb für
mich, und nicht nur starb Er für mich, sondern Er 1 e b t auch
für immerdar zur Rechten Gottes für mich"? Und kannst du
sagen: „Auch ich bin in Ihm gestorben und mithin getrennt
von dem Zustand, in dem ich, als ein Kind Adams, geboren
war, und leb e jetzt in Ihm, dem Auferstandenen und bin
ein s mit Ihm, dem Verherrlichten"? —
„Gott ist für uns"
Wieviel ist in diesen wenigen Worten enthalten! Wir sehen Gott mit uns durch das Wörtchen „für" in Verbindung
gebracht. Dieses sichert alles für Zeit und Ewigkeit. Nichts,
selbst nicht das Geringste von dem, was der Mensch braucht,
gibt es, was nicht in diesen wenigen Worten mit einbegriffen wäre. Wenn Gott für uns ist, dann folgt notwendig, daß
weder unsere Sünden noch unsere Vergehungen, weder unsere verderbte Natur noch Satan, noch die Welt noch eine
andere Kreatur uns irgendwie im Wege sein können, um
unseren gegenwärtigen Frieden oder unser ewiges Glück zu
stören. Gott kann sich aller bedienen; und Er hat es getan,
und zwar in einer Weise, daß dadurch Seine Herrlichkeit
geoffenbart und Sein Name für ewig verherrlicht worden ist.
Es könnte indes einer unserer Leser sich zu der Frage
veranlaßt fühlen: woraus zu schließen sei, daß er das kostbare Wörtchen „uns " auf sich selbst anwenden dürfe? Das
ist wirklich eine wichtige Frage. Unser ewiges Wohl und
Wehe hängt von der Antwort ab. Wie denn können wir
wissen, daß Gort für uns ist? Ist denn im Blick auf uns
selbst irgendein Grund vorhanden, um deswillen Er für uns
sein könnte? O nein; Er hat im Gegenteil Grund genug, um
gegen uns zu sein. Aber trotz allem, was wir sind und was
wir getan haben, wollen wir durch Gottes Gnade fünf Punkte zum Beweis aufstellen, daß Gott in all unserem Elend, in
all unserer Not und Gefahr fü r un s ist . Der erste große
Beweisgrund, den wir anfuhren wollen, ist
44
die Gabe Seines Sohnes.
„Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht
verloren gehe, sondern ewiges Leben habe" (Joh 3.16). •—
Es gereicht uns zu großer Freude, unsere Beweise mit diesen
herrlichen Worten beginnen zu können. Sie begegnen von
vornherein einer Ungewißheit, die sich dem ängstlichen Gemüt meines Lesers aufdrängen möchte — einer Ungewißheit, die sich auf die Tatsache gründet, daß Röm 8, 31, sowie überhaupt der ganze Brief nur auf Gläubige anzuwenden
ist. Gott sei gepriesen! Diese Ungewißheit muß schwinden
im Blick auf diese ermunternden, alles umfassenden Worte
Dessen, Der sprach, wie nie ein Mensch gesprochen hat.
Wenn wir von den Lippen unseres gesegneten Herrn die
Worte: „Also hat Gott die Welt geliebt", vernehmen, so haben wir keinen Grund, gegen ihre Anwendung auf alle, die
in dem Worte „Welt" miteinbegriffen sind, irgendeinen
Zweifel aufkommen zu lassen. Wenn jemand behaupten
möchte, 'daß die freie Liebe Gottes sich ihm nicht zuwende,
so muß er vorher den Beweis liefern, daß er nicht einen
Teil von der Welt ausmache, sondern sich unter eine Klasse
von Wesen zählt, die einer anderen Sphäre angehört. Hätte
der Herr gesagt: „Also hat Gott einen gewisse n Tei l
der Welt geliebt", — dann würde es allerdings absolut notwendig sein, sich zu vergewissern, daß man diesem Teil
angehört, um jene Worte auf sich anwenden zu können.
Wenn Er gesagt hätte, daß Gott die Berufenen, die Auserwählten geliebt habe, dann müßten wir unbedingt wissen,
ob unser Platz unter ihnen sei, bevor wir die köstliche Verheißung der Liebe Gottes bezüglich der Hingabe Seines Sohnes uns zueignen dürften.
Doch — Gott sei gepriesen! — der Herr spricht nicht in
einer solchen Weise. Er richtete diese Worte an jemanden,
der von Jugend auf nur einen höchst beschränkten Begriff von
der Gunst und Güte Gottes hatte. Nikodemus hatte sich
durch Unterricht die Anschauung gebildet, daß sich der reiche Strom der Güte, Liebe und Barmherzigkeit Jehovas einzig und allein in die engen Grenzen des jüdischen Systems
zu ergießen vermöge. Die Vorstellung, daß dieser Strom
45
seine Ufer überfluten «nid sich selbst bis zu den Nationen
ausdehnen können, hatte nie die Gedanken eines Mannes
beschäftigt, der seine Erziehung nur unter den Einflüssen
des Judentums genossen hatte. Es muß daher höchst seltsam
in seinen Ohren geklungen haben, von den Lippen eines
„von Gott gekommenen Lehrers" die Äußerung zu hören,
daß Gott nicht bloß die jüdische Nation, auch nicht nur einen
gewissen Teil der Menschheit, sondern die „Welt,, zu einem
Gegenstand Seiner Liebe gemacht habe. Ohne Zweifel mußte
diese Äußerung das höchste Erstaunen des „Lehrers in Israel" hervorrufen, zumal da er hören mußte, daß es selbst für
ihn, trotz seiner religiösen Vorrechte, eine Notwendigkeit
sei, „von neuem geboren zu. werden, um in das Reich Gottes
eingehen zu können".
Stellen wir denn hierdurch nicht die köstliche Wahrheit
der Gnadenwahl oder der göttlichen Berufung in Frage? Das
sei ferne. Wir betrachten sie vielmehr als eine der Grundwahrheiten des Christentums; wir glauben an die ewigen
Ratschlüsse unseres Gottes, an die Absichten Seiner auserwählten Liebe, Seiner großen Barmherzigkeit. Aber verhindern denn diese die Auswahl betreffenden Dinge in gewissem Grade nicht die gnadenreiche Tätigkeit der göttlichen
Natur oder den Ausfluß der Liebe Gottes gegenüber einer
verlorenen Welt? In keiner Weise. Gott ist Liebe. Das ist
Seine gesegnete Natur; und diese Natur muß sich gegen alle
Menschen offenbaren. Der Irrtum liegt in der Annahme, daß
Gott deshalb nicht alle Menschen oder die ganze Welt lieben und aller Kreatur die frohe Botschaft der freien Erlösung
verkündigen lassen könne, weil Er — uneingeschränkt in Seiner Gnade und Barmherzigkeit —• nach Seinen Vorsätzen,
Ratschlüssen und Bestimmungen handelt, und weil Er von
aller Ewigkeit her sich ein Volk zum Lobe Seiner Herrlichkeit auserwählt hat, und die Namen der Erlösten vor Anbeginn der Welt im Buche des Lammes eingeschrieben waren.
Beide Wahrheiten, obwohl sie gänzlich voneinander verschieden sind, sind im Worte Gottes klar und bestimmt auf ihren
Platz gestellt; die eine nimmt oder schwächt nicht im Geringsten die Kraft und Bedeutung der anderen, sondern beide
zusammen stellen uns die köstliche Harmonie der göttlichen
46
Wahrheit, die herrliche Einheit der göttlichen Natur vor
Augen. Der Prediger des Evangeliums hat es daher ausschließlich und allein mit der Tätigkeit der göttlichen Natur
und dem Ausfluß der göttlichen Liebe zu tun. Er hat sich
in seiner gesegneten Wirksamkeit nicht durch etwaige Hinweisungen auf Gottes geheime Ratschlüsse zu beschränken,
obwohl er ihrer vollkommen «ingedenk ist. Seine Mission
gilt der Welt, der ganzen Welt; der Inhalt seiner Predigt ist
die Errettung •— eine Errettung, vollkommen wie das Herz
Gottes voll Liebe ist, so dauernd wie der Thron Gottes, so
frei wie der hin und herwehende Wind •—• eine Errettung,
die allen ohne Ausnahme und ohne irgendwelche Bedingung
angeboten wird. Das Fundament seines Wirkens ist der Versöhnungstod Christi, der alle Hindernisse aus dem Wege geräumt und die Tore weit geöffnet hat, damit der mächtige
Strom der göttlichen Liebe sich mit seinem ganzen Reichtum
und in all seiner Segensfülle auf eine schuldige und verlorene Welt ergießen könne.
Hier liegt — mögen wir es wohl beachten •— in bezug auf
das Evangelium Gottes die Verantwortlichkeit des Menschen.
Wenn es wirklich eine Wahrheit ist, daß Gott die Welt also
liebte, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab — wenn es
Sein Wille ist, daß alle Menschen errettet werden und zur
Erkenntnis der Wahrheit kommen — wenn Er nicht will, daß
jemand verloren gehe, sondern daß alle zur Buße kommen,
dann ist sicher jeder, der dieses herrliche Evangelium hört,
unter die ernsteste Verantwortlichkeit gestellt, zu glauben,
um errettet zu werden. Keiner kann mit Aufrichtigkeit und
Wahrheit sagen: „Ich hatte Verlangen, von dem kommenden
Zorn errettet zu werden; aber ich war verhindert durch den
unabänderlichen Ratschluß Gottes, der mich unwiderruflich
für die Hölle bestimmt hatte. Weder im ganzen Worte Gottes, noch in der ganzen Tragweite Seiner Tätigkeit, weder
im Ausdruck Seines Charakters, noch in der Ausübung Seiner moralischen Regierung finden wir auch nur den 'Schwächsten Schatten von einer Grundlage für einen solchen Einwand. Für niemanden ist eine Entschuldigung übriggeblieben.
Gott kann allen, die Sein Evangelium verworfen haben, die
Worte zurufen: „Ich wollte, aber ihr habt nicht gewollt". Es
47
gibt durchaus nichts im Worte Gottes, was zu der irrigen
Annahme Veranlassung geben könnte, daß von Seiten Gottes ein Teil Seiner Geschöpfe zu ewiger Verdammnis bestimmt sei. Ewiges Feuer ist bereitet dem Teufel und seinen
Engeln (Matth 25); der Mensch aber stürzt mit seine m
eigene n Wille n hinein. Gefäße des Zorns sind nicht
durch Gott, sondern durch sich selbst zum Verderben bereitet (Röm 9). Jeder, der in den Hammel geht, wird Gott dafür
zu danken haben; jeder der zur Hölle fährt, wird es sich
selbst zuschreiben müssen.
Andererseits dürfen wir es nicht aus den Augen verlieren,
daß der Sünder nichts mit Gottes unerforschlichen Ratschlüssen zu tun hat. Was weiß er, was kann er in betreff
ihrer wissen? Durchaus nichts. Er hat es ausschließlich und
allein mit der 'geoffenbarten Liebe Gottes, mit Seiner ihm
angebotenen Barmherzigkeit, mit Seiner freien Erlösung, mit
Seinem herrlichen Evangelium zu tun. Wir dürfen ohne
Furcht behaupten, daß, solange in dem göttlichen Buch die
herrlichen Worte stehen: „Wer da will, komme und nehme
das Wasser des Lebens umsonst " (Offb 22), es irgendeinem Sohne oder einer Tochter Adams unmöglich ist, zu
sagen: „Ich verlangte nach Errettung, aber ich konnte sie
nicht erlangen; ich dürstete nach dem Wasser des Lebens,
konnte es aber nicht erhalten, weil der Brunnen zu tief war
und ich kein Gefäß zum Schöpfen hatte". O nein, eine solche Sprache wird nicht aufkommen, ein solcher Einwand
wir in den Reihen der Verlorenen nie erhoben werden können. Wenn die Menschen die Schwelle der Ewigkeit überschritten haben, dann werden sie klar einsehen, was sie jetzt
so dunkel und sich einander widersprechend finden, nämlich
die vollkommene Harmonie zwischen der frei handelnden
Gnade Gottes und dem freien an alle Menschen gerichteten
Anerbieten der Errettung — die vollkommenste Übereinstimmung zwischen göttlicher Unumschränktheit und menschlicher Verantwortlichkeit.
Wir wünschen, daß der Leser diese Tatsache in ihrer ganzen Wirklichkeit erkennen möge. Es ist wichtig, die Wahrheit
in ihrer vollen Tragweite in der Seele festzuhalten und die
Strahlen der göttlichen Offenbarung — ungeschwächt durch
48
die trübe Atmosphäre menschlicher Theologie — auf Herz
und Gewissen wirken zu lassen. Es ist gefährlich/ eine gewisse Anzahl von Wahrheiten aufzunehmen und sie zur
Grundlage eines Systems zu benutzen. Wir haben die Kraft
der ganze n Wahrhei t nötig. Das Wachstum und die
praktische Heiligung der Seele werden nicht durch einzelne
Wahrheiten, sondern durch die Wahrheit in ihrer ganzen
Fülle hervorgebracht, wie sie in der Person Christi verkörpert und durch den ewigen Geist in der Heiligen Schrift geoffenbart ist. Wir müssen unsere durch Gewohnheiten eingesogenen Meinungen gänzlich fahren lassen und uns als unwissende Kindlein zu den Füßen Jesu niedersetzen um durch
Seinen Geist aus Seinem heiligen Worte belehrt zu werden.
Nur dann werden wir Ruhe finden gegenüber allen sich
widersprechenden und das aufrichtige Gemüt beängstigenden
dogmatischen Anschauungen. Dann werden alle finsteren
Wolken und undurchdringlichen Nebel menschlicher Meinungen verschwinden und unsere Seelen werden sich des klaren
Sonnenlichtes einer vollen göttlichen Ordnung erfreuen.
Doch fahren wir mit unseren Beweisen fort. Die zweite
Tatsache, die wir zum Beweis, daß Gott für uns ist, anführen wollen, finden wir
in dem Tode Seines Sohnes.
Zu diesem Zweck wird es nötig sein, nur einen Punkt und
zwar den Hauptpunkt in dem Versöhnungstode Christi hervorzuheben. Wir richten unseren Blick auf jene wunderbare
Tatsache, wovon der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja redet, der sagt: „Jehova gefiel es, ihn zu zerschlagen;
er hat ihn leiden lassen" (Kap. 53). Unser hochgelobter
Herr hätte Mensch werden und die Welt voller Sünde und
Trübsal betreten können; Er hätte im Jordan getauft, durch
den Heiligen Geist gesalbt, vom Teufel in der Wüste versucht werden können; Er hätte uniherziehen und Gutes tun
können; Er hätte leben und wirken, weinen und beten können, und, uns in einem noch größeren Dunkel als zuvor zurücklassend, am Schluß Seiner Laufbahn wieder zum Himmel zurückkehren können; Er hätte wie der Priester und
Levit im Gleichnis unsere Wunden und unser Elend sehen
und wie jene an der entgegengesetzten Seite vorübergehen
49
können. Und was, mein Leser, würde für dich und mich übrig geblieben sein? Sicher nichts anderes, als die Flammen
einer ewig dauernden Hölle. Denn — beachten wir es wohl!
— alles Wirken des Sohnes Gottes während Seines Lebens
hienieden — Sein erstaunenswerter Dienst — Seine Tago
voller Mühe, Seine dm Gebet zugebrachten Nächte — Seine
Tränen und Seufzer — kurz, das Ganze Seines Wirkens von
der Krippe bis zum Kreuz hätte nicht eine n Flecken von
der Schuld eines menschlichen Gewissens auslöschen können.
„Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung". Die Menschwerdung des Sohnes Gottes vermochte an und für sich keine
Schuld zu tilgen. Das Leben Christi als Mensch auf Erden,
erhöhte nur die Schuld des Menschengeschlechts. „Wenn ich
nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten
sie keine Sünde". Das Licht, das Seine gesegneten Pfade
beschien, ließ nur umso deutlicher die moralische Finsternis
des Menschen hervortreten. Wäre Er daher nur gekommen,
um dreiunddreißig Jahre hier zu leben und zu wirken und
dann zum Himmel zurückzukehren, so würde unsere Schuld
und moralische Finsternis bewiesen, aber keine Versöhnung
bewirkt worden sein. Nur „das Blut Jesu Christi, des Sohnes
Gottes, reinigt von aller Sünde".
Dies ist eine große Fundamental-Wahrheit des Christentums und muß stets bestätigt und festgehalten werden. Es
ist darin eine unendliche moralische Kraft enthalten. Wenn
es wahr ist, daß alles Wirken in dem Leben des Sohnes
Gottes — Seine Tränen, Seine Gebete, Seine Seufzer — daß
alle diese Dinge zusammen nicht einen einzigen Flecken von
Sünden wegtun können, müssen wir dann nicht notwendig
fragen, welch einen Wert wir unseren Werken, unseren
Tränen, unseren Gebeten, unseren religiösen Diensten, Zeremonien, Sakramenten und Anordnungen beilegen können?
Können diese Dinge unsere Sünden auslöschen und uns eine
Gerechtigkeit vor Gott geben? Dieser Gedanke würde einen
hohen Grad von Anmaßung verraten. Wenn jene Dinge ein
solches Resultat bewirken könnten, wozu dann noch das
Opfer und der Versöhnungstod Christi? Wozu dieses unschätzbare, unaussprechlich große Opfer, wenn irgendetwas
anderes hinreichend gewesen wäre?
50
Es könnte indes behauptet werden, daß, obgleich diese
Dinge ohn e den Tod Christi nichts nützen, sie dennoch hinzugefügt werden müssen. Aber zu welchem Zweck? Etwa um
diesen unvergleichlichen Tod, dieses köstliche Blut, dies unschätzbare Opfer vollgültig zu machen? Ist das der Gedanke?
Müssen die nichtigen Werke menschlicher Gerechtigkeit in
die Waagschale geworfen werden, um dem Opfer Christi
die nötige Kraft gegen das Gericht Gottes zu verleihen? Wie
verwerflich ist ein solcher Gedanke!
Aber bedürfen wir denn keiner guten Werke? Ja sicher;
aber was sind diese? Sind sie die frommen Werke, die religiösen Bemühungen und die moralischen Tätigkeiten der unwiedergeborenen, unbekehrten und ungläubigen Natur? Nein.
Aber was sind denn die guten Werke des Christen? Sie sind
lebendige, nicht tote Werke. Sie sind die köstlichen Früchte
eines Lebens, das man besitzt •— des Lebens Christi in dem
wahren Gläubigen.
Es gibt unter der Sonne nicht irgendetwas, das Gott als
ein gutes Werk annehmen kann, es sei denn die Frucht der
Gnade Gottes in dem Gläubigen. Der schwächste Ausdruck
des Lebens Christi in dem täglichen Leben des Gläubigen ist
angenehm und köstlich vor Gott, während die ausgezeichnetste und höchste Wirksamkeit eines Ungläubigen in den
Augen Gottes bloß ein „totes Werk" ist.
Wir müssen jedoch zu unserem Thema zurückkehren. Wir
haben gesagt, daß wir für unseren heutigen Zweck nur auf
einen besonderen Punkt in dem Tode Christi hinweisen
würden. Dieser ist: „Jehova gefiel es, ihn zu zerschlagen"
Hierin liegt der schlagende Beweis, daß Gott für uns ist.
Er hat Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn
für uns alle dahingegeben. Er hat Ihn nicht nur gegeben ,
sondern auch „zerschlagen" , und zwar für uns. Dsr
fleckenlose Heilige und Vollkommene, der einzige vollkommene Mensch, dessen Fuß je den Erdboden betrat — der
immer den Willen Seines Vaters getan hat, Dessen ganzes
Leben von der Krippe bis zum Kreuz ein ununterbrochener
zum Thron und zum Herzen Gottes emporsteigender Wohlgeruch war, Der durch jeden Blick, durch jeden Gedanken
dem Wohlgefallen Gottes entsprach, und Dessen einziger
51
großer Zweck die Verherrlichung Gottes und die Vollendung
Seines Werkes war — wurde nach dem bestimmten Ratschluß und nach Vorkenntnis Gottes überliefert und an das
Fluchholz genagelt, um dort den gerechten Zorn Gottes gegen die Sünde zu tragen; und dies alles, weil Gott fü r un s
ist.
Welche bewundernswürdige und unermeßliche Gnade erblicken wir hier! Der Gerechte zerschlagen für 'die Ungerechten, — der sündenlose, fleckenlose, heilige Jesus zerschlagen
durch die Hand unendlicher Gerechtigkeit, auf daß schuldige
Empörer gerettet, und nicht allein gerettet, sondern in die
Stellung und das Verhältnis von Söhnen des Herrn, des Allmächtigen, und von Erben Gottes und Miterben Christi gebracht werden möchten. Dies ist sicherlich Gnade, reiche,
freie, unumschränkte Gnade — eine für den größten Sünder
überströmende Gnade -— eine Gnade, „die da herrscht durch
Gerechtigkeit zu ewigem Leben, durch Jesum Christum". Wer
möchte einer solchen Gnade nicht sein ganzes Vertrauen
schenken? Wer könnte auf das Kreuz blicken und noch zweifeln, daß Gott für den Sünder, ja für jeden Sünder ist, der
zu Ihm kommt. Wer möchte nicht der liebe vertrauen, die
uns vom Kreuz herab entgegenstrahlt? Wer könnte das Kreuz
anschauen, ohne zu sehen, daß Gott nicht den Tod des Sünders will? Warum hat Er uns in unserer Schuld nicht umkommen lassen, warum hat er, wie wir es durch unsere Sünden reichlich verdient hatten, uns nicht zum ewigen Abgrund
hinabsinken lassen? Warum hat Er überhaupt Seinen Sohn
gegeben? warum hat Er Ihn am schmachvollen Kreuze zerschlagen? warum Sein Antlitz verborgen vor dem einzigen
vollkommenen Menschen, Der je gelebt hat, vor Seinem eingeborenen Sohne? Warum dies alles, mein Leser? Sicherlich,
es war, weil Gott trotz unserer Schuld und unserer Vergehungen fü r un s ist. Ja, gepriesen sei Sein Name! Er ist
für den armen, verderbten und verdammungswürdigen Sünder, wer und wie dieser auch sei; und jeder, dessen Auge
diese Zeilen lesen, ist eingeladen zu kommen und jener Liebe zu vertrauen, die sich für den Sünder am Kreuze zerschlagen ließ.
O geliebter Leser! Komm, komm jetzt! Säume nicht, zweif52
le nicht, höre rächt auf die Stimme Satans! Lausche rächt auf
die Einwendungen und Meinungen deines eigenen Herzens,
sondern lausche auf das Wort, das dir bezugt, daß Gott fü r
dic h ist, und auf die Liebe, die dir entgegenstrahlt in der
Hingabe und dem Tode des Sohnes Gottes. Diese beiden
Tatsachen —• die Gabe und der Tod des Sohnes Gottes —
sind im Vorhergehenden von uns als Beweis für die Wahrheit angeführt, daß Gott fü r un s ist. Wir sind unserem
gesegneten Herrn auf Seinem wunderbaren und geheimnisvollen Wege gefolgt, den die Fußstapfen göttlicher und ununterbrochener Liebe kennzeichnen. Wir haben gesehen, wie
der hochgelobte Gott nicht nur Seinen eingeborenen Sohn
hingegeben, sondern Ihn auch zerschlagen hat für uns, wie
Er den fleckenlosen Leib Seines Sohnes zu einem Opfer für
die Sünde gemacht hat, wie Er Ihn an unserer Statt gerichtet
und in den Staub des Todes gelegt hat und dadurch den unumstößlichen Beweis geliefert hat, daß Er für uns ist. Konnte
Er noch einen kräftigeren Beweis von Seiner Liebe zu uns
und von Seinem Verlangen nach unserer Rettung geben, als
die Gabe und den Tod Seines vielgeliebten, eingeborenen
Sohnes?
Gehen wir jetzt zu dem dritten Beweis über. Wir finden ihn
in der Auferweckung des Sohnes Gottes.
Bei Betrachtung dieses herrlichen Ereignisses der Auferstehung heben wir jedoch nur einen Punkt hervor, nämlich
das darin ausgesprochene Wohlwollen Gottes. Eine oder zwei
Schriftstellen werden hinreichen, um diesen Punkt ins Licht
zu stellen.
In Röm 4 sehen wir Gott als Den, Der den Herrn Jesum
aus den Toten auferweckt hat. Der Apostel spricht hier von
Abraham, „der wider Hoffnung auf Hoffnung geglaubt hat,
auf daß er ein Vater vieler Nationen würde, nach dem, was
gesagt ist: Also soll dein Same sein. Und rächt schwach im
Glauben, sah er nicht seinen eigenen, schon erstorbenen Leib
an, da er fast hundert Jahre alt war, und das Absterben des
Mutterleibes der Sarah, und zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt
im Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen Gewißheit, daß er, was er verheißen habe, auch zu tun verrnö53
ge. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden. Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, daß es
ihm zugerechnet wurde,, sondern auch unseretwegen, denen
es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, der unserer Übertretungen wegen dahingegeben, und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist". —• Beachten wir es
wohl! Es heißt hier nicht: „Wir glauben an den, der Seinen
Sohn gab", sondern: „an den, der Ihn aus den Toten auferweckt hat".
O mein teurer Leser, erwäge doch diese große Wahrheit!
Was brachte den Heiland zum Kreuze? Was führte Ihn in
den Staub des Todes? Waren es nicht unsere Sünden und
Vergehungen? Ja gewiß. „Er wurde um unserer Sünden willen dahingegeben". Er wurde an unserer statt an das Fluchholz geheftet. Er wurde am Kreuze in der ganzen Tragweite
des Wortes unser Stellvertreter. Er nahm unseren Platz ein
und wurde in jeder Beziehung so behandelt, wie wir es verdient hatten behandelt zu werden. Die Hand der Gerechtigkeit traf Ihn am Kreuze wegen all unserer Sünden. Der Herr
Jesus machte sich verantwortlich für alles was gegen uns war
oder je gegen uns sein könnte, und — gepriesen sei Sein anbetungswürdiger Name! — Er starb für uns unter dem ganzen Gewicht unserer Sünden. Er, der Gerechte, starb für die
Ungerechten. Und wo ist Er jetzt? Das Herz jauchzt mit unaussprechlicher Freude und heiligem Triumph bei dem Gedanken an die Antwort. Wo ist der Hochgelobte, Der an jenem Kreuz hing und in jenem Grab lag? Er ist zur Rechten
Gottes mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Wer hat Ihm diesen Platz gegeben? Er, Der Ihn „gegeben" und Ihn am Kreuz
„zerschlagen" hat — Er ist es, Der Ihn aus den Toten auferweckte; und an Ihn haben wir zu glauben, wenn unser
Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet werden soll. Das ist der
besondere Gedanke, der den Apostel beschäftigte. Die Gerechtigkeit wird uns zugerechnet, wenn wir an den Gott
glauben, Der unseren Herrn Jesum aus den Toten auferweckt
hat.
Beachten wir hier das lebendige Verbindungsglied! Derselbe, Der mit unseren Sünden beladen am Kreuze hing, be54
findet Sich jetzt ohne Sünden auf dem Throne. Wie ist Er
dahin gekommen? War es durch die Kraft Seiner ewigen
Gottheit? Nein, denn von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, war Er immer da. Er war Gott über alles, gepriesen für
immer! War es kraft Seiner ewigen Sohnschaft? Keineswegs; denn auch in dieser Eigenschaft war Sein Platz stets
droben. Sicher, die Tatsache, daß Er als der ewige Sohn des
Vaters Seinen Platz zur Rechten der Majestät in den Himmeln eingenommen habe, würde nicht imstande sein, den
Bedürfnissen eines schuldigen Sünders zu begegnen, indem
Ihm als einem solchen der innigste und zärtlichste Platz im
Schöße des Vaters von Ewigkeit her angehörte. Aber nahm
Er denn — möchte man fragen — diesen Platz auf dem
Throne des Vaters nicht ein, weil Er der reine, sündenlose
und vollkommene Mensch war? Nein; denn als solcher hätte
Er zu jeder beliebigen Zeit zwischen der Krippe und dem
Kreuz diesen Platz einnehmen können.
Welchen Schluß können wir daraus ziehen? Den köstlichen, friedengebenden Schluß, daß Er, Der unserer Übertretungen wegen dahiingegeben, unserer Sünden wegen geschlagen, an unserer statt gerichtet wurde, im Himmel auf dem
Throne des Vaters mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist
und so umfassend und vollkommen die ganze Frage unserer
Sünden beantwortet hat, daß eine unendliche Gerechtigkeit
Ihn aus den Toten auferweckte und das Diadem der Herrlichkeit auf Seine heilige Stirn drückte. Begreifst du dies,
mein Leser? Erkennst du die Tragweite dieser Tatsache in
bezug auf dich selbst? Glaubst du an Den, Der Jesum aus
den Toten auferweckte? Erkennst du, daß in diesem Fall Er
Sich Selbst als dir zugetan erklärt hat? Und glaubst du, daß
Er durch die Auferweckung Jesu aus den Toten dem großen
Versöhnungswerk den Stempel Seiner völligen Anerkennung
aufgedrückt und dadurch die für alle deine Schulden — für
die „zehntausend Talente" — ein Quittung ausgestellt hat?
Das ist die Deutung des herrlichen Beweises in Röm 4.
Wenn Er, Der unserer Übertretungen wegen dahiingegeben
worden ist, jetzt, und zwar infolge der Tätigkeit von seiten
Gottes Selbst, im Himmel ist, dann sind sicher unsere Sünden beseitigt, und wir stehen da gerechtfertigt von allen
55
Dingen und so frei von jeder Anklage und Schuld, von jedem Hauch der Verdammnis, wie der Herr Selbst es ist. Das
ist eine unabänderliche Tatsache, wenn wir an Den glauben,
Der unseren Herrn Jesum Christum aus den Toten auferweckt hat. Es ist durchaus unmöglich, daß Gott irgendeine
Anklage gegen den Gläubigen annehmen kann, und zwar
aus dem einfachen Grund, weil Der, Den Er aus den Toten
auferweckte, Derselbe ist, Den Er um unserer Sünden willen
zerschlagen hat.
Warum hat Er Ihn auferweckt? Weil die Sünden, um deretwillen Er zerschlagen wurde, für immer beseitigt waren. Der
Herr Jesus könnte nicht sein, wo Er jetzt ist, wenn ein einziger Flecken unserer Schuld zurückgeblieben wäre; denn Er
hat unsere Sache auf Sich genommen und Sich für alles verantwortlich gemacht. Da Er nun aber, und zwar durch Gott
Selbst bewirkt, droben ist, so ist es unmöglich, gänzlich unmöglich, daß irgendeine Frage bezüglich der vollkommenen
Rechtfertigung und der vollkommenen Gerechtigkeit einer
an Ihn glaubenden Seele erhoben werden könnte. Deshalb,
in dem Augenblick, wo jemand an Gott in dem besonderen
Charakter eines Auferweckers Jesu glaubt, steht Er vollkommen gerechtfertigt vor Ihm. Das ist wunderbar, aber
eine göttliche, ewige Wahrheit. Möchte der Leser die Kraft,
die Köstlichkeit und friedengebende Verwirklichung davon
empfinden. Ja, möchte der ewige Geist das gesegnete Bewußtsein davon seiner Seele tief einprägen! Dann wahrlich
wird er vollkommenen Frieden in seiner Seele haben und
zugleich erfahren, daß Gott sowohl durch die Aufer -
weckung , als auch durch die Gab e und den To d Seines Sohnes laut bekundet hat, daß Er für uns ist.
Wenden wir uns jetzt zu unserem vierten Beweis, daß
Gott für uns ist. Wir finden ihn
in der Sendung des heiligen Geistes.
Auch hier müssen wir uns im Blick auf dieses herrliche
Ereignis auf einen Punkt beschränken, nämlich auf die Art
und Weise, in der der ewige Geist, dieser herrliche Zeuge,
herniederkam. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Apg
2, wo wir lesen: „Und als der Tag der Pfingsten erfüllt
*6
wurde, waren sie alle an einem Orte beisammen. Und plötzlich geschah aus dem Himmel ein Brausen, wie von einem
daherfahrenden, gewaltigen Wind, und erfüllte das ganze
Haus, wo sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen wie von Feuer, und sie setzten sich auf einen jeglichen
von ihnen. Und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Sprachen zu reden, wie der
Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, gottesfürchtige Männer, von jeder Nation derer, die unter dem Himmel sind. Als sich aber das Gerücht
hiervon verbreitete, kam die Menge zusammen und wurde
bestürzt, weil jeder einzelne sie in seiner eigenen Mundart
reden hörte. Sie entsetzten sich aber alle und verwunderten
sich und sagten: Siehe, sind nicht alle diese, die da reden,
Galiläer? Und wie hören wi r sie, ein jeglicher in unserer
eigenen Mundart, in der wir geboren sind: Parther und
Meder und Elamiter, und die Bewohner von Mesopotamien
•und von Judäa und Kapadocien, Pontus und Asien, und
Phrygien und Pamphylien, Ägypten und den Gegenden von
Libyen, gegen Kyrene hin, und die hier weilenden Römer,
sowohl Juden und auch Proselyten, Kreter Araber, — wie
hören wir sie die großen Taten Gottes inunserenSpra -
c h e n reden"? Es ist wirklich eine Wahrheit von höchstem
Interesse, daß der Heilige Geist auf jeglichen herniederkam,
und daß ein jeglicher „-in der eigenen Mundart eines jeden
Hörenden redete, und zwar nicht in der Mundart, in der
dieser erzogen, sondern in der er „geboren war" — in jener
Mundart, in der die Mutter zu ihrem Kind redet. Von solcher Art war das Mittel und Werkzeug, dessen sich der
göttliche Bote bediente, um den Menschen mitzuteilen, daß
Got t fü r un s ist . Er redete nicht zu den Hebräern
griechisch, oder zu den Griechen lateinisch; Er redete zu jedem in der Sprache, die er verstand -— in dessen Muttersprache; und zwar zu dem Zweck, das Herz mit der süßen
Botschaft der Gnade zu erreichen.
Vergleichen wir hiermit die Tatsache der Gesetzgebung auf
dem Berge Sinai. Dort redete Jehova nur in einer Sprache.
Wären dort Personen „aus jeder Nation derer, die unter dem
Himmel sind", versammelt gewesen, so würden sie keine
R7
Silbe verstanden haben. Das Gesetz, die Darstellung der
Pflichten des Menschen gegen Gott und den Nächsten •— war
nur in eine Sprache gehüllt. Als aber die großen Taten Gottes
verkündigt wurden — als die herrliche Botschaft der Liebe
zu bringen war — als das Herz Gottes gegen arme, schuldige Sünder geoffenbart werden sollte — war da ein e Sprache genug? Nein, „jede Nation derer, die unter dem Himmel sind", mußte es hören, und zwar in ihrer „eigenen
Mundart". —•
Bs könnte vielleicht eingewendet werden, daß die damaligen Ohrenzeugen der Apostel Juden gewesen seien. Aber
selbst in diesem Falle würde unser Gegenstand an Bewunderungswürdigkeit, Lieblichkeit und Kraft um nichts beraubt
sein. Es ist eine unumstößliche Tatsache, daß, als der Heilige
Geist vom Himmel herniederkam, um von der Auferstehung
Christi, von der vollbrachten Erlösung zu zeugen und Buße
und Vergebung der Sünden zu predigen, Er Sich nicht auf
eine Sprache beschränkte, sondern in jeder Mundart sprach,
die unter dem Himmel war. Und warum? Weil es Sein Verlangen war, den Menschen das, was Er ihnen mitzuteilen
hatte, verständlich zu machen und das Herz mit der angenehmen Botschaft einer erlösenden liebe, mit der seelenerweckenden Botschaft einer völligen Sündenvergebung zu erreichen. Als es sich um das Gesetz handelte —• als Jehova
mit den Menschen über ihre Pflichten zu reden hatte und
ihnen zurief: „Du sollst dieses tun und jenes lassen"! —
beschränkte Er Sich auf eine einzige Sprache. Als Er aber
im Begriff war, die köstlichen Geheimnisse Seiner Liebe zu
verkündigen — als Er dem Menschen beweisen wollte, daß
Er fü r ih n war , da trug Er Sorge, daß — gepriesen sei
Sein herrlicher Name! — in allen Sprachen unter dem Himmel geredet wurde und jeglicher „in seiner eigenen Mundart,
in der er geboren war", die „großen Taten Gottes" hören
konnte. *)
*) In 1. Mose 11 sehen wir verschiedene Sprachen wegen des menschlichen Hochmuts als ein Gericht gegeben. In Apostelg. 2 aber sind die verschiedenen Sprachen
eine Gabe der Gnade, um den Bedürfnissen der Menschen zu begegnen. In Offenb. 7
endlich finden wir die verschiedenen Sprachen vereinigt zu einem Liede des Lobes
Gottes und des Lammes. Welche großen Taten Gottes! Wie anbetungswürdig ist
Sein Name!
58
So sind wir nun im Laufe unserer Beweise Christo von
der Krippe bis zum Kreuz, vom Kreuz bis zum Thron gefolgt. Wir haben gesehen, wie das Herz Gottes in der Gabe,
dem Tode und der Auferweckung des Sohnes Sich in tiefer,
bewundernswürdiger Liebe und zärtlichem Mitleiden gegen
schuldige und verlorene Sünder geoffenbart hat, und wie der
Heilige Geist vom Himmel auf die Ende herniederstieg, um
jeder Kreatur unter dem Himmel die frohe Botschaft einer
vollen, freien und ewigen Erlösung durch das Blut des Lammes zu verkündigen, und zwar nicht in einer unbekannten
Sprache, sondern in der Sprache, an der. ein jeder geboren
war. Was bleibt uns nun noch übrig? Ist der Kette der Beweise noch irgend ein Glied beizufügen? O ja; wir finden
schließlich noch einen fünften Beweis
im Besitz der Heiligen Schrift.
Man könnte sagen, daß dieser Beweis schon in dem vorhergehenden enthalten sei, insofern der Besitz einer Bibel in
der Muttersprache in Wirklichkeit dasselbe ist, als ob der
Heilige Geist in der Sprache, worin wir geboren sind, zu uns
redet. Das ist wahr; aber dennoch ist für den Leser die Tatsache, daß Gott in seine Hände das unschätzbare Geschenk
der Heiligen Schrift gelegt hat, ein neuer Beweis, d a ß E r
f ü r ih n ist . -Denn warum sind wir nicht in Ungewißheit
und völliger Dunkelheit gelassen? Warum ist das göttliche
Buch unseren Händen anvertraut? Warum wurden gerade
wir so begünstigt? Warum teilen wir nicht mit vielen Tausenden das Geschick, in heidnischer Blindheit zu leben und
zu sterben? Warum wirft dieses himmlische Licht gerade auf
uns seine hellen Strahlen?
Ach, geliebter Leser! Die Antwort ist: Gott ist fü r dich.
Ja, für dich trotz deiner vielen Sünden — für dich trotz all
deiner Trägheit, Gleichgültigkeit und Widersetzlichkeit, wiewohl du nicht einen einzigen Grund angeben kannst, warum
Er nicht gegen dich sein sollte. Er gab Seinen Sohn aus Seinem Schoß, verwundete Ihn auf dem Kreuze, erweckte Ihn
aus den Toten, sandte den Heiligen Geist hernieder und
legte in deine Hände das gesegnete Buch — alles, um dir
zu zeigen, daß Er fü r dic h ist, daß Sein Herz dir entgegenschlägt und Er allen Ernstes deine Errettung will.
59
Und — o beachte es wohl! •— Du kannst nicht sagen und
wirst es auch nie wagen zu sagen: „Ich konnte die Bibel
nicht verstehen, sie war mir zu hoch, voll dunkler, unerklärlicher Geheimnisse, voller Schwierigkeiten, die ich nicht
zu übersteigen vermochte, und voller Widersprüche, die ich
nicht lösen konnte. Und wenn ich mich zu denen wandte, die
Christen zu sein bekannten, so fand ich sie in unzählige Parteien zersplittert mit verschiedenen Lehren und Formen. Dazu entdeckte ich eine solche Oberflächlichkeit, eine solche
Unzuverlässigkeit und soviele Widersprüche zwischen Bekenntnis und Wandel, daß ich gezwungen war, den ganzen
Gegenstand der Religion mit den gemischten Gefühlen von
Erstaunen, Verachtung und Widerwillen fahren zu lassen".
Solche Einwendungen werden sich am Tage des Gerichts
nicht als stichhaltig erweisen und dich nicht vor dem See, der
mit Feuer und Schwefel brennt, schützen können. Erwäge
dies mit dem tiefsten Ernst. Laß dich nicht durch den Teufel
auch nicht durch dein eigenes Herz betrügen. Was sagt Abraham zu dem reichen Manne in Luk 16? „Sie haben Moses
und die Propheten, la ß si e di e hören" . Warum sagt
der reiche Mann nicht, daß jene, Moses und die Propheten,
nicht verstehen würden? Er darf es nicht. Nein, mein Leser;
ein Kind kann die heiligen Schriften verstehen, denn sie sind
„vermögend, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den
Glauben, der in Christo Jesu ist" (2. Tim 3, 15). Jeder Besitzer dieses heiligen Buches ist verantwortlich vor Gott für
den Gebrauch, den er davon macht. Wenn das bekennende
Christentum sich noch tausendmal mehr in Spaltung aufgelöst hätte, so bliebe dennoch für jeden Besitzer der Bibel die
Mahnung: „Sie haben Moses, die Propheten, und das Neue
Testament, laß sie diese hören".
O könnten wir doch jeden unbekehrten, zweifelnden Leser
überreden, über diese Dinge ernstlich nachzudenken und den
verborgenen Tiefen seines inneren Wesens die ungeteilte
Aufmerksamkeit zu schenken, ehe es z u spä t ist. Wie
schrecklich muß doch der Zustand eines Verlorenen sein, der
in der Hölle, diesem endlosen Ort ewiger Pein, zu dem Bewußtsein erwacht, daß Gott für immer gege n ih n ist, daß
alle Hoffnung vernichtet und nichts imstande ist, jene große
60
Kluft zu überbrücken, dde die Region der Verlorenen von der
der Erlösten für immer trennt.
Wir können nicht weiter gehen. Der Gedanke ist wirklich
zu überwältigend; unser Herz bebt zurück vor den Schrecken
eines solchen Zustandes. Teurer Leser! Wenn du noch nicht
Frieden gefunden hast, so laß dich, ehe du deine Blicke von
diesen Zeilen abwendest, erbitten, noch in dieser Stunde zu
dem liebenden, gnadenreichen Heilande zu eilen, der bereit
ist, dich mit offenen Armen zu empfangen, und Der in Seinem Worte sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht
hinauswerfen". So komm denn und vertraue dem glaubenswürdigen Worte Gottes und dem vollbrachten Werk Christi!
Hier liegt das köstliche Geheimnis der ganzen Sache.
Schaue von dir hinweg, schaue auf Jesum. Vertraue auf das,
was Er am Kreuz für dich getan hat, und alle deine Sünden
werden ausgelöscht; göttliche Gerechtigkeit, ewiges Leben,
Kindschaft, die Innewohnung des Heiligen Geistes, ein Sachwalter droben beim Vater, eine Wohnung im Himmel und
die Herrlichkeit Christi werden dein gesegnetes Teil sein.
J'a, mein Leser, wenn du an Ihn 'glaubst, wird alles — ja Er
Selbst wird dein Teil sein.
Möge der Heilige Geist dich leiten, noch in 'diesem Augenblick zu den Füßen Jesu zu fliehen, um triumphierend ausrufen zu können „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns"!
Gott gebe es um Jesu willen!
„Verschlungen ist der Tod im Sieg"
(1. Korinther 15)
Wenn wir das 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes lesen, find wir, daß am Schluß der Apostel von der Ankunft
des Herrn redet, und zwar von Seiner Ankunft, um die Versammlung (oder Kirche) zu. Sich in den Himmel aufzunehmen. Wir lesen dort die Worte: „Siehe, ich sage euch ein
Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem
61
Augenblick, bei der letzten Posaune. Denn posaunen wird
es, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich,
und wir werden alle verwandelt werden" (V. 51. 52). Und
in bezug auf diese Letzteren, die bis zur Ankunft des Herrn
übriggebliebenen Lebenden, sagt der Apostel: „Denn dieses
Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen und dieses
Sterbliche 'Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber dieses Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und dieses Sterbliche
Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt
werden, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod in
Sieg".
Freilich wird auch nach diesem herrlichen Ereignis der Tod
als solcher nicht völlig aufgehoben sein, sondern erst nach
dem tausendjährigen Reich seine gänzliche Vernichtung erfahren (V. 26); aber bezüglich der Versammlung ist — Gott
sei dafür gepriesen — der Tod von dem Augenblick an, wo
©ie durch Jesum in die Herrlichkeit aufgenommen ist, in Sieg
verschlungen, d. h. völlig überwunden und hinweggetan.
Und dieser Sieg hat nicht so sehr seinen Grund in der Auferweckung der Entschlafenen, als vielmehr in der augenblicklichen Verwandlung der Lebenden, ohne daß diese es
nötig haben, durch den Tod zu gehen. Alle Gläubigen, die
bis zu dem Augenblick, wo Jesu kommt, auf Erden am Leben bleiben, werden nicht sterben. „Wir werden nicht alle
entschlafen". Ohne durch den Tod gehen zu müssen, werden
sie „in einem Nu, in einem Augenblick verwandelt wenden",
das will mit anderen Worten sagen: ihre Seele wind nicht
von dem Leibe geschieden, und ihr Leib wurd nicht in die
Erde gelegt werden, sondern in einem Augenblick wird das
Sterbliche oder Verwesliche aus dem Leibe hinweggenommen sein.
Wie bewundernswürdig und herrlich ist dieser Sieg! Der
Tod ist der Sold der Sünde: und alle Menschen sind von
Natur dem Tode unterworfen. Es ist den Menschen gesetzt,
einmal zu sterben (Hebr 9, 27). Und dennoch braucht der an
Christum Glaubende nicht zu sterben; er ist nicht an den
Tod gebunden. Es werden solche sein, die, wenn der Herr
Jesus kommt, nicht nötig haben zu sterben; und diese liefern
uns den Beweis, daß sie, ja daß wir, daß alle Gläubigen nicht
62
mehr dem Tod unterworfen sind. Der Tod — ein König des
Schreckens für die Ungläubigen — hat keine Macht, keine
Gewalt mehr über uns. Und was ist die Ursache? Weil Christus an unserer Statt den Tod erduldet hat. Er, für uns zur
Sünde gemacht, unterwarf Sich dem Tode als dem Sold der
Sünde. Der Apostel sagt: „der Stachel des Todes" — das
heißt das, wodurch der Tod herrscht — „ist die Sünde".
Aber Christus hat den Stachel des Todes hinweggenommen;
denn Er wurde für uns zur Sünde gemacht. Er trug unsere
Sünden an Seinern Leibe auf dem Holze und starb an unserer Statt unter dem Zorne eines gerechten und heiligen Gottes. Alle, die an Ihn glauben, sind dadurch von der Sünde
freigemacht und vom Tode erlöst. Darum kann Paulus und
darum können alle Gläubige mit ihm ausrufen: „Wo ist, o
Tod, dein Stachel? wo ist, o Hades, dein Sieg" (V. 55)?
Welch eine herrliche und vollkommene Erlösung! Und diese Erlösung wird in ihrer ganzen Tragweite und Fülle bei
der Ankunft unseres Herrn und Heilandes geschaut wenden,
wenn die übriggebliebenen Lebenden nicht sterben, sondern,
ohne dem Tod unterworfen zu werden, zur Herrlichkeit eingehen. Ja, dann wird es geschaut werden, daß alle, die mit
Christo Jesu durch den Glauben verbunden sind, durch Ihn
für immer der Macht des Todes entrückt sein werden. Im
Blick auf diese unendlich herrliche Tatsache und im Vorgenuß der unaussprechlichen Freude dieser Zukunft rufen wir
mit dem Apostel freudig aus: „Wo ist, o Tod, dein Stachel?
wo ist, o Hades, dein Sieg"? Und dieses ist und bleibt der
Ton unseres Jubels, ob auch der Tod noch täglich um uns
her wütet und seine Macht übt, und ob er auch noch manchen aus unserer Mitte hinwegnimmt.
„Aber" — könnte vielleicht jemand einwenden — „enthalten diese letzten Worte keinen offenen Widerspruch"?
Keineswegs, mein teurer Leser. Wiewohl in unseren Tagen
die Reihen der Gläubigen noch durch den Tod gelichtet werden, und wiewohl die Möglichkeit vorhanden ist, daß auch
wir durch den Tod abgerufen werden, so befinden wir uns
dennoch nicht mehr unter der Macht des Todes. Vielmehr
liegt die Wahrheit gerade im entgegengesetzten Fall. Nicht
wir sind dem Tode, sondern der Tod ist uns unterworfen.
63
Man lausche nur auf die Worte des Apostels Paulus, wenn
er in 1. Kor 3, 22 sagt: „Alles ist euer; es sei Paulus, oder
Apollos, oder Kephas, oder die Welt, oder Leben, oder Tod,
oder Gegenwärtiges, oder Zukünftiges: Alles ist euer". —
Habt ihr es verstanden? Alles gehört uns, selbst der Tod. So
wie Paulus, Apollos und Kephas unsere Diener sind, so steht
auch der Tod in unserem Dienst. Und inwiefern ist er unser
Diener? Er entrückt die Gläubigen dieser armen Erde und
führt sie in das Paradies zu Jesu.
Daß die Gläubigen nun noch sterben, list nicht darum,
weil sie dem Tod unterworfen sind, — nein, denn bei der
Ankunft Jesu zeigt sich gerade das Gegenteil — sondern
weil Gott, um noch viele zu erretten, bis jetzt diese Ankunft
verzögert hat. Kommt der Herr noch heute, wohlan, wir
werden dann nich t sterben ; dann wird die Wahrheit
aus uns hervorstrahlen, daß der Tod durch Christum vollkommen überwunden ist, und dann wird das Wort an uns
erfüllt werden: „Verschlunge n is t de r To d i n
Sieg" .
All unsre Sund'
ist längst gesühnt,
der Kerker gekettet,
der Tod ist getötet.
In Jesu ward Heil uns und Leben.
64
Die Grundwahrheiten
der Versammlung Gottes
2. Ein Geist (1. Kor 12, 1—13)
Es sollte das Bestreben jedes Christen sein, nicht allein in
seinen Worten, sondern auch in Tat und Wahrheit den rechtmäßigen Anforderungen des vom Himmel herniedergesandten
Heiligen Geistes nachzukommen, mit anderen Worten, sich der
freien und unumschränkten Wirksamkeit und Leitung des Geistes
in der Versammlung Gottes zu unterwerfen. Auch über diesen
Gegenstand herrscht bei vielen Kindern Gottes große Unwissenheit; und obwohl sie gesegnet sein mögen, und der Geist
Gottes viel durch sie zur Errettung von Seelen gewirkt haben
mag, so bleibt es dennoch ein großer Verlust für sie, wenn die
Wahrheit der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes,
sowohl in der Versammlung, als auch in den einzelnen Gläubigen, nicht anerkannt wird und als eine Gewißheit die Seele
beherrscht.
Wenn wir indes von d"" gegenwärtigen Ansprüchen des Heiligen Geistes oder von meiner unumschränkten Wirksamkeit in
der Versammlung sprechen, so soll damit Seine Wirksamkeit
oder deren Bedeutung in den vergangenen Zeiten keineswegs
in Frage gestellt sein. Er war von Anfang an die wirkende
Kraft in allen Handlungen Gottes. Er nahm Anteil an der
Schöpfung, Er gab den Alten Zeugnis, Er wirkte durch Mose,
durch Bezaleel, durch Simson, durch David und die Propheten;
mit einem Worte, Gott tat nichts, wobei der Heilige Geist nicht
wirksam gewesen wäre.
Aber dennoch wird ein Blick in das Neue Testament genügen
um eine wesentliche Veränderung in dieser Hinsicht zu gewähren. Der Heilige Geist wurde nach der Himmelfahrt Christi
herniedergesandt in einer nie zuvor gekannten Weise. Während im Alten Testament Seine Ausgießung in einer Weise angekündigt wurde, welche der Gegenwart und der Regiemng
des Messias auf der Erde entspricht, finden wir im Neuen
Testament Seine Ausgießung als die Folge der Verwerfung des
Messias. Das war für die Juden etwas ganz Unerwartetes. Statt
ihre Hoffnungen durch die Gegenwart des Herrn nun bald erfüllt
zu sehen, sahen sie sich durch das Kreuz und den Tod des
Herrn mit einem Male in ihnen getäuscht, indem Er als der
71
Auferstandene die Welt in Finsternis zurückließ und gen Himmel fuhr, demzufolge der Heilige Geist herniedergesandt wurde,
um — während Jesus abwesend und im Himmel ist — auf der
Erde zu sein.
Nächst der Person Christi bildet die Sendung des Heiligen
Geistes den Hauptgegenstand der neutestamentlichen Wahrheiten. Leider aber ist dies nicht der Fall in den Herzen vieler
Christen, in deren Gedanken die Person des Heiligen Geistes
durch einen bloßen Einfluß ersetzt ist, den der Heilige Geist,
wie sie sagen, zu allen Zeiten ausgeübt habe; andere behaupten
sogar, daß die Heiligen zu allen Zeiten ohne Unterschied den
Heiligen Geist empfangen hätten. Die Folge solcher Anschauungen ist, daß man selbst bezüglich der klarsten Schriftstellen
in allerlei Verirrungen gerät. Ohne Zweifel waren sowohl die
Gläubigen des Alten Testaments als auch die Jünger des Herrn
durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes lebendig gemacht
und gläubig geworden; aber sie hatten Ihn nicht als eine in
ihnen wohnende Person empFangen. Das konnte erst stattfinden, nachdem der Herr Jesus das Werk der Erlösung vollbracht hatte und gen Himmel gefahren war, wie wir in Joh 7,
38. 30 lesen: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt
hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dieses aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn
Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch, nicht,
weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war". Den Heiligen
Geist sollte nicht jemand empfangen, damit er dadurch gläubig
werde; sondern Er sollte in denen Wohnung machen, die bereits gläubig waren. Es gab zu allen Zeiten Gläubige; aber „der
Heilige Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht
worden war". Diese Stelle widerlegt also klar und bestimmt
die Behauptung, daß der Heilige Geist zu allen Zeiten gegeben
worden sei. Ebenso reden die letzten Kapitel des Evangeliums
Johannes nicht von dem Heiligen Geist in dem Sinn eines
bloßen Einflusses, oder einer geistlichen Kraft, sondern von
einer Person, die gesandt wird und herniederkommt. Das Wort
„Sachwalter" in Kap. 14 bedeutet sicher nicht bloß „Wunderkräfte, Sprachen usw.", wiewohl der Geist alles das wirkte,
sondern es bezeichnet unstreitig eine Person. Ferner sagt der
Herr in demselben Kapitel: „Er wird bei euch bleiben in Ewig73
punkt ihrer Einheit aufstellen. Aber wird da die Einheit des
Geistes bewahrt, wo nicht Christus der ausschließliche Gegenstand und Mittelpunkt des Zusammenkommens ist? Die Gegenwart des Heiligen Geistes auf dieser Erde hat vor allen Dingen die Verherrlichung Christi zum Zweck. Wenn daher Gläubige sich im Namen Jesu versammeln, in der Gegenwart
Dessen, Der, obwohl Er unsichtbar und im Himmel ist, dennoch
dem Worte Seiner Verheißung stets treu bleibt, und in Anerkennung der Wahrheit, daß alle Gläubigen durch den einen
Geist zu einem Leibe getauft sind, so bewahren sie die Einheit
des Geistes; denn selbstverständlich ist hier der Heilige Geist
die allein leitende und ordnende Person. Und man würde eine
offenbare Geringschätzung des Zweckes des Todes Christi
(Joh n , 52) an den Tag legen, wenn man gegen ein solches
Zusammenkommen gleichgültig sein oder sich davon zurückziehen wollte. Die Wertschätzung des Todes Christi sowie die
Bewahrung der Einheit findet nur dadurch ihren Ausdruck,
daß man sich auf diesem und auf keinem anderen Boden versammelt. Nun sehe ich freilich viele Christen, die sich auf
diesem Boden befinden sollten, anderswo versammelt. Aber
soll ich, der ich den Willen meines Herrn kenne, deshalb fernbleiben, weil andere diesen Willen nicht kennen, oder, obwohl
sie ihn kennen, untreu sind und ihn nicht befolgen? Soll ich
deshalb sagen: „Sein Wille kann nicht erfüllt werden?"
Hier liegt die Wurzel von dem Verfall des Christentums. Wie
zur Zeit der Richter in Israel, tut auch heute jeder, was recht
ist in seinen Augen. Doch laßt uns die Wahrheit festhalten, die
uns der gnadenreiche Gott angesichts der baldigen Ankunft
Christi aufs neue, wie ich nicht zweifle, vor Augen gestellt hat.
Laßt uns das, was uns gegeben ist, festhalten; denn Er sagt:
„Ich komme bald; halte fest was du hast, auf daß niemand
deine Krone nehme" (Offb 3, 11)! Ach, wie viele Brüder, welche diese Wahrheit erkannt haben, lassen sich im Blick auf sie
traurige Dinge zuschulden kommen! Und das ist nicht allein
tief beschämend für uns, sondern bildet auch ein Hindernis für
die Wahrheit und bedeutet eine Geringschätzung der Gnade
Gottes, welche uns die Wahrheit geoffenbart hat. Aber sollen
wir deshalb die Wahrheit aufgeben oder die Möglichkeit ihrer
Verwirklichung bezweifeln? Sollen wir wegen solcher Untreue
70
das klare, bestimmte Wort Gottes beiseitesetzen und uns auf
einen niedrigeren Boden stellen, auf einen Boden, welcher der
Gesinnung des Fleisches entspricht? Sollen wir den Platz, welchen das Neue Testament den Gliedern des Leibes Christi angewiesen hat, verlassen und einen anderen Mittelpunkt als
Christum, und eine andere Einheit als diejenige des Geistes
ergreifen? Gewiß nicht. Vielmehr wollen.wir uns unter das
Gericht des Wortes Gottes beugen, als solche, die — in Demut
gegen sich selbst — Gott, Seinen Geist und Sein Wort rechtfertigen.
Ich wiederhole also noch einmal: der Platz jedes treuen Gläubigen ist da, wo man die Einheit des Geistes in dem Bande des
Friedens zu bewahren trachtet, und geschähe dieses auch nur
in Gemeinschaft mit Zweien oder Dreien. Ich soll jeden Christen, in welchen Umständen und Irrtümern er sich auch befinden und welcher Partei er angehören mag, von Herzen lieben
und Fürbitte für ihn tun. Aber sollte ich deshalb aufhören, die
Einheit des Geistes mit allem Fleiß zu bewahren? Sollte ich
Christen folgen oder mich ihnen anschließen, deshalb weil sie
Christen sind, obwohl ich weiß, daß ihre Stellung nicht dem
Worte Gottes entspricht? Sicher nicht! Es sollte vielmehr unser
Trachten sein, sie zu befreien, und zwar nicht dadurch/
daß wir
uns auf denselben trügerischen Boden menschlicher Lehren
begeben, auf welchem sie sich befinden, sondern dadurch, daß
wir entschieden Stellung nehmen auf dem Felsen der Wahrheit,
und durch die Gnade Gottes sie an ihre Verantwortlichkeit als
Glieder des Leibes Christi erinnern. Wenn sie Glieder des einen
Leibes sind, warum wollen sie das nicht bekennen? Wenn sie
zu der Einheit des Geistes gebracht sind, warum wollen sie sich
nicht befleißigen, sie zu bewahren? Es ist in unseren Tagen für
die Christen nicht die Frage: „Was ist der Protestantismus?"
oder „Was ist das Papsttum?" Nein, für sie gilt nur eine Frage:
„Was ist der Leib Christi?" — Laßt uns fern bleiben von allen
menschlichen Erfindungen in göttlichen Dingen! Das Wort
Gottes fordert die Christen zu allen Zeiten auf, sich Gott und
Seinem Willen zu unterwerfen. Tun wir dies? Es steht geschrieben: „Wenn ihr dies wisset, glückselig seid ihr, wenn ihr es
tut"; und wiederum: „Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut es
nicht, dem ist es Sünde".
71
2. Ein Geist (1. Kor 12, 1—13)
Es sollte das Bestreben jedes Christen sein, nicht allein in
seinen Worten, sondern auch in Tat und Wahrheit den rechtmäßigen Anforderungen des vom Himmel herniedergesandten
Heiligen Geistes nachzukommen, mit anderen Worten, sich der
freien und unumschränkten Wirksamkeit und Leitung des Geistes
in der Versammlung Gottes zu unterwerfen: Auch über diesen
Gegenstand herrscht bei vielen Kindern Gottes große Unwissenheit; und obwohl sie gesegnet sein mögen, und der Geist
Gottes viel durch sie zur Errettung von Seelen gewirkt haben
mag, so bleibt es dennoch ein großer Verlust für sie, wenn die
Wahrheit der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes,
sowohl in der Versammlung, als auch in den einzelnen Gläubigen, nicht anerkannt wird und als eine Gewißheit die Seele
beherrscht.
Wenn wir indes von den gegenwärtigen Ansprüchen des Heiligen Geistes oder von Seiner unumschränkten Wirksamkeit in
der Versammlung sprechen, so soll damit Seine Wirksamkeit
oder deren Bedeutung in den vergangenen Zeiten keineswegs
in Frage gestellt sein. Er war von Anfang an die wirkende
Kraft in allen Handlungen Gottes. Er nahm Anteil an der
Schöpfung, Er gab den Alten Zeugnis, Er wirkte durch Mose,
durch Bezaleel, durch Simson, durch David und die Propheten;
mit einem Worte, Gott tat nichts, wobei der Heilige Geist nicht
wirksam gewesen wäre.
Aber dennoch wird ein Blick in das Neue Testament genügen
um eine wesentliche Veränderung in dieser Hinsicht zu gewähren. Der Heilige Geist wurde nach der Himmelfahrt Christi
hemiedergesandt in einer nie zuvor gekannten Weise. Während im Alten Testament Seine Ausgießung in einer Weise angekündigt wurde, welche der Gegenwart und der Regierung
des Messias auf der Erde entspricht, finden wir im Neuen
Testament Seine Ausgießung als die Folge der Verwerfung des
Messias. Das war für die Juden etwas ganz Unerwartetes. Statt
ihre Hoffnungen durch die Gegenwart des Herrn nun bald erfüllt
zu sehen, sahen sie sich durch das Kreuz und den Tod des
Herrn mit einem Male in ihnen getäuscht, indem Er als der
72
Auferstandene die Welt in Finsternis zurückließ und gen Himmel fuhr, demzufolge der Heilige Geist herniedergesandt wurde,
um — während Jesus abwesend und im Himmel ist — auf der
Erde zu sein.
Nächst der Person Christi bildet die Sendung des Heiligen
Geistes den Hauptgegenstand der neutestamentlichen Wahrheiten. Leider aber ist dies nicht der Fall in den Herzen vieler
Christen, in deren Gedanken die Person des Heiligen Geistes
durch einen bloßen Einfluß ersetzt ist, den der Heilige Geist,
wie sie sagen, zu allen Zeiten ausgeübt habe; andere behaupten
sogar, daß die Heiligen zu allen Zeiten ohne Unterschied den
Heiligen Geist empfangen hätten. Die Folge solcher Anschauungen ist, daß man selbst bezüglich der klarsten Schriftstellen
in allerlei Verirrungen gerät. Ohne Zweifel waren sowohl die
Gläubigen des Alten Testaments als auch die Jünger des Herrn
durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes lebendig gemacht
und gläubig geworden; aber sie hatten Ihn nicht als eine in
ihnen wohnende Person empfangen. Das konnte erst stattfinden, nachdem der Herr Jesus das Werk der Erlösung vollbracht hatte und gen Himmel gefahren war, wie wir in Joh 7,
38. 30 lesen: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt
hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dieses aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn
Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht,
weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war". Den Heiligen
Geist sollte nicht jemand empfangen, damit er dadurch gläubig
werde; sondern Er sollte in denen Wohnung machen, die bereits gläubig waren. Es gab zu allen Zeiten Gläubige; aber „der
Heilige Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht
worden war". Diese Stelle widerlegt also klar und bestimmt
die Behauptung, daß der Heilige Geist zu allen Zeiten gegeben
worden sei. Ebenso reden die letzten Kapitel des Evangeliums
Johannes nicht von dem Heiligen Geist in dem Sinn eines
bloßen Einflusses, oder einer geistlichen Kraft, sondern von
einer Person, die gesandt wird und herniederkommt. Das Wort
„Sachwalter" in Kap. 14 bedeutet sicher nicht bloß „Wunderkräfte, Sprachen usw.", wiewohl der Geist alles das wirkte,
sondern es bezeichnet unstreitig eine Person. Ferner sagt der
Herr in demselben Kapitel: „Er wird bei euch bleiben in Ewig73
keit". Wunderkräfte, Sprachen usw. haben aufgehört, Prophezeiungen werden weggetan werden; aber hier haben wir eine
göttliche Person, welche für immer bei den Gläubigen bleiben
wird. Welch ein süßer Trost!
Das Kommen des Heiligen Geistes ist also bestimmt und feierlich durch den Herrn Selbst angekündigt worden; und zwar
verheißt Er Ihn das eine Mal als Den, Den der Vater in Seinem
Namen, und das andere Mal als Den, welchen Er von dem
Vater aussenden würde. In dem einen Falle sollte Er die Jünger
an alles erinnern, was Christus zu Ihnen gesagt hatte, und in
dem anderen sollte Er Zeugnis geben von dem Sohne. Ferner
lesen wir in Kap. 14, 28, daß der Herr zu Seinen Jüngern sagt:
„Wenn ihr mich liebet, so würdet ihr euch freuen, daß ich zum
Vater gehe usw." Ach! die armen Jünger dachten mehr an sich
selbst, als an Ihn; denn sonst würden sie sich gefreut haben,
den Herrn eine Stätte der Schmach und der Leiden verlassen
und dorthin gehen zu sehen, wo die Liebe und Herrlichkeit
Seines Vaters Seiner harrten. Aber in Kap. 16 stellt Er sie auf
einen anderen Boden, indem Er sagt: „Es ist euch nützlich, daß
ich hingehe". Es war nicht allein besser für Ihn, zum Vater zu
gehen, sondern auch nützlich für sie. Wunderbar! Solche arme,
schwache und zitternde Jünger, über welche Er mit steter Sorgfalt gewacht, die Er unter Seine Flügel gesammelt und beschützt
hatte, ja, über die Er Selbst in der letzten Stunde Seiner Verwerfung schirmend Seine Hände ausgebreitet hatte — solche
Jünger zu verlassen, sollte nützlich für sie sein? Und dennoch
war es also. Denn so überaus köstlich die Gegenwart des Herrn
auch für sie sein mochte, so war diese Segnung doch augenscheinlich durch Seine Erniedrigung als Mensch beschränkt,
indem Er als solcher nicht überall auf der Erde sein konnte. Der
Heilige Geist aber, Der in Seiner Person diese menschliche
Natur nicht annahm, konnte deshalb nicht nur immer und
überall bei ihnen sein, sondern auch nach der vollbrachten Erlösung ihre Herzen in der vertrautesten Weise mit dem Wert des
Opfers und der Person Dessen bekanntmachen, Der zum
Himmel erhöht und dort vom Vater verherrlicht worden war.
Der Hingang des Herrn und das Kommen des Heiligen Geistes
waren aber nicht allein nützlich für die Jünger, sondern sie
lieferten zugleich der Welt den schrecklichen Beweis, daß sie
74
hoffnungslos verloren war; wie der Herr sagt: „Wenn er (der
Heilige Geist) gekommen ist, wird er die Welt überführen von
Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht: von Sünde, weil
sie nicht an mich glauben; von Gerechtigkeit aber, weil ich zu
meinem Vater gehe, und ihr mich nicht mehr sehet; von Gericht
aber, weil der Fürst dieser Welt gerichtet ist" (Joh x6, 8—11).
Der Heilige Geist bezeugt, daß die Welt unter der Sünde ist,
daß es hier auf Erden keine Gerechtigkeit gibt, als nur in Ihm,
Der von ihr verworfen worden ist und Sich bei dem Vater befindet, und daß sich mithin die Welt samt ihrem Fürsten unter
dem Gericht befindet. Das Evangelium Johannes zeigt uns also
das Kommen des Heiligen Geistes, sowohl in Seiner Beziehung
zu der Welt, als einem System, das gerichtet ist, als auch in
Seiner Beziehung zu den Heiligen, um diese außerhalb jenes
Systems in alle Wahrheit zu leiten und für immer bei und in
ihnen zu sein.
In der Apostelgeschichte wird uns Sein Kommen, sowie Seine
Tätigkeit auf der Erde während der Abwesenheit des Herrn, in
verschiedener Weise geoffenbart. Er verleiht den Aposteln die
Gabe, in mancherlei Sprachen zu reden, wirkt Zeichen und
Wunder durch sie, und gibt ihnen, ihren Verfolgern gegenüber,
Mut und Unerschrockenheit. In der ganzen Apostelgeschichte
begegnen wir daher nicht nur einem fortwährenden Zeugnis
von Seiner Wirksamkeit und deren Resultaten, sondern wir finden in ihr auch eine Bestätigung der herrlichen Wahrheit, daß
Er persönlich gegenwärtig war, so daß dieses Buch uns eigentlich mehr die Taten des Heiligen Geistes, als diejenigen der
Apostel berichtet, wie wichtig diese Gefäße Seiner Macht auch
sein mochten. Wir sehen z. B. Ananias und Sapphira durch
Seine Gegenwart gerichtet, weil sie Seine Person belogen hatten.
Ebenso lesen wir in Kap. 8, 29: „Der Geist aber sprach zu
Philippus usw.", und in V. 39: „Als sie aber aus dem Wasser
heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus
usw." In Kap. 13 sehen wir, wie Er den Paulus und Barnabas
aussendet, indem Er sagt: „Sondert mir nun Barnabas und Paulus aus zu dem Werke, Wozu ich sie berufen habe". Und weiter:
„Sie nun, ausgesandt von dem Heiligen Geiste usw." Diese und
viele andere Stellen, sowohl in der Apostelgeschichte als auch
in den Briefen, namentlich in den beiden Briefen an die Korin75
ther, liefern unzweideutige Beweise, nicht allein von der Wirksamkeit und Macht des Heiligen Geistes, sondern auch von
Seiner Gegenwart in der Versammlung Gottes, als einer göttlichen Person. Ich will hier nicht von den Stellen reden, die uns
Seine Inwohnung in den einzelnen Gläubigen bezeugen; denn
so wichtig dieser Gegenstand auch ist, so ist es doch jetzt mehr
mein Zweck, die Bedeutung Seiner Gegenwart in der Versammlung hervorzuheben. So finden wir besonders in 1. Kor 12,
1—13 Seine Tätigkeit in der Versammlung entwickelt. Er ist
gegenwärtig als eine wirkliche Person, die in verschiedener
Weise, sei es in Gaben der Heilungen und der Sprachen usw.,
oder in Gaben zur Auferbauung, Belehrung usw. wirksam ist.
Immer wieder sehen wir klar und deutlich dieselbe große Wahrheit hervorleuchten, daß Er Selbst gegenwärtig und in den
vielen Gliedern des Leibes wirksam war, so verschieden die
Form dieser Wirksamkeit auch sein mochte.
Nun aber entsteht die Frage: War das alles, was wir hier lesen,
nur auf eine besondere örtliche Versammlung und ausschließlich auf jene Zeit beschränkt, oder gilt es für die ganze Versammlung Gottes jetzt und zu allen Zeiten? Die Antwort ist
nicht zweifelhaft, insofern wir dem Worte Gottes unterworfen
sind. Der Herr Selbst erklärt uns in Joh 14, im Gegensatz zu
Seiner eigenen zeitlichen Abwesenheit, daß der Geist der
Wahrheit für immer bei den Seinigen bleiben solle. Ebenso
sehen wir, daß der Geist Gottes dem ersten Korintherbriefe
gleich im Anfang die ausgedehnteste Anwendung gibt; denn
wir lesen in Kap. 1, 2: „Der Versammlung Gottes, die in Korinth ist, den Geheiligten in Christo Jesu, den berufenen Heiligen, samt allen, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn
Jesu Christi anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn". Wir
erkennen hierin eine besondere Weisheit und Güte Gottes,
Welcher voraussah, daß man die Anwendung dieses Briefes in
einer Weise beschränken würde, als sei er nicht für alle bestimmt, „die den Namen unseres Herrn Jesu Christi anrufen,
sowohl ihres als unseres Herrn". Der Gesichtskreis dieses Briefes ist ohne Zweifel absichtlich so weit ausgedehnt worden,
um dem Unglauben hinsichtlich der Fortdauer der Gegenwart
des Heiligen Geistes in der Versammlung, so lange sie hienieden ist, entgegentreten und ihn als Sünde und als eine bestimmte Verwerfung des Wortes Gottes behandeln zu können.
76
Unstreitig wirkt der Geist Gottes nicht mehr in der Weise, und
noch weniger in der Kraft, wie im Anfang. Aber wir können
dies leicht verstehen; nachdem die Wirklichkeit Seiner Gegenwart durch Zeichen und Wunder bekräftigt, und die neuen
Mitteilungen Gottes allmählich aufgeschrieben und der Verantwortlichkeit des Menschen übergeben worden waren, bedurfte es in dieser Hinsicht keiner neuen Zeugnisse mehr. Überdies dürfen wir nicht erwarten, daß der Geist Gottes ein
System, durch das Er in so ausgedehntem Maße betrübt und
in dem der Name Jesu verunehrt wird, mit der äußeren Zierde
mächtiger Zeichen und Wunder schmücken werde. Wie unpassend wäre das auch für die Herrlichkeit Gottes! Und welch
eine Verwirrung würde es zur Folge haben! Man würde Wunder sehen in Rom und in der griechischen Kirche, unter den
Lutheranern und Reformierten, unter den Methodisten, Baptisten und Independenten, kurz, unter allen Parteien und Sekten. Oder vorausgesetzt, Gott würde jetzt sagen: „Da wo zwei
oder drei in dem Namen Jesu versammelt sind, da will ich
Wunder tun", — was würde das Resultat sein? Wir, die wir so
schwach und so leicht von uns eingenommen sind, würden im
Blick auf die Entfaltung einer solchen göttlichen Macht nicht
fähig sein, uns Zaum und Zügel anzulegen und in den richtigen
Schranken zu bleiben. Aber ich bestehe noch einmal auf der
Wahrheit, daß der Heilige Geist nicht bloß als eine Entfaltung
göttlicher Macht auf Erden gegeben wurde, sondern — wenn
ich mich so ausdrücken darf — als das wesentliche Zeichen von
dem göttlichen Werte des Kreuzes. Gott, der Vater, sandte Ihn
als das Siegel Seiner Erlösung, welche immer und unveränderlich vollkommen und wirksam bleibt. Die Liebe des Vaters zu
Christo und der unendliche Wert, den das Werk Christi in
Seinen Augen hat, bilden die sichere Bürgschaft für die unaufhörliche Fortdauer der Gegenwart des Heiligen Geistes in den
Heiligen und in der Versammlung Gottes.
Hier möchte ich nun fragen: Ist die Tatsache, daß jetzt eine
göttliche Person auf Erden ist, welche sowohl in jedem einzelnen Gläubigen, als auch in der Versammlung Gottes wohnt,
ein geringfügige Sache? Ist sie eine Wahrheit von untergeordneter Bedeutung, die man nach Belieben den Umständen gemäß
behandeln darf? Wahrlich nicht! Und doch geschieht das alles
77
allzusehr. Was finden wir, wenn wir die Zustände, die gegenwärtig in der Christenheit obwalten, nach dem Worte Gottes
prüfen? Welcher geistliche Mensch würde zu behaupten wagen,
daß der gegenwärtige Zustand der Kirche dem entspräche, was
wir im Neuen Testament lesen? Welcher aufrichtige und ernste
Christ könnte im entferntesten daran zweifeln, daß hier alles
in Unordnung ist? — Sind ferner die Gebete um eine neue
Ausgießung des Heiligen Geistes nicht ein schlagender Beweis
von der großen Unwissenheit, die bei so vielen Gläubigen
über diese Wahrheit herrscht? Was würde man von einem
Jünger gedacht haben, der in der Gegenwart des Herrn Jesu
den Vater gebeten hätte, doch Seinen Sohn in diese Welt herabzusenden? Bezeugen alle diese Dinge nicht eine schreckliche
Verwirrung? Und sollte ich das nicht tief fühlen und mich hinsichtlich meiner eigenen Schuld in dieser ernsten Sache vor Gott
demütigen? Sollte ich nicht da zu sein begehren, wo die Gegenwart des Heiligen Geistes anerkannt wird, und wo man auf Ihn
rechnet? Welch ein Trost für solche schwachen und unwissenden Geschöpfe, wie wir sind, zu wissen, daß sich Der in unserer
Mitte befindet, Welcher alle Dinge kennt und die Quelle aller
Kraft ist! Ist Er nicht genug für uns? Können wir Ihm, angesichts der uns umgebenden Verwirrung, Gefahren und Schwierigkeiten, nicht völlig vertrauen? Wohl begegnen wir überall
einem großen Mangel an Kraft und Freude, Frieden und Trost
unter den Kindern Gottes, und wir können nur die Barmherzigkeit und überschwengliche Langmut Gottes bewundern, die
nicht ermüdet, die Seinigen trotz ihres Unglaubens zu segnen;
aber keineswegs dürfen wir dem Gedanken Raum geben, als
ob Gott betreffs dieser Dinge gleichgültig wäre und Er nicht
vielmehr unsere rückhaltlose Unterwerfung unter Seinen Willen
und die Anerkennung der Gegenwart und freien Wirksamkeit
Seines Geistes von uns erwarte. Im Gegenteil, Er will, daß wir
uns in dem Namen Jesu versammeln, und dies aus dem alleinigen Beweggrunde, um Ihm wohlzugefallen. Wenn wir nicht
den Namen Jesu und die Gegenwart des Heiligen Geistes zum
Mittelpunkt unseres Zusammenkommens und unserer Tätigkeit in der Versammlung haben, so erfreuen wir uns nicht der
Anerkennung Gottes, sondern befinden uns unter der Herrschaft menschlicher Überlieferungen in der einen oder anderen
Form.
78
Wir wissen wohl, daß uns mancher um dieser Worte willen der
Gesetzlichkeit, Engherzigkeit und Schroffheit beschuldigen
wird. Aber ich möchte fragen: „Ist es gesetzlich, wenn ich eine
mir noch so teure Gemeinschaft aus dem Grunde aufgebe, weil
ich den Willen Gottes tun und Seinem Worte folgen möchte?
Oder ist es engherzig und schroff, wenn ich eine oder alle Parteien verlasse, um da zu sein, wo ich mich, auf Grund des
Wortes Gottes und in der Abhängigkeit von dem Heiligen
Geiste, im Namen Jesu mit allen Heiligen versammeln kann?"
Denken wir uns den Fall, daß ein Gläubiger, der noch irgendeiner kirchlichen Partei angehört, an mich die Frage richten
Würde: „Wie kommt es doch, daß du nicht einmal mit mir in
meine Kirche oder Versammlung gehen willst, während ich
doch nichts darin sehen würde, mich mit dir und allen denen
zu versammeln, die nur im Namen Jesu zusammenkommen?"
— Meine Antwort würde sein: „Du kannst nach deinen Grundsätzen als Protestant, als Baptist, oder als was du sonst sein
magst, mit gutem Gewissen dahin gehen, wo man dem Herrn
und Seinem Worte in der Einheit Seines Leibes und in der
Freiheit Seines Geistes unterworfen zu sein wünscht; denn du
wirst sicher zugeben, daß es keine Sünde ist, sich nach dem
Worte Gottes zu versammeln; darum kannst du daran teilnehmen. Mir hingegen ist es klar, daß es nicht schriftgemäß
ist, den Boden des Wortes Gottes zu verlassen und den Standpunkt eines Protestanten, oder eines Baptisten usw. einzunehmen. Es ist daher nicht Mangel an Liebe, daß ich nicht mit
dir gehe, sondern ich fürchte vielmehr, etwas zu tun, was Gott
mißfällig ist". — Das mag hart und schroff klingen; aber es ist
tatsächlich böse, wenn ich meinem eigenen Willen oder dem
Willen eines anderen folge, insofern der nicht der Wille Gottes
ist; während andererseits gerade der Gehorsam gegen Gott und
Seine Gebote das Kennzeichen der wahren Liebe ist (vgl. Joh
14, 23; 1. Joh 5, 2. 3).
Manche wollen eine falsche Stellung aus dem verwerflichen
Grunde nicht aufgeben, weil sie darin bekehrt worden sind,
andere, weil sie vorgeben, daß die Sache ihnen überhaupt nicht
klar sei. Solche möchte ich jedoch in allem Ernst fragen: „Habt
ihr jemals mit Aufrichtigkeit das Wort Gottes erforscht, um
79
Seine Gedanken und Seinen Willen kennenzulernen?" Gott
gibt Einsicht allen denen, die Ihn fürchten; denn „die Furcht
des Herrn ist der Weisheit Anfang". Wenn ich wirklich
wünsche, einfältig und treu den Willen des Herrn zu tun und
Seinem Wort zu folgen, so wird Er mich sicher und gewiß
nicht imFinstem lassen; denn „Er gibt Einsicht den Einfältigen".
Ganz zertrennt die Heil'gen stehen,
Herr Jesu komm!
Einheit ist nicht mehr zu sehen,
Herr Jesu komm!
Satans List hat sie zerstöret,
Sund' und Welt manch' Herz betöret,
Ach, wie sehr wirst Du entehret!
Herr Jesu komm!
Doch:
Du bist bei uns mit Deinem Geist,
O sel'ge heil'ge Nähe!
Der so lebendig sich erweist,
Als ob Dich Selbst man sähe.
Bist unser Licht im dunklen Tal,
Erquickst durch Deiner Liebe Strahl,
Bist Seelentrank und -Speise.
Stehst uns mit Rat und Tat zur Seit'
Und gibst uns Selber das Geleit
Auf unsrer Pilgerreise.
3. Die Versammlung und der Dienst (1. Kor 14)
Wie verschieden die beiden Gegenstände auch zu sein scheinen,
so ist doch der zur Rechten Gottes erhöhte Christus die Quelle
von beiden; und wir können sie deshalb zusammen betrachten.
Beide sind gegründet auf die Tatsache, daß Sein Werk vollendet ist, und zwar zu dem ausdrücklichen und hauptsächlichen
Zweck, um Ihn zu verherrlichen. Denn was auch die Kraft des
Geistes im Dienste, und was auch die Vorrechte der Kirche
oder Versammlung sein mögen, so hat doch die Verherrlichung
Christi in den Gedanken Gottes stets den ersten Platz; sie ist
80
daher von der höchsten Wichtigkeit für die Wirksamkeit des
Geistes Gottes, sowohl in den einzelnen Gliedern, den Dienern
Christi, als auch in der Versammlung, Seinem Leibe, dessen
Haupt Er ist. Laßt uns jetzt in dem Worte Gottes forschen,
inwiefern diese beiden Gegenstände voneinander abweichen
und auch wie sie sich in ein und demselben Grundsatze vereinigen, um so ihren gemeinsamen Zweck und die daraus entspringende Verantwortlichkeit des Christen kennenzulernen.
Wir haben schon in den beiden vorhergehenden Abschnitten
gesehen, daß die Kirche oder Versammlung Gottes auf das vollbrachte Werk Christi und auf Seine Erhöhung zur Rechten
Gottes gegründet ist. Diese Wahrheit wird uns in Mt 16 deutlich bestätigt. Alle die Zeichen und Wunder, die der Herr getan
hatte, alle die überschwenglichen Beweise Seiner göttlichen
Sendung und vor allem die sittliche Kraft und Herrlichkeit,
womit Er bekleidet war, hatten den Unglauben des jüdischen
Volkes völlig ans Licht gestellt. Aber nachdem der Herr sozusagen alle Mittel, die Seine Güte und Weisheit in Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters Ihm eingeben konnten,
erschöpft hatte, und nachdem, als das Ergebnis Seiner geduldigen Gnade, die Verachtung des wahren Messias sich immer
mehr in einem Geiste tödlicher Feindschaft gegen Ihn offenbarte, gab Er durch das bekannte Gespräch mit Seinen Jüngern
Veranlassung zu dem ergreifenden Bekenntnis Petri: „Du bist
der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!" Und im Blick
auf dieses Bekenntnis sagt der Herr: „Auf diesen Felsen will
ich meine Versammlung bauen". Der Messias in Seiner
Schmach und Erniedrigung war der Stein des Anstoßes für
Israel; aber Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist der
Felsen, auf dem die Versammlung erbaut ist. Verworfen und
getötet von Seiten Seines irdischen Volkes, ist Christus, als der
Sohn des lebendigen Gottes, aus dem Grabe hervorgegangen;
und siegreich triumphierend über die Pforten des Hades ist Er
der unerschütterliche Felsen geworden, auf dem die Versammlung gegründet ist. In diesem Kapitel wird also zum ersten
Mal die Versammlung erwähnt, nicht als eine schon bestehende,
sondern als eine noch zukünftige Tatsache. Denn der Herr sagt:
„Auf diesen Felsen will ich bauen usw." Erst in Apg 2 wird die
Kirche auf der Erde durch den vom Himmel herniederkom81
menden Heiligen Geist gegründet; und am Ende desselben
Kapitels lesen wir die Worte: „Der Herr aber tat täglich zu
der Versammlung hinzu, die gerettet werden sollten", d. h.
gerettet von den Gerichten, welche einer Nation bevorstanden,
die den Sohn Gottes, ihren Messias, verworfen hatte.
Wir sehen also, daß die Versammlung in unmittelbarer Verbindung mit der Gegenwart des Heiligen Geistes steht, und
finden somit die Worte in 1. Kor 12, 13 bestätigt: „Denn auch
in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft usw." Die
Bildung des Leibes war sozusagen von der Geistestaufe abhängig. Zugleich aber ist die Versammlung auch das Haus
Gottes auf der Erde. Die lebendigen Steine, die schon vorher
da waren (zunächst der Überrest Israels), werden gesammelt
und zu einem göttlichen Hause aufgebaut. Indes, mögen wir
die Versammlung als das Haus Gottes oder als den Leib Christi
betrachten, stets waren es die durch den Heiligen Geist in eins
versammelten Gläubigen, diejenigen, welche von dem kommenden Zorn gerettet werden sollten, und die alle in einem Geiste
zu einem Leibe getauft worden waren; in ihnen erblicken wir
nach dem schriftmäßigen Sinn des Wortes die „Kirche oder die
Versammlung Gottes". Dies ist von um so höherer Bedeutung,
als man heute von einer „unsichtbaren" Kirche redet — ein
Ausdruck, welchen man in der Heiligen Schrift nirgends findet,
und wjodurch man einen Zustand bezeichnen will, dem der
Herr gerade durch die Gründung der Versammlung ein Ende
gemacht hat. Wir wissen z. B., daß, während Israel das allein
anerkannte Volk Gottes war, es in und außer den Grenzen
Israels Gläubige gab, die vereinzelt und überall umher zerstreut
waren. Aber eben deshalb starb Jesus, „auf daß Er auch die
zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte" (Joh 11, 52).
Am Pfingsttage sehen wir die Verwirklichung davon. Es ist
also offenbar ein Irrtum, wenn man im Blick auf die Versammlung von einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche redet; man
beweist dadurch nur, daß man unter der Versammlung nichts
als eine Vermischung von Gläubigen und Ungläubigen versteht. Aber durch diesen Irrtum ist es dahin gekommen, daß
man die Kirche als eine bloße Fortsetzung des Judentums betrachtet und deshalb ihren gegenwärtigen Zustand zu rechtfertigen sucht, während ihn das Wort Gottes so entschieden
verurteilt.
82
Solche traurigen Ergebnisse können indes niemals da befriedigen, wo man die Absicht des Heiligen Geistes versteht, sowohl die persönliche Herrlichkeit Christi als auch Seine Stellung als Herr unveränderlich aufrechtzuerhalten. Die Versammlung Gottes ist berufen, Christum als Herrn und Haupt
anzuerkennen; und der Herr hat Seine Versammlung in dieser
Beziehung nicht ohne Unterweisung gelassen. Wie wäre es
auch möglich, daß Er die Heiligen sich selbst überlassen hätte,
so daß sie sich nach den Gebräuchen der verschiedenen Zeiten
und Länder, in denen sie gerade leben, nach Belieben einrichten
und formen könnten? Nein, wenn es noch etwas Teures und
Wertvolles auf der Erde für Gott gibt, so ist es Seine Kirche
oder Seine Versammlung, „die Herrlichkeit Christi", über
welche Er mit Eifersucht wacht. Darum erwartet Er auch zu
allen Zeiten von der Versammlung, daß sie Christum als Herrn
und Haupt anerkenne. Dies wird uns durch die Betrachtung
des Wortes noch klarer werden.
Wenige Versammlungen waren so reich mit Gaben gesegnet,
wie diejenige zu Korinth. Aber was erblicken wir dort? Leider
ein Schauspiel der gröbsten Unordnung und Sittenlosigkeit;
und das liefert uns den Beweis, daß die Ordnung und der
Segen in der Versammlung nicht durch Gaben, sondern allein
durch die Unterwerfung unter Christum, als den Herrn, aufrecht erhalten werden können. Die Korinther mußten deshalb
wieder zu den Wegen Gottes zurückgeführt werden. Wir finden
daher, daß der Apostel in seinem ersten Brief oft und mit
besonderem Nachdruck Christum als den Herrn bezeichnet,
namentlich in bezug auf die Mitteilung, den Charakter und die
Ausübung der Gaben. War auch jemand im Besitz irgendeiner
Gabe, so durfte er sich ihrer doch nicht nach seinem Gutdünken, sondern nur in der Abhängigkeit von dem Herrn zur Auferbauung der Versammlung bedienen; in jedem anderen Falle
war die Ausübung von Gaben untersagt. Das sehen wir deutlich in Kap. 14, wo Paulus diese Tätigkeit regelt. So war z. B.
die Gabe, in Sprachen zu reden, obwohl sie offenbar ein Erzeugnis des Heiligen Geistes und nicht der Natur war, betreffs
ihrer Ausübung gänzlich der göttlichen Ordnung unterworfen.
Alles mußte zur Auferbauung der Versammlung geschehen.
Aus demselben Grunde sollten die in Sprachen Redenden diese
83
Gabe nur zu zweien oder höchstens zu dreien ausüben, und
zwar nacheinander, und einer sollte auslegen. War kein Ausleger anwesend, so sollten sie schweigen. Auch sollten die
Propheten zu zweien oder zu dreien reden, und die anderen
sollten urteilen. Wurde einem anderen, der zugegen war, etwas
geoffenbart, so mußte der erste schweigen. So mußten sie einander unterworfen sein, und einer nach dem anderen reden.
Warum diese Beschränkung der Gaben? Damit die Versammlung nicht ermüdet, sondern erbaut würde. Alles mußte anständig und in Ordnung geschehen; alles war abhängig gemacht von dem Herrn.
Aber, möchte jemand fragen, wie können solche Regeln in
unseren Tagen Anwendung finden, wo doch nur noch so
wenige Gaben vorhanden sind? Die Antwort ist: Wenn auch
viele Gaben, wie z. B. diejenigen des Wundertuns, des Sprachenredens usw., die in den ersten Tagen des Christentums als
Zeugnissedienten, verschwunden sind, so ist doch das geblieben,
was der Kernpunkt dieses Kapitels bildet, nämlich die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung; und wenn Er
damals alles in der Versammlung ordnete und regelte, sollte
Er es dann jetzt nicht mehr tun? Wir haben denselben Geist
und müssen daher auch auf Seine Gegenwart rechnen. Wenn
wir glauben, daß es Ihm gefällt, auch jetzt noch in der Versammlung zu wirken, so laßt uns diesen Glauben durch die
Tat verwirklichen! Oder sollte der Heilige Geist das Wort
Gottes als die alleinige Richtschnur unseres Glaubens und
Wandels beiseitegesetzt haben? Ist es nicht vielmehr die Verschlagenheit der Menschen, die allerlei Beweisgründe zu ersinnen weiß, um sich der Unterwerfung unter das Wort zu
entziehen? Ist es möglich, daß Kinder Gottes sich mit solchen
Beweisgründen zur Rechtfertigung ihres Ungehorsams begnügen können? Man hat Kirchen eingerichtet, die durchaus nicht
den Charakter der Kirche oder der Versammlung Gottes an sich
tragen, und die nicht den Grundsatz der Freiheit des Heiligen
Geistes in ihrer Mitte zu wirken, „durch welchen Er will", in
sich schließen. Man hat religiöse Körperschaften gegründet und
sie den Ländern, denen sie angehören, anzupassen gesucht;
aber sie entsprechen in keiner Beziehung der Versammlung
Gottes in ihrer Gesamtheit, noch den in der Heiligen Schrift
84
genannten örtlichen Versammlungen. Wie anders war es im
Anfang! Wenn jemand der Versammlung Gottes zu Jerusalem
angehörte, so war er auch ein Glied der Versammlung in Rom.
Es war bloß eine Frage der örtlichkeit. Die Schrift weiß nichts
von der Mitgliedschaft einer Kirche, sondern kennt nur die
Gliedschaft der Kirche. Wie ist es dagegen in unseren Tagen?
Gehört man einer Religionsgemeinschaft an, so ist man selbstredend von jeder anderen getrennt. Wie weit ist doch die Kirche
von dem Worte Gottes abgewichen! Sie bildet einen Trümmerhaufen. Aber sollen wir deshalb ratlos zu irgendeinem System
unsere Zuflucht nehmen? Wenn wir es tun, so liefern wir
damit nur den Beweis, daß wir dem Worte Gottes nicht unterworfen sind. Doch das sei ferne! Vielmehr gilt für uns, allem
gegenüber, was mit dem Worte im Widerspruch steht, der
eine Wahlspruch: „Laß ab vom Bösen und tue Gutes"!
Ohne Zweifel werden wir auf einem solchen Wege vielen
Schwierigkeiten und Hindernissen begegnen; aber von dem
geoffenbarten Willen Gottes müssen alle anderen Bedenken in
den Hintergrund treten.
Es ist nicht unsere Aufgabe, eine neue Kirche oder Versammlung zu gründen, sondern uns einfach im Namen Jesu zu versammeln, so wiie es uns das Wort Gottes vorgeschrieben hat.
Vielleicht sagt jemand: Zeiten und Umstände haben sich verändert; und wie können sich zwei oder drei Christen, die sich
hier oder dort versammeln, den Namen „Versammlung Gottes"
beilegen? Ich erwidere: Ohne Zweifel hat eine traurige Veränderung stattgefunden; aber die Frage ist: Hat sich der Wille
Gottes bezüglich Seiner Versammlung verändert? Was ist
richtig: die durch die Untreue des Menschen herbeigeführte
Veränderung anzuerkennen, oder zu dem Willen Gottes zurückzukehren, und dies auch nur mit zweien oder dreien, die
sich in der Unterwerfung unter Sein Wort im Namen Jesu versammeln? — Wenn ich nun mit solchen im Namen des Herrn
versammelt bin, und zwar in Anerkennung aller Glieder Seines
Leibes und wartend auf die Wirksamkeit Gottes durch Seinen
Geist und Sein Wort, ist dann Jesus nicht in unserer Mitte?
Ohne Zweifel. Und welch ein großer Trost ist das für unsere
Seelen!
Ich hoffe, in dem folgenden Abschnitt unserer Betrachtung
zeigen zu können, daß dieses gerade die gnadenreiche Vorsorge
85
des Herrn für die letzten Tage ist. Die freie, unumschränkte
Wirksamkeit des Heiligen Geistes unter den versammelten
Gliedern Christi bleibt stets ein durch das Wort Gottes festgestellter Grundsatz in der Versammlung Gottes. Und wenn
wir bemüht sind, dem Herrn treu zu sein, so wird, wie sehr wir
auch Ursache haben, uns über den Zustand der Versammlung
zu betrüben, der Segen nicht ausbleiben. Wir bedürfen eines
gläubigen demütigen Herzens, um trotz aller Hindernisse und
Prüfungen in dieser Welt alles für den Gehorsam gegen den
Herrn einzusetzen. Es gibt für uns nur einen schmalen Pfad;
und wie verleugnungsvoll der auch sein mag, so wird es uns
doch nicht schwer werden, ihn zu gehen, wenn wir im übrigen
das Bewußtsein haben, ein Eigentum Dessen zu sein, Der Sich
für uns hingab und alles erduldete, und wenn wir in der Gewißheit Seiner unendlichen Liebe Ihn kostbarer finden als alles
in dieser Welt. Alles was Er jetzt von den Seinen erwartet, ist
Treue. Wenn wir den Willen des Herrn kennen, so laßt uns
nicht bis zum nächsten Tage warten, ihn auszuführen, unter
dem Vorwande, daß uns noch nicht alles klar sei. Denn wenn
Gott uns ausgehen heißt, so ist es nicht Glaube, wenn wir zu
Ihm sagen: „Zeige uns zuerst das Land!" Wir haben Seinem
Willen zu folgen, soweit wir ihn erkannt haben. Es ist traurig,
jemanden sagen zu hören: „Ich weiß, daß ich bekehrt bin und
in den Himmel komme. Das ist die Hauptsache; alles andere
ist nebensächlich und kümmert mich nicht". — Wie weit ist es
mit solchen gekommen! Nicht nur kennen sie den Willen des
Herrn nicht, sondern sie wollen ihn auch nicht kennen.
Für die Treuen bleibt der Grundsatz der Absonderung von
allem Bösen stets in Kraft, mag es sich nun um das draußen
herrschende Böse oder um das Böse innerhalb der Kirche oder
Versammlung handeln, wenn solches durch die Macht Satans
und durch die Nachlässigkeit der Menschen eingeschlichen ist.
Selbst dann, wenn eine ganze Versammlung gemeinschaftliche
Sache mit dem Bösen machen sollte, haben wir uns, falls sich
alle Ermahnungen und Versuche zur Wiederherstellung als
fruchtlos erweisen würden, auch von dieser zu trennen; denn
der Heilige Geist ist nicht nur der Geist der Wahrheit, sondern
auch der Geist der Heiligkeit. Sicher hat das Böse bei denen,
welche die Wahrheit erkannt haben, stets einen verwerflicheren
86
Charakter in den Augen Gottes, als bei denen, die den Wert
des Namens Jesu nicht kennen. Ebenso wichtig ist es aber auch
andererseits, mit unserem Urteil über eine Versammlung oder
über ein einzelnes Glied von ihr vorsichtig zu sein, und niemals
eine Sünde vorzuwerfen, bevor dieselbe klar und bestimmt
offenbar geworden ist; in einem solchen Falle haben wir vielmehr auf den Herrn zu warten. Der Herr erwartet, daß Seine
Versammlung nicht nur der Ort der Auferbauung der Heiligen
sei, sondern daß sie auch Seinen Charakter vor den Augen der
Menschen offenbare.
Der Herr wolle uns geben, treu zu sein! Der Streit, ob eine
Sache alt oder neu sei, ob sie noch in der Kraft des Jünglingsalters von drei Jahrhunderten stehe, oder das graue Haar eines
fünfzehnhundert] ährigen Greisentums trage, ist nutz- und
fruchtlos. Für uns gilt nur die eine Frage: „Stehen wir auf dem
allein göttlichen Boden der Kirche?" Wir können uns mit nichts
Wenigerem begnügen: Wir haben kein Vertrauen auf uns
selbst, sondern befehlen uns Gott und dem Worte Seiner
Ginade als unserer alleinigen Sicherheit und Kraft.
Ich möchte nun noch einige Augenblicke bei dem Dienste verweilen. Er hat, wie die Versammlung selbst, seine
Quelle in Christo. Sowohl die Berufung, als auch die Aussendung geht von dem Herrn und nicht von der Versammlung
oder von den Gläubigen aus. Ich rede hier von dem Dienst des
Wortes. Denn es gab verschiedene Dienstverrichtungen, wie
z. B. den Dienst der Diakonen, zu welchem die Versammlung
nach ihrer Weisheit die passenden Werkzeuge auswählte. So
lesen wir in Apg 6, daß die ganze Menge der Gläubigen die
Diakonen der Versammlung aus ihrer Mitte wählte, damit sie,
nachdem die Apostel ihnen die Hände aufgelegt hatte, die
Tische bedienten. Ebenso haben die Versammlungen, wie wir
z. B. in 2. Kor 8 lesen, Brüder ausgesandt, um ihre Gaben den
Heiligen zu überbringen. Epaphroditus wurde von den Philippern als Diener für die Bedürfnisse des Apostels abgesandt
(Phil 4). Aber wir finden nie, daß die Erwähnung und Berufung zum Dienst des Wortes von der Versammlung ausgegangen ist. Im Gegenteil sagt der Herr Jesus Selbst zu Seinen
Jüngern: „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter aussende
87
in seine Ernte". Er ist immer der Herr der Ernte; und demgemäß zeigt uns auch das Gleichnis in Mt 25, daß der Herr
vor Seiner Abreise in das ferne Land Seine Knechte beruft und
ihnen Gaben verleiht. Wie verschieden ist auch hier die reine
göttliche Berufung zum Dienst des Wortes nach der Schrift von
dem, was wir in unseren Tagen in der Christenheit sehen! Wie
sehr ist ihre Würde und insbesondere jene heilige Unabhängigkeit des Menschen beeinträchtigt, welche zur kräftigen Ausübung des Dienstes und vor allem zur Verherrlichung des
Herrn so wesentlich notwendig ist! Wenn Menschen Prediger
anstellen und aussenden, ist das nur die willkürliche Anmaßung eines Rechtes, das dem Herrn allein zusteht, und gereicht
allen, die sich einer solchen Autorität unterwerfen, zu großem
Nachteil.
Worin besteht denn ein in Übereinstimmung mit dem Worte
ausgeübter Dienst? Er besteht in der von Gott gegebenen vollkommenen Freiheit, für das Heil der Seelen tätig zu sein. Dieses
bestätigt uns, im Einklang mit den Belehrungen der Epistel, die
Apostelgeschichte. Wir haben bereits in 1. Kor 12 und 14 gesehen, daß es dem Wesen der Versammlung Gottes und der
Gegenwart des Heiligen Geistes entsprechend ist, in voller Freiheit für die Herrlichkeit des Herrn und zum Segen aller zu
wirken, durch welche Er will. Ebenso setzt die Ermahnung in
1. Petr 4, 10. 11 und die Warnung in Jak 3, 1 dieselbe Freiheit
und die damit verbundene Gefahr im Dienste voraus. Weiter
sehen wir in Apg 8, daß die durch die Verfolgung Zerstreuten
überall das Wort predigten; und obwohl, wie ich glaube, diese
nicht alle Diener des Wortes waren, so ist es doch ein Beweis,
daß der Herr jeden Christen anerkennt, der die frohe Botschaft verkündigt. Ganz besonders aber begegnen wir in demselben Kapitel dem Philippus, wie er mit Freimütigkeit das
Wort redet. „Aber", konnte man sagen, „Philippus war doch
von der Versammlung gewählt". Es ist wahr, er war gewählt
worden, aber wozu? Zum Diakonen, und nicht zum Dienste
des Wortes. Dazu berief ihn der Herr später, demzufolge er
die Stellung als Diakon aufgab, von Jerusalem nach Samaria
ging und unter dem Segen des Herrn das Wort predigte. In
Kap. 9 sehen wir einen Mann auf der Reise nach Damaskus,
mit Vollmacht von den Hohenpriestern, um die Christen zu
88
verfolgen. Das war der einzige Auftrag, den Paulus von Menschen empfangen hatte*); er war autorisiert, nicht das Evangelium zu verkündigen, sondern es zu vernichten. Aber der
Herr in Seiner unumschränkten Gnade bekehrte ihn und sandte
ihn aus als „einen Prediger und Apostel und Lehrer der Nationen in Glauben und Wahrheit". Später führte der Herr noch
mehrere in das Werk ein, unter anderen den Apollos, welchen
„Aquila und sein Weib zu sich nahmen, um ihm den Weg
Gottes noch genauer auszulegen". Und ob auch betreffs seiner
nirgends in der Schrift eine menschliche Einweihung oder Anstellung erwähnt wird, so zollt ihm Paulus dennoch völlige Anerkennung, indem er ihn sich selbst und dem Apostel Petrus
zur Seite stellt (i. Kor 3). Am Ende seines ersten Briefes an die
Korinther sagt Paulus sogar, daß er Apollos viel zugeredet
habe, nach Korinth zu gehen, daß es aber dessen Wille nicht
gewesen sei, jetzt zu kommen (1. Kor 16). Ein inspirierter
Apostel gibt also einem nicht ordinierten Diener einen Rat,
den dieser nicht befolgt. Da der Apostel ihn dieserhalb nicht
tadelt, so können wir nicht beurteilen, wer von ihnen Recht
oder Unrecht hatte; aber dieser Vorfall zeigt uns doch, im
Gegensatz zu den Träumereien der Menschen über apostolische
Oberherrschaft, daß der Herr der alleinige Meister und Leiter
Seiner Diener ist, und diese nur Ihm verantwortlich sind. Das
ist ein für alle Zeiten geltender Grundsatz; und wir haben die
Frage an uns zu richten: „Dienen wir dem Herrn und nur Ihm
allein oder sind wir Diener der Menschen oder irgendeiner
Benennung?" Ist dies zuletzt Genannte der Fall, dann laßt uns
bedenken, daß „niemand zwei Herren dienen kann". Man kann
nicht ein Diener Christi und zugleich der Diener irgendeiner
Partei sein; eines von beiden muß aufgegeben werden.
Wir sehen also, daß der Dienst des Wortes einen von der Versammlung unabhängigen Platz einnimmt, indem er nicht allen,
sondern nur einzelnen Gliedern zum Nutzen aller anvertraut
ist. Die Versammlung hat ihrerseits die Diener anzuerkennen,
und andererseits haben die Diener die Versammlung anzuerkennen. Man darf diese beiden Dinge ohne bedenkliche Folgen
*) Später, wenn er von seinem apostolischen Dienst spricht, sagt er: „Paulus,
Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesuin
Christum und Gott, den Vater, der Ihn aufervveckt hat aus den Toten" (Gal 1,1).
8°
nicht aus dem Auge verlieren. Ohne Zweifel besteht die Aufgabe eines Dieners darin, in der Unterwürfigkeit unter Christen
zu predigen oder zu lehren, zu ermahnen, zu unterweisen oder
zu regieren, je nachdem er eine Gabe von dem Herrn empfangen hat. Aber was auch die Ratschläge und Urteile eines Dieners sein mögen, so kann doch nichts die unmittelbare Verantwortlichkeit Christo gegenüber auflösen. Derselbe Jesus, welcher der Herr des Dieners ist, wird auch als Herr durch die
Versammlung Gottes anerkannt.
Endlich wird uns in Apg 13 und 15 gezeigt, wie wir selbst im
Blick auf einen Begleiter oder einen Mitarbeiter im Dienste
nicht nach Willkür, sondern in Abhängigkeit von dem Herrn
zu handeln haben. Paulus und Barnabas nahmen auf ihrer
ersten Missionsreise den Markus mit; der erwies sich jedoch,
indem er sich von ihnen trennte und wieder zurückkehrte, als
unfähig zum Werke. Paulus weigerte sich deshalb später, ihn
wieder mitzunehmen, und es erhob sich infolgedessen, da Barnabas, ein Verwandter des Markus, auf dessen fernerer Begleitung bestand, zwischen beiden ein so harter Wortwechsel,
daß sie sich voneinander trennten. Paulus wählte Silas zu
seinem Reisegefährten, und diese beiden reisten ab, von den
Brüdern der Gnade Gottes befohlen, indem diese jedenfalls
überzeugt waren, daß das Recht auf Seiten des Apostels war.
Von Barnabas wird nichts weiter gesagt. Sicherlich ist in der
Wahl eines Mitarbeiters ein geistliches Urteil erforderlich; und
es ist klar, daß eine gezwungene Verbindung nicht nach den
Gedanken des Herrn ist. Jedenfalls wollte Paulus sich Markus
nicht aufzwingen lassen und wählte sich einen anderen Begleiter. Ist das nicht ein wichtiges Beispiel der Vorsorge Gottes,
welche Er in Seinem Worte getroffen hat, selbst hinsichtlich der
Annahme oder der Zurückweisung des Dienstes eines Mitarbeiters? Der Herr Jesus behauptet stets den Ihm allein gebührenden Platz, nicht allein in bezug auf die Versammlung,
sondern auch bezüglich des Dienstes, und Er lehrt uns, wie wir
Sein Wort auf der Erde auszuführen haben. Freilich unterliegt
es keinem Zweifel, daß wir einander unterwürfig sein sollen,
und sicher steht dies mit der Unterwerfung unter den Herrn
in Verbindung; aber zu allen Zeiten und unter allen Umständen müssen wir bemüht sein, dem Herrn zu gefallen.
90
Wir sehen also, daß sowohl die Versammlung, als auch der
Dienst nach dem Worte Gottes ihre Quelle in Christo haben,
und beide unter eine Verantwortlichkeit gestellt sind, die nicht
geschwächt oder gar gänzlich beiseitegesetzt werden darf. Die
Versammlung hat die Pflicht, die Diener Christi aufzunehmen,
hat aber nicht das Recht, sie zu wählen; und der Diener ist dem
Herrn verantwortlich, von welchem er allein seine Kraft empfängt.
Ganz besonders aber haben wir es nötig, uns einfältig an den
Herrn anzuklammern, an Seine Gnade und Sein Wort, um
nicht durch die Schwierigkeiten, die nie ausbleiben, entmutigt
zu werden. Denn wie der Weg des Herrn in Seine himmlische
Herrlichkeit über das Kreuz führte, so trägt auch jeder wahre
Dienst für Christum den Stempel des Kreuzes an der Stirn;
aber es ist der Herr und Sein Kreuz. Laßt uns dem Herrn
unterworfen sein und Ihm dienen! Ich zweifle nicht an dem
Triumph in Christo; aber sicher können wir in dieser Welt auf
Trübsale und Prüfungen rechnen; und auch in der Versammlung Gottes wird es an Schwierigkeiten nicht fehlen. Jeder, der
Christo gedient hat, weiß etwas davon; aber Christus, Welchem die Versammlung angehört, und Dem wir dienen, „bleibt
gestern und heute und in die Zeitalter derselbe".
4. Der Gottesdienst, das Brotbrechen und das Gebet
(Joh 4, 10—24)
Unter den jetzt von uns zu betrachtenden Gegenständen nimmt
der Kultus oder der eigentliche Gottesdienst den ersten und
wichtigsten Platz ein; und da dieser uns am meisten mit Gott
Selbst in Beziehung bringt, so ist er für unsere Seelen auch der
erhabenste und gesegnetste Gegenstand. Jedenfalls ist der
Tisch des Herrn in den Gottesdienst mit eingeschlossen, eifordert jedoch wegen seiner unterschiedlichen Natur und seiner
besonderen Beziehung zu den Heiligen eine besondere Betrachtung, während der Gottesdienst, als solcher, zu Gott in wesentlicher Beziehung steht.
In dem oben angeführten Kapitel, Ev. Joh 4, sehen wir nicht
nur, daß der Gottesdienst ein erhabenes, gesegnetes und hln91
sichtlich unseres Wandels fruchtbringendes Vorrecht für uns
ist, sondern es läßt uns auch den Gegensatz zu dem jüdischen
Kultus erkennen. Zum besseren Verständnis muß ich jedoch
einige Bemerkungen über den zur Ausübung des Gottesdienstes erforderlichen Seelenzustand vorausschicken. Der Vater
erwartet die Anbetung Seiner Kinder; und diese Anbetung ist
eine Pflicht, an welcher sie alle ein persönliches und unmittelbares Interesse haben. Wie aber hinsichtlich der Versammlung
Gottes und der Gabe des Heiligen Geistes, so ist auch in bezug
auf den Gottesdienst, sowohl von Seiten Gottes als auch der
Seinen, eine feste Grundlage zu seiner wirklichen, wahrhaft
christlichen Ausübung nötig. Wenn es je ein Gebiet gegeben
hat, auf dem die Zulassung des menschlichen Willens eine
Sünde und eine Verunehrung Gottes war, so ist es vor allem
das Gebiet des Gottesdienstes. Und demnach geschieht nichts
so häufig und mit weniger Gewissen als gerade dieses. Gibt
es wohl eine Sache, in welcher der Mensch sich mehr erhebt
den Geist der Gnade mehr verachtet als es hier geschieht? Niemand halte diese Sprache für übertrieben hart. Kann man eine
Sache scharf genug bezeichnen, durch welche die Welt betrogen, die Kirche geschändet und die moralische Herrlichkeit
Christi vernichtet wird, und worin der Mensch aus einem
falschen Grunde oder ohne Grund beschäftigt ist, Gott zu verehren, und zwar angesichts der herrlichen Offenbarung, welche
Gott von Sich Selbst in Seinem Sohne gegeben hat und geben
kann?
Diese vollkommene Offenbarung Gottes allein ist sowohl die
Quelle unserer Hoffnung und Segnung als auch die Grundlage
des christlichen Gottesdienstes. Indes wie wesentlich sie auch
für den Gottesdienst und wie unendlich sie in ihrem Wesen
sein mag, so würde sie doch an und für sich allein nicht genügend
sein. Es mußte auch den Bedürfnissen des Menschen in Übereinstimmung mit der göttlichen Herrlichkeit begegnet werden.
Nun, Gott hat es an nichts fehlen lassen; und alles was Er
getan hat, ist selbstverständlich unbedingt vollkommen.
Vor der Erscheinung Christi gab es ohne Zweifel nur eine teilweise Offenbarung Gottes. Nachdem aber der Sohn Gottes
gekommen ist, können wir jetzt als Gläubige ohne Anmaßung
92
sagen: „Er hat uns ein Verständnis gegeben, auf daß wir den
Wahrhaftigen kennen". Welch ein Glück, in dieser finsteren
Welt sagen zu dürfen: „Wir kennen Ihn"! Wie gesegnet, ein
göttliches Buch zu besitzen und geleitet durch den Geist die
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Lichte Gottes betrachten zu können! Köstlicher aber als alles ist das Wort:
„Wir kennen den Wahrhaftigen, und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohne Jesu Christo" (I. Joh 5).
Ohne Zweifel findet ein Wachstum in der Erkenntnis statt;
jedoch müssen wir die Grundwahrheit festhalten, daß jeder,
den Gott in Seine Gemeinschaft gebracht hat, mit dem Heiligen
Geiste gesalbt ist und „alles weiß" (vgl. 1. Joh 2, 20). Alle
besitzen eine geistliche Fähigkeit, welche mit dem Unterschied
in der praktischen Entwicklung der Einzelnen nichts zu tun
hat. Gott hat den Seinigen eine neue Natur gegeben, die durch
den Geist fähig ist, Ihn Selbst zu verstehen, zu schätzen und zu
genießen. Diese Vorrechte lassen uns in etwa erkennen, was
zunächst erforderlich ist, um ein Anbeter Gottes zu sein. In
einem nicht wiedergeborenen Menschen einen Anbeter zu
suchen, wäre eine verwerfliche Torheit. Wenn wir nicht eine
neue Schöpfung in Christo geworden sind und nicht eine
neue Natur aus Gott besitzen, können wir Ihn weder kennen
noch anbeten. Nicht als ob der Besitz des ewigen Lebens, das
jede Seele durch den Glauben an den Sohn Gottes empfängt,
an und für sich schon zur Anbetung befähige; nein, Gott gibt
mehr als das. Der Herr sagt zu der Samariterin: „Wenn du die
Gabe Gottes kanntest und wer es ist, der zu dir spricht: Gib
mir zu trinken! so Würdest du ihn gebeten haben, und er hätte
dir lebendiges Wasser gegeben". Hier haben wir sozusagen
den Kern wahren Gottesdienstes. Zuerst bedurfte jenes Weib
der Erkenntnis der „Gabe Gottes", und dann der Erkenntnis
Dessen, Der zu ihr sprach.
Gott gab im alten Bunde das Gesetz; doch Er verbarg Sich
hinter dem Vorhang. Aber als der eingeborene Sohn den Vater
offenbarte, nahm Gott nicht länger eine durch das Gesetz gekennzeichnete Stellung ein, indem Er eine Gerechtigkeit von
seiten des Menschen forderte, sondern Er begegnete, als Licht
und Liebe, dem Sünder in der Tiefe seines Elends mit jener
93
freien Gabe, die Gottes Selbst würdig ist. Das ist passend für
Ihn, und daran findet Er Seine Wonne. Doch dies war nur
möglich durch die Erniedrigung und Verherrlichung des Sohnes
Gottes, der für Sünder in den Staub des Todes hinabstieg. Wie
köstlich sind daher die Worte, die der Herr an jene Frau richtete ! Wahrlich, hätte sie die Gabe Gottes und die Herrlichkeit
Dessen erkannt, Der mit ihr redete, so würde sie alles, was sie
wünschte, bei Ihm gesucht und gefunden haben. Wie wenig
ahnte sie, wer es war, Der mit ihr redete! Sie erblickte in dem
Herrn nur einen Juden, obwohl es ihr Erstaunen erregte, daß
ein Jude so liebevoll und herablassend mit ihr, einer Samariterin, verkehrte und redete! Wie wenig dachte sie daran, daß der
vor ihr sitzende Fremdling der Herr des Himmels und der Erde,
der eingeborene Sohn aus dem Schöße des Vaters war! Hätte
sie nur eine Ahnung davon gehabt, so würde sie Ihn sicher um
lebendiges Wasser gebeten haben. Wir erblicken hier die ganze
Gottheit in ihrer Dreieinheit. Zuerst die Gnade Gottes als die
Quelle; dann die Herrlichkeit der Person des Sohnes und Seine
Gegenwart in Niedrigkeit unter den Menschen auf der Erde;
und endlich den Sohn, welcher bedürftigen und dürstenden
Seelen das „lebendige Wasser", den Heiligen Geist, gibt.
Zunächst also haben wir Gott, geoffenbart durch das Evangelium in Gnade, im Gegensatz zu dem Gesetz; dann den Sohn
Gottes, herniedergekommen in vollkommener Güte und völlig
bereit, allen Bedürfnissen des Menschen durch eine Liebe zu
begegnen, die selbst das gleichgültigste und verhärteste Herz
zu gewinnen vermag; und endlich die Gegenwart des Heiligen Geistes. Das ist die notwendige Grundlage des Gottesdienstes. Bei seiner Ausübung muß ich verstehen, daß von
Seiten Gottes eine völlige Offenbarung dessen geschehen ist,
was Er in Seiner eigenen Natur und Gnade für den Menschen
ist. Sodann, daß der Sohn, in Übereinstimmung mit dieser
Offenbarung, unter die Menschen gekommen ist, um durch
das Opfer Seiner Selbst die Sünde gänzlich hinwegzunehmen;
und endlich, daß das Herz, nachdem seine Bedürfnisse geweckt
sind, von dem Herrn lebendiges Wasser begehrt und empfangen hat, und zwar nicht nur als die Kraft des Lebens und der
Erneuerung, sondern auch als die Quelle unaufhörlicher Erfrischung, die in das ewige Leben quillt.
94
Die Frage der in ihrem Gewissen getroffenen Frau über den
Ort der Anbetung gibt dem. Herrn Veranlassung, die Dämmerung eines herrlichen Tages feierlich anzukündigen mit den
Worten: „Weib, glaube mir, es kommt die Stunde, da ihr
weder auf diesem Berge, noch in Jerusalem den Vater anbeten
werdet .. . Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die
wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn aurh der Vater sucht solche als seine Anbeter". — Das ist der völlige und klare Ausdruck des Gottesdienstes. Gott als der Vater geoffenbart, der Seine Kinder nicht
nur beruft und annimmt, sondern sie vielmehr sucht, und zwar
in der Fülle einer Liebe, deren Ausgang und Ziel der Himmel
ist. In Israel hatte der Mensch Jehova zu suchen und konnte
nur unter der genauen Beobachtung feierlicher Gebräuche und
strenger Zeremonien vor Ihm erscheinen und anbeten. Da
konnte von einem Nahen in Seine unmittelbare Gegenwart
keine Rede sein; und selbst wenn dies möglich gewesen wäre,
so hätte man dennoch nicht Ihm, als dem Vater, nahen können.
Gott war so wenig der Vater Aarons, als des schwächsten
Gliedes eines der geringsten Stämme Israels. Aber jetzt war die
Stunde gekommen, wo der Vater Anbeter suchte. Das jüdische
System war gewogen und zu leicht befunden worden. In den
Augen Gottes war das weltliche Heiligtum schon gefallen, um
Christo, dem wahren Tempel Platz zu machen. Die Erscheinung
Jesu hatte alles verändert. Sowohl auf dem Berge Gerisim als
auch in Jerusalem mußte die irdische Anbetung verschwinden,
um der Anbetung des Vaters im Geiste und in Wahrheit Platz
zu machen; denn „der Vater sucht solche als Seine Anbeter".
Dieser Grundsatz stand im entschiedenem Gegensatz sowohl
zu der Natur, als auch zu dem Judaismus. Nicht nur trat ein
ganz neuer Charakter der Anbetung, der eine ganz neue, ihm
entsprechende Offenbarung Gottes erforderte, in die Erscheinung, sondern auch die alten Lampen des bis dahin im Judentum anerkannten Heiligtums mußten erlöschen. Nicht nur die
Anbetung Samarias fand eine vollständige Verurteilung, sondern auch die schwachen Strahlen, die als ein Zeugnis eines
zukünftigen besseren Lichtes die Bestimmung hatten, in Israel
die Finsternis zu erleuchten, mußten vor dem jetzt ungeschwächt ausstrahlenden Glanz des Himmels erbleichen. Die
Juden haben durch ihr Verhalten das letzte Band zerrissen, das
95
ein Volk nach dem Fleische mit Gott verbinden konnte, und
haben durch die Verwerfung ihres Messias sich selbst verworfen. Doch diese Verwerfung hat die Erlösung durch das
Kreuz eingeführt; und alle Glaubenden finden jetzt nicht nur
Vergebung der Sünden in dem Blute Jesu, sondern der Herr
offenbart ihnen auch Gott Selbst als Seinen Vater und ihren
Vater, als Seinen Gott und ihren Gott, und dies in der Macht
und Gegenwart des von dem Himmel herniedergesandten Heiligen Geistes, so daß sie in die heilige und wahre Anbetung des
lebendigen Gottes eintreten können und fähig sind, durch Ihn
und mit Ihm zu sagen: „Abba, Vater"!
Wir bedürfen also nicht nur eines geistlichen Lebens und der
Erlösung, sondern auch des Heiligen Geistes; und darum fügt
der Herr hinzu: „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen
in Geist und Wahrheit anbeten". Beachten wir es wohl! Wenn
der Herr vom Vater spricht, welcher Anbeter sucht, so ist alles
reine Gnade; denn Er ist der Suchende. Aber dennoch ist es
Gott, den wir nach Seiner unendlichen Barmherzigkeit Vater
nennen dürfen; und dieses Vorrecht darf das Verständnis bezüglich Seiner Majestät nicht im geringsten schwächen, sondern muß es sogar vermehren; und deshalb steht geschrieben:
„Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und
Wahrheit anbeten".
Und nun, mein lieber christlicher Leser, wo ist dein Platz? Bist
du mit solchen vereinigt, die also in Geist und Wahrheit den
Vater anbeten? Oder nimmst du teil an einem Gottesdienst,
welcher, anstatt die Herzen in Geist und Wahrheit zu Gott,
dem Vater, zu erheben, sie, (falls Jerusalem nicht erreicht
werden kann), zu dem Berge Samaria, d. h. zu einem Gottesdienst zurückführt, der eine bloße Form und ein System ist,
das etliche wahre Anbeter mit einem Haufen falscher Anbeter
vermischt? Für ein einfältiges Auge ist es nicht schwer, den
wahren Gottesdienst von dem falschen zu unterscheiden. Wie
kann eine wahre Anbetung an einem Platze stattfinden, wo die
Trennung des Gläubigen von der Welt nicht anerkannt wird?
wo menschliche Vorschriften und Einrichtungen das göttliche
Wort ersetzen? wo dem Heiligen Geist kein Raum gelassen
wird, dem Worte gemäß zu wirken, und wo selbst ein Unbe96
kehrter an den ernstesten Dingen teilnehmen und dabei sogar
der Leiter sein kann? Was wird da die unausbleibliche Folge
sein? Jedenfalls werden die Gläubigen, die sich in dieser Vermischung befinden, anstatt daß sie die Welt zu der Höhe
des Glaubens erheben, sie selbst zur Gleichförmigkeit mit ihr
herabgezogen werden. Ist es da ein Wunder, wenn stattliche
Gebäude, kirchliche Feste, sinnenberauschende Kirchenkonzerte
usw. den wahren Gottesdienst verdrängen und seinen Platz
völlig ausfüllen? Man mag christliche Anbeter in solchen Zuständen finden, aber sicher keine christliche Anbetung. Bei
vielen Christen ist das Verständnis über den Gottesdienst so
unklar und dunkel, daß sie ein Gebäude, in das sie sich zum
Anhören einer Predigt begeben, als den Ort ihres Gottesdienstes bezeichnen. Eine Predigt anhören nennen sie Gottesdienst; dies beweist, wie völlig der wahre Begriff des christlichen Gottesdienstes ihnen abhandengekommen ist. Sicher
haben wir Gott dafür zu danken, wenn nur irgend Christus
gepredigt wird, weil dadurch Seelen bekehrt werden können.
Aber was wir wünschen, ist, daß die Seelen nicht nur zur
Erkenntnis ihrer Sünden und deren schrecklichen Folgen gebracht werden, sondern daß sie auch die Verkündigung des
Evangeliums Gottes hören, so wie es in den Briefen dargestellt
ist, nämlich die frohe Botschaft, daß das Werk Christi nicht
nur unsere Sünden getilgt hat, sondern daß wir auch eines
neuen Lebens teilhaftig geworden sind, versiegelt durch den
Heiligen Geist und mit Gott in Gemeinschaft getreten. Wo dies
vorhanden ist, da kann — indem das durch die Gnade befreite
Herz sich mit Danksagung zu Gott erhebt — die Anbetung als
einfache, notwendige Frucht nicht ausbleiben. Der Gläubige
besitzt das neue Leben als eine Quelle, die in das ewige Leben
quillt; er genießt einen vollkommenen, unzerstörbaren Frieden,
dessen Bewußtsein ihm den Mund zum Preise seines Heilandes
öffnet. Ist die Verkündigung des Evangeliums kein deutlicher,
klarer Ton, der die Seelen ergreift, dann werden sie, obwohl
sie eine gewisse Vorstellung von Christo haben mögen, doch
bald das Gesetz an die Stelle des Heiligen Geistes setzen und,
anstatt sich der Macht des Lichtes und des Friedens in Christo,
als einer Frucht des Zeugnisses und der Inwohnung des Heiligen Geistes, zu erfreuen, in einem trostlosen Zustande der
Ungewißheit verkümmern. Darum kann, wie bereits bemerkt,
97
der wahre Gottesdienst nur auf die Offenbarung der Gnade in
dem gestorbenen, auferstandenen und zum Himmel erhöhten
Christus gegründet sein und durch die Kraft des Geistes Gottes
von den Gläubigen genossen werden. Irdische Formen und
menschlicher Wille finden hier keinen Platz; denn „Gott ist ein
Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit
anbeten".
Dann finden wir in x. Kor 14, welchen Platz die Danksagung,
in Verbindung mit der Wirksamkeit Gottes in der Versammlung, in dem Gottesdienst einnimmt. Wir lesen: „Was ist es
nun? Ich will beten mit dem Geiste, aber ich will auch
beten mit dem Verstände; ich will lobsingen mit dem
Geiste, aber ich will auch lobsingen mit dem Verstände".
Der Herr erwartet einen einsichtvollen Dienst von den
Seinigen. Wenn z. B., wie der Apostel in V. 16
anführt, während des Gottesdienstes Danksagung oder Anbetung in einer fremden Sprache dargebracht wurde, dann war
die Erbauung der Versammlung gestört, weil diese, der fremden Sprache unkundig, nicht mit Einsicht ihr „Amen" hinzufügen konnte. Wie sorgfältig wachte der Geist Gottes über den
Gottesdienst der ersten Versammlungen! Wie wenig aber
achtet man in unseren Tagen darauf! Wo sehen wir die Anbetung der Familie Gottes? Doch wie trostlos der Verfall unter
uns auch sein mag so erwartet dennoch Gott von uns, Seinen
Kindern, daß wir Ihn im Geiste und in Wahrheit anbeten, und
folglich allein auf die Gegenwart und Leitung des Heiligen
Geistes in der Versammlung rechnen. Lassen wir unsere eigenen Gedanken und Meinungen zu Hause! So würde es z. B.
nicht am Platze sein, wenn jemand in der Versammlung irgendein Lied, durch das sein Herz einmal erquickt worden ist, vorschlagen würde, ohne zu prüfen, ob es auch bei dieser Gelegenheit passend wäre; oder wenn jemand nur deshalb ein
Kapitel lesen oder einen Vortrag halten wollte, um das für
einen zufällig anwesenden Fremden auffällige Schweigen zu
unterbrechen. Würde man von einem solchen Bruder sagen
können, daß er sich der Gegenwart des Heiligen Geistes bewußt wäre? Wird sich der Heilige Geist, der die Gedanken
Christi mitzuteilen beabsichtigt, mit dem beschäftigen, was die,
welche draußen sind, über die Versammlung reden oder denken
98
mögen? Geziemt es sich in solchen Umständen nicht vielmehr,
von uns selbst und von anderen abzusehen und mit unseren
Herzen auf die Christum betreffenden Gedanken des Heiligen
Geistes zu lauschen! Wie einfach ist in diesem Falle der Ausfluß der Danksagung für die Barmherzigkeiten, die Gott uns
und allen Seinen Heiligen erwiesen hat! Und wie lieblich wird
dann das Verständnis sein, das Gott uns von Seiner Wonne
an Christo gibt!
Auch dürfen wir in der Versammlung nie einem kritisierenden
Geist Raum geben, oder gar denken, daß hier der Ort sei, wo
jemand seine vermeintliche Weisheit zeigen könnte. Im Gegenteil sollte gerade hier selbst der Größte sein Nichts vor Gott
erkennen; denn sonst wird bald der Samen der Zwietracht und
der Zerrüttung gerade da gesät werden, wo Eintracht und Einklang herrschen sollten. „Wenn es aber jemandem gut dünkt,
streitsüchtig zu sein, so haben wir solche Gewohnheit nicht,
noch die Versammlung Gottes", sagt der Apostel. Wir alle sind
Mängeln und Irrtümern unterworfen und bedürfen der Ermahnung; aber ein liebloses Richten und Tadeln in der Versammlung verleugnet deren wahren Charakter.
In betreff des Brotbrechens wird die Anführung einiger Schriftstellen genügen. Der Apostel Paulus hat das Abendmahl des
Herrn der Versammlung überliefert, wie er es von dem Herrn
empfangen hatte (1. Kor 11). Es ist eine heilige Anordnung
und steht nicht nur mit der Einheit des Leibes Christi in
inniger Verbindung, sondern ist auch der deutliche Ausdruck
dieser Einheit, zu deren Offenbarung der Apostel besonders
berufen war. Während die Taufe für jeden einzelnen Gläubigen
das Bekenntnis seines Gestorbenseins und seiner Auferstehung
mit Christo ist, indem er durch sie bezeugt, daß er an den
gekreuzigten und auferstandenen Christus glaubt und demzufolge weder Jude noch Heide, sondern ein Jünger Christi ist,
so gehört der Tisch des Herrn der Versammlung als solcher
an und bildet einen wesentlichen Teil in dem Gottesdienst der
Heiligen Gottes. Der Tisch des Herrn ist zunächst und eigentlich die beständige Darstellung des Bodens, auf dem wir stehen,
das Zeugnis von der Liebe Christi bis in den Tod und von
Seinem Werke, kraft dessen solche, wtie wir sind, anbeten
99
können. Es ist daher kein Wunder, wenn der Apostel zeigt,
welch einen ernsten und gesegneten Platz der Tisch des Herrn
unter den ihm von dem Herrn gemachten Offenbarungen einnimmt. Er sagt: „Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich
auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht,
in welcher er überliefert wurde, Brot nahm und, als er gedankt
hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist;
dies tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch
nach dem Mahle, und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund
in meinem Blute; dies tut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch
trinket, verkündiget ihr den Tod des Herrn, bis er kommt".
Angesichts dieser Mitteilung ist es augenscheinlich, daß der
Tod des Herrn in Seinem Abendmahl einen hervorragenden
Platz einnimmt. Wie erhaben auch die Gunst unseres Gottes
in den Himmeln, die daraus entspringende Gemeinschaft und
unsere herrliche Hoffnung auf die ewige Segnung mit Christo
sein mögen, so darf doch nichts von diesem allen auch nur für
einen Augenblick von dem Tode des Herrn getrennt werden
oder ihn in den Schatten stellen. Im Gegenteil werden, je mehr
wir den Wert des Todes des Herrn anerkennen, alle jene Dinge
an Glanz gewinnen und für unsere Herzen lieblicher und köstlicher werden. Der Tod des Herrn erinnert uns beständig an
das, was wir als verlorene Sünder waren, an die völlige Tilgung aller unserer Sünden durch Sein Blut, an die damit verbundene Verherrlichung Gottes, und vor allem an die in Seinem
Tode geoffenbarte unbedingte Gnade, sowjie an die uns in
Seinem Tode rechtfertigende Gerechtigkeit Gottes. Alle diese
Dinge, und mehr noch die vollkommene Herrlichkeit Christi,
werden dem Glaubensauge in dem einfachen, aber wunderbaren Wort: „Tod des Herrn" vorgeführt.
Ferner ist es nach Apg zo, 7 wohl klar, daß die Gläubigen
jeden ersten Tag der Woche, und nicht etwa bloß jeden Monat
oder gar nur jedes Vierteljahr einmal zum Brotbrechen zusammenkommen sollten. Auch findet diese Zusammenkunft nicht
an dem Todes- sondern an dem Auferstehungstage des Herrn
statt. Jesus ist nicht mehr im Grabe, sondern Er ist auferstanden, so daß wir in den Stand gesetzt sind, an dem Tage, der
100
von Seiner Auferstehungsmacht Zeugnis ablegt, nicht mit
trauernden Herzen, sondern mit dankbarer und inniger Freude
das Brot zu brechen. Unstreitig bezeichnet der Heilige Geist
diesen Tag nicht nur als eine Gelegenheit zu unserer Erbauung,
sondern als einen Tag, an dem Er die Christen zusammenruft,
um das Gedächtnismahl des Herrn zu feiern und Seihen Tod
zu verkündigen. Doch mit welcher Geringschätzung wird dieser
Tag und vor allem der Tisch des Herrn von so vielen Gläubigen
behandelt! Wie oft bringen sie ihre Sonntage in einer Weise zu,
die nicht entfernt den klaren Anweisungen des Wortes Gottes
oder den in dieser Hinsicht geoffenbarten Gedanken des Herrn
entspricht! Und wie sehr ist in der Christenheit der Charakter
des Tages und des Tisches des Herrn, nicht nur der Form, sondern auch vornehmlich seinen Grundsätzen nach, in einer
Weise verändert worden, daß keine Spur von der ursprünglichen Einrichtung des Herrn übriggeblieben ist!
Der Tisch des Herrn muß in der Versammlung der Heiligen
stets den ersten Platz haben; er muß in ihren Zusammenkünften am Tage des Herrn der vorherrschende Gedanke sein.
Ihre Gebete, ihre Erbauung und Belehrung dürfen diesen erhabenen Gegenstand niemals in den Hintergrund drängen.
Denn wie geistlich der Dienst in der Versammlung auch sein
mag, so nimmt dabei der Mensch doch irgendeinen Platz ein,
während beim Abendmahl der Herr in Seiner Erniedrigung und
in Seinem Tode der alleinige und erhabene Gegenstand ist.
Allerdings mag dies für solche, die an starre Formen gewöhnt
sind, eine seltsame Sprache sein; allein das hat seinen Grund
darin, daß sie zu wenig mit der Gegenwart und Leitung des
Heiligen Geistes in der Versammlung vertraut sind. Wo aber
die Tür für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes offen ist,
und ein richtiges Verhältnis von dem, was die Versammlung
durchdringt, vorhanden ist, da wird der Geist Gottes alles an
seinen wahren Platz zu stellen wissen; und, indem unser ganzes Vertrauen auf den Herrn gerichtet ist, werden wir den
Trost Seiner Leitung haben. Ist es nicht demütigend und betrübend, zu denken, daß der Feier des Abendmahls etwas
mangele, wenn sie nicht mit einem Vortrag oder dergleichen
geziert sei? Kann da auch nur der Gedanke eines Mangels sein,
wo der Tod des Herrn unseren Herzen vorgestellt wird, und
101
wir mit allen, die Ihn lieben, um den Herrn versammelt sind?
Und könnte für Gott irgendein Dienst angenehmer sein, als die
einfache Erinnerung an die Person und den Tod Seines Geliebten am Tische des Herrn?
Schließlich werden manche Seelen durch die Furcht beunruhigt,
sich durch unwürdiges Essen und Trinken die Verdammnis
zuzuziehen. Allerdings haben wir ernstlich gegen jede Nachlässigkeit, gegen jede unwürdige Teilnahme am Tische des
Herrn zu wachen; aber von der Verdammnis zu sprechen, hieße
für den Gläubigen den Trost des Evangeliums und die allgemeine Richtung des Wortes Gottes umkehren. Es ist sicher
wahr, daß, wenn wir mit einem leichtfertigen und verunreinigten Herzen an den Tisch des Herrn gehen, mit anderen Worten
unwürdiglich essen und trinken, wir nicht das Abendmahl des
Herrn, sondern uns selber Gericht essen und trinken. Die Hand
des Herrn wird auf solchen ruhen, wie dies bei den Korinthern
wegen der dort herrschenden Unordnung der Fall war; aber das
war ausschließlich ein geistliches Gericht und hatte den Zweck,
„daß sie nicht mit der Welt verurteilt würden". Andererseits
gibt es keinen Grund, uns von dem Tisch des Herrn zurückzuziehen, selbst nicht in unseren Mängeln und Gebrechen; sondern wenn wir uns vergessen und uns verunreinigt haben, so
sollten wir uns vielmehr demütigen und den Herrn durch unser
Selbstgericht rechtfertigen. Und wenn wir an die unergründliche Liebe des Herrn denken, die Er in Seiner Hingabe für uns
gezeigt hat, und an die ganz unverdiente völlige Befreiung,
die durch Seine tiefe Erniedrigung und dadurch bewirkt wurde,
daß Er den Zorn Gottes auf dem Kreuze für uns getragen hat; wenn wir uns ferner an alle die Ermunterungen
und Unterstützungen erinnern, die wir durch Ihn im Kampfe
hier erfahren, dann werden wir das dankbare Andenken an
Seinen Tod als die höchste Verpflichtung betrachten, die wir
unter keinen Umständen vernachlässigen dürfen.
Hinsichtlich des Gebetes möchte ich nur noch mit wenigen
Worten auf einen unter den Gläubigen viel verbreiteten Irrtum
aufmerksam machen, demzufolge das Gebet als eine Gabe
betrachtet wird — eine Meinung, für welche die Schrift nirgends
einen Anhaltspunkt bietet. Dieser Irrtum hat die traurige Wir102
kung, daß es viele nicht wagen, in der Versammlung ein Gebet
zu sprechen, weil sie keine Gabe dafür zu besitzen meinen; und
anstatt daß die Versammlung durch ihr Gebet gesegnet werden
könnte, schweigen sie zu ihrem eigenen Schaden und zum
Schaden der Versammlung. Und ist es nicht Tatsache, daß
manche aus dem Grunde kein Gebet sprechen, weil sie fürchten,
es möchte nicht lange genug oder nicht in gewinnende, schöne
Worte gekleidet sein? Möchten doch alle auch in dieser Beziehung das Wort Gottes prüfen und die Ermahnung des Apostels
in 1. Tim 2 beherzigen, wo er in entschiedener Weise die
Männer auffordert, an allen Orten zu beten und heilige Hände
aufzuheben! Möchten sich die Brüder, frei von aller Zweifelsucht, dem Herrn übergeben und sich stets daran erinnern, daß
das Wort Gottes nirgends eine Andeutung über eine Gabe des
Gebetes macht. Es ist ein Irrtum, zu denken, daß die begabten
Brüder allein geeignet seien, ihre betende Stimme in der Versammlung Gottes hören zu lassen.
5. Gaben und Ämter (Eph 4, 7—11)
Eine Betrachtung über Gaben und Ämter möchte manchen
Seelen, die dazu nicht in unmittelbarer Beziehung stehen, als
eine fruchtlose Spekulation erscheinen, während sie für andere,
die sich daran beteiligt glauben, zur Schlinge werden könnte.
Dennoch sind diese göttlichen Verrichtungen innig und wesentlich mit Christo und der Versammlung Gottes verbunden.
Gleich allen geistlichen Segnungen der Versammlung entströmen auch sie der reichhaltigen Gnadenquelle in der Höhe; sie
kommen von Christo aus den himmlischen örtern. Das sollte
genügen, um jede Abneigung und jedes Bedenken gegenüber
einer solchen Betrachtung zu beseitigen. Es ist in Gottes Augen
wichtig, daß die verliehenen Gaben zur Verherrlichung Seines
geliebten Sohnes verwertet werden. Und darum sollte es dieser
Gegenstand im Lichte des Wortes zu betrachten sowohl denen
willkommen sein, deren Vorrecht und Verantwortlichkeit es
ist, die Gaben auszuüben, als auch denen, die über die Verwaltung dieser Gaben mit Eifersucht zu wachen haben, damit sie
nicht aus irgendeinem selbstsüchtigen und weltlichen Grunde
ihren wahren Zweck verfehlen. Fern sei der Gedanke, die
Gaben des Herrn zur Selbsterhebung gebrauchen zu wollen!
103
Aber nicht allein im Blick auf die Quelle, aus der sie entspringen, sondern auch im Blick auf ihren tätigen und eingreifenden
Charakter bilden die Gaben einen wesentlichen und höchst
beachtenswerten Zug des Christentums. Beide, Quelle und
Charakter, sind auf die ewige, am Kreuz vollbrachte Erlösung
gegründet. Je mehr dies erwogen wird, desto mehr wird sowohl die Bedeutung der Gaben ans Licht treten, als auch das
Verständnis geweckt werden, daß der Zweck der Gaben Christi
weit über jenes irdische, fruchtleere Gebiet hinausreicht, das
die menschliche Theologie ihnen anweisen möchte.
Ferner begehen wir ein Unrecht gegen Gott und Seine Heiligen,
wenn wir das, womit Er uns nach Seiner Güte in Seinem Worte
bekanntmacht, und welches, wenn es richtig angewendet wird,
einen so hervorragenden Teil der Segnungen der Versammlung bildet, als eine untergeordnete Sache betrachten, die man
nach Belieben annehmen oder beiseitelegen könnte. Wenn wir
Gaben geringschätzen, verunehren wir den Herrn, was stets
einen ernsten Verlust nach sich zieht. Im Brief an die Epheser,
in dem mehr als in irgendeinem anderen Teil des Neuen
Testaments die Höhen und Tiefen der Segnungen der Versammlung und der Herrlichkeit des Herrn selbst entwickelt
sind, ist dem Gegenstande der Gaben ein hervorragender Platz
von dem Heiligen Geiste angewiesen.
Laßt uns nun sehen, wie der Heilige Geist uns die Lehre betreffs der von Christo ausfließenden Gaben vor Augen stellt.
„Jedem einzelnen aber von uns ist die Gnade gegeben worden
nach dem Maße der Gabe des Christus" (Eph 4, 7). Es handelt
sich also nicht um den Besitz bloßer Fähigkeiten, und noch
weniger um eine Sache, die man sich aus eigener Kraft und
nach eigenem Willen aneignen könnte, sondern um etwas ganz
Neues, als eine Frucht der unumschränkten Gnade des Herrn,
Welcher in diesen Dingen nach Seinem Willen und zur Verherrlichung Gottes handelt. „Darum sagt er: Hinaufgestiegen
in die Höhe, hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und
den Menschen Gaben gegeben" (V. 8). Obwohl der Herr Jesus
in Seiner Person selbstverständlich zu allen Zeiten fähig war,
Gaben zu geben, so gefiel es Ihm dennoch, nach der Ordnung
der Wege Gottes, mit der Austeilung der Gaben zu warten, bis
104
das große Werk der Erlösung — nicht nur als ein Zeugnis
der Barmherzigkeit Gottes gegen den Menschen, sondern
auch als ein Triumph über die Macht des die Kinder
Gottes gefangen haltenden Feindes — vollbracht war. Nachdem
der Herr den geistlichen Feinden eine vollständige Niederlage
vor Gott beigebracht hat, ist Er, triumphierend über die ganze
einst so furchtbare Macht des Bösen, über alle Himmel hinaufgestiegen. Der Dienst ist also auf die Tatsache gegründet, daß
Jesus Selbst im Kampfe mit den Mächten der Finsternis gestanden und sie überwunden hat, und daß Er, aufgefahren in die
Höhe, „die Gefangenschaft gefangengeführt und den Menschen Gaben gegeben hat". Dies stellt den Anmaßungen der
Menschen eine unübersteigliche Schranke entgegen. Die Versammlung besitzt nicht die geringste Segnung, nicht ein einziges, auf unsere eigene oder auf die Seele eines anderen erfolgreich einwirkendes Mittel, außer in Verbindung mit Christo.
Und nur da, wo man diese lebendige, alles umfassende Verbindung mit Ihm versteht, wird man das, was vielleicht den Schein
des Dienstes trägt, aber, im Licht und in der Gegenwart Gottes
betrachtet, nicht von Christo allein ausfließt, als wertlos und
verderbenbringend verurteilen und verwerfen.
Christus ist also hinaufgestiegen in die Höhe, um von diesen
Höhen des Glanzes und der Herrlichkeit herab den Menschen
Gaben zu geben. Und hier lenkt der Geist Gottes für einen
Augenblick unseren Blick nach einer anderen Richtung hin, um
uns jenes mächtige Werk zu vergegenwärtigen, auf Grund
dessen Christus Seinen Platz dort oben eingenommen hat.
„Das aber: er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als daß er
hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde" (V. 9)? Welch
eine unergründliche Gnade erblicken wir hier in Christo! Welch
eine unermeßliche Liebe gegen uns, die in den Staub des Todes
hinabstieg, um uns segnen, ewiglich segnen zu können! Er
hatte mit dem Vater und dem Geiste ein gleichmäßiges Recht
auf jenen erhabenen Platz der Majestät, welchen kein anderer
ausfüllen konnte. Aber Er stieg hinab in die unteren Teile der
Erde. Der höchste Platz in der Höhe gebührte dem Sohne
Gottes; aber Er achtete es nicht für einen Raub, Gott gleich zu
sein, sondern kam herab auf diese arme Erde, um Leiden,
Schmach und Sünde auf Sich zu nehmen. Welche Feder wäre
105
fähig, zu beschreiben, was es für Ihn sein mußte herniederzusteigen, um Mensch zu werden und als ein Verachteter und Verworfener auf der Erde zu leben? Und dennoch, was war es im
Vergleich mit dem Kreuze? Ja, Er stieg hinab bis zu der niedrigsten Stufe. Anbetungswürdige Liebe! „Deswegen hat Gott
ihn auch hoch erhoben und ihm einen Namen gegeben, der
über jeden Namen ist". Ihn, Der Sich bis zur tiefsten Tiefe
erniedrigte, hat Gott als den Menschen Christus Jesus bis zur
höchsten Höhe erhoben. Christus hat in Seinem Tode wiedergutgemacht, was der Mensch verdorben hatte; ja, weit mehr
als das! Gott ist durch diesen Tod in einer Weise verherrlicht
worden, wie es keine Kreatur hätte ahnen und voraussagen
können. Alle Vorbilder und Schatten waren nur schwache Ankündigungen dieser Herrlichkeit. Kein Prophet des Alten
Bundes wäre fähig gewesen, sich bis zu den Höhen der Segnungen, die in Christo gefunden werden, emporzuschwingen,
oder die Tiefen Seiner moralischen Herrlichkeit in den Augen
Gottes zu ergründen. Es war nötig, daß Er Selbst erschien,
damit der volle Wert Seiner Leiden und Seines Kreuzes offenbar werde, und Seine Herrlichkeit ihren geeigneten Ausdruck
finde.
Welch eine Veränderung hat stattgefunden! Die Menschheit ist
jetzt in der Person des Herrn Jesu zu einer Natur geworden,
an der Gott Seine Wonne findet. Jesus ist nicht nur als Sohn
Gottes hinaufgestiegen, sondern wir erblicken Ihn in besonderer Weise in Seinem Charakter als Sohn des Menschen in
dem Himmel. „Er ist über alle Himmel hinaufgestiegen, auf
daß er alles erfüllte!" Die Höhe Seiner Herrlichkeit nun, als
Folge Seiner alle menschlichen Begriffe übersteigenden Erniedrigung, bildet die Grundlage des Dienstes, auf der die Ausübung der Gaben Christi, Gott gemäß, stattfindet. Für die Welt
ist natürlich auch dies, wie alles Göttliche, nur ein Gegenstand
des Spottes und der Verachtung, weil sie nichts davon kennt.
Sie kann zwar das Christentum aus irgendeinem Beweggrunde
annehmen, wie es einst ein gewisser römischer Kaiser getan
hat, indem er Christo einen Platz als Gott unter seinen übrigen
Göttern in seinem Ehrentempel einräumte. Sie gebraucht das
Christentum zur Ausschmückung eines Schauplatzes, auf welchen der Mensch wegen seiner Sünde von Gott verbannt und
106
hinausgetrieben ist. Allein sie versteht nichts von dem wahren
Wesen des Christentums.
Der Glaube allein hat das Vorrecht, seinen Blick weit über diese
Welt hinaus zu erheben, um in jenen erhabenen Höhen des
Himmels seinen Herrn und Meister zu erblicken, der, auf diese
arme Welt herniederschauend, in Seiner Gnade den Menschen zu einem Kanal Seiner kostbaren Gaben macht, durch
die Er uns nicht nur von Seiner Person und Seinem Werk,
sondern auch von der Herrlichkeit, aus der Er sie uns zuströmen läßt, einen Vorgeschmack gibt. Es sind himmlische
Gaben, bestimmt zu unserem Nutzen und zu Seiner Verherrlichung. Oh, möchten wir doch Seinem Worte glauben! Es ist das
lebendige Wort des Gottes, Der lebt in die Zeitalter der Zeitalter. Wie dürfen wir es wagen, zu denken und zu handeln,
als wenn das Haupt der Kirche tot wäre? Nie und nimmer!
Mag der Unglaube es tun; aber wir, die Gläubigen, sollten
stets festhalten, daß Er immerdar lebt, und zwar nicht nur als
Hoherpriester, um — wie es der Hebräerbrief uns zeigt — Sein
Volk durch die Wüste zu führen, sondern auch als das Haupt
Seines Leibes. Unleugbar gibt es in den Christen eine Neigung,
das Priestertum Christi außerachtzulassen; aber noch größer
ist die Gefahr, Ihn als das lebendige Haupt der Vergessenheit
anheimzugeben, als jenen Segenspender, Der in Seiner unveränderlich treuen Liebe stets bereit ist, der Versammlung Seine
Gaben darzureichen.
„Und er hat die einen gegeben als Apostel, und andere als
Propheten, und andere als Evangelisten, und andere als Hirten
und Lehrer" (V. 11). Wir finden zwischen dieser Stelle und
den in 1. Kor 12 erwähnten Gaben eine auffällige Verschiedenheit, und zwar aus dem Grunde, weil es sich hier um die
Vollendung der Heiligen und um die damit verbundene Auferbauung des Leibes handelt, während die Gaben, in „Sprachen
zu reden und Wunder zu tun", diesen Zweck nicht hatten. Hier
im Epheserbrief handelt es sich um die Ratschlüsse Gottes in
Christo, und um die Entfaltung der Liebe Gottes zu Seiner Versammlung. Im 2. Kapitel begegnen wir den beiden ersten
Gaben, als der Grundlage dieses neuen Gebäudes der Versammlung Gottes: „Aufgebaut auf die Grundlage der Apostel
und Propheten, indem Jesus Christus selbst Eckstein ist"
107
(V. 2o). Als Gott dieses neue Werk auf der Erde einführte,
wurde es augenscheinlich von einer neuen Offenbarung begleitet. Christus wird hier nicht als das alleinige Fundament betrachtet, obwohl Er dies selbstverständlich im hervorragendsten
und erhabensten Sinn ist: „Auf diesen Felsen will ich meine
Versammlung bauen". Es werden hier vielmehr die Apostel
und Propheten mit eingeführt, indem diese berufen waren, das
Geheimnis Gottes bezüglich der Versammlung zu offenbaren
und auch die Grenzen der Haushaltung Gottes in der Versammlung hienieden mit göttlicher Vollmacht zu bezeichnen. Die
Apostel unterschieden sich mehr durch Autorität in ihren
Handlungen, während die Propheten die Gedanken und den
Willen Gottes hinsichtlich jenes großen Geheimnisses kundtaten. Man darf hier jedoch nicht an die Propheten des Alten
Testaments denken, denn sonst würden sie jedenfalls vor den
Aposteln angeführt sein; aber nach der Weisheit des Geistes
Gottes heißt es: „die Apostel und Propheten", zum Beweis,
daß hier von den Propheten des Neuen Testaments die Rede
ist. Aber noch einleuchtender erscheint dies durch die Worte
in Kap. 3, 5: „Welches (Geheimnis) in anderen Geschlechtern
den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, wie es
jetzt geoffenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geiste: „Die Propheten des Alten Testaments verstanden nichts von diesem Geheimnis; mithin konnte von
ihnen nicht die Rede sein. Alles, auch der Dienst, war gänzlich
neu. Selbst die Aussendung der zwölf Apostel, sowie der
siebenzig Jünger zur Zeit der Anwesenheit des Herrn auf der
Erde war ebenso verschieden von den vorherigen Wegen Gottes, wie sie es war von dem Dienste der Apostel in Eph 4.
Ohne Zweifel waren die Apostel hier dieselben Personen, mit
Ausnahme des Judas Iskariot, der durch Matthias ersetzt worden war; ihr Dienst trug jedoch einen ganz anderen Charakter.
Während die Apostel zur Zeit des Herrn auf der Erde ausgesandt waren, die Botschaft des Reiches Gottes in Beziehung
zu Israel zu verkündigen, hatte jetzt seit der Himmelfahrt des
Herrn ihre Botschaft einen ganz und gar himmlischen Charakter angenommen. Ihre irdische Berufung und Sendung war
beiseitegesetzt; sie bildeten von jetzt an die Gefäße der himmlischen Gaben und ihre Botschaft richtete sich nicht nur an die
Juden, sondern auch an die Heiden.
108
Von ganz auffallendem Charakter und über die Mission der
„Zwölfe" hervorragend war das Apostelamt des Paulus. Er
war in jeder Beziehung außergewöhnlich; es war himmlisch
seiner Quelle wie seinem Charakter nach, und riß die jüdischen
Formen und Ordnungen vollständig nieder. Seine fern von
Jerusalem stattfindende Berufung, seine Absonderung von den
anderen Aposteln, die ihm geoffenbarte, überströmende Gnade, der seiner Bekehrung und seinem Zeugnis unverkennbar
aufgeprägte himmlische Stempel — alles das verlieh seinem
Apostelamt einen höheren und himmlischeren Glanz, als
demjenigen der übrigen Apostel, obwohl ihr Amt unzweifelhaft auf denselben Grundsätzen ruhte.
Aber, möchte ich fragen, wo finden wir hier auch nur eine geringe Andeutung von einer feierlichen Einsetzung oder Ordination, auf welche die Menschen so viel Gewicht legen? Wer ordinierte von Seiten der Menschen die Apostel für ihre himmlische
Mission? Wenn sich nun hier keine Spur von irgendeiner feierlichen Handlung, von Händeauflegen, oder von irgend etwas
dergleichen findet, von Dingen, die man heutzutage nicht bloß
als wünschenswert, sondern auch als wesentlich notwendig für
den höchsten wie für den niedrigsten Diener der Kirche betrachtet, so muß man doch fragen: Warum mag denn dergleichen damals ganz unterblieben sein? Auch der größte
Eiferer für die in seinen Augen so „heiligen Anordnungen"
wird sich nicht anmaßen zu sagen, daß der Herr nicht so gut
wie er gewußt habe, was sich für Seine eigene Herrlichkeit und
für Seine erhabensten Diener gezieme. Offenbar ging die Berufung des großen Apostels unmittelbar von dem Herrn aus
und war ganz unabhängig von Menschen.
Ebensowenig finden wir im Neuen Testament auch nur eine
Spur von einer menschlichen Einsetzung der Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer; nicht eine von diesen verschiedenen Klassen wurde durch menschliche Machtvollkommenheit
berufen. Allerdings fand Auflegung der Hände statt, und zwar
nicht nur bei Kranken und bei solchen, die den Heiligen Geist
noch nicht empfangen hatten, sondern auch in Verbindung mit
dem Gegenstand unserer Betrachtung. Aber auch in diesem
Fall lesen wir nicht, daß jemandem die Hände aufgelegt worden
109
wären, um ihm dadurch irgendeine Gabe mitzuteilen; sondern
es geschah, um begabte Männer bei der Ausführung eines
besonderen Werkes der Gnade Gottes zu befehlen, oder um
jemanden — wie z. B. den Philippus und seine sechs Genossen
— in eine äußerliche Bedienung der irdischen Bedürfnisse der
Heiligen einzuführen. (Auf die Verleihung einer Gabe an
Timotheus durch das Auflegen der Hände des Apostels, 2. Tim
1, 6, werde ich später zurückkommen). So finden wir z. B. in
Äpg 33, 3, daß dem Barnabas und dem Paulus die Hände aufgelegt wurden, aber nicht um sie als Diener einzuweihen,
(denn beide waren schon lange mit Segen in dem Werke des
Herrn tätig gewesen), sondern um sie für das besondere Werk,
zu dem der Heilige Geist sie berufen hatte, der Gnade Gottes
zu befehlen. Dies geht klar aus Apg 14, 2.6 hervor, wo wir
lesen: „Und von dannen segelten sie ab nach Antiochien, von
wo sie der Gnade Gottes befohlen worden waren zu dem
Werke, das sie erfüllt hatten". Das war der einzige Zweck,
wieshalb ihre Mitarbeiter zu Antiochien ihnen die Hände aufgelegt hatten. Diese Handlung war ein Zeichen ihrer Gemeinschaft im Blick auf das von dem Geiste Gottes aufgetragene
Werk und scheint nach Kap. 15, 40 wiederholt worden zu sein.
Die Ermahnung des Apostels in 1. Tim 3, 22: „Die Hände lege
niemandem schnell auf", hat bei etlichen die Meinung wachgerufen, als ob jene Zeremonie auch bei der Einsetzung der
Ältesten gebräuchlich gewesen wäre. Das ist jedoch ein sehr
unsicherer Schluß, weil nach dem 19. Verse augenscheinlich
nicht mehr von den Ältesten die Rede ist. Doch vorausgesetzt,
daß auch den Ältesten, wie den Diakonen, bei ihrer Einsetzung
die Hände aufgelegt worden wären, so bleibt es doch eine wichtige und unleugbare Tatsache, daß keine Ältesten eingesetzt
wurden, es sei denn durch göttlich bevollmächtigte Personen,
die einen bestimmten Auftrag zu diesem Zweck empfangen
hatten. Die Schrift räumt niemanden eine solche Autorität ein,
außer einem Apostel oder jemandem, der durch einen Apostel
mit dem bestimmten Auftrage, Älteste einzusetzen, betraut
wurde. Wo aber ist heute jemand zu finden, der mit apostolischer Machtvollkommenheit auftreten oder ein Zeugnis aufweisen könnte, daß er einen Auftrag empfangen habe Älteste
einzusetzen? Die Schrift gibt nirgends einen Wink über die
110
Fortdauer der apostolischen Macht. Auch lesen wir an keiner
Stelle, daß der Apostel irgendeine Versammlung beauftragt
hätte, sich Älteste zu wählen. Paulus spricht von schweren Zeiten,
die kommen würden, und von der Wichtigkeit der Schrift in solchen Zeiten; aber er sagt kein Wort von apostolischer Nachfolge oder von einer Übertragung seiner Macht an andere; und
ebensowenig gibt er Anleitungen über die Wahl von Ältesten
für solche Zeiten. Deshalb sind die Einsetzungen und Ordinationen in unseren Tagen nicht nur eine ganz und gar unberechtigte Nachahmung dessen, was das Wort Gottes über die Wahl
von Ältesten mitteilt, sondern auch eine betrübende Verunehrung des Herrn, Der allein durch den Geist zu Seinem Dienste
fähig macht.
Wenn nun eine Versammlung von Kindern Gottes im Worte
findet, daß neben den allgemeinen Pflichten und Vorrechten,
die allen Heiligen angehörten, auch noch gewisse Gaben und
Ämter vorhanden waren, die nur im Besitz der Apostel oder
ihrer Stellvertreter sein konnten und folglich jetzt in der Versammlung fehlen, was hat sie dann zu tun? Soll sie deshalb
das, was an die Versammlung zu Korinth oder an die Heiligen
zu Ephesus geschrieben ist, vernachlässigen und das nachzuahmen suchen, womit nicht die Versammlung, sondern einzelne
Personen, wie Timotheus und Titus, beauftragt waren? Würde
es nicht demütiger sein, in diesem Falle das Wort Gottes zu
Rate zu ziehen und den Herrn zu fragen, um Seinen Willen in
dieser Sache zu lernen? Dann würde man bald erkennen, daß
zur Ausübung der Gaben, welche Christus uns darreicht, keine
menschliche Bestätigung oder Vermittlung erforderlich ist. Es
ist wahr, daß der Fall mit Timotheus eine Ausnahme macht.
Er war im voraus durch Weissagung für das Werk, zu dem der
Herr ihn berief, bezeichnet worden. Der durch diese Weissagung geleitete Apostel legte ihm die Hände auf und übertrug
ihm durch den Heiligen Geist eine Macht, welche für den Dienst
passend war, den er zu erfüllen hatte. Und ebenso legten ihm
die Ältesten seines Ortes, in Gemeinschaft mit dem Apostel,
die Hände auf; jedoch war die Mitteilung der Gabe nur von
der Wirkungskraft des Apostels und nicht von derjenigen der
Ältesten abhängig, wde dieses aus der Vergleichung der beiden
Stellen 1. Tim 4, 14 und 2. Tim 1, 6 klar hervorgeht, indem
in der ersten die ganze Ältestenschaft in Verbindung mit dem
111
Apostel erscheint, in der zweiten hingegen der Apostel bezüglich des Werkzeuges der Mitteilung von sich allein redet. Es war
ein apostolisches Vorrecht, jemandem eine geistliche Kraft mitzuteilen, oder ihn mit einem Amt zu bekleiden. Aber wer
möchte sich jetzt ein solches Vorrecht, eine solche Autorität
anmaßen? Man würde es als einen Verrat bezeichnen, wenn
sich ein Untertan die Rechte des Königs anmaßen wollte; aber
was soll man von jemandem denken, der sich einbildet, den
Heiligen Geist oder irgendeine Kraft des Heiligen Geistes im
Namen des Herrn mitteilen zu können?
Geistliche Gaben zu unterscheiden ist im allgemeinen eine klare
und einfache Sache. Wenn z. B. ein Bruder in der Versammlung
aufstehen und reden wollte, ohne eine Gabe von Gott empfangen zu haben, so würde ihn bald sein eigenes Gewissen und
das Urteil der Brüder das Törichte und Verkehrte seines Beginnens auf schmerzliche Weise erkennen lassen. Indes kann es
möglich sein, daß Brüder aus Vorurteil eine wirklich vorhandene
Gabe nicht anerkennen, und daß Gott dies eine Zeitlang zuläßt, weil vielleicht der betreffende Bruder von seiner Gabe zu
hoch denkt, oder weil er sich selbst über den Charakter seiner
Gabe oder über den Ort und die Zeit ihrer Ausübung nicht
klar ist. Doch bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, daß alles,
was von Gott ist, sich selbst im Laufe der Zeit bewähren wird.
Nach meinen eigenen Erfahrungen in dem beschränkten Kreis
meiner Beobachtungen glaube ich, daß die Kinder Gottes im
allgemeinen eher zu viel als zu wenig Gewicht auf die Gaben
legen. Es gibt in dem gegenwärtigen Zustand der Kirche nur
eine schwache Entfaltung der Gaben, und dies wird nach dem
Verhältnis der geistlichen Einsicht, die man besitzt, mehr oder
weniger gefühlt werden. Wenn indes jemand seinen wahren
Platz zu erkennen wünscht, so möge er in einfältigem Vertrauen
zu dem Herrn aufschauen und in dem Wort Seiner Gnade
forschen. Es gibt viele Dinge, die geeignet sind, uns aufzuhalten oder uns von dem rechten Wege abzuleiten. Für solche,
die eine dem Worte Gottes widerstreitende Stellung aufzugeben haben und dadurch alles einbüßen, was sie zu ihren
äußeren Durchkommen bedürfen, entsteht nicht selten die
Frage: „Woher sollen wir Brot nehmen?" — und wenn dann
nicht Mittel zur Verfügung stehen oder gestellt werden, so ist
112
die Versuchung für sie groß, da zu bleiben, wo sie sind. Sie
sehen sich einer Schwierigkeit gegenüber die unberechenbar ist,
und die nur überwunden werden kann durch die Kraft Gottes,
die allein die Seele zu befähigen vermag, „fest, unbeweglich,
allezeit überströmend zu sein in dem Werke des Herrn".
Während wir indes versichert sein dürfen, daß das Wort und
der Geist Gottes jedem einzelnen Christen seinen wahren Platz
zu bezeichnen vermögen, so haben wir doch andererseits zu
fragen, ob wir auch diesen Platz einnehmen. Der Herr kann
allerdings unumschränkt wirken; und wir sollen für alles, was
Er gibt, dankbar sein. Er kann Seine Gaben austeilen, wie und
wo es Ihm beliebt. Man findet Seine Gaben sowohl unter den
Predigern und Gliedern der Landeskirche, als auch in den Freikirchen, und in den außerkirchlichen Gemeinschaften. Wer
wollte es leugnen, daß der Herr gewisse Personen selbst in der
römischen Kirche, z. B. einen Martin Boos, zur Bekehrung von
Sündern und zum Dienste der Heiligen gebraucht habe? Obwohl sich solche Männer in einer falschen Stellung befanden,
konnte diese doch die Gnade Gottes in ihrem Lauf nicht aufhalten. Der Herr gibt durch den Heiligen Geist nach Seinem
Willen; und wir sollten Seine Gaben, wo sie sich auch finden
mögen, stets anerkennen. Dennoch aber bleibt es wahr, daß
zwischen diesen unter dem Schutze des Staates oder der sogenannten Geistlichkeit stehenden Systemen, und der göttlichen
Anordnung der geistlichen Gaben nach Eph 4 nicht die entfernteste Ähnlichkeit besteht. Es existiert nur Einer, Der hinaufgestiegen ist in die Höhe. Sollen wir auf einen anderen
warten, oder nach einem anderen Himmel emporblicken, um
dessen Gunst zu erflehen? In der Voraussetzung, daß mein
Leser ein Christ ist, möchte ich die Frage an ihn richten: „Achtest du das Wort Gottes? oder hat es nur insofern einen Wert
für dich, als es sich um das Heil deiner Seele handelt? Solltest
du dich nicht von demselben Worte und von demselben Geiste
auch bezüglich des Dienstes und der kirchlichen Ämter leiten
lassen? Behandelt das lebendige und bleibende Wort Gottes
diese Dinge nicht mit der ernstesten Sorgfalt und peinlichsten
Genauigkeit? Und sind wir nicht verantwortlich, auf das Wort
zu lauschen und uns unter seine Belehrungen und Anweisungen zu beugen?"
113
Jedem denkenden Gläubigen muß es klar sein, daß wir, da
weder Apostel, noch Stellvertreter, wie Timotheus und Titus,
vorhanden sind, nach dem Worte Gottes keine Ältesten in
ihrer genauen amtlichen Form mehr erwarten können. Eine
entgegengesetzte Behauptung entbehrt jeglichen Grundes in
der Heiligen Schrift. Niemand besitzt jetzt die zur Einsetzung
eines Ältesten unumgänglich nötige Autorität und Macht; und
hierin zeigt such gerade die verhängnisvolle Schwäche der
gegenwärtigen Zeit, weshalb das ganze jetzt bestehende System
aus dem vollständigen Mangel an Autorität zusammenbrechen
wird. Niemand kann von den jetzigen Ältesten behaupten, daß
sie der Heilige Geist zu Aufsehern gesetzt habe.
Aber sollte sich denn jetzt niemand finden, der zu einem
Ältesten oder Aufseher geeignet wäre, und den die Apostel,
falls sie sich unter uns befänden, einsetzen würden? Gott sei
Dank, daß es deren noch viele gibt! Es gibt nur wenige Versammlungen von Kindern Gottes, in welchen sich nicht ein oder
mehrere erfahrene Männer befinden, die den Irrenden nachgehen, die Unordentlichen warnen, die Kleinmütigen trösten
und den Seelen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Und die
Pflicht eines jeden Christen besteht unter den jetzigen Verhältnissen darin, daß er das benutzt, was uns geblieben ist. Ich sage
nicht, daß man solche Männer Älteste nennen solle; aber man
soll sie um ihres Werkes willen hoch schätzen, sie lieben und
anerkennen, denn sie wachen über ihre Brüder im Herrn. Geliebte! fragen wir uns ernstlich vor Gott: Erkennen wir solche
an, welche uns vorstehen im Herrn? Sind wir diesen tätigen
Dienern des Herrn unterwürfig? Das Wort Gottes fordert uns
auch in dieser Beziehung zum Gehorsam auf. Aber jede menschliche Erfindung ist verwerflich. Wo der Herr Gaben verleiht,
da haben wir sie dankbar anzuerkennen und die begabten Diener zu achten und zu lieben; aber wenn wir jetzt Menschen,
unter dem Schein der Nachfolge, als Apostel bezeichnen,
so wird der Herr, Der einst von unseren Worten und
Handlungen Rechenschaft fordern wird, uns fragen, wer uns
das Recht gegeben habe, solche willkürlichen Handlungen zu
vollziehen oder doch gutzuheißen. Wer gibt einem Menschen
die Erlaubnis, jemanden zu ordinieren? In der Tat, die Einsetzung von Ältesten ist, so wohlgemeint sie sein mag, nicht
114
nur ohne allen Wert, sondern auch eine schriftwidrige Anmaßung einer Autorität, die dem Herrn allein gehört. Es ist
daher geziemend für uns, einerseits den gänzlichen Mangel der
apostolischen Macht in unseren Tagen, und andererseits das
anzuerkennen, was uns Gott gegeben hat; denn ich wiederhole
es, daß in unseren Tagen Männer mit den Eigenschaften von
Ältesten vorhanden sind, Wiewohl wir nicht im Besitz der
Macht sind, sie als solche einzusetzen. Und es ist nach Röm 12
ein allgemeiner Grundsatz der Heiligen Schrift, daß jeder, der
irgendeine Gabe — sei es als Lehrer, Ermahner oder Vorsteher
— besitzt, sie mit allem Fleiß, selbst inmitten des gegenwärtigen
Verfalls, auszuüben hat.
Wir werden auch bald, wenn wir sonst dem Worte Gottes
unterworfen sind, die Entdeckung machen, daß der Herr, im
Blick auf den gegenwärtigen mangelhaften Zustand der Dinge,
in Seiner Weisheit und Vorsorge gestattet hat, daß solche Zustände schon im Anfange der Kirche vorhanden waren. Wir
wissen nämlich, daß der Apostel an solche Versammlungen,
in denen es höchst wahrscheinlich keine Ältesten gab, (wie z. B.
diejenigen zu Thessalonich und Korinth) Briefe geschrieben
hat. In der korinthischen Versammlung herrschte eine solche
Unordnung, daß hier nach unseren Gedanken die Einsetzung
von Ältesten sicherlich am Platze gewesen wäre. Dennoch aber
finden wir in beiden Briefen keine Andeutung über diese Angelegenheit. Wären Älteste vorhanden gewesen, würde sich
der Apostel sicher an diese gewandt haben. Überhaupt aber
war es nicht seine Gewohnheit, in jungen Versammlungen
Älteste einzusetzen, sondern vielmehr in solchen, die schon
seit längerer Zeit bestanden hatten; und dies geschah ohne
Zweifel in der Absicht, vorher die für ein solches Amt nötigen
Eigenschaften ans Licht treten zu lassen. Andererseits finden
wir in dem letzten Kapitel des ersten Thessalonicherbriefes
wichtige Belehrungen für die Heiligen. Auch diese noch junge
Versammlung wurde ermahnt, solche anzuerkennen, die unter
ihnen arbeiteten. Und dies gilt für jede Versammlung, in welcher keine Ältesten sind. So lesen wir in 1. Thess 5, 12. 13:
„Wir bitten euch aber, Brüder, daß ihr die erkennet, die unter
euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und daß ihr sie über die Maßen in Liebe achtet, um
115
ihres Werkes willen". Es gab also schon damals Vorsteher .im
Herrn/
ohne daß ordinierte Älteste vorhanden waren; und dies
ist zugleich ein Beweis von der gnädigen Fürsorge Gottes für
solche Zeiten in welchen, aus Mangel an Aposteln, keine
Ältesten eingesetzt werden können. Ebenso sagt der Apostel
von dem Hause des Stephanas zu Korinth, „daß sie sich selbst
den Heiligen zum Dienst verordnet hatten"; und er ermahnt
die Brüder, solchen, und jedem, der mitwirkte und arbeitete,
Untertan zu sein. Diese alle waren im Werke des Herrn tätig,
ohne daß ihnen das Siegel apostolischer Anerkennung aufgeprägt gewesen wäre; und wir sehen, daß der Apostel sie
ermutigt und sie der Liebe und Achtung der Heiligen empfiehlt.
Hier gibt es kein äußeres Amt, wohl aber eine innere geistliche
Kraft.
Wir haben also gesehen, daß der Herr allein die Gaben zum
Dienste verleiht; alles hängt von Seiner Liebe zu Seiner Kirche,
von Seiner Treue gegenüber den Heiligen ab. Ist denn der
Herr Jesus jetzt weniger treu und weniger für die Seinigen
besorgt, als an dem ersten Pfingsttage? Wer würde wagen,
das zu behaupten? Ohne Zweifel war jene Ausgießung des
Heiligen Geistes von einem strahlenden Gnadenglanz umgeben
und von einer Einfachheit und Kraft begleitet, die alles überwältigte. Aber Wer war die Quelle, und woher kam die Kraft,
die so viele wunderbare Früchte auf dem einst so harten, kalten
und steinigen Boden erzeugte? War es nicht der Herr, Der für
die Ehre Seines Namens durch den Heiligen Geist wirkte, nachdem Er, um dem Menschen Gaben zu geben, Seinen Platz in
der Herrlichkeit eingenommen hatte? Und ist Seine Gnade, die
Er bei der Ankündigung jenes von den Geschlechtern her verborgenen großen Geheimnisses offenbarte, für diese schweren
Zeiten nicht dieselbe? Ja sicher, so lange es noch Heilige hienieden gibt, welche es nötig haben, vollendet zu werden „für
das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des
Christus", werden auch, bis das ganze Werk vollbracht ist und
alle zur Einheit des Glaubens hingelangt sind, die Gaben nicht
fehlen. Und je mächtiger sich der Feind offenbart, je schlauer
seine Fallstricke gelegt und je größer die Gefahren sind, desto
mehr wird die Liebe und Treue des Herrn mit den Seinigen
sein. Es gibt sowohl jetzt wie damals für die Kirche eine Fülle
116
von Segnungen in Christo. Möchten wir für jedes Bedürfnis
mehr auf Ihn vertrauen und nicht durch Aufrichtung irgendeines Werkes unserer Hände, durch Aufrichtung eines goldenen
Kalbes, Seine Wahrheit verunehren und — als ob wir nicht
wüßten, was aus Ihm, Der nach oben gegangen ist, geworden
wäre — Seine Gnade bezweifeln! Das sei ferne! Es ist sicher in
den Augen der Ungläubigen eine Torheit, wenn eine Versammlung Gottes irgendwo zusammenkommt, ohne vorher zu
wissen, wer reden, ermahnen oder danksagen wird; aber der
Glaube weiß, daß der Herr, Der alle Macht im Himmel und auf
Erden in Händen hat, und Der Seine Versammlung liebt und
pflegt, in der Mitte ist, und daß die Gegenwart des Heiligen
Geistes nimmer fehlen wird, um zu leiten und zu wirken. Dies
ist sowohl für jeden Einzelnen, wie für alle Heiligen wahr; und
ich möchte meinesteils nicht einen Augenblick auf einem Boden
stehen, der nicht die ganze Länge und Breite der Versammlung
Gottes umfaßte, und von wo aus der Glaube und die Liebe
sich nicht zu allen Heiligen ausdehnen und sie umschließen
könnten. Wenn jemand berufen ist, im Wort und in der Lehre
zu arbeiten, so wird ihm der Herr den Weg dazu bezeichnen.
Er öffnet die Tür, die niemand zu schließen vermag; und Er
schließt, und niemand öffnet. Er weiß für den schwächsten
Seiner Pilger einen Pfad zu finden und ihm Mut zu geben;
und Er wird ihm klarmachen, wann und wo er Ihm zu dienen
hat.
Aber wie geht es, wenn mehrere begabte Brüder in einer Versammlung sind? Um so besser; und wenn fünf oder zehn
solcher Brüder sich in einer Versammlung befinden, so laßt uns
dem Herrn dafür danken! Es ist Raum für alle. Gott wolle uns
davor bewahren, auch nur im Entferntesten jener Neuerung
unsere Zustimmung zu geben, die jedem Diener seine eigene
kleine Herde angewiesen hat. Jemand, der nicht versteht, daß
die Heiligen die „Herde Gottes" sind, ist sicherlich unfähig, in
geziemender Weise zu dienen. Augenscheinlich hat man den
wahren Standpunkt der Kirche aus dem Auge verloren, wenn
man anstatt an die „Herde Gottes", nur an „seine Herde" oder
an „unsere Herde" denkt.
Ich schließe diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß es mein
Zweck war, den Unterschied zwischen Gaben und Ämtern
117
hervorzuheben; ich habe zu zeigen versucht, daß Gaben ihre
Quelle in dem verherrlichten Christus haben, während Ämter
die Einsetzung von Seiten solcher Personen erforderten, die
von dem Herrn zu diesem Zwecke bevollmächtigt waren. Wir
können hinsichtlich der Gaben sicher sein, daß sie uns bleiben,
werden, so wahr und so lange Christus das Haupt bleibt und
die Quelle der Gaben ist, wohingegen eine förmliche Automation nicht mehr möglich ist, weil die dazu erforderliche apostolische Macht mangelt. Alles was heute in dieser Weise geschieht, ist nur eine armselige und vermessene Nachahmung
dessen, was die Apostel und ihre Bevollmächtigten taten. Aber
wenn wir Wirklich den Herrn lieben und die göttliche Ordnung
wertschätzen, so ist es unsere Pflicht im Namen des Herrn alle
Seine Gaben, selbst die geringsten, in einer Weise anzuerkennen, wie wir es vielleicht bis jetzt noch nicht getan haben.
Dienst am Wort (v. W. B.)
Fühlst du erfüllt dich von dem Geist der Wahrheit
Daß du in Seinem Dienst mit vielem Freuen
Und Segen wirken kannst, wozu die Klarheit
Von Seinem Licht dich täglich will erneuen:
Dann stell dich voll und ganz in Sein Geleit,
Und übe treuen Dienst in dieser Zeit.
Bist voll des Wissens du, kannst andre lehren,
Dann prüfe, ob dich treibt der Geist der Liebe;
Damit nicht endlich gar den Kücken kehren
Du mußt dem Arbeitsfeld, das leer und trübe
Geblieben ohne Heil'gen Geistes Wehn,
Und du — beschämt — wirst leer ausgehn.
Erfüllt dich froher, freud'ger Mut zum Dienen,
Und stählet Manneskraft dir dies Begehren, —
Erwäg' ob fleißig du, so wie die Bienen
Am Quell den Honig saugen zum Verzehren,
Das Nöt'ge dir erwirbst bei Tag und Nacht.
Und dann zu dienen durch des Wortes Macht.
Fühlst du dich schwach, so hol' am Thron der Gnade
Dir stets aufs neue Trost und Kraft und übe
Dich auf des großen Meisters Pilgerpfade,
118
Nach Ihm dich bildend in dem Geist der Liebe;
Und Seine Gnade laß genügen dir,
Zu schmücken dich mit Seiner Lehre Zier.
Doch steht dein großes Ich im Vordergründe,
Sind Ehre, Ansehn deines Wirkens Triebe,
Dann gibt es keinen Balsam für die Wunde
Und keinen Trost kostbarer Heilandsliebe.
Dann mag' in Gottes Licht dir werden kund,
Daß dir geziemt, zu heil'gen deinen Mund.
6. Die Hilfsquellen des Glaubens und der Verfall der
Christenheit (2. Tim 2, 11. 12)
Wie viele sehr ernste Elemente drängen sich in dem jetzt vor
uns liegenden Gegenstand zusammen! Welch einen traurigen
Anblick bietet die Christenheit in ihren Trümmern, die zu
augenscheinlich sind, um geleugnet werden zu können! Aber
andererseits ist es ebenso feierlich, an die treue Güte Gottes
zu denken, Der im voraus alles kannte und es uns im Worte
Seiner Gnade mitgeteilt hat, indem Er, als das Böse gleich einem
verheerenden Strom den Schauplatz des Namensbekenntnisses
Christi auf der Erde zu überfluten im Begriff stand, uns in
Seiner Liebe und Weisheit einen sicheren Pfad beschrieb —
einen Pfad, der dem Auge des Adlers zwar verborgen ist, den
aber Sein Volk erkennen, und auf dem es in der glücklichen
Gewißheit des Wohlgefallens Gottes wandeln kann.
Für solche, die um des Herrn und der Wahrheit willen über
den gegenwärtigen Zustand der Christenheit trauern und sich
weigern, Gemeinschaft mit ihm zu machen, ist es sicher ein
Bedürfnis, ein kräftiges Zeugnis von dem mit Macht um sich
greifenden Verderben zu geben, vor welchem das Wort Gottes
bereits gewarnt hat, als es sich in seinen ersten Anfängen zu
zeigen begann. Zwar mag es für manchen, der nicht geneigt
ist, entschieden in den Wegen des Herrn zu wandeln, schwer
sein, ein solches Zeugnis abzulegen. Aber unsere Herzen werden sich bald in das richtige Geleise gebracht sehen, wenn wir
uns die Frage vorlegen: „Um was handelt es sich? und wessen
119
Ehre suchen wir?" — Der Herr bewahre uns, daß wir nicht an
uns selbst denken, nicht unsere eigene Ehre oder Bequemlichkeit suchen! denn das ist eine Unehre für alle, die Christo angehören. Möge es unser einziger Ruhm sein, den Herrn zu
verherrlichen!
Laßt uns jetzt unter der Gnade des Herrn untersuchen, worin
Sein Wille in dieser Beziehung besteht. Es wird das vor allem
den Blick derer erweitern, welche noch jung und unerfahren in
der Wahrheit Gottes sind, wenn sie erkennen und sehen, wie
treu der Herr und wie zuversichtlich Sein Wort ist; aber möchten sie auch, dadurch ermutigt, ihr ganzes Vertrauen auf Ihn
und Sein Wort setzen, auf Ihn, vor Dessen Auge das Ende so
klar wie der Anfang ist. Er ist der Weg, und nur auf diesem
einen Wege kann Sein Herz bezüglich derer, die Ihn lieben,
völlige Befriedigung finden. Auch werden wir bei dieser Gelegenheit sehen, daß, obwohl die einstige Herrlichkeit der
Kirche verschwunden ist, dennoch für den Glauben das Kostbarste gesichert ist. Nicht als ob wir die Macht und Herrlichkeit
des Herrn geringschätzen. Das Gegenteil ist der Fall; denn je
höher der Platz ist, den wir den Wegen Gottes einräumen, und
je mehr wir dem, was uns die Gnade gesichert hat, einen höheren Wert beilegen als äußerer Machtentfaltung vor den Augen
der Menschen, um so mehr werden wir fühlen, welch eines
Unrechts wir uns gegen den Herrn schuldig machen, wenn wir
mit kalter Gleichgültigkeit auf die Schwäche unserer Tage und
auf die stets zunehmenden frevelhafte Verunehrung des
Namens Jesu unter den auf diesen Namen Getauften herabschauen. Je mehr wir auf die ersten Tage der Kirche, die sie hier
pilgerte, und auf die Macht des Heiligen Geistes, die sich
damals kundtat, zurückblicken, um so tiefer wird
unser Gefühl werden für die Wunden, die unserem teuren
Herrn in dem Hause derer geschlagen worden sind, welche Ihn
lieben. Es wird uns tief betrüben, zu sehen, wie das Gebaren
der Kirche den Herrn genötigt hat, anstatt sie nach außen hin
zu ehren, ihre Blöße aufzudecken und sie, angesichts der Feinde
Seines Namens, der Schande preiszugeben. Alles das sollte uns
mit tiefer Beschämung erfüllen, um so mehr wenn wir sehen,
wie die Gläubigen die Wahrheit so wenig schätzen und ein so
schwaches Gefühl für die Ehre der Person des Herrn an den
120
Tag legen — abgesehen von dem allgemeinen Mangel an wahrem Verständnis darüber, w>as die Kirche in ihrer einfachsten
Form ist, sowie von der Tatsache, daß die Wahrheit ihrer herrlichen Einheit mit Christo und ihrer Hoffnung bezüglich der
Zukunft in völlige Vergessenheit geraten ist. Wir befinden uns,
wenn wir nicht in irgendeinem Maße die Gefühle des Herrn
teilen, keineswegs in dem passenden Zustande, um in den
gegenwärtigen Verhältnissen richtig nach Seinem Worte handeln zu können. Es ist wichtig, zu verstehen, daß der Herr uns
keine Andeutung in der Schrft gegeben hat, daß die bloße
Nachahmung irgendeiner Sache Ihm genüge. Es genügt z. B.
nicht, daß wir die Briefe Pauli zur Hand nehmen und uns, als
ob wir vollständig befähigt wären, alles Fehlende wiederherzustellen, daran geben, Älteste hin und wieder anzustellen.
Das uns von Gott gegebene Wort benutzen, und das was
zerstört und verdorben ist, in anmaßender Weise wiederherstellen wollen, sind zwei verschiedene Dinge. Wer die gefallene
Kirche wiederaufzubauen trachtet, befindet sich in dieser Hinsicht nicht in Gemeinschaft mit Christo und verrät einen
Mangel an geziemendem Mißtrauen gegen sich selbst sowie
eine völlige Unkenntnis über den gegenwärtigen Zustand der
Dinge; er entbehrt auch jener Glaubensdemut, welche ihr Vertrauen allein auf die gegenwärtigen Hilfsquellen in Christo
setzt. Gott beharrt unwandelbar auf dem Grundsatze, daß,
wenn eine Abweichung von Ihm stattgefunden hat, — ob vor
oder nach der Sintflut, ob in Israel oder in der Kirche, — der
erste Schritt zum Guten darin besteht, das von Gott verurteilte
Böse als solches anzuerkennen. Tut man das, so wird man vor
der Anmaßung bewahrt bleiben, jene wunderbare Entfaltung,
der göttlichen Macht, Gnade und Weisheit in der Versammlung
Gottes, welche nächst dem Kreuze das größte Werk Gottes auf
der Erde ist, ersetzen oder wiederherstellen zu wollen. Solche
arme, gebrechliche Gefäße, wie wir sind, die wir nicht einmal
die empfangenen Segnungen bewahren konnten, und die wir
durch unsere Schwachheit und Unwachsamkeit eine Beute der
List Satans geworden sind und die wir Diebe und Räuber,
welche das Haus Gottes plünderten, eingelassen haben — wie
vermöchten wir ein solches Werk zu tun! Sind das die Gefühle
eines demütigen Glaubens? Wenn der Sündenfall Adams eine
schreckliche, beklagenswerte Sache, wenn die Entehrung des
121
Gesetzes Gottes seitens Israels ein Greuel war, was muß die
Verachtung Gottes, des Heiligen Geistes, für die Kirche sein?
Die Kirche, der Brief Christi, die Behausung Gottes im Geiste,
der Gegenstand Seiner vollkommenen Liebe, begnadigt in dem
Geliebten, die Gerechtigkeit Gottes in Christo, hat praktisch
die Herrlichkeit Gottes hienieden aufgegeben und das Werk
ihrer Hände Seinem Worte und Geiste vorgezogen, um sich
zu beugen vor den Götzen der Kunst und der Erfindung des
Menschen. Ach! das ist Weit häßlicher als alles, was je die
Schrift oder die Geschichte von weit weniger bevorzugten
Zeiten und Menschen berichtet hat.
Laßt uns nun hören, was das Wort Gottes über diesen Gegenstand sagt; wir werden alle zugeben müssen, daß der Herr
die gegenwärtige Sachlage völlig wahrheitsgetreu zum voraus
angekündigt hat. Wir sehen in den Andeutungen, die der Herr
Seinen Jüngern in Lk 17 gibt, daß bis zu dem Kommen des
Herrn zum Gericht die Welt nicht, wie manche träumen, stufenweise aus einer Wildnis in ein Paradies umgewandelt werden
wird, noch daß die Heiden ihre falschen Götter, oder die Juden
ihre Feindschaft gegen den wahren Messias aufgeben werden;
sondern wir sehen im Gegenteil, daß es sein wird, wie in den
Tagen der Bequemlichkeit, der Weltlichkeit und der Erhebung
des Menschen gegen Gott. „Und gleichwie es in den Tagen
Noahs geschah, also wird es auch sein in den Tagen des Sohnes
des Menschen: sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden
verheiratet, bis zu dem Tage da Noah in die Arche ging und die
Flut kam und alle umbrachte". Das sind die Vorbilder der
Zustände, wie sie zur Zeit der Erscheinung des Herrn zum
Gericht sein werden. Sorglosigkeit und Liebe zur Bequemlichkeit werden sich bei den Menschen gerade so finden, wie vor
der Sündflut. Wie damals, so werden auch dann die Menschen
in die gewöhnlichen Dinge des täglichen Lebens vertieft sein.
Trotz Gesetz und Evangelium begegnet man heute schon überall jenem Zustande des Verderbnisses und der Gewalttätigkeit,
welcher über die damalige Welt die Sündflut brachte. Und um
das düstere Gemälde der Tage des Sohnes des Menschen zu
vervollständigen, wird uns das noch traurigere und abschrekkendere Schauspiel der Tage Lots nach der Flut vor Augen
geführt. „Gleicherweise auch wie es geschah in den Tagen Lots:
122
sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten,
sie bauten; an dem Tage aber, da Lot aus Sodom herausging
(bedeutungsvolles Wort!), regnete es Feuer und Schwefel vom
Himmel und brachte alle um. Desgleichen wird es an dem Tage
sein, da der Sohn des Menschen geoffenbart wird".
Die Briefe schwächen dieses Zeugnis des Herrn in keiner Weise,
sondern bestätigen es im Gegenteil in jeder Beziehung, nur mit
dem Unterschiede, daß das Zeugnis des Heiligen Geistes sich
mehr auf die bekennende Christenheit bezieht, während das
Zeugnis des Herrn das Judentum zum Mittel- und Ausgangspunkt hatte. So warnt z. B. der Heilige Geist in Röm 11 die
aus den Nationen gesammelten Bekenner des Christentums,
indem Er an dessen Ende erinnert: „Rühme dich nicht wider
die Zweige. Wenn du dich aber wider sie rühmst — du trägst
nicht die Wurzel, sondern die Wurzel dich". Die Juden, als die
natürlichen Zweige, waren die Verwalter und Träger der Verheißungen und des Zeugnisses für Gott hienieden. Aber sie
übertraten das Gesetz, gingen den Götzen nach, verwarfen
und töteten den Messias und wurden, nachdem sie schließlich
noch die Annahme des ihnen durch das Evangelium dargebotenen letzten Rettungsmittels verweigerten, als die natürlichen Zweige des Ölbaumes ausgebrochen, und an ihrer Statt
wurden die Nationen in den alten Stamm des Bekenntnisses
eingepfropft. Dann kommt die Warnung: „Du wirst nun
sagen: Die Zweige sind ausgebrochen worden, auf daß ich eingepfropft würde. Recht; sie sind ausgebrochen worden durch
den Unglauben; du aber stehst durch den Glauben. Sei nicht
hochmütig, sondern fürchte dich; denn wenn Gott der natürlichen Zweige nicht geschont hat, daß er auch deiner etwa nicht
schonen werde. Siehe nun die Güte und die Strenge Gottes:
gegen die, welche gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte
Gottes, wenn du an der Güte bleibst".
Und hier möchte ich an jeden, der noch eine Spur von Gottesfurcht in sich trägt, oder der noch in etwa mit dem Worte
Gottes bekannt ist, die Frage richten: Ist die Christenheit an
der Güte Gottes geblieben? Betrachten wir die römische wie die
protestantische Kirche, durchlaufen wir alle die verschiedenen
Religionssysteme, alle bestehenden Sekten und Parteien — wir
123
werden überall die Bestätigung finden, daß die Christenheit
nicht an der Güte Gottes geblieben ist. Und nach dem Worte
des Herrn: „Sonst wirst auch du ausgeschnitten werden", wird
die Christenheit wegen ihrer Untreue ebenso gewiß von dem
Gericht getroffen werden, wie die Juden davon getroffen worden sind, welche, aus ihrem Erbteil verstoßen und als eine
Schmach auf der ganzen Erde zerstreut, den Stempel der Verurteilung an ihrer Stirn tragen.
Alle Briefe in den hierauf bezüglichen Einzelheiten zu untersuchen, würde den Raum dieser Blätter weit überschreiten. Es
genüge daher die Bemerkung, daß wir in den apostolischen
Briefen ein stets zunehmendes, immer höher anschwellendes,
ehrfurchtgebietendes Zeugnis besitzen. Jenachdem das Verderben zunimmt, sehen wir auch die Merkmale des Gerichts
immer augenscheinlicher hervortreten. In immer deutlicheren
und stärkeren Tönen läßt der Geist Gottes die Posaune erschallen, um da, wo noch irgend ein Ohr ist, zu hören, die
Treuen aus dem Schlummer aufzuwecken. Es ist dem Feinde
gelungen, die Grundlage des Christentums Schritt für Schritt zu
untergraben; und mit Riesenschritten naht die Zeit heran, wo
die Christenheit der Schauplatz des Verderbens in seiner gröbsten Form sein wird. Zu einem System des Unglaubens und
Aberglaubens geworden, wird sie, als der Sitz aller Greuel,
bald einen Zustand zur Schau tragen, abschreckender und
schuldiger als alles bisher Dagewesene; ja, sie wird schließlich
das Werkzeug einer offenbaren Empörung gegen Gott bilden.
Im zweiten Thessalonicherbriefe erklärt der Apostel, daß der
Abfall kommen und der Mensch der Sünde geoffenbart würde.
Schon in seinen Tagen war das „Geheimnis der Gesetzlosigkeit
wirksam"; jedoch wird der völlige Ausbruch der Gesetzlosigkeit durch die Hand des Herrn bis zu einer bestimmten Zeit
zurückgehalten werden. Aber in dem Augenblick, wo die Hand
den Zügel schießen läßt, wird die Gesetzlosigkeit nicht länger
ein Geheimnis bleiben, sondern vor aller Augen ans Licht
treten. Sie wird dann zum „Abfall" herangereift sein, und der
Weg zur Offenbarung des „Menschen der Sünde" wird gebahnt sein. Die Aussicht, welche uns die Heilige Schrift in
dieser Beziehung gewährt, ist also nichts anderes, als die un124
ausbleibüche Zunahme des Bösen - ein stets an Heftigkeit und
Ausdehnung zunehmendes Verderben, dessen furchtbarstes
Ergebnis, hervorgerufen durch die Beseitigung des einzigen,
sich ihm entgegenstemmenden Dammes, einerseits der „Abfall" und andererseits der „Mensch der Sünde" ist. Welch ein
Gegensatz zu dem Menschen der Gerechtigkeit ist dieser
Mensch der Sünde, der sich erfrecht, den Platz Gottes im
Tempel einzunehmen!
Das Böse zeigte sich nicht gleich im Anfang in seiner ganzen
Kraft; aber man gewahrte verschiedene und zunehmende Offenbarungen von ihm. Der Apostel Johannes sagt: „So sind
auch jetzt viele Antichristen geworden; daher wissen wir, daß
es die letzte Stunde ist." Dies ist um so beachtenswerter, weil
Johannes das Kommen des Antichristen, dessen Vorläufer schon
vorhanden waren, ankündigt; und dieses Vorhandensein des
antichristlichen Geistes war der Beweis, daß die letzte Stunde
schon da war. Der Geist Gottes wollte das Neue Testament
nicht eher schließen, bis das Böse in seiner schlimmsten Form,
wenigstens in seinen Keimen, sich so weit geoffenbart hatte,
daß es beschrieben werden konnte; und so ist uns die Entstehung, der Fortschritt und der endliche Ausbruch der Gesetzlosigkeit, ja, was noch mehr ist, sogar die Offenbarung des
Gesetzlosen, der sich wider den Herrn der Herrlichkeit erhebt,
mitgeteilt worden. Die letzten Kapitel des Neuen Testaments
zeigen uns das tausendjährige Reich, und zwar eingeleitet durch
die Zerstörung des Tieres und des falschen Propheten samt
ihrem ganzen Anhang, nachdem die Zerstörung Babylons schon
vorher stattgefunden hat.
Wir sind schnell vorangeeilt, ohne auf die Beweise von dem
Verfall des Christentums näher einzugehen — auf Beweise, die
wir im allgemeinen in den Briefen, ganz besonders aber im
11. Vers des Briefes des Judas in scharfen Zügen aufgezeichnet
finden. Wer vernimmt hier nicht die ernsten Töne des gewissen, wenn auch noch in dem Schöße der Zukunft schlummernden Gerichts? „Wehe ihnen! denn sie sind den Weg Kains
gegangen", den Weg jenes unnatürlichen Bruders, der als ein
religiöser Mann sein Opfer darbrachte, aber den Schuldlosen
erschlug. Und wer würde nicht die vorbildliche Bedeutung jenes
125
Mannes verstehen, der den Lohn der Ungerechtigkeit Hebte und
gegen seinen Willen die herrlichsten Dinge über ein Volk
weissagen mußte, das er nicht liebte, sondern das er gern an
den Verderber verkauft hätte? Welch eine feierliche Sprache
redet dieser Lohn der Ungerechtigkeit, den er für die Verkündigung der herrlichen Dinge Gottes empfing, ohne ein
Herz für das Volk, geschweige denn irgendwelchen Eifer für
das Volk, den Willen oder die Verherrlichung Gottes zu haben!
Und endlich, welch eine ernste Warnung liefert uns jene entsetzliche Empörung Korahs, der „Widerspruch" derer, welche
den Dienst des Heiligtums hatten und sich in ihrem levitischen
Stolz den Platz Moses und Aarons (des Apostels und des
Hohenpriesters des jüdischen Bekenntnisses) anmaßen wollten!
Gibt es nicht heutzutage noch solche, die sich Diener Christi
nennen und dazu noch behaupten, die ausschließlich von Gott
eingesetzten Priester zu sein und als solche die Vollmacht zu
haben, Sünden vergeben und auf der Erde von jeder Schuld
vor Gott freisprechen zu können? Und nicht nur das; die
Finsternis, in die ein großer Teil der Christenheit versunken
ist, reicht so weit, daß man meint, Opfer für Lebende und
Tote bringen zu können. — Nicht mit Bitterkeit reden wir von
diesen Dingen; aber sollte uns der Anblick solcher Torheiten
nicht mit Bestürzung und Entsetzen erfüllen?
Aus allen diesen Dingen sehen wir zur Genüge, wie wenig
die Christenheit an der Güte Gottes geblieben ist. Wollte es
dennoch jemand wagen, diese traurige Erscheinung zu verteidigen oder zu rechtfertigen, so verrät er dadurch nur, wie
wenig er sich fürchtet, Gott zum Lügner zu machen; und er
offenbart sich sogar, sei es aus Unwissenheit oder mit Absicht,
allen diesen unzweideutigen Aussprüchen der Schrift gegenüber als ein Verächter der Belehrungen des Heiligen Geistes.
Das Wort Gottes ist für alle geöffnet; und darum sind wir
verantwortlich, die Dinge so zu betrachten, wie Gott sie ansieht. Der Einwand, daß wir kein Urteil über diesen Punkt
haben, ist sicher eine eitle Entschuldigung vor dem Herrn; denn
der Geist Gottes, Der alle Dinge beurteilt und unterscheidet,
wohnt in jedem Gläubigen; und jeder, der sich solche Einwendungen erlaubt, sagt mit anderen Worten, daß er höchst
ungeistlich sei. Aber wenn wir erkannt haben, daß die Chri126
stenheit in den vorher angekündigten Zustand des Verderbens
versunken ist, und daß das Böse, das damals keimte, jetzt die
bittersten und verderblichsten Früchte trägt, können wir dann
länger an diesen Dingen teilnehmen und im Blick auf unsere
Beteiligung an der gemeinsamen Sünde gleichgültig bleiben?
Wenn der Herr uns in Seiner Gnade die nachdrücklichsten
Warnungen erteilt hat, so können wir uns wahrlich nicht mit
der Entschuldigung zufriedenstellen, daß der Herr bei Seiner
Ankunft alles in Ordnung bringen werde. Sicher wird Er alles
in Ordnung bringen; aber es wird dann zu spät sein, meine
bewußte, den Herrn verunehrende Untreue wieder gutzumachen. Meine Gleichgültigkeit gegen Sein Wort und Seine
Verherrlichung, meine Rücksichtslosigkeit gegen den Heiligen
Geist, den ich durch mein Verhalten betrübt habe, alles wird
zu meiner tiefen Beschämung dienen. Ja, der Herr wird kommen und alles in Ordnung bringen, aber unstreitig durch ein
schonungsloses, göttliches Gericht. Denn was wird Er hienieden
finden? Einige arme, zerknirschte Herzen, einen gottesfürchtigen Überrest, der unaufhörlich zu Gott schreit, gleich jener
bedrängten Witwe in dem Gleichnis von dem ungerechten
Richter, der weder Gott noch Menschen fürchtete. Das wird die
Sachlage hienieden sein. Wie betrübend daher, mit einem Zustande, der solche Resultate erzeugt, gemeinschaftlich voranzugehen, und zwar unter dem törichten und sündhaften Vorwand, daß der Herr bei Seiner Ankunft alles in Ordnung
bringen werde!
Laßt uns jetzt sehen, welche Vorsorge der Herr für die Seinigen
während dieser finsteren Tage getroffen hat. Zunächst wenden
wir uns zu der schon oft angeführten Stelle in Mt 18, 20: „Wo
zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich
in ihrer Mitte". Welch eine zärtliche Sorgfalt und erhabene
Weisheit offenbart der Herr in diesen Worten im Blick auf die
bösen Zeiten! Selbst wenn die einst so stattliche Herde, jene
Versammlung von Tausenden in der sichtbaren Fülle Seiner
Gnade, sich bis zu der Zahl von zweien oder dreien vermindern
sollte, wird dennoch die Verheißung nicht fehlen. Wir sind
leider nur zu geneigt, das Geringe zu verachten und nach dem,
was in den Augen der Welt groß ist, zu trachten. Allein wer
kein Herz für zwei oder drei hat, wird es auch nicht in der
127
rechten Weise für zehntausend haben, und kann höchstens
durch den alles überwältigenden Strom der Freude einer glücklichen Menge mit fortgerissen werden, wie es ohne Zweifel in
jenen glänzenden Tagen der Fall gewesen sein mag, wo der
Heilige Geist herniederkam, und die Wogen des geistlichen
Lebens so hoch gingen, daß alle jene später ans Licht tretenden
bösen Elemente überflutet wurden.
Welch eine Gnade, daß, gemäß dieser herrlichen Verheißung,
die Gedanken des Herrn, in der Voraussicht des kommenden
Verderbens, schon auf etliche wenige gerichtet waren, die sich
vielleicht in irgendeinem abgelegenen Dorf oder in einer öden
Gegend, oder auch in einer großen volkreichen Stadt, wo die
Jünger des Herrn oft vereinzelter als sonstwo stehen, in Seinem Namen versammeln würden. Nie und nimmer werden
Seine Segnungen fehlen. Denn seitdem Er segnend von den
Seinigen geschieden ist, ist Er für sie stets derselbe geblieben;
und keine Gefahr, kein Verderben in der Christenheit vermag
den unendlichen Wert Seines kostbaren Blutes zu beschränken,
so wie die Erlösung nimmermehr veralten und verschwinden
kann. Aber wir finden hier mehr als das: es ist die Macht
Seiner Autorität, welche selbst der unscheinbarsten, geringsten
Vertretung Seiner Versammlung gewährt ist. Zwei oder drei
haben über die Aufrechterhaltung eines mit dem Charakter
Christi übereinstimmenden Wandels mit demselben Eifer zu
wachen, als wenn ihrer dreitausend wären. Doch wie kann
dieses geschehen? Nur durch die Ausübung der Zucht. Die
Verpflichtung zu einem reinen Wandel steht mit dem Dasein
der Versammlung Gottes in unmittelbarer Verbindung; denn
diese hört auf, die Versammlung Gottes zu sein, sobald die
heilige, ernste und feierliche Ausübung der Anordnungen Gottes
nicht mehr stattfindet. „Feget den alten Sauerteig aus, auf daß
ihr eine neue Masse werdet, gleichwie ihr ungesäuert seid".
Diese Verantwortlichkeit kann durch den Verfall ebensowenig
angestastet werden, wie die Segnungen der Gnade und Fürsorge des Herrn dadurch verhindert werden können. Welch ein
sicherer und unschätzbarer Trost ist das!
Deshalb sollte jeder Gläubige bedenken, daß es nicht seine
Sache ist, ein Anhänger irgendeines kirchlichen Systems oder
128
einer besonderen Ansicht zu sein, sondern sich im Gegenteil
nur für das Eine zu entscheiden, was er dem Herrn schuldig
und was Seiner würdig ist, nämlich — und wir können in
dieser Beziehung sicher nicht zu entschieden und zu gründlich
sein — jedes Band, das ihn nicht mit Christo verbindet, zu
verleugnen und zu zerreißen. Nur da, wo wir Christo in der
Mitte der Seinigen nach jeder Richtung hin gehorchen können,
und wo dem Heiligen Geist Raum gelassen wird, unumschränkt
nach dem Worte Gottes zu wirken, ist die Versammlung Gottes
dargestellt. Die freie Wirksamkeit des Geistes aber besteht
allein und ausschließlich darin: Christum zu verherrlichen und
das Ansehen Seines Namens zu wahren. Daher sollten alle,
die überzeugt sind, dem Herrn anzugehören, nicht länger Anhänger von menschlichen Religionssystemen bleiben, sondern
sich vielmehr um das eine vollkommene Banner scharen, das
Gott sowohl hinsichtlich des Glaubens als auch der kirchlichen
Gemeinschaft aufgepflanzt hat. Ein entgegengesetztes Verhalten ist Ungehorsam gegen das Wort Gottes und Verunehrung des Heiligen Geistes. Keiner, selbst nicht der weiseste
unter den Menschen, vermöchte ein Banner aufzurichten, das
für alle Zeiten passend wäre, wie Gott dies getan hat, und wie
es durch den Glauben anerkannt und verwirklicht wird.
Alle Kinder Gottes erkennen an, daß das Wort Gottes bezüglich der Seelenrettung vollkommen weise ist; und keins von
ihnen wird, wenn es sich um die Ewigkeit handelt, seine Seele
den Lehrern der Menschen anvertrauen. Aber ist es nicht vermessen, das Wort beiseitezulegen, wenn es sich um die Kirche,
den Gottesdienst, den Dienst am Wort, das Abendmahl und
die Anbetung handelt? Wie kommt es doch, daß die Menschen
so selten daran denken, sich allein durch das Wort Gottes
leiten zu lassen, und daß fast jede Partei, wenn ihr z. B. ein
Prediger fehlt, nichts Eiligeres zu tun weiß, als sich einen
solchen zu wählen, obwohl ihr -die Schrift keineswegs die
Erlaubnis dazu erteilt, und auch die Versammlungen der ersten
Tage dies nicht getan haben? Ach! man fragt nicht Gott in
Seinem Wort um Rat. Was aber werden die im Namen Jesu
Versammelten tun? Ihnen genügt, in dem Gefühl ihres Mangels und ihrer Schwachheit, das Wort ihres Herrn: „Wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in
129
ihrer Mitte". Nicht, als ob ich den Wert der Gaben geringschätzte; das sei ferne! Jedoch, einfach dem Herrn unterworfen zu sein und auf Ihn zu warten, bis Er jemanden sendet,
wird vor allem das Beste sein. Und in der Tat, da wir nicht
dazu beauftragt sind, so haben wir auch nicht nötig, jemanden
zu wählen; denn alles ist unser, „es sei Paulus oder Apollos
oder Kephas". Es ist Gottes Sache, z-u wählen und zu geben.
Er hat alle Seine Diener mit der Versammlung verbunden; sie
sind Glieder des Leibes Christi und Seine Gaben für die Versammlung. Wie sehr betrügen sich daher z. B. solche, die,
indem sie sich ihren Prediger wählen, sich dadurch auf das
Maß seiner persönlichen Gabe beschränken müssen, es sei
denn, daß er alle Gaben in seiner Person vereinigte.
Nehmen wir einen anderen Fall. Die Gläubigen befinden sich
wegen einer gewissen Sache — etwa wegen einer Irrlehre, oder
wegen eines in Sünden gefallenen Bruders — in einer schwierigen Lage, indem sie aus Mangel an klarem Urteil nicht wissen, welchen Weg sie einzuschlagen haben: was werden sie tun?
Sie werden auf den Herrn warten: eine für uns um so heilsamere Sache, weil man dann fühlt, daß Er allein helfen kann.
Und Er, Der liebend und sorgend in der Mitte Seiner Heiligen
ist, wird die Angelegenheit in irgendeiner Weise so klären,
daß ihre Gewissen auf den Ruf des Herrn antworten und handeln können. Solche Entscheidungen sind, wenn der Wille der
Heiligen wirksam ist, eine Prüfung für das Herz; aber sie
zeigen zugleich, daß nicht ihre Weisheit oder ihre Erfahrungen
richtig zu leiten vermögen, sondern daß allein der in ihrer
Mitte weilende Herr dazu imstande ist.
Wir müssen uns jedoch stets daran erinnern, daß unser Zusammenkommen in dem „Namen Jesu" ebensowenig für
unsere Engherzigkeit und Parteilichkeit, wie für die gröbere
Form der Gemeinschaft mit der Welt oder dem offenbaren
Bösen Raum läßt. Wie könnten zwei oder drei im Namen Jesu
Versammelte zusammen glücklich sein und zu gleicher Zeit
einen außerhalb ihrer Gemeinschaft stehenden Bruder mit argwöhnischen Blicken betrachten? Ein solches Verhalten würde
nur zu augenscheinlich den Beweis liefern, daß sie ihr Vorrecht
nicht verständen und sich in einer falschen Stellung befänden.
130
Der Herr sieht die Seinigen nie mit argwöhnischen Blicken an,
noch prüft Er sie, als mißtraue Er ihrem Charakter, sondern
Er heißt sie alle (ich rede hier natürlich nicht von solchen, die
wegen einer Irrlehre oder wegen eines unlauteren Wandels
verdächtig sind) von Herzen willkommen; und darum wird
man auch da, wo man den Wert Seines Namens kennt, ein
Herz für alle Gläubigen haben. Dagegen wird man sich entschieden fernhalten von einem jeden, der vielleicht in einem
guten Ruf steht, in der Welt geachtet und auch in irgendeiner
Weise in dem Werke des Herrn tätig gewesen ist, der aber
einen Mangel an Herz und Gewissen für Christum verrät. So
ist der Name Jesu der Prüfstein, um einerseits selbst den
Schwächsten, der Ihn liebt, aufzunehmen, und andererseits uns
von jedem, der den Herrn Jesum Christum nicht in Reinheit
und Wahrheit lieb hat, fernzuhalten. Welche Macht ist in
diesem Namen! Er verbindet Herzen, die sich völlig fremd
waren, und offenbart und schließt alles aus, was nicht aus
Gott ist. Mag es sich um eine Wahrheit, mag es sich um die
Zucht, mag es sich um Personen oder Grundsätze handeln —
alle nötige Weisheit und Kraft wird in diesem kostbaren
Namen gefunden.
Wenn wir uns jetzt zu 2. Tim 2 wenden, so sehen wir ein Bild
der bekennenden Kirche, des Hauses Gottes, wie es der Heilige
Geist Selbst entworfen hat. Im ersten Brief trägt der Apostel
Sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung und einer guten
Regierung im Hause Gottes; im zweiten dagegen setzt er die
Zunahme des Bösen in einer Ausdehnung voraus, daß er nur
noch in einem Gleichnis auf das Haus anspielt. „Doch der
feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr
kennt, die Sein sind, und: Jeder, der den Namen des Herrn
nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!" Hier haben wir die
beiden großen Grundsätze, denen wir überall in dem Worte
Gottes begegnen, nämlich einerseits die Unumschränktheit des
Herrn, und andererseits die Verantwortlichkeit. Dann folgt
eine mehr ins Einzelne gehende Anwendung: „In einem großen
Hause aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße,
sondern auch hölzerne und irdene; und die einen zur Ehre, die
anderen aber zur Unehre". Timotheus mußte auf die Entwicklung des Bösen unter denen, welche Christum nicht „zur Ehre",
131
sondern „zur Unehre" bekennen, vorbereitet werden. „Wenn
sich nun jemand von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur
Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten
Werke bereitet".
Trennung vom Bösen ist der unwandelbare Grundsatz Gottes,
obwohl er je nach dem Charakter der Haushaltung Gottes in
verschiedener Weise zur Ausübung kommen mag. „Tut den
Bösen von euch selbst hinaus", heißt es In i. Kor 5; wenn
dieses aber nicht mehr länger möglich ist, so muß man sich
selbst von dem Bösen reinigen. Es gibt nichts, was der Mensch
mehr fühlt und fürchtet. Und kein Wunder; denn sobald
jemand in dieser Beziehung nach seiner Überzeugung handelt,
muß er erfahren, daß sich honigsüße Freundschaft in gallenbittere Feindschaft verwandelt; und der Wunsch, um jeden
Preis Gott zu gefallen, wird als pharisäischer Stolz und hochmütige Absonderung betrachtet. Mit welcher Sanftmut und
Höflichkeit man sich auch von den Gefäßen der Unehre trennen mag — nichts kann ihren Groll und ihren Ärger besänftigen; immer bleibt es in ihren Augen eine verwerfliche Sache
und eine unverzeihliche Beleidigung. Und das tritt um so mehr
zu Tage, je bescheidener man dabei zu Werke geht; vorausgesetzt, daß die Sache gründlich ist, und daß nicht täuschende
Gefühle dabei leiten, sondern nur der Wunsch vorhanden ist,
Christo mit glücklichem Herzen ganz unterworfen zu sein.
Beachten wir indessen, daß es sich in 2. Tim 2 um die Trennung von der religiösen oder christlichen Welt handelt. Die
„christliche Welt" — welch ein Ausdruck! Welch ein Widerspruch! Als wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit einer
Verbindung zwischen dem von dem Himmel, von Christo
stammenden Christentum und der Welt, welche Ihn gekreuzigt
hat, stattfinden könnte! Kein Wunder, daß wir in diesem Brief
von schweren Zeiten in den letzten Tagen lesen. Und diese
Zeiten sind um so schwerer, weil die Menschen, nachdem sie
die Wahrheit erkannt haben, wieder zu dem Zustand des
Bösen, in dem sich die heidnische Welt vor der Zeit des Christentums befand, zurückgekehrt sind (vgl. 2. Tim 3 mit Röm
1). Wie schmerzlich und belehrend ist diese Vergleichung! Das
christliche Bekenntnis ist in diesem Zustand der Dinge fürwahr
132
ein großes Haus, in dem alles gefunden wird, was sowohl für
die schlechtesten, als auch für die besten Zwecke bestimmt ist.
Es ist das große Haus, das den Namen Christi trägt, oder,
wenn man will, die „christliche Welt" genannt werden kann.
Was hat der Gläubige unter solchen Verhältnissen zu tun?
Einige sagen: „Man darf über das große Haus nicht zu streng
urteilen; denn da das christliche Bekenntnis noch vorhanden
ist und Christus gepredigt wird, so ist doch noch etwas Gutes
da". Aber, erwidere ich, könnte man wohl etwas Böses in
der Welt finden, das nicht mit irgendeinem schönen
Namen geschmückt wäre? Die wichtige Frage in diesen Umständen ist nicht, ob hier und da noch etwas Gutes vorhanden
ist, sondern einfach: Was ist der Wille des Herrn? Wir haben
nicht dafür Sorge zu tragen, daß andere in unserem Lichte
wandeln, sondern dafür, daß wir nicht in ihrer Finsternis wandeln. Der wesentliche Punkt ist nicht, daß wir uns mit anderen
beschäftigen und ihnen bezüglich dessen, was sie zu tun haben,
Vorschriften machen, sondern daß wir unsere eigene und
unsere gemeinsame Sünde fühlen und durch die Gnade entschlossen sind, den Herrn um jeden Preis zu ehren und Ihm
zu gehorchen. Das ist klare und gebieterische Pflicht eines
jeden Gläubigen, der unbeugsame, unserem Geiste sich empfehlende Grundsatz der Schrift. Es ist möglich, daß irgendeiner
meiner Leser nicht demgemäß handelt; aber nichtsdestoweniger
kann er nicht leugnen, daß er so handeln sollte. Ich gebe zu, daß
es Schwierigkeiten und Verbindlichkeiten gibt. Mancher hat
Familienmitglieder oder Freunde, die er nicht betrüben möchte,
oder Hoffnungen, wenn auch nicht für sich selbst, so doch für
seine Kinder. Aber kann ein durch der. Glauben gereinigtes
Herz um deswillen das Wort des Herrn beiseitesetzen? Dürfen
wir dem Gedanken Raum geben, daß der Herr unsere Bedürfnisse nicht kenne und kein Gefühl für unsere Familie habe?
Wenn wir wissen, daß Er uns liebt, können wir Ihm dann nicht
bezüglich eines Bissen Brotes Vertrauen schenken? Wenn wir
Ihm in bezug auf das ewige Leben und den Himmel vertrauen,
so sollten wir sicherlich auch voraussetzen, daß Er hinsichtlich
der Prüfungen und Schwierigkeiten des täglichen Lebens Sorge
für uns trägt. Wir dürfen uns nicht einbilden, daß wir mehr
Weisheit, Liebe und Fürsorge für unsere Familie haben als der
133
Herr. Laßt uns nicht für den nächsten Schritt sorgen, denn es
ist nicht die Weise des Herrn, uns alles auf einmal zu zeigen;
sondern laßt uns für den Augenblick nach Seinem Worte
handeln und Ihm die Folgen anheimstellen. Er ist unseres Vertrauens würdig und wird mehr geben, als wir für den ersten
Schritt bedürfen. Jedoch müssen wir für immer verlassen, was
durch das Wort Gottes verurteilt ist. „Gedenket an Lots Weib",
und schauet nicht zurück, sondern folget Seinem Worte, wohin
es auch führen mag; und ihr werdet stets das Wort: „Wer da
hat, dem wird gegeben werden", bestätigt finden. Freilich
macht es in unseren Augen einen großen Unterschied, ob der
Weg rauh oder eben, dunkel oder hell ist, und ob die Schwierigkeiten groß oder klein sind; jedoch die größten Schwierigkeiten bieten nur eine Gelegenheit, um ans Licht zu stellen,
wer der Gott ist, Den wir gefunden haben.
Dann sehen wir in dem weiteren Verlauf unseres Kapitels,
daß wir uns nicht allein von den Gefäßen der Unehre zu
trennen haben, sondern es heißt auch: „Die jugendlichen Lüste
aber fliehe; strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe,
Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen".
Es gibt also keine Entschuldigung für solche, die sagen: „Ich
lasse mich auf nichts ein und bleibe für mich". Wir müssen
allem, was der Schrift entgegen ist, den Rücken wenden. Es
bedarf sicherlich keines Beweises für irgendeinen Christen, daß
das, was schriftwidrig ist, auch unheilig ist. Es ist aber höchst
betrübend, wenn man Christen mit den Worten drängen muß:
„Wer da weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es
Sünde". Wenn du das was die Schrift nicht gestattet, sondern
verurteilt, verlassen hast, dann achte auf das Wort: „Strebe
aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden". Strebe danach, und zwar nicht gleich einem Einsiedler, sondern in Verbindung mit denen, „die den Herrn anrufen aus reinem Herzen", und wäre es auch in Verbindung mit nur „zweien oder
dreien". O, welch ein Trost! Schrecken wir nicht zurück vor
einer so geringen Zahl, die Gott ohne Zweifel zu Hunderten
und Tausenden anwachsen lassen kann. Aber das ist Seine
Sache. Unsere Aufgabe ist, den Pfad des Herrn mit Freude und
Dankbarkeit und mit einem lauteren und demütigen Herzen
nach Seinem Worte zu verfolgen, auch wenn Wir nur wenige
134
finden, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen. Der Glaube
hat die göttliche Bürgschaft, auf seinem Pfade Gefährten zu
finden, obgleich der Pfad zwischen den Trümmern des christlichen Bekenntnisses hindurchführt. Schrecken wir deshalb vor
keinem Hindernis, vor keiner Gefahr zurück, sondern laßt uns
stets daran denken, daß der Herr es ist, der so gnädiglich an
uns gedacht hat. O, möchten wir doch alle, die wir Seinen
gesegneten Namen lieben, ein unbegrenztes Vertrauen auf Ihn
setzen! Er Selbst wendet Sich an die Herzen derer, die inmitten
der Verunehrung Seiner Gnade und Wahrheit betrübt sind,
um ihnen auf die deutlichste Weise den Pfad, nicht allein der
Trennung, sondern auch der Verbindung zu bezeichnen — den
Pfad, der nicht nur vom Bösen ab-, sondern auch zum Guten
hinführt.
Wie klar ist der große sittliche Grundsatz Gottes trotz aller
Unordnung geblieben! Die Wirkungen Seiner Gnade überdauern den ganzen Verfall. Wenn auch Tausende von Christen
sich zu irgendeiner Partei vereinigen, so vermögen sie doch
nicht das Grundübel ihres Systems zu heilen; denn obwohl sie
Glieder Christi sein mögen, so haben sie doch den Grundsatz
der Versammlung in ihrer wahren Verfassung verlassen. Wenn
hingegen „zwei oder drei", oder wie viele und wenige ihrer
sein mögen, nach dem Worte des Herrn Seinen Namen zu
ihrem Mittelpunkt machen, die Gegenwart des Geistes Gottes
anerkennen und Seiner Leitung unterworfen sind, so führen
sie, und nur sie, die Gedanken Gottes aus. Mögen auch zehntausend wahre Christen sich vereinigen, so stellen sie dennoch
nur dann die Versammlung Gottes dar, wenn sie allein im
Namen Jesu zusammenkommen. Der Unterschied ist, daß wir
uns nicht versammeln im Namen von Christen, sondern im
Namen Christi. In dem ersten Fall haben wir kein Recht, einen
unlauteren Christen zurückzuweisen, während im zweiten Fall
die entscheidende Frage gilt: „Ruft er den Herrn an aus reinem
Herzen?"
Der Herr wolle uns geben, mit Ausdauer und mit einem demütigen Herzen dazustehen, wo Er uns haben will, und im
Vertrauen auf Ihn alle Befürchtungen und Besorgnisse schwinden zu lassen! Denn wenn der Herr unser Helfer ist, was
135
hätten wir dann noch zu fürchten? Er, Der allein würdig ist,
der Mittelpunkt aller Heiligen auf der Erde zu sein, hat in
Seiner unendlichen Gnade verheißen, Selbst dann in der Mitte
zu sein, wenn auch nur „zwei oder drei versammelt sind in
Seinem Namen".
Wir sind dem Gesetz gestorben
„Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich
Gott lebe" (Gal 2, 19). Dies ist vor allem in unsern Tagen ein
wichtiges Wort. Die Anwendung dieser hier vorgestellten
Wahrheit wird uns vor zwei Irrtümern bewahren, nämlich vor
Gesetzlichkeit und vor Gesetzlosigkeit. Wenn ich diese beiden
Irrtümer miteinander vergleiche, oder wenn ich gezwungen
wäre, einen von beiden zu wählen, so würde ich ohne Zweifel
dem ersten den Vorzug geben. Ich sehe viel lieber jemanden,
der sich unter die Autorität des Gesetzes Moses beugt, als
jemanden, der gesetzlos und leichtsinnig seinen Weg geht. Ich
weiß wohl, daß die Forderungen des Gesetzes, die an den in
Sünden toten Menschen gestellt werden, nicht erfüllt werden
können, und daß das Gesetz nichts als Fluch und Verdammnis
in seinem Schöße birgt; ich weiß wohl, daß das Gesetz mit dem
Evangelium der Gnade in vollem Widerspruch steht, dennoch
habe ich eine größere Achtung vor jemandem, der, weil er nichts
weiter als Moses sehen kann, durch die Vollbringung des Gesetzes seinen Wandel in dieser Welt zu regeln trachtet, als vor
jemandem, der dieses Gesetz verachtet, um sich selbst zu leben.
Gott sei Dank! das Evangelium gibt uns ein Heilmittel gegen
beide Irrtümer. Doch auf welche Weise? Wird mir gesagt, daß
das Gesetz gestorben sei? Keineswegs. Das Evangelium belehrt
mich, daß ich, weil ich an den Herrn Jesum glaube, gestorben
bin. „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben". Und zu
welchem Zweck? Um mir selbst zu leben? Um meinen eigenen
Willen zu tun und meinen Vergnügungen nachzujagen? Durchaus nicht, sondern auf daß ich Gott lebe.
136
' Das ist eine Hauptwahrheit des Christentums, eine Wahrheit,
ohne die wir nicht wissen, was Christentum ist. Dasselbe finden wir in Röm 7: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem
Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines
andern zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß
wir Gott Frucht brächten" (V. 4). Und wiederum: „Nun aber sind
wir vom Gesetz losgemacht, weil wir dem gestorben sind, in
welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem
Neuen des Geistes, und nicht in dem Alten des Buchstabens"
(V. 6). Bemerken wir es wohl, daß wir dienen, und keineswegs
uns selber leben müssen. Wir sind von dem unerträglichen
Joch des Gesetzes erlöst, um das „sanfte Joch" Christi zu
tragen, nicht aber um unserer Natur Folge zu leisten. Deshalb
schreibt auch der Apostel an die Galater: „Ihr seid zur Freiheit
berufen, Brüder; allein gebraucht nicht die Freiheit zu einem
Anlaß für das Fleisch, sondern durch die Liebe dienet einander" (Kap. 5, 13).
Die Art und Weise solcher Menschen, die sich auf gewisse
Grundsätze des Evangeliums berufen, um dadurch für die
Befriedigung des Fleisches einen scheinbaren Rechtsboden zu
finden, ist für ein ernstes Gemüt anstößdg. Sie suchen, sich der
Autorität des Gesetzes zu entziehen, jedoch nicht, um sich
unter die Autorität Christi zu stellen, sondern um nach ihren
eigenen Lüsten zu leben. Eitles Bemühen! Das kann nie auf
Grund der Wahrheit geschehen; denn nirgends wird in der
Schrift gesagt, daß das Gesetz gestorben oder beiseitegesetzt
ist, wohl aber, daß die Gläubigen dem Gesetz und der Sünde
gestorben sind, auf daß ihre „Frucht zur Heiligkeit, das Ende
aber ewiges Leben" sei.
Wir legen diesen so wichtigen Gegenstand auf das Herz unserer
Leser. Sie werden ihn in Röm 6 und 7 und in Gal 3 und 4
gründlich entwickelt finden. Ein richtiges Verständnis dieser
Wahrheit wird uns über tausend Schwierigkeiten hinweghelfen
und vor zahllosen Irrwegen bewahren. Möge das Wort Gottes
eine vollkommene Macht auf unser Herz und unser Gewissen
ausüben!
137
Unsere wahre Stellung
Der Übergang über den Jordan war für die Kinder Israel die
Erfüllung der von Gott dem Mose gegebenen Verheißung, sie,
das Volk Gottes, aus der Hand der Ägypter zu befreien und in
ein gutes, gesegnetes Land — „in ein Land von Milch und
Honig fließend" — zu führen. Gott hatte sich ihrer erbarmt
und Er war in Gnaden zu ihnen herniedergekommen und hatte
aus ihrer Mitte einen Mann zu ihrer Leitung und Führung
gewählt. Wie tröstend mußte für die armen, unterjochten
Israeliten die Kunde sein, daß sie bald aus ihren Leiden, aus
allem Elend erlöst, ein Land betreten würden, wo alle ihre
Bedürfnisse befriedigt und jeder Schmerz gestillt sein sollte!
Und, geliebter Leser, befinden wir uns nicht in einem ähnlichen
Verhältnis? Hat Gott nicht verheißen, uns bald in ein Land,
weit herrlicher und schöner als das irdische Kanaan, einzuführen, in ein Land, wo wir weder Schmerz noch Trauer noch
Tränen, sondern wo wir ewige Freude finden werden? Hat Er
nicht gesagt, daß jeder, der an den Sohn glaube, in Ewigkeit
nicht verloren sei? Weshalb sollten wir uns denn noch fürchten? Ist Sein Wort nicht völlig genügend für uns? Oder soll
ein anderer es noch bestätigen? Nein, Sein Wort steht ewig
fest; Er kann nicht lügen. Er liebte uns, bevor wir noch an Ihn
dachten. Er erwies Seine Liebe darin gegen uns, daß Christus,
Sein geliebter Sohn, für uns gestorben ist, da wir noch Sünder
waren. Es ist nicht die Frage, was du darüber denkst, sondern
was die Gedanken Gottes sind. Gott sagt, daß das Werk Christi genug für dich sei; möchtest du nun durch deinen Unglauben Gott zum Lügner machen? Nein, der Herr wolle vielmehr
geben, daß du dich auf das vollbrachte Werk Christi völlig
stützen möchtest und Dein Herz von jener Freude erfüllt sei,
welche die Welt nicht kennt.
Ja, Gott hatte das Geschrei Seines Volkes gehört; und jetzt
befand es sich in der Wüste. Das Rote Meer war durchschritten.
Die Kinder Israel hatten die Macht und die Liebe ihres Gottes
geschaut, und alle ihre Feinde waren vernichtet. Der Weg zum
verheißenen Lande stand ihnen offen; alles war für sie in
138
Ordnung gebracht; sie bedurften nur des Glaubens, um von
allem Besitz zu nehmen. Ebenso verhält es sich mit uns. Der
Weg ist uns geöffnet; denn Christus starb am Kreuze. Nichts
steht uns mehr im Wege; denn Christus hat unsere Sünden
auf dem Kreuz getragen. Er hat die Sünde zunichte gemacht,
und alles ist vollbracht.
Der Jordan war, sozusagen, die letzte Schranke, wodurch die
Israeliten von den ihnen von Jehova bereiteten Segnungen getrennt waren. (Siehe Jos 3, 3—4 u. 15—17). Alles hat Jehova
bereits angeordnet; und das Volk wurde aufgefordert, den Befehlen seines Gottes im Glauben nachzukommen. So ist es auch
jetzt für uns eine Sache des Glaubens, daß alles vollbracht ist.
Christus, die wahre Lade des Bundes Jehovas, ist für uns in den
Tod gegangen. Bevor Er diese Welt verließ, konnte Er die
Worte sagen: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir
gegeben hast, daß ich es tun sollte". — Ja, Gott sei gepriesen!
Christus hat uns den Weg völlig geöffnet; und wenn du dich,
mein christlicher Leser, dessen nicht erfreust, so hat das seinen
Grund darin, daß du dein Auge nicht auf Ihn gerichtet hast.
Wie aber kannst du noch länger so furchtsam und ungewiß
deinen Weg fortsetzen, da Er doch stets bereit ist, uns glücklich
zu machen, und es Sein Wunsch ist, daß wir schon hier auf
Erden uns freuen und Ihn also verherrlichen!
Laßt uns wohl darauf achten und es ernstlich erwägen, daß
sich der Weg nicht erst später, wenn die finsteren Wasser des
Todes zu unseren Füßen rollen, öffnen wird — nein, er ist
bereits geöffnet. Wenn eine Seele dieses nicht versteht und nicht
einsieht, so kann sie unmöglich glücklich sein und wird sich
sehr oft vor dem Tode fürchten. Wenn hingegen das Auge
auf die Lade des Bundes, auf Christum, gerichtet ist, so sieht
sie den Weg offen und ist sich ihrer Errettung ebenso gewiß,
wie Stephanus, oder wie Paulus es war. Es gibt in Wahrheit
keine einzige Schranke auf der Seite Gottes zwischen Seinem
Thron und den Gläubigen. Nur unser eigenes Ich steht uns
im Wege, wenn wir uns nicht als mit Christo gestorben und
vom Gericht befreit betrachten. Was sagt die Schrift? Sie sagt
es geradezu, daß ich mit Ihm gestorben bin, und zwar jetzt
schon, während ich noch auf der Erde wandle. Wenn aber
139
jemand behaupten wollte, daß der Weg sich erst bei unserem
Tode öffnen werde, so wäre er folglich jetzt noch nicht geöffnet, und es müsse in diesem Falle noch etwas von Christo vollbracht werden. Wer könnte je einem solchen Gedanken Raum
geben!
Vielleicht sagst du: „Ich fürchte mich nicht vor dem Gericht,
aber ich fürchte den Tod", — Aber auch dann siehst du nicht
auf Christum, Der für jeden Gläubigen, er mag stark oder
schwach sein, den Tod auf Sich genommen und überwunden
hat. Stephanus schaute über den Tod hinaus in die Herrlichkeit,
wo Jesus zur Rechten Seines Vaters stand. Und wer hatte ihm
diesen Weg gezeigt? Hatte Er es Selbst getan? Nein; Jesus war
es, Der ihm den Weg geöffnet hatte, und daher konnte er mit
Ruhe und mit einem auf den Herrn gerichteten Blick in den
Tod gehen; ja mit dem Ausruf: „Herr Jesu, nimm meinen
Geist auf!" konnte er zugleich für seine Feinde beten: „Herr,
rechne ihnen diese Sünde nicht zu".
Das Evangelium hat nicht nur den Zweck, uns aus unsern
Ängsten zu bringen und uns aus unserem elenden Zustande
zu befreien; o nein — es verkündigt uns noch weit mehr; es
sagt uns, daß wir uns Seiner ewigen unerschöpflichen Liebe
erfreuen und mit Ihm die innigste Gemeinschaft pflegen dürfen; es sagt uns, daß wir mit Christo gestorben und auferweckt sind und jetzt von dem himmlischen Kanaan, wo Christus ist, Besitz nehmen können.
Sicher wirst du nie wahre Ruhe für dein Herz und dein Gewissen haben können, solange du nicht die wunderbaren,
köstlichen Gedanken Gottes bezüglich der Seinigen einigermaßen verstehst. Aus freier, vollkommener Gnade sandte Gott
Seinen einzigen, vielgeliebten Sohn, damit Er das Werk der
Erlösung auf dieser Erde vollbringe und Gott bestätigte dieses
Werk dadurch, daß Er Ihn aus dem Tode, den Er zur Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes erduldete, wieder auferweckte.
Der Herr wolle in deinem Herzen, geliebter Leser, eine klare
Erkenntnis des vollbrachten Werkes Christi wirken, auf daß du
dich einer wahren Glückseligkeit erfreuen mögest, und der
Name des Herrn dadurch verherrlicht werde!
140
Unter Gnade
(Röm 3. 14)
Es geht oft lange Zeit darüber hin, ehe man völlig versteht,
was es heißt, unter Gnade zu sein. Und auch selbst dann,
wenn wir diese Lehre mit unserem Verstände klar aufgefaßt
haben, ist für uns nichts so schwer, als uns in der Gnade zu
halten. Die Gnade ist nicht nur eine dem Sünder zuteil gewordene Barmherzigkeit, die ihn gerettet und seine Sünden hinweggenommen hat, sondern sie ist eine Macht, unter die er
gestellt ist, und demzufolge er nicht allein von seinen Sünden,
sondern auch von der Sünde befreit ist. Er ist nicht nur von den
Folgen der Sünde bezüglich des zukünftigen Gerichts, sondern
auch von der Sünde selbst, als einer Natur gerettet, welche
ihn in einem Zustande der Knechtschaft gefangen hielt. „Die
Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter
Gesetz sondern unter Gnade" (Röm 6, 14). Der Apostel spricht
hier zu Gläubigen aus den Nationen, welche nicht unter dem
Gesetz waren, sondern vor ihrer Bekehrung einfach gesetzlos,
ihrer sündigen Natur gemäß, in der Entfernung von Gott
lebten. Und auch nach ihrer Bekehrung wurden sie nicht in
solch ein religiöses System eingeführt, in dem sich die Juden
befanden, und welches diese, obwohl es sie äußerlich von den
Nationen trennte, dennoch ebenso, ihrem Herzenszustand nach,
unter der Macht der Sünde ließ, unter welcher auch die Nationen gefangen lagen.
Unter dem jüdischen System gab es zwar Opfer für die Sünden
und mithin eine Vergebung der Sünden; aber in betreff der
Sünde selbst, als einer Natur, gab es keine Befreiung. Zwar
war ein Gesetz zu dem Zwecke gegeben worden, um dadurch,
wenn es möglich gewesen wäre, der Sünde Zügel anzulegen
und die Wirksamkeit der Sünde zu verhindern; aber die ganze
Geschichte der Juden bis zum Kreuze des Herrn hin ist die
Geschichte einer Natur, welche zur Genüge — besonders bei
Gelegenheit des Kreuzes — gezeigt hat, daß sie in keiner Weise
durch irgendein ihr auferlegtes Gesetz im Zaum zu halten ist.
141
überdies wurden die Opfer selbst, abgesehen von ihrer vorbildlichen Tragweite durch die Übertretung des Gesetzes wirkungslos, weil der Fluch des Gesetzes, nachdem es gebrochen
war, den Übertreter unvermeidlich beseitigen mußte, wie wir
dieses in dem gegenwärtigen Zustande Israels klar sehen können. Die Opfer berührten, wie gesagt, die Frage bezüglich der
Sünden, waren aber keineswegs zur Wegnahme der Sünde, als
einer Natur, gegeben, obwohl die Beobachtung des Gesetzes
zu dem Zweck geboten war, um die Wirksamkeit der Sünde zu
verhindern. Da nun aber dieser Zweck nicht erreicht wurde, so
mußte notwendigerweise die Gerechtigkeit Gottes den Sünder
richten; und alle die vorhergegangenen Opfer erwiesen sich
als nutzlos. Ein religiöses System, bei dem die Segnung durch
die Beobachtung des Gesetzes bedingt ist, ist für den Menschen
als Sünder — sei er Jude, oder Heide — nicht allein nutzlos,
sondern auch nachteilig, weil es ihn unter eine um so größere
Verantwortlichkeit stellt, ohne ihm die nötige Kraft zur Beobachtung des Gesetzes zu geben. Ja, noch schlimmer als dieses
— es verhärtet ihn in der Sünde, indem ihre Kraft durch die
Anlegung eines Zügels um so mehr hervorgerufen und der
Mensch dadurch noch vollständiger unter ihre Macht gebracht
wird. Nach der Weisheit Gottes war das Gesetz dem Menschen
nicht als ein Grund der Segnung, sondern als ein Mittel gegeben, um seinen wahren Zustand vor Gott ins Licht zu stellen
und das Bedürfnis nach Erlösung in ihm zu erwecken. Das
Gesetz gab weder das Leben, noch die Gerechtigkeit, sondern
forderte die Gerechtigkeit, kraft deren Erfüllung man das Leben
genießen konnte. „Der, welcher diese Dinge getan hat, wird
durch sie leben" (Gal 3, 12). Das Gesetz ist für den Menschen
als Sünder in seiner Natur die „Kraft der Sünde" (1. Kor 15,
56), während es für eine lebendiggemachte Seele die Erkenntnis der Sünde bewirkt, wie der Apostel sagt: „Aber die Sünde
hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von
der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt
hätte: Laß dich nicht gelüsten" (Röm 7, 7). Die Sünde wird
durch das Gesetz „überaus sündig".
Das Opfer Christi auf dem Kreuze ist der Ausgangspunkt der
Gnade und die feierliche Einführung des Christentums, indem
wir durch unsere Teilnahme an dem Tode Christi unter die
142
Gnade gestellt sind. Durch die Taufe im Namen Jesu sind wir
in Seinen Tod getauft und also mit Ihm, Der aus den Toten
auferstanden und in Macht zur Rechten Gottes erhöht ist, in
Verbindung gebracht. „Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum, unseren
Herrn" (Röm 5, 21). Wir können nur unter der Gnade sein,
indem wir in Christo Jesu sind; und wir sind nur in Christo
in Gnaden durch die Teilnahme an Seinem Tode. „Wenn das
Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein;
wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" (Joh 12, 24). Nicht
nur erwies sich das Judentum mit seinen Opfern und Satzungen nutzlos für den Menschen, sondern sogar die Menschwerdung Christi konnte dem Menschen an und für sich nichts
nützen und ihn ebensowenig zu Gott führen, wie das Judentum. Ein lebendiger und ins Fleisch gekommener Christus blieb
allein. Um andere mit Sich in die Segnungen einzuführen,
mußte Er sterben, wie Petrus sagt: „Der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (1. Petr 3, 18). Nicht
so sehr die Menschwerdung Christi, als vielmehr die Wahrheit
des Kreuzes war für die Juden der Stein des Anstoßes. Wir
lesen, daß die Juden untereinander stritten und sagten: „Wie
kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? Da sprach Jesus
zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß
ihr das Fleisch des Sohnes des Menschen esset, und sein Blut
trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch
ißt und mein Blut trinkt, hat das ewiige Leben, und ich werde
ihn auferwecken am letzten Tage" (Joh 6, 52—54).
Wir können in unseren Tagen, wo eine fleischliche Formreligion ihr Haupt zu erneutem Widerstände gegen Christum erhebt, nicht entschieden genug auf der Grundwahrheit bestehen
daß wir nur durch die Teilnahme an dem Tode Christi in den
Besitz der Segnungen, mit anderen Worten, „unter Gnade"
gelangen können. Außerhalb der Gnade ist alles unter dem
Gericht; denn dort „herrscht die Sünde zum Tode". Unter die
Gnade gebracht, befinden wir uns außerhalb der Sünde und
ihrer Folgen. Das ist mehr, als Vergebung der Sünden zu haben;
und wir sehen hier den offenbaren Gegensatz zwischen dem
Christentum und dem Judentum. Das Judentum war wohl mit
einer teilweisen Sündenvergebung bekannt, befand sich aber
143
vollständig unter der Knechtschaft der Sünde, obwohl ihm das
Gesetz als eine Schranke gegen die Sünde gegeben war. Die
Gnade führt uns eine doppelte Segnung zu — sowohl die Befreiung von der Sünde als einer Natur, als auch die Vergebung
der Sünden als den Früchten dieser Natur; sie ist mithin,
bezüglich der Sünde und der Sünden, der Ausfluß der doppelten Tragweite des Opfers Christi. Christus hat durch Seinen
Tod auf dem Kreuze sowohl die Sünde hinweggenommen, als
auch die Sünden derer getragen, welche glauben. Denn wenn
Er nur unsere Sünden getragen und beseitigt hätte, so würde
Er uns dadurch praktisch auf denselben Boden gestellt haben,
auf welchen die Opfer des Judentums die Juden stellten. Die
Natur der Sünde wäre geblieben und somit die Macht, entweder unser ganzes Leben in Gesetzlosigkeit zuzubringen,
damit die Gnade überströme, oder sich unter den Zügel gesetzlicher Vorschriften zu stellen, dessen Resultat die reine Knechtschaft der Sünde gewesen wäre. Das 6. Kapitel des Römerbriefes begegnet dem ersten dieser beiden Zustände, in welchen
die Gläubigen aus den Nationen in Gefahr standen, hineinzufallen, da sie nie unter Gesetz waren, während der zweite
Zustand mehr den Gläubigen aus den Juden drohte, wovon
das 7. Kapitel uns ein Gemälde liefert. In beiden Fällen ist die
Sünde herrschend, obwohl die Möglichkeit der Vergebung vorausgesetzt ist.
Wir bedürfen also nicht bloß der Vergebung der Sünden, sondern auch der Befreiung von der Sünde selbst. Und diese
haben wir durch das Kreuz. „Denn daß er gestorben ist — er
ist ein für allemal der Sünde gestorben" (Röm 6, 10); und wiederum: „Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch
kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die
Sünde im Fleische verurteilte" (Röm 8, 3). Die Sünde selbst
hat in dem Tode Christi ihr Ende gefunden; und also besitzen
wir durch die Gnade im Gegensatz zum Judentum beides — die
Befreiung von der Sünde und die Vergebung der Sünden. Die
erste dieser gesegneten Wahrheiten ist, sozusagen, die Grundlage des Christentums, und die zweite die daraus entspringende notwendige Folge. Der Gläubige wandelt, nachdem er
bildlich durch die Taufe an dem Tode Christi teilgenommen
144
hat, in Neuheit des Lebens. „Indem wir dieses wissen, daß
unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf daß der Leib der
Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen; denn
wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde" (Röm 6,
6. 7). Der Gläubige ist mit Christo dem ganzen Zustande des
Lebens im Fleische, in dem er sich als ein Kind Adams befand,
abgestorben. So lange er im Fleische war, war er moralisch
lebendig unter dem Gesetz; „denn das Gesetz herrscht über
den Menschen, so lange er lebt". Aber gestorben mit Christo,
ist er nicht nur der Sünde gestorben, sondern auch „getötet
worden dem Gesetz durch den Leib des Christus", so daß er
sowohl dem Gesetz, als auch der Sünde gestorben ist. Der
Apostel sagt: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen;
denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (Röm
6, 14); und: „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue
Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt
hat durch Jesum Christum" (2. Kor 5, 17. 18). Dies ist der
Zustand jedes wahren Gläubigen und das Ergebnis des Werkes
Gottes in unumschränkter Gnade. Es handelt sich hier nicht um
Erfahrungen, sondern um eine Tatsache, die wahr ist und wahr
bleibt. Wir wandeln durch Glauben und nicht durch Gefühle,
wie wir auch gerettet sind durch Glauben und nicht durch Gefühle.
Wir werden nun aufgefordert, uns für tot zu halten und
„festzustehen in der Gnade unseres Herrn Jesu Christi". Was
auch unsere Erfahrungen sein mögen — wir sind, als Gläubige
in Christo, mit Ihm gestorben und auferstanden; und Gnade,
nichts als Gnade ist es, in der wir vor Gott stehen. Und indem
wir also in der Gnade wandeln, haben wir nicht nur ein durch
das Blut Christi gereinigtes Gewissen, die Vergebung der
Sünden, sondern wandeln auch in praktischer Heiligkeit außer
der Macht der Sünde; und die Gnade herrscht sowohl in praktischer Gerechtigkeit, als auch in unserer praktischen Stellung
vor Gott. Möge der Gott aller Gnade, mit dem wir es zu tun
haben, uns, die Gläubigen in Christo, stets in dem Bewußtsein
dieser Gnade erhalten, damit wir völlig verstehen mögen, was
es heißt, nicht „unter Gesetz", sondern „unter Gnade" zu sein.
145
Die Verantwortlichkeit
Um ein klares Verständnis bezüglich des Platzes zu haben,
den der Mensch als eine Kreatur vor Gott einnimmt, ist es
nötig, ihn da, wo wir ihn zuerst finden, nämlich in Eden, zu
betrachten, und von hier aus die Veränderung, welche mit ihm
stattgefunden hat, sowie den Boden der Verantwortlichkeit,
auf dem er sich jetzt befindet, ins Auge zu fassen.
Zunächst finden wir also den Menschen in Eden, und zwar im
Besitz der vollständigen Herrschaft über die Erde mit allem,
was darauf und darinnen ist. Er besaß weder die Heiligkeit,
noch die Gerechtigkeit, sondern war einfach ein unschuldiges
Geschöpf (1. Mo 1, 26—29)
un ^ als solches im Besitz der Herrschaft. Seine Verantwortlichkeit finden wir jedoch erst in dem
ihm gegebenen Gebot (Kap. 2, 16—17) klar ausgedrückt. Während er in vollem Maß nach den ihm verliehenen Freiheiten in
vollkommener Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen
handelte und von allem, was Gott für ihn bestimmt hatte,
einen freien Gebrauch machte, tat er nicht seinen eigenen
Willen, sondern war völlig gehorsam. Ein Kind ist erst dann
ungehorsam, wenn sich sein kleiner Wille im Widerspruch
gegen den Willen der Eltern erhebt. Die Kreatur hatte einen
Willen, dem alles hienieden unterworfen war; aber dieser Wille
mußte rückhaltlos und vollkommen dem höheren Willen unterworfen bleiben. Deshalb war der göttliche Wille der einzige
geltende Wille.
Hier aber gab es einen zweifachen Willen; und es war die
Frage, welcher Wille hier der höchste, und ob der Mensch der
Ausdruck des göttlichen oder des satanischen Willens sein
sollte. Wenn die Kreatur ihren eigenen Willen ausübt, so geschieht es in Opposition gegen den Willen Gottes; und da
Satan die einzige Kreatur war, die dem göttlichen Willen entgegenstand, so wurde der Wille des Menschen, indem er sich
durch Satan verführen ließ, selbst ein satanischer. Hier handelte
es sich nicht um die Macht, sondern um die Anwendung der
Macht. Adam war zwar im Besitz der Macht, aber nicht, um
146
sie gegen Gott zu gebrauchen, sondern sie vielmehr dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Auch wurde er nicht in ihrer
Ausübung verhindert, sondern empfing das Gebot, sie einzuschränken. Seine moralische Vollkommenheit bestand daher
weder darin, daß er nach seinem Belieben handelte noch in der
Freiheit, also handeln zu können, sondern im einfachen Gehorsam; und schon dadurch, daß er dem Gedanken, nach eigenem Gutdünken handeln zu können, Raum ließ, fehlte er, und
die Sünde war da.
Die Verantwortlichkeit gründet sich immer auf ein bestehendes
Verhältnis. Sie läßt sich nicht feststellen, bevor nicht schon das
Verhältnis festgestellt ist. So bestand auch bereits das Verhältnis Adams, ehe noch von seiner Verantwortlichkeit die
Rede sein konnte; und seine Vollkommenheit erwies sich in
einem diesem Verhältnis entsprechenden Wandel. Er war insofern frei, als er, wie sein Fall es bewies, ungehindert und
unumschränkt handeln konnte; aber er hatte nicht die Freiheit,
nach eigenem Gutdünken handeln und seinen eigenen Willen
tun zu können. Da er keine Maschine war, so war nicht seine
Macht, wohl aber seine Freiheit, diese Macht gegen den Willen
Gottes zu gebrauchen, eingeschränkt. Also nach der Stellung,
dem Verhältnis und der Verantwortlichkeit des ersten Menschen in Eden können wir in Übereinstimmung mit der Lehre
der Schrift nicht sagen, daß Adam ein moralisch freies Wesen
gewesen wäre; denn um dieses zu sein, durfte für ihn der
Unterschied zwischen Gutem und Bösem nicht bestehen. Er
war geschaffen für das Gute und hatte es nicht zu wählen, und
das Böse kannte er nicht und konnte es darum nicht wählen;
aber er kannte den Willen Gottes und war gewarnt, diesen
Willen bei Todesstrafe nicht zu übertreten. Darin bestand die
Prüfung, welche den Beweis lieferte, nicht daß die Kreatur
böse sei, sondern daß sie, sich selbst überlassen, nicht bestehen
könne. Der Wille Gottes war in jeder Beziehung für den Menschen so lange genügend, als dieser Wille der Gegenstand
seines Herzens war; aber sobald er ihn aus dem Auge verlor,
sank er, gleich Petrus auf dem Wasser. Denn auch diesem
Apostel war, nachdem er gesagt hatte: „Herr, wenn du es bist,
so befiehl mar, zu dir zu kommen auf dem Gewässer" — von
Seiten des Herrn durch den Zuruf „Komm"! der göttliche Wille
offenbar geworden. Und so lange Petrus mit der göttlichen
147
Person beschäftigt war und auf den in dem Wörtchen:
„Komm!" ausgedrückten Willen Gottes achtete, konnte er auf
dem Wasser wandeln. Dieses kleine Wort war so völlig genügend für ihn, daß er in dessen Kraft, gleich dem Henoch und
dem Elias, in den Himmel hätte hinaufsteigen können, wenn
es eine Forderung nach dieser Richtung hin enthalten hätte.
(Vgl. Ps 33, 6. 9 mit 2. Petr 3, 5.7). Ich spreche selbstredend
nicht von dem Grundsatz des Glaubens jener Männer, sondern einfach von dem genügenden Wort des göttlichen Willens; denn wir hören erst nach dem Eintritt der Sünde vom
Glauben reden.
Der Mensch war in die Gegenwart Gottes gestellt; aber er
besaß weder eine göttliche Natur, noch göttliches Leben, welches nur aus jener entspringen kann. „Da seine göttliche Kraft
uns alles in betreff des Lebens und der Gottseligkeit geschenkt
hat; durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch
Herrlichkeit und Tugend, durch welche er uns die größten
und kostbaren Verheißungen geschenkt hat, auf daß ihr durch
diese Teilhaber der göttlichen Natur werdet, indem ihr entflohen seid dem Verderben, das in der Welt ist durch die Lust"
(2. Petr 1, 3. 4). Die Stellung Adams war nicht durch den
Glauben — der, wie wir später sehen werden sozusagen die
Tätigkeit der neuen oder göttlichen Natur ist — bedingt, wie
die Stellung Abels und seiner Nachfolger (Hebr n , 4 usw.)
nach dem Einritt der Sünde es war, sondern war bezüglich des
Willens von dem Gehorsam abhängig. Alles auf der Erde und
im Meer war dem Willen der Kreatur unterworfen; aber dieser
Wille durfte nur der Ausdruck des göttlichen Willens sein.
Ich wiederhole es daher, daß es in Eden zwei Willen gab; und
der verbotene Baum war als Prüfstein augenscheinlich der
Schlüssel zu der Stellung Adams, indem dadurch die Frage
erhoben wurde, ob der Wille Gottes oder der des Menschen
der höchste sei. Wir erblicken also in dem Menschen in Eden
eine Kreatur, die weder Gerechtigkeit noch Heiligkeit und, in
Ermangelung einer göttlichen Natur, weder göttliches Leben
noch Glauben besaß, sondern die einfach unschuldig war und,
im Besitz der Segnungen und mit Macht ausgerüstet, die Herrschaft über alles unter dem Himmel hatte, die aber selbst —
und durch sie alles unter dem Himmel — unter der Herrschaft
148
Gottes stand, und zwar durch einfachen Gehorsam gegen den
Willen Gottes, ausgedrückt in den Worten: „Von dem Baum
der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon sollst du nicht
essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes
sterben" (r. Mo 2, 17). Dann lesen wir weiter: „Es ist nicht
gut, daß der Mensch allein sei;" und es wurde ihm eine „Hilfe"
gegeben, welche seine Freude und Verantwortlichkeit mit ihm
teilen sollte. Doch nach dem unerforschlichen Ratschluß Gottes
diente diese „Hilfe" dem ersten Menschen zum Verderben,
wurde aber dadurch zugleich die Gelegenheit zur Entfaltung
der noch tieferen Ratschlüsse Gottes in der Erlösung, und verlegte den Ausgangspunkt derHandlungen Gottes gegenüber dem
Menschen von dem Boden der Verantwortlichkeit der Kreatur
auf den Boden der unumschränkten Gnade. Und gerade in ihr,
durch welche der Fall herbeigeführt, die Sünde eingedrungen und
alles unter die Herrschaft des Verderbnisses gebracht war, begann die Hoffnung zukünftiger Segnungen zu dämmern. Augenscheinlich zeigte sich Schwachheit in der Stellung Adams; denn
er konnte nicht selbständig sein und bedurfte einer „Hilfe".
Aber offenbar diente diese „Hilfe" — das Zeugnis der Schwachheit Adams — zur Einführung weit erhabener Segnungen, als
diejenigen waren, welche Adam damals besaß, so daß Eva zugleich der Kanal des Verderbens und der Erlösung, des Fluches
und des Segens, der Qualen der Hölle und der Herrlichkeiten
des Himmels wurde — der Kanal irdischen Glanzes bis aufwärts
zu ewiger Herrlichkeit, sowie auch die Quelle irdischen Kummers und Wehes bis hinab zur ewigen Verzweiflung. Wie
wunderbar!
Hier war also Adams schwächste Seite, und eben hier geschah
der Angriff. Satan schaute weiter als Adam; er strebte nach
dem Umsturz der Herrschaft Gottes auf der Erde und suchte
sich der Segnungen Adams zu bemächtigen. Und wie bald
erreichte er seinen Zweck! Doch Gott schaute weiter als Satan
und hatte Seine Ratschlüsse schon längst gefaßt, bevor Satan
seine finstern Pläne ausführte. Gepriesen sei der herrliche
Name Gottes! Der Untergang der paradiesischen Herrlichkeit
des ersten Menschen war der Aufgang der ewigen, wolkenlosen
Herrlichkeit des zweiten Menschen. Nicht daß wir uns über
den Fall freuen können; o nein, er muß uns vielmehr tief in
149
den Staub beugen; aber wir freuen uns in Ihm, Der hoch erhaben über dem Verderben steht.
Kehren wir indes wieder zu dem Menschen in Eden zurück.
Wir haben seine Schwachheit und den Kanal seines Verderbens
gesehen. Laßt uns jetzt sehen, wo der Wendepunkt seines
Lebens ist, wo seine Unschuld endigt und seine Sünde beginnt.
„Und die Schlange w|ar listiger, als alles Getier des Feldes, das
Jehova Gott gemacht hatte; und sie sprach zu dem Weibe: Ist
es wirklich so, daß Gott gesagt hat: Ihr sollt nicht essen von
jeglichem Baume des Gartens" (i. Mo 3, 1)? Hier haben wir
die kühne Einflüsterung, daß eine Liebe, die etwas verboten
hat, nicht vollkommen sein könne, und daß es keine volle
Glückseligkeit sei, solange die Kreatur noch ein Verlangen
habe, dessen Befriedigung untersagt werde. Durch solche Trugschlüsse wurde Eva verführt; und obwohl ihre Antwort den
Willen Gottes zu berücksichtigen scheint, so verrät sie dennoch
eine Geringschätzung dieses Willens, indem sie ihre eigenen
Gedanken hinzufügt; denn die Worte: „und ihn nicht anrühren", waren nicht der Ausdruck des göttlichen Willens.
Wenn sie fähig war, etwas hinzuzufügen, so war sie auch
fähig, etwas zu verwerfen; und somit war sie vorbereitet für
den zweiten Schritt. „Und die Schlange sprach zu dem Weibe:
Mit nichten werdet ihr sterben, sondern Gott weiß, welches
Tages ihr davon esset, eure Augen aufgetan werden, und ihr
werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses". Jetzt war
jede Schranke niedergerissen; der Wille Gottes ist in ihrem
Herzen beiseitegesetzt; und die Leidenschaft der Luft nimmt
mit völliger Macht Besitz von ihrem Herzen. „Und das Weib
sah, daß der Baum gut zur Speise, und daß er eine Lust für
die Augen, und der Baum begehrenswert wäre, um Einsicht zu
geben; und sie nahm von seiner Frucht und aß, und gab auch
ihrem Manne mit ihr, und er aß". —Hier ist der Wendepunkt im
Leben des ersten Menschen. Wenn der Wille Gottes verworfen
ist, dann ist der Wille des Menschen der höchste auf Erden;
und dies wäre wirklich genug gewesen, Gott gleich zu sein.
Aber der Mensch war zu töricht, um zu bedenken, daß durch
die Verwerfung des Willens Gottes der Wille Satans geltend
gemacht wurde, und daß er durch sein eigenwilliges Handeln
in Opposition gegen den Willen Gottes ein Sklave Satans
ISO
geworden sei. Und so ist es gekommen, daß das „Bild Gottes"
durch einen Fall verunstaltet und das „Gleichnis" Gottes,
bezüglich der Herrschaft des Menschen als Haupt, der
Ausdruck des eigenen Ichs und des satanischen Willens geworden ist. Deshalb ist der „Wille des Fleisches", oder die „Gesinnung des Fleisches Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem
Gesetz Gottes nicht Untertan, denn sie vermag es auch nicht"
(Röm 8, 7). „Und Adam lebte hundertunddreißig Jahre und
zeugte einen Sohn in seinem Gleichnis, nach seinem Bilde"
(1. Mo 5, 3). So ist es Satan gelungen, den Willen Gottes durch
den Willen der Kreatur zu verdrängen; und die Kreatur ist
durch eigene Wahl und eigenen Willen ein Sklave des Teufels
geworden und zeugt ihre Nachkommenschaft nach ihrem
Gleichnis und ihrem Bilde.
Wir haben also zunächst gesehen, daß die Verantwortlichkeit
Adams darin bestand, dem Verhältnis der Unschuld und der
Segnung in der Gegenwart Gottes gemäß, in vollkommenem
Gehorsam zu wandeln; und daß zweitens die „Hilfe", die Gott
ihm nach Seiner Weisheit zur Seite stellte, der Kanal sowohl
seines Verderbens, als auch seiner Erlösung sein sollte; denn
des „Weibes Samen sollte der Schlange den Kopf zermalmen".
Und drittens war der Wendepunkt in seiner Stellung, daß sein
Wille, indem der sich durch die Verführung Satans über den
Willen Gottes erhob, selbst satanisch und er als Mensch moralisch nach seinem Willen ein Sklave des Teufels wurde, während er seine Freiheit — eine freie, aber immerhin böse Tätigkeit — fern von Gott unter dem Urteil des Todes behauptet.
Aber dieser Wendepunkt erscheint uns noch auffälliger, wenn
wir unseren Blick auf den zweiten Menschen richten, Der im
Gegensatz zu dem ersten sagte: „Siehe, ich komme, um deinen
Willen, o Gott, zu tun"; und: „Ich bin nicht gekommen, meinen
Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt
hat". — Nichts tritt klarer in den Evangelien hervor, als dieser
eine Punkt, nämlich der vollkommene Gehorsam des „zweiten
Menschen". Er hatte keinen eigenen Willen und suchte nichts
für Sich Selbst; alles wurde ihm von oben gegeben (vgl. Joh 5,
19. 20. 31; 8, 26. 29; 12, 50; 15, 10). Auf demselben moralischen Platze, auf dem der erste Mensch gefehlt hatte, triumphierte der zweite Mensch: und diese Tatsache tritt uns in der
151
Versuchungsgeschichte in der Wüste in auffälliger Weise vor
Augen. Satan begegnete dem Herrn auf dem gleichen Boden, auf
dem Adam fiel, indem er Ihn zu verleiten suchte, gleich jenem
Seinen eigenen Willen zu tun und, als Ihn hungerte, Seine
Bedürfnisse zu befriedigen. Aber der Herr, als der „zweite
Mensch", lebte nicht vom Brot allein, sondern von jeglichem
Worte Gottes. Hier gab es keine Hintergedanken, keine Geringschätzung des göttlichen Willens, der seinen Ausdruck in
den Worten fand: „Nicht von Brot allein soll der Mensch
leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes
ausgeht" (Mt 4, 4). Er konnte sagen: „Der mich gesandt hat,
ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit
das ihm Wohlgefällige tue" (Joh 8, 29). Alles, was von dem
ersten Menschen in seinem besten Zustande vor seinem Fall
gesagt werden konnte, war nach der Schätzung Gottes in den
Worten ausgedrückt: „Sehr gut!" — wenn Gott aber Seiner
Würdigung bezüglich des „zweiten Menschen" Ausdruck
geben wollte, so konnte dies nur aus dem geöffneten Himmel
durch den Ruf des Vaterherzens geschehen. „Dieser ist mein
geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe".
Unsere ersten Eltern befanden sich, wie bereits bemerkt, in
Eden — dem Garten der Wonne Gottes. Sie waren nackt und
schämten sich nicht; aber nach dem Eintritt Satans wurden in
Folge ihres Ungehorsams ihrer beider Augen aufgetan und sie
wurden gewahr, daß sie nackt waren. Beschämt zogen sie sich
in die Mitte der Bäume des Gartens zurück; denn sie waren
nicht länger passend für die Wonne Gottes; und sofort begannen sie, das Böse zu heilen, indem sie mit zusammengeflochtenen Feigenblättern ihre Blöße zu bedecken suchten.
Dieser neue Zustand der Dinge besteht einfach darin, daß
Adam selbst aus Eden verlangte, weil er sich unfähig fühlte,
länger darin bleiben zu können; und er kann nie wieder dahin
zurückverlangen. Er ist „weise" geworden und kennt das Gute
und Böse. Das Gute kannte er schon vorher, aber nun kennt
er auch das Böse; und diese Erkenntnis hat ihn weise gemacht.
Er hat Erkenntnis erlangt, und „Erkenntnis bläht auf". Er hat
eine Erkenntnis und Weisheit erlangt, die er nie wieder verlieren wird und er hat sich in einen Zustand gebracht, von dem
152
er sich niemals wieder befreien kann. Er kann weder seine
verlorene Unschuld zurückrufen, noch seiner nun erlangten
Erkenntnis sich entledigen oder seine Sünde ungeschehen
machen; und er ist nicht mehr passend für die Wonne oder
das Wohlgefallen Gottes. „Da schickte ihn Jehova Gott aus
dem Garten Eden heraus". Gott hatte ihn passend gemacht für
die Segnungen in Seiner Gegenwart; er selbst aber
hat sich passend gemacht für Kummer, Elend und
Zorn, wovon er sich nie selbst wieder befreien kann.
Ja, was noch schlimmer ist, er hat auch jedes Verlangen, befreit zu werden, verloren; denn sobald seine
Augen über seinen Zustand geöffnet sind, gebraucht er —
anstatt sich zu Gott, der alleinigen Hilfsquelle, zu wenden —
seine neu erlangte Erkenntnis und Weisheit, um sich selbst zu
helfen. Die Verantwortlichkeit Adams nach dem Fall bestand
nicht darin, das Verlorene wiederzuerlangen, wozu ihm die
Macht fehlte, und das Gott durch ein „flammendes Schwert"
unmöglich gemacht hatte, sondern darin, Gott anzuerkennen
und seinen Platz als Sünder einzunehmen, bis Gott für ihn ins
Mittel trat. Wir haben hier also zwei Tatsachen, nämlich daß
der Mensch ein Sünder ist, und daß seine einzig wahren Hilfsquellen in Gott sind. Aber ach! seit er weise geworden ist,
glaubt er seine Hilfsquellen in sich selbst finden zu können.
Wenn Gott Barmherzigkeit erweisen kann, so ist es in bezug
auf die Sünde; und wirklich, Er kann für einen Sünder etwas
Besseres ins Leben rufen. Es handelt sich dabei keineswegs
um eine Wiederherstellung in Eden; denn Gott verbessert nie
das, was der Mensch verderbt hat; sondern Er schafft etwas
Besseres um Seiner Selbst willen und bietet dem Menschen Sein
eigenes Heilmittel an. Er versorgte den Menschen in seinem
neuen Zustande mit dem, was für ihn ein Unterpfand und
Vorbild zukünftiger Segnungen war, „Und Jehova Gott machte
Adam und seinem Weibe Röcke von Fell und bekleidete sie"
(1. Mo 3, 21). Es ist sehr gesegnet, diese Grundwahrheit zu
verstehen und klar im Bewußtsein zu haben, daß Gott nicht
allein für den unschuldigen Menschen, sondern noch vielmehr
für den verlorenen Sünder die einzige wahre Hilfsquelle ist.
Gott war genug, völlig genug für den unschuldigen Menschen,
und Er ist auch völlig genug für den verlorenen, ruinierten
153
Sünder. Die köstliche Wahrheit wird zwar als eine Lehre vielfach anerkannt, aber ach! in welch geringem Grade verwirklicht. Es handelt sich keineswegs um die Frage, was der Mensch
— sei es für sich selbst oder für Gott — zu tun vermöge, sondern einfach um die Anerkennung, daß Gott, voll Barmherzigkeit in bezug auf die Sünde, etwas für den Sünder tun könne.
Die Verantwortlichkeit des gefallenen Menschen besteht also,
mit einem Wort, einfach darin, seinen Platz als Sünder und
Gott als den Geber anzuerkennen und auf Ihn zu warten. Dies
ist Glauben, sowie ein Grundsatz, der uns besonders in der
Geschichte Kains und Abels (Kap. 4) klar vor Augen gestellt
wird. Zwar zollt Kain dem Jehova Gott eine gewisse Anerkennung, indem er ein Opfer darbringt; aber es war kein Sündopfer, und darum kann Gott den Opferer nicht anerkennen.
„Aber auf Kain und sein Opfer blickte er nicht" (V. 5). Die
Verwerfung des Opfers war zugleich eine Verwerfung des
opfernden Kains. Indem er Gott durch das Opfer der Früchte
des Landes anerkennen will, weigert er sich, seinen eigenen
Platz als Sünder einzunehmen; und eben dieses war die Ursache seiner Verwerfung. „Wenn du nicht wohl tust, so lagert
ein Sündopfer vor der Tür" (V. 7); d. h. solch ein Sündopfer,
wie Abel dargebracht, und wodurch auch dir der Weg zur Annahme geöffnet ist, befindet sich in deiner Nähe. — Gott bewies hier offenbar Geduld und Nachsicht gegen Kain; aber
dieser hatte kein Herz dafür. Es gab Vergebung und überströmende Gnade bei Gott, aber Kain begehrte weder das eine,
noch das andere; er wünschte zwar, ein Bekenner zu sein; aber
nach Gott Selbst hatte er kein Bedürfnis. Er mochte sehr freigiebig und religiös in der Darbringung seines Opfers sein und
mit großer Andacht dabei zu Werke gehen; aber dieses alles
stammte aus dem Fleische und konnte deshalb Gott nidit gefallen. Und nicht allein dieses. Kain beschimpfte auch die Heiligkeit Gottes indem er durch die Darbringung der Resultate
seiner eigenen Wirksamkeit die Früchte eines Landes opferte,
auf dem der Fluch ruhte, und mithin leugnete er das Dasein
der Sünde. Er maßte sich an, Gott durch das zu gefallen, was
ihm zuerst selbst gefallen hatte. Das ist die Gesinnung der
Welt, welche hier ihren Anfang nahm (1. Joh 2, 15—17). Man
will ein Bekenner Gottes sein, aber man will nicht den eigenen
wahren Platz und Charakter vor Gott bekennen.
154
In Abel erblicken wir einen völligen Gegensatz davon. Er ist
der von der Bibel erwähnte erste Mann des Glaubens (1. Mo 4,
4; Hebr 11, 4). Abel brachte sein Opfer, nicht um sich selbst,
sondern Gott zu gefallen. Er kam mit den Erstlingen der
Herde, um sie als ein Opfer darzubringen; und dadurch legte
er erstens ein Zeugnis ab, daß er Gott in seinem wahren Charakter anerkennt, und zweitens, daß er durch die Darbringung
eines Sündopfers den Platz vor Gott einnimmt, der ihm zukommt, und drittens, daß er in der Art und Weise seiner Darbringung die Worte bestätigt: „Ohne Blutvergießung ist keine
Vergebung". — „Und Jehova blickte auf Abel und sein Opfer;
aber auf Kain und sein Opfer blickte er nicht".
Geliebter Leser! Gewahrst du diesen Unterschied zwischen
der Anmaßung Kains und dem Glauben Abels? Die Stellung
des Kain war eine eigenwillige, selbstgerechte und gesetzlose
Stellung, die vom Abel bildet gerade das Gegenteil davon. Bei
Abel finden wir kein Vertrauen auf sich selbst oder auf Fleisch,
keinen Eigenwillen, keine Selbstgefälligkeit, sondern er nimmt
als ein unter dem Gericht stehender Sünder seinen Platz ein.
Er beugt sich unter Gott in der völligen Anerkennung dessen,
was sich für die Heiligkeit Gottes geziemt. Und dies war der
Platz der Segnung in der Nähe des Herzens Gottes, indem er
bald in der Gegenwart Dessen Eingang fand, Dessen Herz so
erhaben befriedigt worden war durch den Glauben, welcher
Ihn, den Herrn, so hoch geehrt hat. Das Opfer Abels zeugte
von dem Glauben, das Opfer Kains hingegen von dem Unglauben des Darbringers, sowie die Mordtat Kains von dessen
Gesetzlosigkeit. In Abel erblicken wir also den Glauben, in
Kain die Gesetzlosigkeit, den Geist „dieser gegenwärtigen
bösen Welt".
Die Fußwaschung
(Johannes 13, 1—17)
Man hat, und zwar mit Recht und zu wiederholten Malen,
darauf hingewiesen, daß der Herr Jesus in Seinen Handlungen
und Gesprächen, die wir in den Kapiteln 13 bis 17 des Evangeliums Johannes aufgezeichnet finden, Sich im Geiste zwischen
Seine Auferstehung und Himmelfahrt stellt. Auch charakteri155
sieren sich die Handlungen und Gespräche dadurch, daß sie
nicht mehr in Beziehung zur Welt stehen, sondern sich auf den
engen Kreis Seiner Jünger beschränken. Wir finden hierfür
einen Beweis in den Worten: „Das Werk habe ich vollbracht,
welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte . . . Nun
aber komme ich zu dir . . . Ich bin nicht mehr in der Welt".
— Es ist klar, daß, als der Herr diese Worte sagte. Er noch
vor dem Kreuze stand und noch nicht in Wirklichkeit das Werk
der Erlösung vollbracht hatte. Er versetzte Sich also im Geiste
in jenen Augenblick, wo alles völlig vollbracht war.
In dem uns vorliegenden Abschnitt ist der Herr Jesus beschäftigt, die Füße Seiner Jünger zu waschen und auf diese Weise
eine Reinigung zübewirken, die für den Wandel unerläßlich nötig
war. Selbstredend dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren,
daß hier von zwei Arten von Reinigung die Rede ist. Der Fußwaschung ist eine andere Reinigung vorangegangen, woran
der Herr durch die an Petrus gerichteten Worte erinnert: „Wer
gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen
die Füße, sondern ist ganz rein" (Kap. 13, 10). Jedoch handelt
es sich hier eigentlich nicht um das Versöhnungswerk Christi,
dessen Blut uns von allen Sünden gereinigt hat, obwohl dieses
Werk der Grund von allem ist, sondern das Mittel dieser
Reinigung ist das Wasser — ein Bild des durch den Heiligen
Geist angewandten Wortes. Sicher sind im Blick auf das Opfer
Christi unsere Sünden vollkommen und für ewig hinweggetan,
so daß wir jeden Augenblick in den Himmel eintreten können.
Wenn der Herr Jesus kommt, kann Er uns, Dank Seinem für
uns vergossenen Blut, zu jeder Zeit in den Himmel aufnehmen und uns in die Gegenwjart Seines Vaters bringen, der
nicht den geringsten Flecken an uns sieht. Wir sind nicht so
rein, wie wir denken, sondern so rein, wie Gott es will. Wir
sind durch das Blut Christi nicht nach einem menschlichen, sondern nach einem göttlichen Maßstab gereinigt. „Ganz rein",
sagt der Herr; nicht ein einziger Flecken ist zurückgeblieben.
Dieses zu verstehen, ist für die Ruhe des Gewissens durchaus
erforderlich. Für den Himmel halten wir uns oft nicht rein
genug, und das ist die Ursache unserer Furcht; für die Erde
halten wir uns oft reiner, als wir wirklich sind, und das ist die
Ursache unserer Eigengerechtigkeit. Doch gerade das Gegenteil
ist wahr. Wir sind für den Himmel reiner, als wir uns vor156
stellen, und für die Erde oft mehr befleckt, als wir vermuten;
und darum müssen stets unsere Füße gewaschen werden.
Aber hier handelt es sich, wie bereits bemerkt, nicht um eine
Reinigung durch das Blut, sondern um eine Reinigung durch
das Wasser. Dieser Dienst Christi hat die Wirkung, daß der
Heilige Geist in praktischer Weise durch das Wort alle Verunreinigungen beseitigt, die wir uns im Wandel durch diese Welt
der Sünde zuziehen. Auf unserem Wege kommen wir in Berührung mit dieser Welt, die Christum verworfen hat; und Er
reinigt uns von ihrer Befleckung durch den Heiligen Geist und
das Wort. Wir bedürfen einer Reinheit, die der Gegenwart
Gottes entspricht. Jedoch handelt es sich hier nur um die Füße.
Die in der Stiftshütte dienenden Priester wurden bei ihrer
Einweihung gewaschen; und diese Waschung wiederholte sich
nicht. Ebenso verhält es sich mit uns. Wir sind einmal wiedergeboren aus Wasser und Geist, und dieses geschieht nicht von
neuem. Aber so wie die Priester, so oft sie zu ihrer Dienstverrichtung zu Gott nahten, ihre Hände und Füße wuschen, so
bedürfen auch wir stets der Fußwaschung. Hier ist es der
Dienst Christi, der Dienst Seiner Liebe. Er legt die Oberkleider
ab, umgürtet Sich mit einem leinenen Tuch und gießt Wasser
in das Waschbecken. Obschon Er Lehrer und Herr war, verrichtet Er hier doch die Arbeit eines Sklaven; und nachdem Er
Seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, sagt Er: „So seid auch
ihr schuldig, einander die Füße zu waschen; denn ich habe euch
ein Beispiel gegeben, auf daß, gleichwie ich euch getan habe
auch ihr tut". — Hieraus ersehen wir, daß wir schuldig sind,
uns einander die Füße zu waschen; der Herr Jesus hatte nicht
diese Pflicht, denn Er war ihr Lehrer und Herr. Dennoch tut
Er es, während wir, deren Pflicht es ist, es oft unterlassen.
Der Herr hat uns ein Beispiel gegeben, nicht nur daß wir, sondern wie wir einander die Füße waschen sollen. Zu diesem Zwecke
müssen wir die Oberkleider ablegen und uns mit einem leinenen Tuch umgürten; mit anderen Worten: wir müssen uns
erniedrigen und Knechte werden. Dazu bedarf es einer gebeugten und knieenden Stellung. Stehend vermag man wohl den
Kopf, aber nicht die Füße zu waschen. Wie der Herr, so müssen
auch wir uns bücken, um dieses Werk verrichten zu können.
Er wäscht nur die Füße und nicht, ob es auch Petrus begehren
157
mochte, die Hände und das Haupt. Wir möchten im Gegenteil
oft lieber die Hände und das Haupt, als die Füße waschen. Wir
beginnen leider oft mit dem Haupt, während wir uns mit den
Füßen beschäftigen sollten. Auch vergessen wir oft, wie der
Herr das Wasser — dieses Bild des Wortes — in ein Becken zu
gießen; denn nur das unter der Leitung des Heiligen Geistes
angewandte Wort ist imstande, uns von den Verunreinigungen in unserem Wandel zu befreien.
Vor allen Dingen sollen wir stets daran denken, daß wir nur
dann jemandem in Wahrheit die Füße waschen können, wenn
dies in dem Geiste und der Gesinnung des Herrn geschieht.
Wir müssen in Seiner Gemeinschaft sein und in Seinem Geiste
wandeln. Wie oft mangelt dieses! Wie oft sind wir hart und
aufgeregt und mit Bitterkeit gegen den erfüllt, dessen Füße
wir waschen wollen! In einem solchen Zustande ist es aber
sicher besser zu Hause zu bleiben und nichts zu tun. Der Herr
ist nicht schuldig, uns die Füße zu waschen; nur Seine Liebe
drängt Ihn zu dieser Arbeit. Er will uns so gern in Seiner Gemeinschaft haben, weil Er weiß, daß wir nur dann glücklich
sind. Vor Beginn der Fußwaschung lesen wir: „Da er die Seimgen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans
Ende". — Die Liebe war also die Quelle, aus der alles hervorströmte. Wo es an der Liebe mangelt, da kann eigentlich von
einer Fußwaschung keine Rede sein; denn dann sind wir, selbst
wenn wir noch so richtig das Wort anwenden, unfähig, dieses
Werk in dem Geiste des Herrn zu verrichten.
Petrus wollte nicht zugeben, daß der Herr ihm die Füße waschen
sollte, indem er sagte: „Du sollst nimmermehr meine Füße
waschen!" Der Gedanke, daß der Herr die Arbeit eines Sklaven
verrichten sollte, war ihm unerträglich. Jedoch als der Herr
sagte: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit
mir!" — zeigte er sich alsbald bereit, indem er rief: „Herr, nicht
meine Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt".
Kein Teil mit Jesu zu haben, das war ihm schrecklich; schon
allein der Gedanke daran genügte, um ihn willig zu machen;
denn für die Teilgenossenschaft mit Jesu opferte er alles auf.
Steht es so auch mit uns? In diesem Falle werden wir uns,
wie Petrus, dem Herrn willig übergeben, um uns durchlhn reini158
gen zu lassen. Was könnte auch wertvoller sein, als eine Teilhaberschaft mit Jesu? Und dennoch geschieht es nicht selten, daß wir uns
weigern und uns nicht die Füße waschen lassen wollen, wenn
auch aus anderen Gründen, als bei Petrus. Wir können es oft
nicht begreifen, warum es nötig ist, daß der Herr ein solches
Werk an uns vollzieht. Dann aber gilt das an Petrus gerichtete
Wort Jesu: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber
hernach verstehen". Wie oft kommt es im Leben vor, daß wir
fragen: „Warum dieses, warum jenes?" — und die Antwort des
Herrn ist: „Du wirst es hernach verstehen". Wenn wir einmal
in der Herrlichkeit sein werden, und im Lichte Gottes alles
offenbar sein wird, dann werden wir sicher mit Asaph sagen:
„Ich war dumm und wußte nichts; ein Tier war ich bei dir"
(Ps 73, 22). Ja, dort werden wir in den Wegen, die uns hier
auf Erden unbegreiflich sind, die liebreiche Hand des Herrn
erkennen, Der uns solche Pfade führte, um uns von allem zu
reinigen, was unsere Gemeinschaft mit Ihm störte, und wir
werden begreifen, wie der Herr stets für uns gesorgt und uns
vor vielem Bösen bewahrt hat.
Wie gesegnet, zu wissen, daß zwischen Gott und uns jede
Scheidewand niedergerissen ist, und daß aus Seinem Herzen
uns nur Liebe und Gnade entgegenströmt. Aber auch wie
wlichtig und nötig ist es für uns, daß wir uns nicht weigern,
wenn der Herr uns die Füße waschen will! Wenn unsere Füße
unrein und schmutzig sind, oder, mit anderen Worten
unser Wandel befleckt ist, kann Er nicht mit uns sein. Möge es
daher unser Verlangen sein, durch Ihn, selbst wenn es schmerzlich für unsere Natur ist, gereinigt zu werden. Je mehr wir uns
reinigen lassen, um so sorgfältiger wachen wir über uns, und
desto unerträglicher ist uns jeder Flecken. Wenn wir uns
hingegen daran gewöhnen, mit unreinen Füßen zu gehen, wird
es uns bald auf einen Flecken mehr oder weniger nicht ankommen. Oh, wie betrübend und entehrend für Jesu! Er will
so gern jede Unreinheit beseitigen. Wir können damit ruhig
zu Ihm gehen; nur dann werden wir wirklich glücklich sein,
den Herrn genießen und zu Seiner Verherrlichung wandeln
können, bis wir die goldenen Straßen des himmlischen Jerusalems, wo kein Schmutz uns mehr verunreinigen kann, durchschreiten und uns in dem vollen Genuß der herrlichen Früchte
des Werkes Christi befinden werden.
159
Vergeben und vergessen
„Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr
gedenken" (Hebr 10, 17). Man sagt gewöhnlich unter den
Menschen: „Ich will wohl vergeben, aber ich kann nicht vergessen". Die menschlichen Gefühle mögen zu Zeiten das Herz
so sehr erfüllen und einnehmen, daß die Erinnerung an meine
Vergehungen keinen Raum darin finden; doch diese Erinnerung kehrt nach dem Maße zurück, wie diese Gefühle gegen
mich abnehmen und schwach werden. Anders aber ist es mit
der Liebe Gottes. Ihr Strom ist so mächtig und so vollkommen,
daß er nicht nur unsere Missetaten bedeckt, sondern sie für
immer bedeckt. Es bleibt keine Spur davon zurück; sie kommen
nie mehr in das Gedächtnis Gottes. „Ihrer Sünden und ihrer
Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken". Gott kann
nicht allein vergeben, sondern auch vergessen. Unvergleichliche
Liebe!
Hier ist wahre Ruhe für ein aufgewachtes Gewissen. „Das
Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller
Sünde" (1. Joh x. 7). Das Auge einer unermeßlichen Heiligkeit
kann nicht einen Flecken von Sünde auf dem Gewissen dessen
entdecken, der durch das Blut Christi gereinigt ist. Alle Sünden
und Gesetzlosigkeiten des Glaubenden sind für immer in das
Meer ewiger Vergessenheit versenkt. Gott hat Sich mit Seinem
eigenen Worte dafür verbürgt, daß Er nie mehr daran gedenken werde. „Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und
sieht kein Unrecht in Israel". Das Blut Christi hat alles Böse,
alles Unrecht für immer beseitigt. Gottes Auge ruht jetzt auf
diesem kostbaren Blute, wodurch Er zugleich völlig verherrlicht worden ist; und nie mehr kann die Sünde dessen, der an
Christum glaubt, zwischen ihn und Gott treten. Köstliche,
gesegnete Wahrheit.
160
Das Abendmahl des Herrn
„Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, in welcher er
überliefert wurde, Brot nahm, und als er gedankt hatte, es
brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist, dies tut
zu meinem Gedächtnis. Gleicherweise auch den Kelch nach dem
Mahle und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem
Blute; dieses tut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis.
Denn so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1. Kor 11,
23—26). „Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht
die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir
brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus?
Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen; denn wir alle sind
des einen Brotes teilhaftig" (1. Kor 10, 16. 17).
Diese Worte Pauli umfassen in kurzen Zügen alles, was bezüglich des Abendmahls des Herrn in der Schrift gelehrt wird.
Verweilen wir daher etliche Augenblicke bei den Einzelheiten
und erwägen wir unter der Leitung des Heiligen Geistes den
herrlichen Inhalt der Worte.
Was uns zunächst und vor allem ins Auge fällt, ist die unaussprechliche Liebe Jesu, die uns hier entgegenstrahlt. In der
Nacht, da Er überliefert ward, nahm Er das Brot. Wie herrlich,
teurer Leser! Beachten wir es wohl: in jener Nacht, als sich die
Macht der Finsternis auf Ihn stürzte, als Satan seine feurigen
Pfeile auf Ihn abschoß, als die Wut der Menschen den Höhepunkt erreichte, als einer der Zwölfe Ihn mit einem Kuß überlieferte, und, — was alles andere weit überragt —, als einige
Stunden nachher der Zorn Gottes über Ihn ausgeschüttet wurde und Er, von Gott verlassen, ganz allein am Kreuze hängen
sollte, da nahm Er das Brot und dankte. In jener Nacht der
Leiden und der Tränen konnte Er, die eigenen Leiden vergessend, an die Freude der elf Jünger, an unsere Freude denken;
denn nicht nur für sie, sondern auch für uns und für alle, die
durch ihr Wort an Ihn glauben würden, setzte Er das Abendmahl
161
ein. „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit
euch zu essen, ehe ich leide", hatte Er gesagt, und dieses galt
nicht so sehr dem Passahmahl selbst, als vielmehr dem, was Er
am Ende desselben Seinen Jüngern zu schenken gedachte. Doch
nicht nur hier zeigte sich der Strahl der Liebe Jesu. O nein,
noch ein anderer trefflicher Beweis wird uns bezüglich dieser
Liebe gegeben. „Ich habe es von dem Herrn empfangen, was
ich auch euch überliefert habe", sagte Paulus.Dieser Apostel war
bei der Einsetzung des Abendmahls nicht anwesend gewesen:
er war in jener Zeit noch ein Feind Jesu. Aber der Herr hatte
ihn durch eine Offenbarung mit dieser Einsetzung bekanntgemacht. Er war, wie er uns im Galaterbrief sagt, nicht nach
Jerusalem gegangen, um durch die Zwölfe die Lehre und die
Einsetzungen Jesu zu erfahren, sondern der Herr hatte ihn
durch Offenbarung mit allem bekanntgemacht. Es ist köstlich,
zu wissen, daß der verherrlichte Herr im Himmel und der
leidende Herr auf Erden ein und derselbe in Liebe, Treue und
Güte ist. In der Nacht, da Er überliefert wurde, nahm Er das
Brot, und zur Rechten Gottes mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, gab Er die Einsetzung des Abendmahls, — das Unterpfand Seiner unveränderlichen Liebe —, dem Apostel der Nationen, um sie Seiner geliebten Versammlung zu überliefern.
Ja, unser Heil ist Seine Freude, unser Wachstum in der Gnade,
unsere Zunahme im Glauben und in der Liebe, unsere Freude
— alles ist Sein Verlangen.
Dieses zeigt uns, zu welchem Zweck der Herr das Abendmahl
uns gegeben hat, jedenfalls nicht zur Vergebung der Sünden.
Eine solche Bedeutung hat zwar die christliche Kirche hineingelegt, obwohl nichts weiter als dies von den Gedanken des
Herrn entfernt ist. Wir treten nicht an den Tisch des Herrn,
um dort Vergebung der Sünden zu finden, sondern weil wir
durch den Glauben an Ihn diese Vergebung gefunden haben.
„Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen,
ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus?" Wir
haben Anteil an dem Leibe und Blute Christi; und das Brot
und der Kelch sind davon der Ausdruck. Sie zeugen uns von
der unaussprechlichen Liebe Christi, Der Seinen Leib für uns
dahingegeben und Sein Blut vergossen hat zur Vergebung
162
unserer Sünden. Darum sagt der Apostel: „Der Kelch der
Segnung, (Danksagung) den wir segnen usw." Der Tisch des
Herrn bildet die Stätte, wo wir unseren Dank darbringen für
Seine Liebe und Sein für uns vollbrachtes Werk. Jesus nahm
das Brot und dankte. Wie schrecklich die Umstände auch waren,
in denen Er Sich in dieser Nacht befand, und deren Er Sich
vollkommen bewußt war — dennoch dankte Er, denn Er war
auf dem Wege, das Werk unserer Versöhnung zu vollbringen,
wodurch wir von allen unseren Sünden gereinigt und auf ewig
Sein Eigentum werden sollten. Und wir können danken; denn
das Werk ist vollbracht, die Versöhnung geschehen, unsere
Sünden sind beseitigt, und wir sind für ewig Sein Eigentum.
Wir treten daher nicht an den Tisch des Herrn, um hier über
unsere Sünden zu trauern, sondern um uns ihrer Vergebung
zu erfreuen und die unendliche Liebe des Herrn zu preisen.
Dort muß das Gefühl des Dankes unser Herz erfüllen und
feierliches Lob über unsere Lippen fließen. Wir sitzen dort mit
dem Bewußtsein der Vergebung unserer Sünden durch das
kostbare Blut Jesu und mit der Gewißheit unserer Gemeinschaft mit Ihm, und wir empfangen aus Seiner Hand die Zeichen Seines Leidens und Sterbens, die Pfänder Seiner ewigen
Liebe. Fehlt uns diese Gewißheit, so ist der Tisch des Herrn
nicht der Platz, wo es uns gestattet ist zu sitzen. Wie können
wir den Kelch der Segnung segnen, wenn keine Danksagung
in unseren Herzen ist? Und wie können wir danken, wenn wir
nicht unserer Gemeinschaft mit Christo versichert sind? Dann
sind wir zwar fähig zu bitten, aber nicht fähig zu danken.
Doch gerade um unseren Dank darzubringen, sind wir gekommen; um ein Fest der Freude zu feiern, sind wir anwesend.
So wie einst die Kinder Israel nach der Vertilgung ihrer Feinde
am Ufer des Roten Meeres das Loblied ihrer Befreiung anstimmen konnten, so können auch wir, sitzend um den Tisch
des Herrn, und zwar mit den Beweisen unserer Erlösung vor
unseren Augen, ums der Liebe Jesu erfreuen und Ihn loben
und preisen.
Dann ist das Abendmahl ein Gedächtnismahl. „Dies ist mein
Leib, der für euch ist; dies tut zur meinem Gedächtnis . . .
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; dies tut, so
oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis". Das waren die Worte
163
des Herrn, als Er das Abendmahl einsetzte. Jesus ging hin zu
Seinem Vater. Nach der Vollendung des Werkes der Versöhnung und Erlösung sollte Er Sich zur Rechten der Majestät
in der Höhe setzen, um droben im Vaterhause für die Seinigen
eine Stätte zu bereiten. Die Seinigen sollten daher allein auf
Erden zurückbleiben. Und nun bereitet der Herr ihnen einen
Tisch, um welchen sie sich als Seine Freunde versammeln und
Sein Gedächtnis feiern sollten. Wie herrlich! Das menschliche
Auge schaut Ihn nicht. Er ist im Himmel; aber hier kommen
wir zusammen und empfangen aus Seiner Hand das Brot
und den Kelch und erinnern uns Seiner unaussprechlichen
Liebe. Wir reden und singen hier von Seiner Liebe und Treue,
von Seinem Leiden und Sterben, von Seiner Herrlichkeit. Er
bildet hier den Mittelpunkt unserer Betrachtung, den Gegenstand unserer Freude und Anbetung. Wir sind nicht hier, um
etwas zu hören oder zu lehren, sondern um Ihn zu verherrlichen, von Ihm zu zeugen, Ihn zu preisen und zu rühmen.
O wie viel können wir an diesem Tische genießen! Oder ist
der Gedanke an Seine Liebe, ist es Seinen herrlichen Namen
zu preisen, kein Genuß für die Seele? Wird das Herz nicht
erquickt, wenn das Auge auf die Herrlichkeit und Schönheit
Jesu gerichtet ist? Dient es uns nicht zu einer unaussprechlichen Freude, solch einen treuen, guten Freund voll von unendlicher Liebe zu haben? — einen Freund, der Sein eigenes
Leben für uns geopfert hat, damit wir, von Tod und Sünde
erlöst, Seine Herrlichkeit mit Ihm teilen sollten? Ja, wahrlich,
am Tische des Herrn steht Er vor uns in all Seiner Herrlichkeit
und Schönheit, in Seiner anbetungswürdigen Liebe und Güte.
Und die Folge davon für uns ist, daß wir uns selbst mehr und
mehr vergessen lernen, um an Ihm unsere Wonne zu haben.
Wir lernen, von uns abzusehen, um uns mit Ihm, mit Ihm
allein zu beschäftigen.
Darum dient das Abendmahl zur Stärkung unseres Glaubens
und zur Vermehrung unserer Liebe. Freilich erscheinen wir
nicht zu diesem Zwecke am Tische des Herrn; o nein, ^lie
Gedächtnisfeier unseres Herrn und Heilandes ist der einzige
Zweck unseres Zusammenkommens. Wir kommen nicht, um
an uns selbst — sei es in betreff unserer Sünden, unseres
Wachstums oder unseres Genusses — zu denken, sondern wir
164
kommen, um uns ausschließlich mit Jesu zu beschäftigen. Doch
die Stärkung unseres Glaubens, die Vermehrung unserer Liebe
ist eine notwendige Folge dieser Gedächtnisfeier. Wir scharen
uns um das Brot und den Kelch, diese Zeichen Seines zu unserer
Versöhnung hingegebenen Leibes und vergossenen Blutes; wir
verkündigen hier Seinen Tod, jedoch nicht, wie oft fälschlich
gelehrt wird, durch das, was wir reden, sondern, indem wir das
Brot brechen und den Kelch trinken. Das Brot redet uns von
dem für uns in den Tod dahingegebenen Leibe Jesu, während
der Kelch von dem für uns vergossenen Blute Zeugnis ablegt;
und indem wir nehmen, verkündigen wir den Tod des Herrn.
Und wird dies nicht selbstredend an und für sich zur Stärkung
unseres Glaubens dienen? Wenn unsere Blicke auf die Hingabe
Jesu für uns in den Tod, auf das für uns vollbrachte Werk, auf
unsere Versöhnung mit Gott und auf die vollkommene Vergebung aller unserer Sünden gerichtet werden, werden wir dann
nicht in dem Bewußtsein unserer vollkommenen Erlösung befestigt? Und wenn wir beständig die Pfänder der Liebe Jesu
empfangen, wird dann unser Herz nicht mehr und mehr mit
Liebe gegen Ihn erfüllt? O gewiß. Die Hauptsumme des Christentums ist, das eigene Ich aus dem Auge zu verlieren und
sich in Jesu allein zu erfreuen, oder mit anderen Worten,
wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Jesu Christi, unseres
Herrn, alle Dinge dieser Erde, ja sich selber für Schaden und
Dreck zu achten. Nirgends gibt es hierzu einen geeigneteren
Platz, als den Tisch des Herrn. Darum ist die Feier des Abendmahls so gesegnet für Herz und Leben.
Doch das Abendmahl hat noch eine andere Bedeutung. Es ist
nicht nur das Fest unserer Erlösung, und nicht nur die Gedächtnisfeier Jesu und die Verkündigung Seines Todes, sondern ist auch die Offenbarung der Einheit der Gläubigen.
„Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir alle
sind es einen Brotes teilhaftig", sagt der Apostel. Die an
Jesum Glaubenden stehen nicht für sich allein, sie sind nicht
abgesondert und ohne Band, sondern sind untereinander verbunden und in der engsten Weise miteinander vereinigt, und
zwar nicht nur aus Freundschaft und Liebe oder weil sie denselben Glauben und denselben Herrn haben, sondern weil sie
einen Leib bilden. Der verherrlichte Jesus ist das Haupt, und
165
die Gläubigen bilden zusammen Seinen Leib. Durch die Taufe
mit dem Heiligen Geist ist diese Verbindung zustande gebracht.
„Denn wir alle sind durch einen Geist zu einem Leibe getauft".
Der Ausdruck, die Offenbarung dieser herrlichen Wahrheit,
ist das Abendmahl. Alle, welche daran teilnehmen, essen von
einem Brote und offenbaren dadurch, daß sie Glieder eines
Leibes sind. Wie traurig also, wenn die Gläubigen in Parteien
aufgelöst und zerstreut sind, wenn sich der eine hier, der
andere dort befindet! Ach! die vorhandenen verschiedenen Sekten und Parteien, die alle ihren besonderen Tisch aufgerichtet
haben, sind ein Zeugnis von der List Satans und von der Untreue der Gläubigen. Im Anfang war es nicht so. Damals saßen
alle Gläubigen in jedem Orte an einem Tische und offenbarten
an diesem Platz die Einheit des Leibes. So ist es nicht mehr.
Das einzige, was wir tun können, ist, uns von allen Sekten
und Parteien zu trennen und, indem wir uns, als gläubig an
Jesum, um Seinen Tisch versammeln, diesen Tisch allen zugänglich machen, die von Herzen an Jesum glauben und dieses
durch Lehre und Wandel kundgeben. Nur in dieser Hinsicht
kann man sich als am Tische des Herrn sitzend betrachten,
während alle anderen Einrichtungen nur Tische der verschiedenen Parteien und Sekten-sind. Am Tische des Herrn gilt
nur die Frage, ob man dem Herrn angehört, während an dem
Tische irgendeiner kirchlichen Gemeinschaft die Frage gilt, ob
man das glaube, was seitens dieser Gemeinschaft als Wahrheit
festgestellt ist, und ob man bereit sei, sich den durch sie bestimmten Regeln und Einrichtungen zu unterwerfen.
Das Abendmahl ist also ein Fest — ein Fest der Erkauften des
Herrn — ein Fest zum Gedächtnis Jesu, unseres Herrn und Heilandes zur Verkündigung Seines Todes — ein Fest, wo die
Gläubigen ihre Einheit in Christo als Glieder Seines Leibes
offenbaren. Hieraus folgt selbstredend, daß Ungläubige nicht
an den Tisch des Herrn gehören. Was sollten sie dort auch tun?
Können sie Festfeier halten? Können sie Dank opfern? Können
sie den Kelch nehmen und ihn segnen? Unmöglich. Können
sie das Gedächtnis Jesu feiern? Sicher nicht; denn um dieses
zu können, muß man ein Freund Jesu sein. Und können sie
von dem einen Brot essen und also bekennen, ein Leib mit
den übrigen Versammelten zu sein? Keineswegs. O wenn sie
166
es verstehen könnten, dann würde der Tisch, der für uns eine
Ursache unaussprechlicher Freude ist, sie verurteilen. Sie würden fühlen, daß sie durch ihre Gegenwart den Tisch des Herrn
entehrten und entweihten und sich selber eine schwere Strafe
bereiteten. Aber zugleich folgt auch hieraus, daß die Gläubigen keinen Unbekehrten, keinen Ungläubigen an des Herrn
Tische zulassen dürfen. Wie tief ist die Versammlung des
Herrn in dieser Beziehung gefallen! Wie sehr ist sie von der
ursprünglichen Einrichtung abgewichen! In einem großen Teil
der christlichen Kirche ist das Abendmahl ein Gegenstand der
abgöttischen Verehrung seitens einer unwissenden Menge geworden, während andererseits eine große, in allerlei Parteien
zersplitterte Zahl aus ungläubigen, weltlichgesinnten, gottlosen Menschen besteht. Mit diesen sitzen die wahren Gläubigen und erklären, indem sie von einem Brote mit ihnen
essen, daß sie einen Leib mit ihnen bilden. O möchten sich doch
die Augen der Kinder Gottes gegenüber einer solchen Sünde
öffnen, damit sie sich von einer solchen Abendmahlsfeier fernhalten und sich von den Ungläubigen absondern! Mit vollem
Recht müssen wir die Worte des Apostels Paulus: „Das ist
nicht des Herrn Abendmahl essen" — auf eine solche Feier
anwenden. Nein, an einem solchen Tisch kann der Herr nicht
gegenwärtig sein; Er kann unmöglich einen solchen Tisch als
den Seinigen anerkennen. Möchte dieses doch jeder bedenken,
der bis jetzt noch daran teilnimmt! Es ist eine ernste Sache.
Wir haben gesehen, welch großen Wert der Herr auf die Feier
des Abendmahls legt, und wie gerne Er die Seinigen an Seinem
Tisch vereinigt sieht. Aber eine solche Vereinigung mit Unbekehrten, mit Seinen Feinden, dient nur zu Seiner Betrübnis und
Unehre. Es handelt sich nicht darum, was wir darüber denken,
sondern was Gott darüber denkt. Und Sein Wort spricht in
dieser Beziehung deutlich genug. Wer darin forscht, wird nicht
behaupten, daß das Abendmahl für Unbekehrte eingesetzt
worden ist. Im Gegenteil stimmt man fast im allgemeinen darin
überein, daß es der Tisch der Gläubigen ist; und von allen
Seiten wird der Zustand, in welchem sich die verschiedenen Kirchengemeinschaften befinden, betrauert und beklagt.
Aber wie wenige haben die Kraft und den Mut, mit einem
solchen Zustande zu brechen und dem Worte Gottes zu gehorchen! Und doch wie reich gesegnet würde ein solcher Schritt sein!
167
„Aber" wendet vielleicht jemand ein — „wir möchten doch
nicht gern über andere ein hartes Urteil fällen"! Nun, das ist
auch durchaus nicht nötig. Aber sind die Menschen, mit denen
du das Abendmahl feierst, nicht als unbekehrt, weltlich und
etliche sogar als gottlos bekannt? Ist ihr Leben nicht ein Leben
in dieser Welt? Sind sie nicht Feinde des Evangeliums? Frage
sie einmal, ob sie bekehrt seien, und sie werden deine Frage
Frage verneinen, oder dich gar verhöhnen. Bekennt jemand, ein Gläubiger zu sein, und steht sein Leben zu diesem
Bekenntnis nicht im Widerspruch, so verweigern wir ihm den
Platz am Tische des Herrn nicht. Vielleicht täuscht er uns; aber
dadurch ist der Tisch des Herrn nicht verunehrt.
„Aber"— wendet ein anderer ein — „ich feiere das Abendmahl
für mich selbst und kümmere mich nicht um die Mitfeiernden".
Das ist unmöglich; denn das Abendmahl ist der Ausdruck der
Einheit der Versammlung. „Ein Brot, ein Leib sind wir, die
vielen". Du sitzest nicht allein, sondern bist in Gemeinschaft
mit anderen am Tische des Herrn, und du erklärst, mit allen,
welche daran teilnehmen, ein Leib zu sein.
„Aber" — ruft ein dritter — „Judas war doch auch beim Abendmahl". Doch wenn dieses der Fall gewesen wäre, würde das dir
ein Recht geben, mit den Ungläubigen am Tische des Herrn zu
sitzen? War Judas damals schon als ein Heuchler, als ein Überlieferer des Herrn offenbar? Keineswegs. Keiner von den Jüngern hatte darüber die geringste Vermutung; ja, sie begriffen
nicht einmal die Anspielung Jesu in dieser Beziehung. Die Beteiligung des Judas an der Feier des Abendmahls konnte daher
den Jüngern durchaus nicht hinderlich sein. Indes tritt es bei
einer sorgfältigen Vergleichung der anderen Evangelien klar
an den Tag, daß der Herr den Judas fortschickte, bevor Er das
Abendmahl einsetzte. „Jesus antwortete: Jener ist's, dem ich
den Bissen, wenn ich ihn eingetaucht habe, geben werde. Und
als er den Bissen eingetaucht hatte, gibt er ihn dem Judas"
(Joh 13, 26). Dieser eingetauchte Bissen war ein Stück von
dem Passahlamme. Und dann lesen wir: „Als nun jener den
Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus" (V. 30). Und
nun sagt uns Paulus, daß der Herr nach dem Mahle, d. h. nach
Beendigung des Passahmahls, den Kelch genommen und das
168
Gedächtnis Seines Todes eingesetzt habe. Hieraus geht deutlich hervor, daß Judas zwar an dem Passahmahl teilgenommen,
aber gleich nach dessen Beendigung den Obersaa l verlassen
hat, mithin nicht bei der Einsetzung des Abendmahls gegenwärtig gewesen sein kann.
Es ist so klar wie der Tag, daß das Abendmah l nur den Gläubigen gehört, un d daß diese berufen sind, die Heiligkeit des
Tisches des Herrn zu bewahren. Alle aber, welche glaubten,
„waren beisammen" . — „Sie verharrten aber in der Lehre der
Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in
den Gebeten" (Apg 2). „Denn was habe ich auch zu richten,
die draußen sind? Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die
aber draußen sind, richtet Gott " (1. Kor 5, 12. 13). Es gibt
also ein Innen und ein Außen. Drinne n sind die Gläubigen,
draußen ist die Welt. Über die, welche drinnen sind, übt die
Versammlung, übe r die, welche draußen sind, übt Gott
das Gericht aus. „Ich habe euch geschrieben, keinen Umgang
zu haben, wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein Hure r
ist, oder ein Habsüchtiger, oder ein Götzendiener, oder ein
Lästerer, oder ein Trunkenbold, oder ein Räuber, mit einem
solchen selbst nicht zu essen" (1. Kor 5, 11). Das ist deutlich
genug. Die Gläubigen sind zusammen, brechen gemeinschaftlich das Brot und wachen über die Heiligkeit des Tisches des
Herrn, indem sie jeden, der unordentlich wandelt, davon entfernen. Draußen ist die Welt, die durch Gott gerichtet wird.
Zum Schluß noch ein Wort über die Art und Weise der Abendmahlsfeier. Auch in dieser Beziehung ist die christliche Kirche
von der ursprünglichen Einsetzung ganz und gar abgewichen.
M a n ha t das Abendmah l zu einem Sakrament gemacht. Nu n
enthält das Wörtchen Sakrament an und für sich nichts Böses,
indem es eine heilige Handlun g bezeichnet; und in diesem
Sinne ist es nicht nur auf Taufe un d Abendmahl, sondern auch
ebensowohl auf da s Gebet und jede andere geistliche Verrichtung anwendbar; allein der Gebrauch, den ma n von dieser
Bezeichnung gemacht hat, steht mit de r Heiligen Schrift ganz
und gar im Widerspruch, weil ma n damit etwas ganz Besonderes ausdrücken will. So ha t die römische Kirche sieben, die
protestantische zwei Sakramente . Nirgends aber wird man dar16<?
über im Neuen Testament ein Wort finden, wie darin auch
nirgends von dem heiligen Abendmahl, oder von der heiligen
Taufe die Rede ist. Das Wörtchen „heilig" ist hier nichts als
eine menschliche Beifügung, welche durch jene falschen Vorstellungen entstanden sind, die man sich nach und nach von
der Taufe und dem Abendmahl gemacht hat. Das Abendmahl
ist, wie wir bereits gesehen haben, das Fest unserer Erlösung
und das Gedächtnis unseres Herrn. Aber die Kirche hat ein
Sakrament daraus gemacht,, wodurch man Vergebung der Sünden erlangt. In der römischen Kirche ist die Messe daraus entstanden mit der vorgeblichen Verwandlung des Brotes und des
Weins in den wahrhaftigen Leib und das wahrhaftige Blut des
Herrn. In der lutherischen Kirche, sowie mit geringen Abweichungen in den meisten anderen Kirchengemeinschaften,
ist es ein Sakrament zur Vergebung der täglichen Sünden geworden. Aus diesem Grunde hat man die Form der vorangehenden Vorbereitung, des Sündenbekenntnisses und der Absolution eingeführt. Die Folge dieser verkehrten Auffassung
des Abendmahls ist, daß man Prediger oder Priester angestellt
hat, die, nachdem sie geweiht oder ordiniert sind, allein als
berechtigt betrachtet werden, das Abendmahl auszuteilen.
Auch hat man — außer in der katholischen Kirche, wo das
Meßopfer täglich mehrmals bedient wird, und wo es nichts
mehr ist, als eine Zeremonie und ein Gegenstand abgöttischer
Verehrung seitens einer unwissenden Menge — die Feier des
Abendmahls auf etliche wenige Male im Jahr beschränkt. Aber
beides steht im Widerspruch mit der Einsetzung des Herrn,
sowie mit dem Beispiel, das uns die ersten Christen überliefert
haben.
Das Abendmahl des Herrn ist ein Mahl, an dem sich die Gläubigen zusammen vereinigen, um zum Gedächtnis des Herrn
das Brot zu brechen. Es ist der Tisch des Herrn, wo kein
anderer als der Herr Jesus der Gastherr ist. Niemand hat das
Recht, sich an Seinen Platz zu stellen; niemand hat das Recht,
die durch Ihn gesprochenen Worte an Seiner Statt zu sprechen.
Von einer „Bedienung" beim Abendmahl ist in der Heiligen
Schrift mit keiner Silbe die Rede, aber so wie auch nicht von
Predigern oder Priestern die Rede ist, die geweiht oder ordiniert sein müssen, um das Brot und den Kelch auszuteilen. Alle
170
diese Dinge sind nichts als menschliche Erfindungen. Nach der
Heiligen Schrift kommen einfach die Gläubigen zusammen, um
untereinander das Brot zu brechen und den Kelch unter sich zu
teilen, keineswegs aber um das Brot und den Kelch aus der
Hand einer ordinierten Person zu empfangen. Paulus, indem
er von allen Gläubigen spricht, sagt einfach: „Das Brot, das
wir brechen"; — und in der Apostelgeschichte lesen wir- „Am
ersten Tage der Woche aber, als sie versammelt waren, um
Brot zu brechen . . .". Man versammelte sich um den Tisch des
Herrn; jeder der Anwesenden brach das Brot und trank aus
dem Kelch, während nach 1. Kor 12 und 14 der Dank durch
einen jeden ausgesprochen werden konnte, der dazu durch den
Heiligen Geist angetrieben wurde.
Und was den zweiten Punkt betrifft, so hat zwar weder der
Herr, noch haben es die Apostel festgestellt, wie oft wir das
Abendmahl feiern sollen, sondern dies ist dem geistlichen Urteil
der Versammlung anheimgegeben worden. Wir sehen aber,
daß der Heilige Geist die Versammlung des Herrn in den
Tagen der Apostel geleitet hat, sich an jedem ersten Tag der
Woche um den Tisch des Herrn zu versammeln. Und wir werden wohl tun, diesem Beispiel zu folgen. Nichts ist herrlicher
und gesegneter für unser Herz, nichts bringt uns mehr in die
Gegenwart Jesu, nichts läßt uns mehr Seine unendliche Liebe
verstehen und genießen, als das Brotbrechen. Lasse sich daher
niemand durch den Gedanken zurückhalten, daß solch eine so
oft wiederholte Feier leicht zu einer Gewohnheit werden könne;
denn ebensogut würde man aus demselben Grunde weniger
beten und weniger in der Heiligen Schrift lesen dürfen, weil
auch dieses zu einer Gewohnheit werden könnte. Es gibt sicher
große Gefahr, daß diese Dinge zur bloßen Gewohnheit oder
Form für uns werden können, wie dieses mit allen geistlichen
Dingen der Fall sein kann; aber sie deshalb zu unterlassen oder
seltener zu verrichten, ist sicher ein ganz verkehrter Weg.
Nein, laßt uns vielmehr wachen und beten, daß wir stets mit
großem Verlangen und mit großer Freude am Tische des Herrn
sitzen mögen; und wir werden stets erfahren, daß es eine gesegnete Sache ist. Man erkundige sich nur bei allen, welche
nach dem Beispiel der ersten Versammlung an jedem ersten
Tage der Woche zum Brotbrechen zusammenkommen; und sie
171
werden es laut bezeugen, daß sie den Wert der Feier des
Abendmahls je länger, je höher schätzen und sich an jedem
ersten Wochentag freuen, das Vorrecht zu haben, den Tod des
Herrn verkündigen und durch die Zeichen Seines Leidens und
Sterbens Seine unaussprechliche Liebe anschauen und genießen
zu können.
Gefahr und Rettung
Vor etlichen Jahren ereignete sich in einer jener weit ausgedehnten, pfadlosen Prärien Nord-Amerikas folgender merkwürdige Vorfall. Line Reisegesellschaft bemerkte nämlich beim
Durchschreiten der Prärie, daß ihr kundiger und erfahrener
Führer plötzlich stehen blieb und mit banger Besorgnis lauschend zurückschaute, sich dann niederwarf und, sein geübtes
Ohr an den Boden lehnend, laut ausrief, daß er das drohende
Geknister eines entfernten Feuers vernehme, und daß die
Prärie hinter ihnen ohne Zweifel in Flammen stehen müsse.
Und nur zu bald gewahrten die Reisenden zu ihrem Schrecken
die am Horizont aufsteigenden Rauchwolken, während ein
scharfer Wind die verderbensprühenden Flammen mit rasender Schnelligkeit auf sie zutrieb, so daß sie schon in wenigen
Minuten sie erreichen und verzehren mußten. Jedoch in diesem
verhängnisvollen Augenblick hatte der mit dergleichen Gefahren vertraute Führer ebenfalls ein Feuer angezündet, welches
vor den Augen der Reisenden im Nu eine große Fläche lichtete,
so daß sie kurz nachher auf der abgebrannten Fläche Platz
nehmen konnten. Mit einem Male waren sie vor dem heranwehenden Feuer gesichert aus dem einfachen Grunde, weil
hier das Feuer schon alles verzehrt hatte, und mithin die
kommende Flamme keine Nahrung mehr fand. Sie waren
also von einer Stätte drohender Gefahr auf einen Platz völliger
Sicherheit, von einer Stätte der Angst und des Schreckens auf
einen Platz sorgloser Ruhe versetzt worden. Es war unmöglich,
daß das Feuer sie noch erreichen konnte, weil sie auf einem
Boden standen, wo es schon das Werk der Verwüstung voll172
endet hatte. Flammen, die sie vorher noch bedrohten, hatten
ihnen einen Zufluchtsort bereitet; der einst so schreckliche
Feind war ihr bester Freund geworden; die Gefahr war vorüber.
Hierin erblicken wir ein treffendes Bild von dem einzig sicheren Zufluchtsort des geretteten Sünders, der sich gleich jenen
Reisenden außer Gefahr befindet. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht" (Hebr g, 27).
Und wiederum: „Ein jeglicher wird mit Feuer gesalzen werden"
(Mk 9, 49). Das Gericht kommt, und unaufhaltsam rollen die
Feuerwogen des göttlichen Zorns in schrecklicher Ausdehnung
heran und werden bald alle, die in ihren Sünden verharren,
gewiß und sicher ereilen. Die Menschen mögen dies nicht
glauben; aber dennoch ist es so. Sie mögen es versuchen, sich
in ihren Gedanken darüber hinwegzusetzen, oder sie mögen
gar darüber spotten; die Sache selbst wird dadurch in keiner
Weise verändert. Jeder Pulsschlag bringt sie jener Stunde
näher und näher, in welcher die Toten, Geringe und Große,
vor Gott stehen werden. Der Tag der Rache, der große Tag
der Vergeltung ist vor der Tür. Sein Kommen ist nur noch eine
Frage der Zeit. Die Zeit der Annehmung, der Tag des Heils
wird bald vorüber sein, und die Pforte der Barmherzigkeit
wird für immer verschlossen, und jeder, der in seinen Sünden
beharrt, dem verzehrenden Feuer des gerechten Grimmes Gottes unvermeidlich preigegeben sein.
Lieber Leser, wo befindest du dich? Auf welchem Platz stehst
du? Auf dem Boden des Gerichts oder auf dem Boden der
Sicherheit? Bist du in deinen Sünden, oder bist du in Christo?
Wende dich nicht von diesen Fragen ab, sondern erwäge sie
gerade jetzt in ihrer ganzen Wichtigkeit. Einmal müssen sie
gelöst werden. Säume daher nicht länger damit, auch nicht eine
einzige Stunde; denn du weißt nicht, wie nahe der Augenblick
ist, der dich in die Ewigkeit abruft. Und wenn du in deinen
Sünden stirbst, werden die Flammen der Hölle dein ewiges
Teil sein. Darum eile und errette deine Seele!
Fragst du etwa: „Wie kann ich gerettet werden?" Bist du dahin
gekommen, aus der Tiefe eines gebrochenen und gedemütigten
Herzens auszurufen: „Was muß ich tun, damit ich gerettet
173
werde?" dann wird die gute Botschaft des Heils, das Evangelium der Gnade Gottes gleich linderndem Balsam in dein
Herz dringen, daß Jesus für jeden, der an Ihn glaubt, einen
Platz der Sicherheit bereitet hat, indem Er dem Feuer des göttlichen Zornes begegnet ist und die Flammen des göttlichen
Gerichts für uns gelöscht hat. Er nahm den Platz des
Sünders ein, Er litt den Tod des Sünders, Er ertrug das Gericht
des Sünders, Er bezahlte die große Schuld des Sünders. Er
wurde für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Jetzt ist jeder verlorene Sünder, der
einfach und von Herzen an Ihn glaubt, so sicher, wie Jesus
Selbst es ist. Der Gläubige hat kein Gericht mehr zu fürchten;
denn an seiner Statt hat es Christum getroffen. „Also ist jetzt
keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (Röm
8, 1). Und wie könnte es auch noch eine Verdammnis geben
für die, an deren Statt Christus das Gericht getragen hat? Er
nahm das ganze Gewicht aller unserer Sünden auf Sich und
versetzte uns von dem Boden des Gerichts auf den Boden
ewiger und göttlicher Sicherheit. Er hat jede Frage hinsichtlich
unserer Sünden und des Zustandes zwischen Gott und uns in
Ordnung gebracht; und Er ist jetzt vor Gott unsere Gerechtigkeit geworden. So unmöglich, wie noch irgendeine Anklage
gegen Christum, den Auferstandenen, erhoben werden könnte,
kann es eine Anklage geben gegen den, der an Ihn glaubt. Er
war einst mit unserer Sünde beladen, aber Er hat sie für immer
hinweggetragen; und jetzt sind alle, die an Ihn glauben, auf
einen Platz vollkommener Sicherheit gestellt, wo die Flamme
des Gerichts sie nie erreichen kann; die ist für immer vorüber.
Gleichwie in den Tagen Noahs die Arche der einzige Bergungsort auf der ganzen Erde war, gibt es auch jetzt nur eine Zufluchtsstätte der Errettung; und nur in Christo ist diese Stätte.
Keinen von denen, die sich in der Arche befanden, konnte das
Gericht erreichen, denn „der Herr selbst schloß hinter ihnen
zu". Und keiner von denen, die in Christo Jesu sind, wird verlorengehen, denn sie sind „aus dem Tode in das Leben hinübergegangen". Noah glaubte, daß die Sintflut heranbrechen
würde, nicht etwa weil er ein Zeichen davon sah, sondern weil
Gott es gesagt hatte. „Durch den Glauben bereitete Noah, da
er einen göttlichen Ausspruch von dem, was noch nicht zu
174
sehen war, empfangen hatte, von Furcht bewegt, eine Arche
zur Rettung seines Hauses". — Und als das drohende Gericht
kam, waren alle, welche Gott geglaubt hatten, vor dem Gericht in der Arche geborgen, während die Verächter des Wortes
Gottes inmitten ihrer Sorglosigkeit durch das Gericht ereilt und
vertilgt wurden.
Darum, mein teurer Leser, wenn du noch nicht gerettet bist,
so bedenke es wohl, solange es noch heute heißt, daß die
Flammenwogen des Gerichts Gottes sich unaufhaltsam heranwälzen und auch dich bald erreichen werden, wenn du nicht in
Eile jene sichere Zufluchtsstätte betrittst, wo diese Flammen
bereits ihr Werk vollendet haben und darum keine Nahrung
finden können. Jene Reisenden fanden eine zeitliche Rettung,
indem sie dem immer näher herankommenden Feuer entflohen
und jene Stätte betraten, wo das Feuer bereits vorher gewütet
und ihnen eine Stätte der Sicherheit bereitet hatte. So hat das
Feuer des Zornes Gottes anstatt des Sünders Jesum getroffen,
damit der Sünder in Ihm eine ewige Rettung finden kann.
Darum eile und errette deine Seele.
Die Gefühllosigkeit der Sünde
Wie wenig verstehen die meisten Menschen, was die Sünde in
den Augen Gottes ist! Wie oft bekennen sie oberflächlich, daß
sie Sünder seien, ohne auch nur im Entferntesten daran zu
denken, wie scheußlich vor Gott die Sünde ist, deren Beseitigung nur von Seiten Gottes, und zwar nur durch den Tod
Seines Sohnes geschehen konnte! Wohl mag, während die im
Herzen aufsteigenden bösen Gedanken unbeachtet bleiben,
ein bloß natürliches Gewissen durch eine böse Handlung beunruhigt werden; aber wie fern liegt oft dem menschlichen
Herzen die Frage, warum Christus sterben mußte und warum
Gott das Böse verbot, das in ihrem Herzen ist! Sie glauben
nicht, daß sie durchaus sündig und von Gott getrennt sind. —
Als Gott den Menschen aus Eden vertrieb, gab Er ihm als
steten Begleiter das Gewissen mit auf den Weg. Und dieses
175
Gewissen, wenn es verletzt ist, ist ein schrecklicher Begleiter,
aber in Wahrheit zugleich auch eine Barmherzigkeit von seiten
Gottes, Der auf diesem Wege beabsichtigte den Menschen zum
Verständnis seines Zustandes zu bringen.
Paulus war nach seinem natürlichen Gewissen tadellos; allein
sobald das Licht in seine Seele schien, zeigte sich die Feindschaft seines Herzens gegen Gott. Jedoch strahlte das Licht,
das sein Herz bloßstellte, von dem Angesicht Dessen aus, Der
das auf seinem Gewissen lastende Gericht Gottes getragen
hatte.
Viele sprechen oft in einer Weise vom Himmel, als ob es eine
abgemachte, selbstverständliche Sache sei, daß sie hineinkommen, während sie sich um nichts weniger bekümmern, als um
den Himmel. Wie oft hört man sie in Leichtfertigkeit sagen:
„Ich hoffe, in den Himmel zu kommen", während sie gegen
niemanden gleichgültiger sind, als gegen Christum! Gibt es
irgend etwas, wodurch die Gefühllosigkeit des Menschen infolge der Sünde mehr an den Tag tritt, als seine offenbare
Sorglosigkeit über seinen Zustand vor Gott? Oder gibt es irgend etwas, was seine weite Entfernung von Gott mehr ins
Licht stellt, als seine alle Begriffe übersteigende Gefühlslosigkeit gegen die himmlischen Dinge und gegen Christum? Adam
gab für den Genuß eines Apfels alles preis, was Gott für ihn
war; und dieses tut der Sünder jeden Tag. Er gibt fortwährend
Gott preis für die Dinge dieser Welt. Irgendeine Ergötzung in
dieser Welt hat mehr Macht über ihn, als all' die suchende
Liebe Gottes, als der ganze Reichtum der Gnade Christi. Gleich
dem reichen Jüngling geht er „betrübt hinweg"; und obwohl
ihm sein wahrer Zustand vor Augen gestellt worden ist, so
geht er dennoch „hinweg". Aber dadurch liefert er den unzweideutigen Beweis von der tiefen Verdorbenheit seines Herzens, das von jeder Spur göttlichen Lebens gänzlich entblößt
ist. Der Heilige Geist wendet Sich zu den Sündern mit der Einladung: „Laßt euch versöhnen mit Gott!" aber wie wenige
achten darauf! Doch wenn sich Gott einer Seele offenbart, so
entdeckt sie, daß in ihr, das ist in ihrem Fleische, die Sünde
wohnt, welche sie an und für sich selbst für immer von Gott
trennen müßte, die aber zugleich die Ursache geworden ist daß
176
Jesus Sich für sie hingegeben und den Zorn Gottes getragen
hat, um ihr nach vollbrachtem Werke die ungesuchte Liebe
Gottes zu offenbaren. Dann lernt sie verstehen, daß Gott nach
Seiner großen Barmherzigkeit dazwischen getreten ist und in
betreff ihrer Sünden und ihres Zustandes — der Ursache ihrer
Betrübnis — mit Seinem Sohne in Gerechtigkeit gehandelt hat,
um Seiner Liebe gegen sie freien Lauf zu lassen und in Gnade
mit ihr verkehren zu können.
Wie schrecklich ist es deshalb, wenn der Mensch angesichts
dieser Tatsachen in der Sünde beharrt, um derentwillen Christus, der Sohn Gottes, den Tod geschmeckt hat! Welch ein
ernster Gedanke, die Ursache des Todes Christi zu sein! Aber
wie wahr dieses ist, so ist es auch ebenso wahr, daß Er gestorben ist, um die Sünde hinwegzunehmen, so daß der Ihm
nahende Sünder sagen kann: „Ich glaube, daß dieser hochgelobte Jesus am Kreuze den Kelch des Zorns Gottes getrunken hat, und daß Er jetzt als mein Heiland zur Rechten Gottes
sitzt". — Dieses Bewußtsein allein kann die Seele mit Vertrauen zu Gott erfüllen. Gott erwartet jetzt nichts anderes von
dem bußfertigen Sünder, als daß er an Seine Liebe glaube. „Er
hat seines eigenen Sohnes nicht verschont". Jesus gab Sich
Selbst für den Sünder hin, damit der, gereinigt von Sünden,
für immer in Seiner Nähe sein könne. Diese vollkommene
Gnade reinigt das Herz von aller Unaufrichtigkeit, so daß der
Sünder nicht mehr bemüht ist, den wirklichen Zustand zu verbergen, sondern vielmehr in dem Bewußtsein ruht, daß Gott
alle Dinge kennt, — ein Bewußtsein, das uns fähig macht, uns
selbst zu erkennen und zu verurteilen. Dann kann die Seele,
im Besitz der vollkommenen, göttlichen Gunst, mit Aufrichtigkeit sagen: „Ich habe Frieden mit Gott durch unseren Herrn
Jesum Christum und rühme mich in Hoffnung der Herrlichkeit
Gottes". Und dies ist der Weg zur völligen Entwicklung des
christlichen Charakters.
O mit welch einem Gott haben wir es zu tun! Er empfiehlt uns,
den Sündern, Seine eigene Liebe, damit wir sie genießen und
Frieden mit Ihm haben möchten. Wie glücklich ist das Herz,
das versteht, was Er für uns, die von Natur armen, verlorenen
Sünder, ist — Er, Der Sich in triumphierender Gnade über all
177
unserem Elend erhob! Und der Heilige Geist ist beschäftigt,
Zeugnis abzulegen von dem, was Gott in Seiner Güte für uns
ist, die wir in uns selbst nur Sünder sind. Glückselig alle, die
in Wahrheit verstanden haben, daß das Kreuz Christi allen
Ansprüchen Seiner Herrlichkeit entsprochen hat! Aber wie
schrecklich ist der Zustand derer, die es vorziehen, in der Finsternis, dem Unglauben und der Gefühllosigkeit der Sünde
zu verharren!
Die Ruhe
Von wie vielen armen, ermüdeten Herzen mögen wohl in
diesem Augenblick gleich einem Echo die Worte des Psalmisten
widerhallen: „O daß ich Flügel hätte wie die Taube! ich wollte
hinfliegen und ruhen" (Ps ^ , 6). Das Verlangen nach Ruhe ist
seit dem Sündenfall immer der Gegenstand der tiefsten Sehnsucht des Menschenherzens gewesen. Schon in Eden, ehe noch
der Lohn der Sünde eingeerntet war, kündigte diese Sehnsucht
ihr Dasein durch das Verlangen nach Ruhe an. Von dem
Augenblick an, wo ein unbefriedigter Wunsch den unschuldigen Genuß der Güte Gottes aus den Herzen unserer ersten
Eltern verdrängt hatte, war auch die Ruhe aus den Herzen
gewichen, und seitdem hat sich jene Sehnsucht nach Ruhe bei
ihren Nachkommen in den aufeinanderfolgenden Geschlechtern von Herzen zu Herzen fortgepflanzt. Immer stärker und
heftiger drangen die Seufzer aus der Tiefe dieser Sehnsucht
zu dem beleidigten Thron Gottes hervor, bis nach den ewigen
und weisen Ratschlüssen des Vaters der Sohn Seiner Liebe aus
Seinem Schöße in diese arme Welt herniederkam. Dann vernehmen wir zum ersten Male, daß dem Menschen, inmitten
dieser traurigen Szene, Ruhe angeboten wird, jedoch nicht jene
verheißene Ruhe, die durch den jüdischen Sabbath bereits angedeutet war, und nach welcher die Kreatur sich sehnt, sondern eine Ruhe, die wir jetzt schon genießen können. Ohne
Zweifel bleibt noch eine Ruhe für das Volk Gottes; diese wird
geoffenbart werden, wenn die Macht Gottes alle Dinge im
Himmel und auf Erden in geordneter Schönheit unter Christum
178
vereinigt haben wird. Aber es gibt gegenwärtig inmitten dieser
unruhigen, mühseligen, mit Seufzern erfüllten Szene eine Ruhe
für jedes mühselige und beladene Herz, und zwar die süßeste
und köstlichste Ruhe. Es ist nicht die Ruhe Gottes, welche die
Hoffnung in späteren Zeiten erwartet, sondern die Ruhe in
Gott, die der Glaube jetzt genießt, und welche Jesus den Mühseligen und Beladenen anbietet und gibt, indem Er sagt:
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und
ich werde euch Ruhe geben" (Mt 11, 28). Es ist, wie jemand
bemerkt hat, nicht mehr eine Frage der Verantwortlichkeit,
eine Sache, die von unserer Annahme abhängig ist, sondern es
ist die freie und unumschränkte Gnade, die aus sich selbst und
für sich selbst handelt, indem sie Mühselige und Beladene zur
Ruhe führt. O wie gesegnet ist dies alles! Er, Der diese Worte
sprach, wußte was die Welt, und auch was der Mensch, selbst
der bevorzugtste war. Er wußte, daß in einer Welt, die ohne
Gott war, und wo Sein Name entehrt und Seine Gnade verachtet wurde, eine große Zahl von Mühseligen und Beladenen
war, wo aber keine Ruhe zu finden war. Er Selbst war der
einzige, in Dem das ermüdete Herz einen Ruheplatz finden
konnte; und Er, Dessen Auge gleichsam den ganzen Raum
der Zeiten und alle darin befindlichen Herzen überschauen
konnte, ruft allen zu: „Kommet her zu mir"!
Diese Einladung dringt nach allen Richtungen hin, weil sich
überall Menschen befinden, denen sie gilt. Wo irgendein
menschliches Herz schlägt, dessen Leben allein das Leben
Adams ist, da findet sich auch jene schmerzliche Leere, die nur
Er ausfüllen kann, Der gesagt hat: „Kommet her zu mir, und
ich werde euch Ruhe geben". Nicht eine vergängliche und zeitliche Gabe bietet Er hier an, sondern eine ewige und göttliche
Ruhe — eine Ruhe, welche tief und bleibend ist, wie die Natur
und der Thron Dessen, Der Seinen eingeborenen Sohn auf
diese arme fluchbeladene Erde herniedersandte, um jene wunderbaren Worte himmlischen Trostes zu reden, die gleich linderndem Balsam in das verwundete Herz fallen und die Seele
mit süßem Entzücken erfüllen — Worte, die, aus dem Herzen
Gottes dringend, als Antwort dienen auf den Angstruf: „O
daß ich Flügel hätte wie die Taube! — ich wollte hinfliegen und
ruhen"! Es handelt sich hier nicht um eine mitgeteilte Macht,
179
die uns befähigt, einen mühsamen Ausflug nehmen zu können
zu einem Lande der Ruhe und Freude, sondern es ist der sanfte
Flug der Liebe, die sich herniederläßt zu dem Herzen des Beladenen, um ihm Ruhe und Freude zu bringen, ohne daß es
von Seiner Seite auch nur der geringsten Anstrengung bedürfte, um diese Gabe zu erlangen. Es ist eine Gabe, nicht
gesandt durch die Hand eines der Häupter der heiligen Engel
des Lichts, sondern gesandt von Gott durch die Hand des
Sohnes Seiner Liebe. Ja, es war die gesegnete Mission unseres
Herrn Jesu in dieser armen Welt, eine gegenwärtige Ruhe zu
geben. Bald wird Er kommen in Herrlichkeit, und dann wird Er
eine vollkommene Ruhe von den Umständen und Leiden dieser
Zeit jener Ruhe beifügen, deren Süßigkeit wir jetzt schon
genießen, während das Herz in Ihm ruht, Den die Umstände
weder erschüttern noch verändern können, und Welcher „derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit".
Woher aber kommt es, möchte ich fragen, daß vielen diese
Ruhe so ganz und gar fremd ist, während sie sie doch unaufhörlich suchen und sich danach sehnen? Die Ursache ist ein
anklagendes Gewissen und ein unbefriedigtes Herz. In der
vergeblichen Hoffnung, das Gewissen zu beruhigen, unterwirft
sich der Mensch den ermüdenden Gebräuchen religiöser Vorschriften und gesetzlicher Forderungen; und mit der gleichfalls
nichtigen Anstrengung, das Herz zu befriedigen, stürzt er sich
in den betäubenden Strudel geräuschvoller Vergnügungen. Doch
anstatt seinen Zweck zu erreichen, entfernt er sich nicht nur
immer weiter von der wahren Quelle, wo allein das Gewissen
und das Herz Befriedigung finden kann, sondern er wird auch,
je ernster und eifriger er auf seiner Bahn vorwärts schreitet,
immer mühseliger und beladener. Wie ganz anders ist es hingegen, wenn man den Blick von dem Menschen weg auf den
gepriesenen Heiland richtet, Der in diese Welt kam, um dem
Menschen das zu geben, was dieser vergeblich durch eigene
Anstrengungen zu erlangen sucht — nämlich Frieden für das
Gewissen und Ruhe für das Herz.
Diese Gedanken führen uns zu den beiden erhabenen Seiten
der gesegneten Mission des Sohnes Gottes. Er kam, um einerseits durch das Opfer Seiner Selbst die Sünde wegzunehmen
180
und die Errettung des Menschen zu bewirken, und andererseits
den Vater zu offenbaren und das Herz Gottes in der Vollkommenheit Seiner Natur als Liebe vor den Blicken Seiner
Geschöpfe zu öffnen. Die Erkenntnis des ersten bewirkt den
Frieden des Gewissens, der Genuß des zweiten erfüllt das Herz
mit vollkommener Ruhe, deren Süßigkeit kein unbefriedigtes
Sehnen darin zurückläßt.
Lieber Leser, kennst du diese Ruhe? Wenn nicht, so wende
dich zu dem Blute Christi und trinke aus der Lebensquelle mit
vollen Zügen. „Er hat Frieden gemacht durch das Blut seines
Kreuzes"; und „Sein Blut ist wahrhaftig Trank", der das Gewissen fleckenlos macht, gleich dem unbefleckten Lichte Gottes.
Dann aber setze dich zu Seinen Füßen nieder und lerne von
Ihm, wie Er die Liebe des Vaters offenbart, jene Liebe, in
welcher Er, während Er als Mensch diese Erde überschritt, stets
ruhte, — und du wirst die Ruhe des Herzens kennen, wie Er
sie kannte Der da sagt: „Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, auf daß die Liebe, womit du
mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen" (Joh 17).
Das ist Ruhe — Ruhe in Gott, das gegenwärtige Teil des Glaubens, der horchend zu den Füßen Dessen sitzt, Der sagt:
„Kommet her zu mir .. . ich werde euch Ruhe geben".
Der König David und sein neuer Wagen
(1. Chronika 13—16)
1 .
Die Verrichtung einer guten Sache und namentlich des Werkes
des Herrn, aber in verkehrter Weise und nach eigenem, menschlichen Ermessen muß und wird die traurigsten Übel und wohl
gar den Tod zur Folge haben. Es ist eine unleugbare Tatsache,
daß Widerwärtigkeiten weniger gefährlich sind, als Tage des
Wohlergehens; und wohl niemand hat dies mehr erfahren, als
David, der Sohn Jesses. Nichts ist mehr wahr, als das Wort des
181
Apostels: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark"; — und
wir können unsererseits wohl hinzufügen: „Wenn wir stark
sind, dann sind wir schwach".
Die oben angeführten Kapitel stellen eine anziehende, beachtenswerte und ernste Szene dar, in der wir David von Personen
und Umständen umgeben sehen, die geeignet sind, aufzublähen und Herz und Sinn von den Wegen und dem Worte Gottes, ja von Gott Selbst abzulenken; und leider nur zu oft ist
dies dem Feinde gelungen. David steht hier nach seinen Leiden,
Ängsten und verschiedenen Siegen auf dem Punkt, zum König
über ganz Israel gemacht zu werden. Die Obersten und Führer versammeln sich um ihn; und alle verfolgen nur eine Absicht, ein Ziel, nämlich jenen Mann zu rühmen und zu erheben,
welcher Goliath, ihren mächtigen Feind, erschlagen hat (i. Chr
12, 24—40). Aber dieses alles scheint für das Herz und den
Glauben Davids zu viel zu sein; denn es bemächtigt sich seiner,
lenkt das Auge auf das eigene Ich und zieht ihn aus der Gemeinschaft Dessen, Welcher gesagt hat: „Ohne mich könnt ihr
nichts tun". Die, welche sich auf den Arm des Fleisches stützen,
wie mächtig und herrlich der auch scheinen mag, anstatt auf
Ihn zu schauen und zu vertrauen, Der uns allewege erhält,
leitet und unterweist, sind sicher in Gefahr, verkehrt zu wandeln und werden unausbleiblich Sünde, Schmerz und Traurigkeit über sich und andere bringen. Israel ist zu sehr mit seinem
Könige und zu wenig mit dem Herrn beschäftigt; und der
König ist so sehr für das Volk und dessen Führer eingenommen, daß nur an Freude und Festlichkeit gedacht und drei Tage
hindurch über den Ergötzlichkeiten und Belustigungen alles
andere beiseitegesetzt wird. Der nächste Schritt verrät schon
das Geheimnis und den wahren Zustand des Herzens Davids.
Er hält Rat mit den Obersten und Führern und nicht mit dem
Herrn allein. Der Mensch und nicht Gott — ausgenommen in
einem höchst geringen Grade — beschäftigt seinen Geist (1.
Chr 13). Welch ein treues Bild ist dieses von unseren Tagen!
Man blickt nur auf die religiöse Welt. Was anders tut sie als
sich mit dem Geschöpf beraten und nicht mit dem Schöpfer
allein, Der „Gott ist über alles, gepriesen in Ewigkeit"?
Im zweiten Verse ist Gott eingeführt; aber Er erhält neben
David nur den zweiten Platz, weil das Geschöpf, beinahe mit
182
Ausschluß des Schöpfers, verehrt und bedient wird. Die Folge
ist, daß Gott solche Menschen ihren eigenen Gang verfolgen
läßt, bis viele zum Bewußtsein des großen Übels und der Torheit gelangt und, daß sie Gott und Sein Wort verlassen haben,
indem sie ihren eigenen, mit ihrem irrenden Verstände ersonnenen Wegen gefolgt sind. Man blicke nur auf das Papsttum,
auf die griechische Religion, auf den Protestantismus und auf
die verschiedenen kleineren Gemeinschaften; und man vergleiche das Ganze mit den Evangelien, der Apostelgeschichte
und den Briefen der Apostel, und sicher wird man finden, in
welch einer schreckenerregenden Weise man den in diesen drei
Teilen des Neuen Testaments bezeichneten Boden verlassen
hat.
Wo findet man jetzt etwas, das ähnlich ist der Einheit und
Einfachheit, welche die Zusammenkünfte und den Gottesdienst
Christi und Seiner Apostel so sehr charakterisierte? Es zeigt
sich kaum noch eine Spur von derselben Art und Sache. Die
religiöse Welt hat eine ganz entgegengesetzte Form von Gottesdienst für sich gemacht, eine Form, die von derjenigen des
Herrn und der Apostel ganz und gar abweicht. Man nehme
die Geschichte und die Briefe der Apostel zur Hand und man
zeige uns irgendeine wesentliche Ähnlichkeit zwischen dem hier
wahrgenommenen einfachen, schmucklosen, geistlichen, familiären Gottesdienst und den verschiedenen angenommenen
Gebräuchen unserer Tage. Kein aufrichtiger, redlicher Mann
kann behaupten, daß in allen Religionsparteien, von Rom,
diesem Meer der Ungerechtigkeit, bis zu dem kleinsten Bächlein der Sekten herab, etwas der ursprünglichen Vereinigung
Ähnliches zu finden ist, oder mit der Art und Weise oder den
Grundsätzen des Gottesdienstes der ersten Christen zu vergleichen sei. Die sogenannten Priester, Geistliche oder Pastoren
maßen sich, — ich rede von ihrem Amt —, den Platz Christi,
des einzigen Hauptes, sowie den Platz des Heiligen Geistes,
des einzigen Regierers und Leiters der Kirche, an. Dies ist
eine so traurige Tatsache, daß, gemäß den Regeln und Vorschriften fast aller dieser Sekten, weder die Apostel noch der
Herr Jesus Selbst, falls sie heute oder morgen an deren sogenannten Gottesdienst teilnehmen würden, es wagen dürften,
irgendein Lied anzugeben, oder zu beten, oder zur Erbauung
183
der Versammlung die Lippen zu öffnen. Und warum dieses?
Wegen der menschlichen, unbiblischen Regel und Anordnung,
daß der Priester, oder der Geistliche oder der Pastor die einzige
rechtlich eingesetzte Person ist, der man das Recht eingeräumt
hat, die Dinge zu verwalten und das Wort zu führen. Diese
Anordnung läßt weder dem Herrn und Seinen Aposteln, noch
dem Heiligen Geiste einen anderen Platz als den eines stummen
Zuhörers. Ist das die göttliche Weise, um das Werk Gottes
zu tun? Ja, ist es nicht menschlich, selbst satanisch, wenn der
Herr Jesus, der Heilige Geist und die Apostel schweigen müssen, weil, gemäß den Regeln aller kirchlichen Parteien unserer
Tag, der Priester, der Geistliche, oder der Pastor, mag auch
jeder von ihnen ein wahrer Christ sein, von Menschen in den
Platz des Heiligen Geistes eingesetzt ist und demzufolge bei
Gelegenheit des Gottesdienstes alles zu verrichten hat? Ist
dieser Dienst in der Hand eines Mannes nicht zu einer leeren
Form herabgesunken? Was anders ist dies als „Davids neuer
Wagen" (i. Chr 13, 7), um das Werk Gottes zu tun, anstatt
sich nach der im Neuen Testament bezeichneten alten und
einfachen Weise Gottes umzusehen? Und ist es daher ein
Wunder, daß so viele Unruhe, Betrübnis, Blindheit, Weltlichkeit, Dürre und geistlicher Tod inmitten der kirchlichen Parteien unserer Tage herrschen? Anstatt die Bundeslade durch
die von Jehova erwählten Leviten tragen zu lassen, beschlossen
David und seine Großen, dies durch den neuen Dienst eines
neuen Wagens bewerkstelligen zu lassen. Anstatt des Dienstes bezüglich der Bundeslade ausgeführt von den erwählten
Dienern Gottes, sehen wir hier von Seiten Davids und Israels in
dem neuen Wagen eine Nachahmung des Beispiels der Philister, ähnlich dem Dienst der verschiedenen Religionsbekenntnisse, welche ebenfalls den schriftwidrigsten Mustern nachgefolgt sind.
Der Mensch liebt das, was neu und ungewöhnlich ist, und was
er selbst erfunden hat. Die Geschichte Roms (ich meine das
kirchliche und nicht das heidnische Rom) liefert uns die Beweise dafür. Hier findet man Neuerungen, neue Erfindungen,
Anordnungen, Pläne und eigene Gebräuche, die man, vermischt
mit dem einfachen Wege und Worte Gottes, den Juden und
Heiden nachgeahmt hat. Und hat nicht der Protestantismus
manches, das nur eitles Blendwerk ist, dem römischen System
184
entlehnt? Sicher; und ebenso haben Andersdenkende, welche
aus der Landeskirche ausgeschieden sind, Irrtümer mit herübergenommen, deren Quelle in Rom zu suchen ist. Man vergleiche nur alle diese kirchlichen Gemeinschaften mit den Versammlungen der Apostelgeschichte und der Briefe, und man
wird sofort finden, wie völlig diese menschlichen Systeme den
durch den Heiligen Geist berufenen Versammlungen entgegengesetzt sind. Kaum gibt es inden sogenannten Kirchen noch einen
Zug, der ähnlich demjenigen ist, was wir im Neuen Testament
finden. Ist die Gemeinschaft irgendeiner Partei gleich der Gemeinschaft des Leibes Christi? Ist der Dienst in irgendeinem
Punkte gleich? Nein. Ist die Art und Weise, den Dienst aufrechtzuhalten, dieselbe? Keineswegs. Ist, wie ehedem, jene
Einfalt und Einheit durch den Heiligen Geist dieselbe, oder
begegnet man nur der Vereinigung irgendeiner Partei oder
Sekte, wo Schein und Stolz vorherrschen? Gibt es mit einem
Worte irgend etwas in diesen menschlich ersonnenen Körperschaften, was wirklich ähnlich wäre dem einfachen Gottesdienste der früheren Versammlungen, wovon wir lesen: „Die
Gläubigen alle aber waren zusammen — und große Gnade war
auf ihnen allen; . . . von den Übrigen aber wagte keiner, sich
ihnen anzuschließen; . . . aber um so mehr Gläubige wurden
dem Herrn hinzugetan".
Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen den religiösen Körperschaften der Jetztzeit und den Versammlungen
der ersten Christen. Ebenso könnten wir sagen, daß es ein und
dieselbe Sache sei, wenn die Bundeslade auf Anweisung Davids
und Israels auf einem neuen Wagen gefahren wurde oder wenn
sie auf Bestimmung Jehovas auf den Schultern Seines auserwählten, geheiligten Volkes getragen wurde. David beriet sich
mit dem Geschöpf und trachtete nach äußerem Ansehen; und
dennoch vermengte er den Namen des Herrn mit seinen eigenen
Plänen, um seinem Gewissen ein wenig Ruhe zu verschaffen
(1. Chr 13, 2—6). Das ist es gerade, was die Diener, Priester
und Geistliche als solche öffentlich getan haben. Sie sind der
Schicklichkeit und des Ansehens wegen, sowie im Blick auf
Amt und Würde, in ein System getreten, dessen geringster
Teil, im Lichte der Heiligen Schrift geprüft, nicht darin gefunden wird. Sicher, man könnte, und zwar in der aufrichtigsten
185
Liebe, alle sogenannte Kirchen oder Gemeinschaften kühn
herausfordern, auch nur den schwächsten Zug wirklicher Ähnlichkeit zwischen irgendeinem ihrer Systeme und der Kirche
Gottes, wie sie in Seinem eigenen Worte gefunden wird, zu
zeigen. Wenn ein von Rindern gezogener, neuer Wagen gleich
ist einer Anzahl heiliger, ergebener Leviten, dann sind auch
die von einzelnen Menschen ersonnenen, sogenannten Kirchen
unserer Tage und die durch den Heiligen Geist gesammelte
Kirche in den Tagen der Apostel eine und dieselbe Sache. Aber
die sogenannten Kirchen der Gegenwart sind von der Kirche
Gottes von Alters her so sehr verschieden, wie die Anordnungen Davids von der Art und Weise verschieden waren, in
welcher die Leviten die Bundeslade Gottes zu tragen pflegten.
Beachten wir es hier, wie der Mensch sich der Werke seiner
Hände rühmt. „Und sie fuhren die Lade Gottes auf einem
neuen Wagen aus dem Hause Abinadabs weg; und Ussa und
Achjo führten den Wagen. Und David und ganz Israel spielten
vor Gott mit aller Kraft: mit Gesängen und mit Lauten und
mit Harfen und mit Tamburinen und mit Zymbeln und mit
Trompeten" (1. Chron 13, 7—8). Aber trotz ihrer Musik und
Ruhmredigkeit gab es nichts Beständiges und Festes in ihrem
Werk. Menschliche Erfindungen statt der Anordnungen des
Herrn sind sicher erschütterlich und nicht haltbar. Die Rinder
hatten sich losgerissen; und als Ussa seine vermessene Hand
ausstreckte, um die Bundeslade zu halten, fand er sofort seinen
Tod (V. 9—10). Das sind die Folgen, wenn man das Werk
Gottes auf Menschenweise zu verrichten trachtet. Betrübnis,
Schrecken und selbst der Tod verbreiten sich über die Szene;
und statt der Musik und der Freude, ist jede Seele mit Trauer
und Schmerz erfüllt. „Seid niedergeschlagen und trauert und
weinet" (am Tage des Abweichens von Gott) sagt Jakobus;
„euer Lachen verwandele sich in Traurigkeit und eure Freude
in Niedergeschlagenheit". Wer will behaupten, daß die verschiedenen Systeme der Menschen, die man Kirchen nennt,
nicht jetzt schon wanken? Man betrachte das römische System
in Deutschland, in Italien und in anderen Ländern; man betrachte die verschiedenen protestantischen Körperschaften mit
ihrem offenen Unglauben, man betrachte die kleineren Gemeinschaften, die Independenten, Baptisten, Methodisten und
andere Parteien mit ihren immer mehr um sich greifenden Ab186
zweigungen und Spaltungen, — und man sage uns, ob wohl je
eine solch auffällige Erschütterung stattfand, als in unseren
Tagen; ja man sage uns, ob nicht die Rinder sich losgerissen
haben und das ganze menschliche Machwerk zur großen Bestürzung aller Beteiligten heftig erschüttert ist. Und warum
dies alles? Einfach darum, weil die verschiedenen Parteien und
Sekten, gleich David und Israel, anstatt allein durch das Wort
und den Geist Gottes geleitet zu sein, den Erfindungen ihres
eigenen Geistes gefolgt sind. Dazu beachte man, daß die gemachten Anstrengungen um diesen wankenden Zustand der
Dinge zu stützen, statt eines Heilmittels das Gericht von Gott
herbeiführen. Nichts kann verbessert oder wiederhergestellt
werden, was von Anfang bis zu Ende verkehrt ist. Man muß
es beseitigen oder durch das ersetzen, was recht ist; denn
je mehr man daran zu flicken sucht, desto mehr verschlechtert
man es. Das aber ist es eben, was in den verschiedenen kirchlichen Parteien zu geschehen pflegt; allerlei Arten von Dingen
und Händen werden ausgestreckt, um den wankenden Bau
zu halten. Aber wenn man, wie es von Seiten Ussas geschah,
anstatt die ganze Bauart als verkehrt anzuerkennen und aufzugeben, eine unverbesserliche Sache wieder herzustellen sucht,
so ist nichts als das Gericht Gottes zu erwarten. Eine große
Menge sogenannter Geistlicher sind sogar so verblendet und
verhärtet, daß sie nicht nur ihre eigenen wankenden Systeme
durch falsche und törichte Mittel zu stützen trachten, sondern
sich sogar nicht schämen, die Wahrheit und göttlichen Grundsätze solcher Christen öffentlich anzugreifen, die sich einfach
als Christen versammeln, und die nicht irgendein von Menschen ersonnenes System nachahmen und aufrechthalten, sondern die einfach und allein dem Muster und der Lehre des
Wortes Gottes folgen. Wie viele falsche Anklagen sind von
ihrer Seite gegen solche Christen vorgebracht worden, was ihre
Zuhörer, die sie schriftwidrig als ihre Herde bezeichnen, bezeugen werden. Jedoch die aufrichtigen Kinder Gottes inmitten
dieser Sekten durchschauen dies alles; und Gott hat ihnen die
Augen geöffnet, um die Motive dieser Männer und die Ungereimtheit ihrer Beschuldigungen zu erkennen. Der arme Ussa
hielt es sicher, indem er seine ungeweihte Hand ausstreckte, für
ein kluge Sache, den Wirkungen der sich losreißenden Rinder
vorzubeugen und den Sturz des Wagens zu verhüten; aber
187
seine Handlung hatte für ihn selbst den Tod, den Verlust der
Gegenwart oder der Bundeslade Gottes, und für alle Mitbeteiligten an diesem schriftwidrigen Unternehmen Trauer und
Bestürzung zur Folge. Die Bundeslade oder die Gegenwart
Gottes mußte sich jetzt von David und Israel in das Haus
Obed-Edoms zurückziehen (V. 13), wo sie menschlichen Schutz
nicht nötig hatte, und wo sich nicht, als ob Gott des Menschen
bedürfe, eine sich unbefugt einmischende Hand zu ihrer Stütze
erhob. Und was war die Folge? „Gott segnete das Haus ObedEdoms und alles, was sein war" (V. 14). Hier finden wir also
Segnung und Freude, während wir auf der anderen Seite Verlust, Trauer und Tod fanden. Ist das nicht eine ernste Lehre
für jeden, der in Wahrheit an Christum Jesum gläubig ist? Bist
du, mein christlicher Leser, noch Mitglied und Förderer eines
Systems menschlicher Erfindung, ähnlich jener beklagenswerten Angelegenheit bezüglich des neuen Wagens Davids und
Israels? Nun, dann beachte es wohl, daß, wie verkehrt und
dem Worte Gottes entgegen alles auch war, der Mensch sich
dennoch darüber ergötzte und frohlockte, weil es eine Erfindung seines eigenen Verstandes und das Werk seiner eigenen
Hände war; aber beachte auch die Folgen, die Bestürzung, den
Fall und das dadurch erzeugte Elend. Und so wird es mit
jedem System des Menschen sein, welches, obwohl es „gut in
seinen eigenen Augen" ist und durch alle Arten musikalischer
Töne gefeiert wird, dennoch von Gott gerichtet, zertrümmert
und zunichte gemacht werden wird, weil es nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch mit Seinem Worte steht
und nur die Verherrlichung des Menschen und die Entehrung
Gottes bewirkt. Wenn der Herr morgen erschiene, was würde
dann das Los aller sogenannten Kirchen, dieser menschlichen
Systeme sein? Sie würden als menschliche Systeme vernichtet
werden. Nur wenn wir einzig und allein in Seinem Namen versammelt sind, können wir auf Seine Anerkennung rechnen und
Seine Ankunft mit Freuden erwarten. Darum, mein christlicher
Leser, siehe zu, ob du dich nicht in einer Verbindung befindest,
die vielleicht eine bloß menschliche Erfindung ist, der Schauplatz eines neuen Wagens, und zwar begleitet mit Gepränge
und äußerlich anziehenden Tönen, um dir selbst Reize zu verschaffen und das Herz von Gott und Seinem Worte abzulenken.
188
Ja, wirklich, die uns in 1. Chron 13 geschilderte Szene ist ein
treues Bild der kirchlichen Parteien unserer Tage, von Rom bis
zur kleinsten Sekte herab; denn sie sind sämtlich, weil sie von
Menschen eingerichtet sind, eine und dieselbe Sache, wiewohl
sie in vielen Zügen voneinander unterschieden sind. Wer wird
im Blick auf die Heilige Schrift leugnen können, daß alle diese
Parteien durch Menschen gebildet sind und nicht im Worte
Gottes gefunden werden? Man nehme eine der Versammlungen des Neuen Testaments und man zeige die wirkliche Ähnlichkeit mit den sogenannten Kirchen oder religiösen Gemeinschaften unserer Tage! Es ist unmöglich. Die Kirche des Neuen
Testaments oder die damals örtlich getrennten Versammlungen
sind durch den Geist Gottes gebildet worden und waren berufen, sich zu „befleißigen, die Einheit des Geistes zu bewahren im Bande des Friedens". Der Heilige Geist machte Sünder
lebendig, und versammelte sie in eins; und also entstand die
Einheit des Geistes, deren Ausdruck die Versammlung oder
Kirche Gottes war, in welcher Stadt, in welchem Lande und
selbst in welchem Hause man sich auch nur im Namen Jesu
versammeln mochte. Aber wo finden wir in unseren Tagen
etwas, das diesem ähnlich wäre? Man darf es kühn behaupten,
daß unter den verschiedenen sogenannten Kirchen oder Parteien des Christentums dergleichen nirgends zu finden ist.
Es ist daher kein Wunder, daß eine große Erschütterung stattfindet bei der Erkenntnis, daß das Werk, gleich demjenigen
Davids und Israels, nicht vom Geiste Gottes sondern von Menschen ist. Wenn es mir der Herr erlaubt, werde ich in den
folgenden Abschnitten zu zeigen trachten, wie der Herr die
Seinigen zurechtführt und von ihren selbsterwählten Wegen
befreit, indem Er sie leitet auf die Ihm wohlgefälligen „Pfade
der Gerechtigkeit um seines Namens willen".
Vielleicht wird mancher Leser die Sprache dieser Zeilen etwas
hart und streng finden; aber wenn er beachtet, daß sie nicht
gegen Personen, sondern gegen irrtümliche Systeme — Kirchen
genannt — gerichtet ist, so wird er diese Strenge und Härte
nicht mehr finden, indem ich ihm zugleich versichere, daß ich
nicht das geringste Gefühl von Bitterkeit gegen irgend jemand
in meinem Herzen habe. Möge der Herr Seine Kinder von
allem befreien, was Seinem Willen und Wort zuwider ist!
189
2.
Wir haben also bereits die üblen Wirkungen gesehen, wenn
eine gute Sache auf eine verkehrte Weise verrichtet wird. Es
war richtig, die Bundeslade Gottes an den ihr geziemenden
Platz zu bringen; aber es war von Seiten Davids und Israels
ganz und gar verkehrt, den Heiden nachzuahmen, zumal da
der Herr Selbst in Seinem Wort die ausführliche Andeutung
über die Art und Weise der Fortschaffung Seiner Bundeslade
gegeben hatte. Doch wie in unseren Tagen war auch damals
das Wort Gottes vernachlässigt, während die Pläne und Erfindungen des Menschen an dessen Stelle gesetzt wurden.
Es besteht bezüglich dessen, was man Aufrichtigkeit nennt,
selbst unter vielen Christen eine seltsame Vorstellung. Wiederholt hört man sagen: „Wenn du nur aufrichtig bist, dann hat
es wenig Bedeutung, welches deine Religion ist". Nur von
dem Beweggrunde, der Absicht — meint man — hänge alles ab.
Doch ein größerer Irrtum kann kaum gedacht werden. Sind
nicht die Hindus, die Mohammedaner und die Chinesen aufrichtig? Sind nicht die Juden und die Römlinge aufrichtig? Aber
wie anerkennenswert die Aufrichtigkeit und die lauteren Beweggründe an und für sich sein mögen, was nützen sie uns,
wenn wir, anstatt dem Worte Gottes zu glauben und zu folgen,
nur an eine Mythe glauben und den Trugschlüssen unserer
eigenen Einbildungskraft folgen? Die Aufrichtigkeit Pauli war
eine so wirkliche, und seine Beweggründe waren so lauter und
rein, daß erGott einen Dienst zu tun meinte, wenn erdiejünger
Christi tötete. Großer Eifer ist eine andere der vielen Täuschungen, welche viele zum Heil nötig erachten. Die Juden
zeigten einen großen Eifer wider Christum; und viele vor ihnen
hatten gute Beweggründe und waren äußerst aufrichtig, den
Herrn dem Tode zu überliefern; aber machten ihre Beweggründe, ihre Aufrichtigkeit und ihr Eifer ihre Handlung zu
einer guten Handlung? Keineswegs. Nein, mein christlicher
Leser, nicht das Maß von Aufrichtigkeit, Eifer und guten Beweggründen vermag eine schlechte, schriftwidrige Handlung
gutzumachen. Schaue auf David und Israel; betrachte ihre
Aufrichtigkeit, ihren Eifer und ihre uneigennützigen Beweggründe; war dennoch nicht alles wertlos vor Gott? Das Werk
190
Gottes muß in göttlicher Weise getan werden; und wenn dies
nicht der Fall ist, so wird das Werk nicht nur nicht anerkannt,
sondern wird Gericht, Betrübnis und Tod zur Folge haben.
„Gott läßt sich nicht spotten; denn was irgend ein Mensch säet,
das wird er auch ernten". Wie besorgt und vorsichtig sollten
daher die Christen sein; und wie sehr bedürfen sie der Prüfung,
ob sie auf dem durch das Wort Gottes bezeichneten einfachen
Wege vorangehen, damit sie nicht, wie David, nicht nur den
Verlust der Gegenwart des Herrn, sondern auch Trauer, Elend
und selbst den Tod über sich selbst und andere bringen!
Aber wenn Gott ein Gott des Gerichts ist, so ist Er auch ein
Gott der Gnade und des Erbarmens. Gericht ist Sein ungewöhnliches Werk, und „die Barmherzigkeit rühmt sich wider
das Gericht". So finden wir es auch hier. „Hiram, der heidnische König von Tyrus, sandte Boten zu David, und Cedernholz und Mauerleute und Zimrnerleute, ihm ein Haus zu bauen" (1. Chron 14, 1). So zeigte der Herr Seinem Knechte David
die Unumschränktheit Seiner Gnade, indem Er diesen heidnischen König erweckte, zu helfen, David ein Haus zu bauen,
wiewohl David, handelnd gegen das Wort und den Willen
Gottes, für einen Augenblick Gott beiseitegesetzt hatte. Die
„Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht". Wenn Gott
züchtigt, so ist es zu unserem Nutzen; und sicher fühlte David
dieses und war daher für die Entfaltung der Vermittlung Gottes in großer und besonderer Liebe zubereitet. Der König von
Tyrus scheint durch seine Handlung auszudrücken, daß er in
David, da derselbe in diesem Charakter sich ihm vorstellte,
nicht nur den König Israels als solchen, sondern in ihm auch
den von Gott gesalbten und eingeführten König anerkenne;
denn ein Haus ist das Zeichen der Niederlassung. Wie heblich
muß dieses alles für das Herz Davids gewesen sein, und welche
Züge göttlicher Güte treten uns in allem vor Augen! Und
noch mehr als dieses. Wir lesen: „Und David erkannte, daß
Jehova ihn als König über Israel bestätigt hatte, denn sein
Königreich war hoch erhoben um seines Volkes Israels willen"
(V. 2). Wir haben hier also nicht nur Offenbarung, sondern
auch Verwirklichung. Das für David erbaute Haus mochte ihm
die besondere, durch einen verborgenen Kanal strömende
Güte Gottes offenbaren; aber vor Gott Selbst mittels Seines
191
Volkes Israels vernimmt und verwirklicht er die Tatsache, daß
„Jehova ihn als König über Israel bestätigt hatte, und daß sein
Königreich hoch erhoben wurde um seines Volkes Israel willen". Das Werk Hirams hatte seine Wirkung im Herzen und
Gewissen Davids ausgeübt. Obwohl er uns sagt, daß „sein
Königreich hoch erhoben wurde um seines Volkes Israel willen", so schreibt er doch dieses und die Bestätigung des Königreichs Gott allein zu. Es sind nicht die Obersten, auf die er
bei Gelegenheit des „neuen Wagens" so sehr geschaut hatte,
sondern es ist der Herr, Den er wahrnimmt, und Der ihn „als
König über Israel bestätigt hatte". Aber jetzt zeigt sich in den
Fortschritten Davids ein großer Entscheidungspunkt. „Und die
Philister hörten, daß David zum Könige gesalbt worden war
über ganz Israel; und alle Philister zogen herauf, um David
zu suchen. Und David hörte es und zog ihnen entgegen. Und
die Philister kamen und breiteten sich aus im Tale Rephaim"
(V. 8. 9).
Hier sind die Heere der beharrlichsten, bittersten und mächtigsten Feinde Gottes und Israels. Was wird der König jetzt tun?
Wird er sich mit Fleisch und Blut, mit den Hauptleuten und
Obersten beraten? Wird er den Rat Gottes und den Rat der
Menschen mit einander vermengen? Wird er wie ehedem sagen:
„Wenn es euch gut dünkt und wenn es von Jehova, unserem Gott,
ist?" Nein, nichts von diesem allen. Er hatte zu gründlich die
doppelte Wahrheit der großen Barmherzigkeit und der dazwischentretenden Gerichte Gottes kennengelernt, als daß er
auch nur für einen Augenblick auf irgendein Geschöpf und
deren Macht geschaut, und nicht alles von Gott Selbst erwartet
hätte. Nicht ein einziges Wort richtet er an 9ich selbst oder
an die Obersten, sondern er wendet sich ohne Zögern an den
Herrn Selbst. „Und David sagte Gott und sprach: Soll ich
hinaufziehen wider die Philister, und willst du sie in meine
Hand geben? Und Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf; denn
ich will sie in deine Hand geben". Gott ist hier der einzige,
Der gefragt und Dem gefolgt wird. Und was ist die Folge?
Ein vollkommener Sieg. „Da zogen sie hinauf nach Baal-Perazim, und David schlug sie daselbst" (V. 11). Man findet hier
keine Schwäche, keinen Zweifel, keine Betrübnis, sondern
einen vollständigen, entscheidenden und gewissen Sieg, und
192
der Sieg ist stets die Wirkung des Gehorsams. „Gehorchen ist
besser als Schlachtopfer, und Aufmerken besser als das Fett
der Widder". „Glaube mir!" sagt der Herr. „Alle Dinge sind
möglich dem, der glaubt". Gehorsam und Glaube sind eins.
Hätte David zu Anfang dem Worte des Herrn gehorcht und
geglaubt, so würde er sich und anderen viele Demütigungen
erspart haben, die eine Folge des Unglaubens oder des Ungehorsams waren. Und ist es nicht in unseren Tagen dieselbe
traurige Sache? Ist es nicht der Unglaube oder der Ungehorsam
gegen das Wort des Herrn, demzufolge die Parteien, die sogenannten Kirchen, die bloßen Gemeinschaften von Menschen
entstanden sind? Wenn des Herrn Wort geglaubt und befolgt
worden wäre, so würden sicher kerne Sekten und Spaltungen
unter den Kindern Gottes vorhanden sein; oder sobald man
sich von dem Worte Gottes entfernt hat, hat man menschliche
Erinnerungen getroffen, und mit einem Male ist die Kirche
Gottes, welche nur eine ist und sein kann, zerrissen und zerklüftet auf verschiedene „neue Wagen" menschlicher Erfindung
gebracht worden.
Es ist indes eine große Freude zu sehen, daß viele Kinder Gottes, obwohl sie durch ihre Übereinstimmung mit den Parteien
lange geholfen haben, das Übel und den Irrtum zu fördern,
ihre verkehrte Stellung, wodurch ihre Seelen verfinstert und
geschwächt wurden, erkannt haben, und man, statt sich auf
Menschen zu stützen, dem Worte Gottes glauben und gehorchen, wie David es im letzten Augenblick tat, als er jenen vollständigen, entscheidenden Sieg davontrug. Welch eine Szene
stellt sich hier dem Auge und Geiste Davids dar? Als er, Ussa
und Israel bei Gelegenheit der Bundeslade Gottes gegenüber
den Geboten des Herrn ungehorsam und nachlässig gewesen
waren, war der gerechte Zorn Gottes entbrannt und hatte
einen „Bruch" an Ussa gemacht, weshalb David „selbigen
Platz Perez-Ussa nannte bis auf diesen Tag". Aber jetzt ist
alles anders. Wir finden hier die bei einer anderen Gelegenheit gesprochenen Worte Davids bestätigt: „bevor ich gedemütigt ward, irrte ich, jetzt aber halte ich dein Wort" (Ps 119,
67). Jehova ist auf seiner Seite und wider seine Feinde, und
David sagt: „Gott hat meine Feinde durch meine Hand durchbrochen gleich einem Wasserdurchbruch; daher nannte er den
193
Namen selbigen Ortes Baal-Perazim" (V. 11), d. h. Ort der
Durchbrüche. Während also bei Gelegenheit des Ungehorsams
nur ein einziger „Bruch" gemacht worden ist, sehen wir in
diesem Falle des Gehorsams Davids „die Feinde durchbrochen
gleich einem Wasserdurchbruche".
Indes gibt es hier noch eine Sache von großer Bedeutung bezüglich des Gegensatzes in dem Betragen des Königs, als er
seinem eigenen und dem Willen des Volkes durch Unglauben
folgte, und in seiner nachherigen Treue. Im ersten Falle war
er so verblendet und verwirrt, daß er die Philister — seine und
Gottes Feinde — bei Verrichtung des Werkes Gottes sich zum
Muster nahm. Nun aber im Glauben und Gehorsam gegenüber dem Worte Gottes will er nicht nur keinem einzigen
ihrer Anschläge Folge leisten, sondern will auch den teuersten
Gegenstand ihrer Herzen zerstören. „Und sie ließen daselbst
ihre Götter; und David gebot, und sie wurden mit Feuer verbrannt" (V. 12). Hier erblicken wir also die große Verschiedenheit, ob ein Gläubiger allein das Wort Gottes, oder ob er den
Menschen zu seinem Führer wählt. In dem einen Fall besitzt
er Frieden, Macht, Gewißheit und Sieg, während er im anderen
Fall überall von Dunkelheit, Verlust, Zweifel und Bestürzung
beherrscht wird. O möchten die Kinder Gottes doch das Elend
sehen und fühlen, welches sie dadurch über sich gebracht haben,
daß sie die schriftwidrigen sogenannten Kirchen der Menschen,
mit denen sie verbunden sind, unterstützen, und möchten sie
sich doch sammeln um die Person Dessen, Der gesagt hat:
„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da
bin ich in ihrer Mitte". David hatte die Neigung gezeigt, Gott
beiseitezusetzen und sich auf den Arm des Fleisches zu stützen, und darum war es nötig, in seine Seele das Gefühl der
Nichtigkeit des Geschöpfs und der unaufhörlichen Macht und
Größe Gottes tief eindringen zu lassen, damit er sich nicht bei
sich selbst oder bei anderen nach Hilfe und Leitung umsehe,
sondern sich in jeder Lage an seinen Gott wende. Im Blick auf
diese Notwendigkeit wird es den Philistern gestattet, nochmals
in Schlachtordnung vor ihm zu erscheinen. Was wird David
jetzt tun? Er hat durch die Güte Gottes einen großen Sieg
davongetragen; wird er jetzt auf sich selbst vertrauen oder
mit den Hauptleuten sich beraten? O nein, die bittere Erfah194
rung, die er gemacht hatte, war noch nicht vergessen. Überdies
hatte er die Liebe, Sorgfalt und Macht Dessen erfahren, Der
gesagt hat: „Vertraue auf mich"! — „Und die Philister zogen
wiederum hinauf und breiteten sich aus im Tal. Und David
befragte Gott abermals, und Gott sprach zu ihm: Du sollst
nicht hinaufziehen hinter ihnen her; wende dich von ihnen ab,
daß du an sie kommst, den Bakabäumen gegenüber. Und es
wird geschehen, wenn du das Geräusch eines Daherschreitens in
den Wipfeln der Bakabäume hörst, als dann komm hervor
zum Streit; denn Gott ist vor euch her ausgezogen, um das
Heerlager der Philister zu schlagen. Und David tat so, wie
Gott ihm geboten hatte, und sie schlugen das Heer der Philister
von Gibeon bis nach Geser" (V. 13—16).
Wie wahr sind die Worte Gottes! Der König, der Streiter und
Diener Gottes muß eine Zucht von ganz besonderer Art durchmachen; er muß Gebote von einem scheinbar widersprechenden Charakter lernen und befolgen. So war es mit Abraham.
Ein Sohn und Erbe wurde ihm verheißen, als die Regeln der
Natur nicht mehr ein Kind erwarten ließen. Gott hatte ihm
die Verheißung gegeben, daß sein Same wie der Staub auf
Erden und wie die Sterne des Himmels an Menge sein sollte.
Und trotz dieser Verheißung wurde Abraham aufgefordert,
den einzigen Sohn zu opfern. Sicher waren diese geheimnisvollen Wege versenkt in die unergründliche „Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes".
Aber Gott leitet, wie bereits bemerkt, Seinen Diener, welchen
Er viel gebraucht, durch eine höchst verschiedenartige und oft
scheinbar sich widersprechende Zucht, damit er in allen Dingen
Gott zu Rate ziehe und auf Ihn lausche und nicht auf Satan,
nicht auf sich selbst oder auf den Menschen.
Wir dürfen in keiner Sache auf den Menschen unser Vertrauen
setzen; denn es gibt „nichts Gutes" in ihm. Der Herr Selbst
„wußte, was in dem Menschen war", und darum vertraute Er
sich ihm nicht. Der König erfuhr deutlich und schmerzlich die
Kraft und Wahrheit der Worte: „Es ist besser auf Jehova
vertrauen, als sich verlassen auf Menschen; es ist besser auf
Jehova zu trauen, als sich verlassen auf Fürsten" (Ps 118, 8.
o); und er mußte zubereitet werden, zu verstehen, daß Gott
195
tun wird, was Ihm gutdünkt, und daß Er über Sein Tun keine
Rechenschaft gibt, sondern Seine Handlungen und Unterweisungen verändert und wechselt, wie es Ihm am besten scheint.
Derselbe Gott, Welcher in Vers 10 gesagt hatte: „Ziehe hinauf!" sagt hier in Vers 14: „Du sollst nicht hinaufziehen!"
Warum diese besondere Übungsweise für Seinen Diener? Weil
Er David in der kräftigsten Weise belehren will, daß es die
Schlacht des Herrn und nicht die Schlacht Davids ist. „Du sollst
nicht hinaufziehen hinter ihnen her. Und es wird geschehen,
wenn du das Geräusch eines Daherschreitens in den Wipfeln
der Bakabäume hörst, alsdann komm hervor zum Streit; denn
Gott geht vor dir her, um das Heer der Philister zu schlagen".
— Als Pharao und hinter ihm die Heere Ägyptens den Israeliten auf den Fersen waren, das Rote Meer vor ihren Füßen
rauschte und fast unübersteigliche Berge sich zu beiden Seiten
erhoben, sagte Moses: „Fürchtet euch nicht! Stehet und sehet
die Rettung Jehovas, die er euch heute schaffen wird; denn
die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr fortan nicht
mehr sehen ewiglich" (2. Mo 14, 13). Auch Josaphat, als er sich
einer großen Menge — bestehend aus den Kindern Ammons
und Moabs und denen vom Gebirge Seir — gegenüber sah,
schaute nur auf den Herrn, und die Antwort lautete: „So
spricht Jehova zu euch: Fürchtet ihr euch nicht, und erschrecket
nicht vor dieser großen Menge; denn nicht euer ist der
Streit, sondern Gottes . . . Ihr werdet hierbei nicht zu streiten
haben; tretet hin, steht und sehet die Rettung Jehovas an euch,
Juda und Jerusalem! fürchtet euch nicht und erschrecket nicht;
morgen ziehet ihnen entgegen, und Jehova wird mit euch sein"
(2. Chron 25, 15—17). Ebenso mußte auch Gideon belehrt
werden, daß nicht durch eine starke Macht, sondern durch den
Heiligen Geist die Siege errungen würden. Nachdem sein Heer
bis auf dreihundert Streiter verringert war, hatte er Gelegenheit, durch einen Traum zu erfahren, daß er in der Hand Jehovas nur ein Gerstenbrot sei, daß aber, wenn Jehova dieses
Gerstenbrot in das Lager der Midianiter wälze, ihr ganzes
Heer vor diesem armseligen Brote fallen werde. (Man lese
Richter 6 und 7).
Dies sind einige von den vielen, für das stolze Menschenherz
notwendigen Unterweisungen Gottes. Selbst bezüglich der Art
196
und Weise, dem Feinde zu begegnen, will Gott Seine Veränderungen und Bestimmungen treffen, damit der Mensch wissen
möge, daß man keinen Schritt tun darf, ohne Seines Willens
in dieser Beziehung versichert zu sein. Gerade weil es hieran
mangelte, irrte David so sehr und mußte daher belehrt werden,
daß selbst ein gestriger Befehl für heute keine Geltung mehr
habe, sondern daß er der täglichen Speise und Unterweisung
wegen vor Gott kommen müsse und sein Wille gebrochen
werde, indem ihm an dem einen Tage befohlen wurde: „Ziehe
hinauf!" und an dem anderen: „Du sollst nicht hinaufziehen!"
Aber, — wie bei Moses, Gideon und Josaphat —, welche Zeichen der Rettung, des Sieges und des Triumphes erblickt er
zu seinen Gunsten! Als er seinem eigenen und dem Rate seiner
Obersten folgte, erfreute er sich keiner Rettung, keines Sieges,
keines Triumphes, sondern Sünde, Trauer und Tod waren die
Früchte. Ebenso ist es mit vielen Kindern Gottes, die anstatt
nur und stets auf den Herrn zu blicken, ihren eigenen und
den Gedanken ihrer sogenannten Geistlichen folgen und mithin sich verbunden haben mit einem schriftwidrigen System,
das gleich dem neuen Wagen Davids, durch Menschen aufgerichtet ist. Daher haben ihre Herzen und Seelen Trauer,
Dürre und selbst den Tod zur Frucht; denn wie kann jemand
glücklich sein, der das Wort Gottes beiseitegesetzt, um schriftwidrigen Überlieferungen der Menschen zu folgen? David
durfte nicht eher den Kampf beginnen, bis sein Ohr „das
Geräusch eines Daherschreitens in den Wipfeln der Bakabäume" vernahm. Das ist wieder das Laib Gerstenbrot Gideons. „Das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen, und
das Schwache Gottes stärker als die Menschen" (i. Kor i, 25).
„Wenn jemand unter euch sich dünkt, weise zu sein in diesem
Zeitlauf, der werde töricht, auf daß er weise werde. Denn die
Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott" (1. Kor 3, 18. 19).
Sobald David „das Geräusch des Daherschreitens in den Wipfeln der Bakabäume" vernahm, konnte er dem Feinde entgegentreten; denn dieses Geräusch erinnerte ihn daran, daß Gott
vor ihm hergehe, um das Heer der Philister zu schlagen (V. 15).
In dieser beachtenswerten Weise wurde er belehrt, daß es der
Streit Jehovas sei, und daß er keine Bewegung zu machen
habe, ohne vorher das deutliche und bestimmte Wort des Herrn
vernommen und durch das Rauschen in den Baumwipfeln den
197
klarsten Beweis empfangen zu haben, daß Gott vor ihm hergehe. Das Lager Israels konnte sich nicht ein Haar weit fortbewegen, bevor sich die Feuer- und Wolkensäule zuerst in
Bewegung gesetzt hatte; war das aber geschehen, so mußte
Israel, mochte es Nacht oder Tag sein, sofort aufbrechen und
erst dann Halt machen, wenn die Feuer- oder Wolkensäule
still stand. „Wir wandeln durch Glauben und nicht durch
Schauen", sagt der Apostel. „Abraham zog aus, nicht wissend,
wohin er komme". O möchten wir einen kindlicheren Glauben
an das Wort, an die Taten und Wege des Herrn haben! David
machte bei dieser Gelegenheit nicht die geringste Einwendung;
er suchte weder bei sich selbst, noch bei seinen Hauptleuten
Rat und Weisheit, sondern beugte sich einfach und unbedingt
unter den Willen und das Wort Jehovas. Er gehorchte dem
Befehl des Herrn; „und sie schlugen das Heer der Philister von
Gibeon bis nach Geser" (V. 16). Hier wird also durch „Glaubensgehorsam", oder mit anderen Worten durch einfachen
Glauben an das Wort des Herrn und nicht in dem Gefühl und
der Weisheit des Menschen ein völliger und herrlicher Sieg
über Gottes und Davids Feinde gefeiert, während früher, als
David dem Geschöpf folgte und diente, nichts als Verwirrung,
Hoffnungslosigkeit und Zerstörung geerntet wurde.
Wir haben hier eine ernste Warnung und ein schönes Beispiel
— eine Warnung im Blick auf einen traurigen Wandel nach
eigenem Ermessen und geleitet durch menschliche Gefühle und
Überlieferungen, und ein Beispiel im Blick auf den freudigen,
friedlichen, mächtigen und siegreichen Wandel im Glauben
geleitet durch den Geist und das Wort Gottes. Nicht nur waren
alle Feinde Davids vor ihm gefallen, sondern auch „der Name
Davids ging aus in alle Länder; und Jehova legte Furcht vor
ihm auf alle Nationen" (V. 37). Alles ist durch die Gnade und
Güte Gottes verändert. Anstatt eines widerwilligen und ungehorsamen Dieners haben wir einen willigen, glaubenden und
gehorsamen Diener, und von nun an gelingt und gedeiht alles
unter dem König Israels, dem Gesalbten Jehovas.
Geliebter Leser! Gleichst du dem in Kap. 13 oder dem in Kap.
14 gezeichneten Bilde Davids? Jedenfalls wandelst du entweder den Pfad des Glaubens, geleitet durch den Geist und das
198
Wort Gottes, oder du wandelst nach eigenem Ermessen, geleitet durch menschliche Gefühle und Überlieferungen. Einen
dritten Pfad gibt es nicht, wie geschrieben steht: „Wer nicht
mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt,
der zerstreut". Möge der Herr Seine Kinder aus den verschiedenen Systemen, oder sogenannten Kirchen unserer Tage befreien, welche ihre Seelen mit Trauer und Dürre erfüllen werden! Möge Er sie die große Freude und Segnung des Gehorsams gegen Sein Wort, sich ohne einen von Menschen erbauten
„neuen Wagen" einfach als Kinder Gottes zu versammeln,
genießen lassen! Sicher würden sie dann auch, wie David in
Kap. 14, die kostbare Gegenwart, Macht, Führung und den
endlichen Sieg des Herrn erfahren.
3-
Wir haben also im ersten Teil die traurigen Folgen der Unterwerfung unter den Einfluß und die Leitung des Menschen sowie des Ungehorsams gegen das Wort Gottes gesehen
(Kap. 13), während wir im zweiten Teil (Kap. 14)
sahen, wie Gott nach Seiner Weisheit Umstände hervortreten ließ, welche Seinen Diener so völlig veranlaßten, von
dem Menschen abzulassen, und sich auf Gott zu werfen, daß
David ohne den ausdrücklichen Befehl Jehovas nicht einen
einzigen Schritt tat. Als Gott Seinen Diener prüfte, indem Er
an einem Tage sagte: „Ziehe hinauf!" und am anderen: „Du
sollst nicht hinaufziehen"! So beriet sich David nicht mit
Fleisch und Blut, sondern gehorchte einfach, indem er wiederholt Gott nur fragte (V. 10—14)
un d nur dessen Befehlen
gehorchte; und die Folge war, daß, während er in Kap. 13,
dem Menschen und nicht dem Worte Gottes folgend, nichts
als Elend und Schande fand, hier ein vollständiger Sieg seiner
harrten, weil er nur dem Worte des Herrn und nicht dem
Menschen folgte.
In Kap. 15 finden wir die große Gnade und Güte Gottes gegen
Seinen Diener und die dadurch erzeugten gesegneten Wirkungen noch mehr entfaltet. David ist so völlig wiederhergestellt
und zu Gott und Seiner Wahrheit zurückgeführt, daß er, statt
sich der heidnischen Weise und eines „neuen Wagens" zur
Verrichtung des Werkes Gottes zu bedienen, vielmehr be199
stimmt und feierlich erklärt: „Die Lade Gottes soll niemand
tragen, als nur die Leviten; denn sie hat Jehova erwählt, um
die Lade Gottes zu tragen und seinen Dienst zu verrichten
ewiglich" (V. 2).
Und nun, mein Leser, erkennst auch du nur die an, welche der
Herr für Sein Werk auserwählt hat, oder hältst du, wie David
zu Anfang, den halb jüdischen, halb heidnischen „neuen Wagen" menschlicher Erfindung für besser, als die Anordnungen
Gottes für Seinen Dienst in Seinem eigenen Hause? Der Geist
Gottes gibt Gaben, welchem Er will, „jeglichem insbesondere
austeilend, wie er will . . . Nun aber hat Gott die Glieder
gesetzt, jedes einzelne von ihnen am Leibe, wie es ihm gefallen hat" (1. Kor 12, 17. 18). Aber ach! dieses alles hat man
aus dem Auge verloren; und die sich Kirchen oder Gemeinden
nennen, richten sich nach Belieben ihre Ämter und ihr Kirchenregiment ein, ohne in irgendeiner Weise auf das Wort Gottes
Rücksicht zu nehmen.
Wie verschieden ist das Verhalten Davids in dieser Hinsicht!
Er beachtet und befolgt nur den Willen, den Weg und das
Wort Gottes. Wie vortrefflich er die verschiedenen Unterweisungen der Barmherzigkeit und des Gerichts Gottes gelernt
hat, zeigen uns die Worte: „Die Lade Gottes soll niemand
tragen, als die Leviten; denn sie hat Jehova erwählt, die Lade
Gottes zu tragen und ihm zu dienen ewiglich". Jetzt versammelte David die Kinder Aarons und die Leviten für das
Werk Gottes (V. 4) statt zu seinen eigenen Plänen zurückzukehren, und alles nimmt einen glücklichen und harmonischen
Verlauf. Dies ist stets der Fall, wenn statt der schwachen,
irrenden Meinung des Menschen Gott und Sein Wort anerkannt und befolgt werden.
Jedoch wählte der König nichl nur die rechten Personen füi den
Dienst Gottes, sondern er trägt auch Sorge, daß die Priester
und Leviten für ihren feierlichen Dienst praktisch und persönlich zubereitet sind, damit nicht wieder, wie vorher, ein
„Bruch" oder eine Todesszene über sie gebracht werde. „Und
David rief Zadok und Ab,'athar, die Priester und die Leviten . . ., und sprach zu ihnen: Ihr seid die Häupter der Väter
200
der Leviten; heiliget euch, ihr und eure Brüder und bringet
die Lade Jehovas, des Gottes Israels, hinauf an den Ort, welchen ich für sie bereitet habe. Denn weil ihr das vorige Mal
es nicht tatet, so machte Jehova unser Gott einen Bruch unter
uns, weil wir ihn nicht suchten nach der Vorschrift" (V. 11—
*3).
Die Ordnung im Hause Gottes ist jetzt, daß Christus die
Gläubigen „zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott
und Vater gemacht hat" (Offb i, 6); und auch der Apostel
Petrus erklärt, daß sie ein geistliches und königliches Priestertum seien (1. Petr 2, 5—9). Gewisse Personen, von denen
viele nicht einmal bekehrt sind, einzuführen, sie als Priester
oder als Diener zu berufen und ihnen, mit Ausschluß anderer,
ein bestimmtes Amt mit festem Gehalt zu verleihen, ist grobe
Verleugnung dieser und anderer Stellen des Wortes Gottes
und eine Beiseitesetzung des unumschränkten Vorrechts des
Heiligen Geistes, Welcher, wie wir in 1. Kor 12, 11 gesehen,
statt den Dienst eines Menschen einzurichten, „jeglichem insbesondere austeilt, wie er will". Und in keiner Stelle des Neuen
Testaments beauftragt Er die Kirche oder die einzelnen Versammlungen, ein oder mehrere Personen über sich als Prediger, Pastoren oder Älteste zu ernennen. Und dennoch, was
geschieht um uns herum? Entweder wählen die Gemeinden
sich ihre Diener, oder der Staat setzt sie ein. Wo finden sie
in dem Worte Gottes einen Grund für ein solches Verfahren?
Mirgends. In den kleineren, von den Landeskirchen ausgeschiedenen Parteien mag sich in dieser Frage hie und da eine kleine
Abweichung kundgeben; aber im allgemeinen herrschen auch
hier die gleichen Grundsätze. Aber, ich wiederhole es, wo
findet sich in der Schrift etwas dergleichen? Wie wir in den
Briefen sehen, setzten nur die Apostel und ihre Abgesandten,
wie Timotheus und Titus, und sonst niemand Diakonen und
Älteste ein, und zwar in jeder Versammlung eine Mehrzahl
von ihnen und nicht eine einzelne Person; und keiner dieser
wirklich ordinierten Diakonen und Ältesten empfing ein festes,
regelmäßiges Gehalt. Alles, was diesem Grundsatz entgegen
ist, ist der „neue Wagen" Davids und bewirkt in unseren
Tagen Spaltung, Unglück und moralischen Tod zur Rechten
und zur Linken. Als menschliches Machwerk ist die Einrichtung der verschiedenen großen und kleinen religiösen Parteien
201
so vollständig, daß, wenn es möglich wäre, jedes wahre Kind
Gottes aus diesen Systemen zu entfernen, das Triebwerk
ebenso gut und in manchen Fällen noch besser im Gange
bleiben würde; denn dann würden keine Störer vorhanden
sein, welche noch die Irrtürmer bezeichnen. Doch auch der Plan
Davids schien anfangs durchaus vollständig und harmonisch zu
sein; aber was bewirkte er? Gott hatte von Anfang bis zu
Ende nichts mit dieser menschlichen Erfindung Davids zu
schaffen; und darum waren die Mitte und das Ende gleich
beklagenswert. O möchten wir doch stets bedenken, daß,
wenn wir uns von dem Worte Gottes abwenden und zu den
„Überlieferungen der Menschen" hinwenden, dies nichts anderes ist, wie der Herr sagt, als daß wir das Gebot Gottes
ungültig machen und so in unseren eigenen Seelen erblinden
und erlahmen.
David hatte dies erfahren. Aber, wie gesagt, alles ist jetzt
verändert. Die bitteren Erfahrungen haben ihn, den so hoch
geehrten Diener Gottes, weise gemacht, so daß er jetzt für den
Dienst der Bundeslade seines Gottes völlig zubereitet ist. Er
hat auf dem Weg der Trübsal erkannt und gefühlt, daß der
Dienst Jehovas nicht „nach der Verordnung Gottes" gewesen
ist, und darum hat er nun jedes einzelne Teilchen des WagenWerks nicht nur aufgegeben, sondern schmerzliche Reue darüber getragen. Die geheiligten Priester und Leviten und nur
sie allein verrichten den Dienst, welchen David noch kurz
zuvor mittels einer mechanischen Einrichtung zu erfüllen gehofft hatte. „Und die Söhne der Leviten trugen die Lade
Gottes auf ihren Schultern, indem sie die Stangen auf sich
legten, so wie Mose geboten hatte nach dem Worte Jehovas"
(V. 15). Alles ist völlig verändert, In Kap. 13 waren David und
Israel so voll ihres eigenen Tuns, daß sie nach Kräften singen
und spielen mußten; aber schon der nächste Vers stellt die
ganze Szene als eine entweihte dar; und die Hand Gottes offenbart sich im Gericht des Todes unter ihnen gerade in dem
Augenblick, als sie alle sich über sich selbst, über ihre Musik
und über ihr schriftwidriges Werk so sehr ergötzten. (Siehe
Kap. 13, 8—14). Und findet man unter den kirchlichen Parteien
unserer Tage nicht dieselbe Sache? Man singt, man spielt, man
hält feierliche Ansprachen, man ist mit Stolz und Freude erfüllt
202
über die Form und Einrichtung der sogenannten Gotteshäuser;
und die kleineren Gemeinschaften ahmen diese Weise des Ergötzens so weit wie möglich nach. Ach! das ist kein Singen und
Spielen dem Herrn in den Herzen, wovon die Schrift spricht;
und der „Bruch" wird sicher einmal unerwartet stattfinden.
David hatte mit diesem allem gebrochen. Der Dienst und die
Belehrung Gottes waren jetzt bei ihm gründliche und gesegnete Wirklichkeiten. „Und David sprach zu den Obersten dei
Leviten, daß sie ihre Brüder, die Sänger, bestellen sollten . . .
indem sie ihre Stimmen erhöben mit Freuden. Und es geschah,
daß David und die Ältesten Israels und die Obersten über
Tausend hingingen, die Lade des Bundes Jehovas hinaufzuholen aus dem Hause Obed-Edoms mit Freuden . . . Und David
war angetan mit einem Oberkleide von Byssus, und auch alle
Leviten, welche die Lade trugen, und die Sänger und Chenanja,
der Oberste über den Gesang der Sänger; und David hatte
ein leinenes Ephod an. Und ganz Israel brachte die Lade des
Bundes Jehovas hinauf mit Jauchzen und mit Posaunenschall
und mit Trompeten und mit Zymbeln, klingend mit Harfen
und Lauten" (V. 16. 25. 28). Die durch die Obersten der Leviten bestellten Sänger sind in der gegenwärtigen Haushaltung
vorbildlich die Kinder Gottes, welche allein ermahnt sind, die
Loblieder Gottes zu singen. Alle andern spotten nur Gottes,
wenn sie an diesem Lobe teilzuhaben bekennen. Wie kann
man jemanden preisen, den man weder kennt noch liebt? Das
Lob ist ein höherer Charakter der Anbetung, als Bitte und
Danksagung. Und ist nicht höchst verwerflich, aus diesen
heiligen Dingen ein Geschäft zu machen? Man setzt Männer
Danksagung. Und ist es vor allem nicht höchst verwerflich, aus
diesen heiligen Dingen ein Geschäft zu machen? Man setzt
Männer ein, die, mögen sie bekehrt oder unbekehrt sein, für
ein bestimmtes Gehalt predigen, beten, loben und danken;
man verschreibt sich bei feierlichen Gelegenheiten für bedeutende Summen berühmte Organisten und -ausgezeichnete Sänger
und dieses alles ist eine Nachahmung des Judentums in den
Tagen unseres Herrn, als Er sagte: „Machet nicht das Haus
meines Vaters zu einem Kaufhause". Man denkt kaum daran,
daß Sünder bekehrt oder Gläubige erbaut werden, sondern
man hat es hauptsächlich nur darauf abgesehen, eine große
203
Menge anzuziehen und vielleicht einträgliche Kollekten abzuhalten. Erinnert uns dieses alles nicht an die Worte: „Durch
Habsucht werden sie euch verhandeln mit erkünstelten Worten" (2. Petr 2, 3)?
Der wahre und einfache Gottesdienst wird nimmer von der
Gesinnung des Fleisches wertgeschätzt werden; denn „die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft wider Gott". Das mußte
auch David bei dieser Gelegenheit erfahren. Die Tochter Sauls
konnte einen so sinnlosen, geringen und reizlosen Gottesdienst
dem sich David unterzog, nicht ertragen und behandelte das
Werk und den Diener Jehovas mit Geringschätzung. „Und es
geschah, als die Lade des Bundes Jehovas zur Stadt Davids
kam, da schaute Michal, die Tochter Sauls, durchs Fenster
und sah den König David springen und spielen, und sie verachtete ihn in ihrem Herzen" (V. 29). Ebenso ist es jetzt. Der
wahre Anbeter und die wahre „Anbetung im Geiste und in der
Wahrheit" sind verachtet, während das Auge die prachtvollen
Gebäude, die imponierenden Gebräuche und Zeremonien und
die papistischen Vermummungen mit Begierde betrachtet; aber
der wahre Diener des Herrn sollte, anstatt sich stören zu
lassen, in solchen Umständen einen um so größeren Mut für
den Herrn zeigen. „Da sprach David zu Michal: Es war vor
dem Angesicht Jehovas, der mich erwählt hat vor deinem
Vater und seinem ganzen Hause, mich zum Fürsten zu verordnen über das Volk Jehovas, über Israel, ja, vor Jehova habe
ich gespielt. Und ich will noch geringer werden denn also, und
will niedrig sein in meinen Augen" (2. Sam 6, zi. 22). „Und
sie brachten die Lade Gottes hinein und stellten sie innerhalb
des Zeltes, das David für sie ausgespannt hatte. Und sie
brachten Brandopfer und Friedensopfer vor Gott" (l.Chron 16,
1). Welch einen herrlichen Gegensatz bildet dieses alles zu der
Szene in Kap. 13! Und warum? Einfach weil David und Israel
in dem einen Falle den Weg menschlicher Überlieferung, und
im anderen den Weg der Wahrheit, den Weg des Wortes
Gottes wandelten. Jede der Schrift entsprechende Sache muß
gelingen, wenn wir den Weg des Herrn verfolgen und uns vom
äußeren Schein und Gepränge lossagen, welches nur ein übertünch tes Grab, Spott und Trug ist. Die Lade Gottes war nicht
nur in den ihr gebührenden Platz, in ein einfaches Zelt gebracht,
204
sondern David segnete auch das Volk im Namen Jehovas. „Er
verteilte an ganz Israel, vom Manne bis zum Weibe, an jeden
einen Laib Brot und eine Fleischspende und einen Traubenkuchen. Und er stellte vor die Lade Jehovas Diener aus den
Leviten, daß sie Jehova, den Gott Israels, priesen, lobten und
rühmten" (V. 3. 4). Wie lieblich sind diese Klänge, gegenüber
der Sprache und den Handlungen Davids, als Jehova einen
Bruch wegen seines Ungehorsams an ihm machte!
Wir haben hier ferner einen äußerst herrlichen Gegenstand
vor unseren Augen, nämlich das tausendjährige Reich in Herrlichkeit. Wir schauen die Züge der majestätischen Rückkehr
des Menschensohnes in Seine eigene Herrlichkeit, sowie in die
Herrlichkeit des Vaters, der heiligen Engel und Seiner Kirche.
Nachdem die Lade Gottes mit den sie begleitenden Feierlichkeiten zurückgebracht war, lesen wir: „Dazumal, an selbigem
Tage, trug David zum ersten Male Asaph und seinen Brüdern
auf, Jehova zu preisen" (V. 7). Sein erster Gedanke ist jedoch
weder die Regierung, noch die Herrlichkeit, sondern Jehova
Selbst. Er sagt: „Preiset Jehova, rufet an seinen Namen . . .!
Singet ihm, singet ihm Psalmen . . . ! Rühmet euch seines
heiligen Namens! Es freue sich das Herz derer, die Jehova
suchen! Trachtet nach Jehova und seiner Stärke, suchet sein
Angesicht beständig! Gedenket seiner Wunderwerke, die er
getan hat, seiner Wunderzeichen und der Gerichte seines Mundes" (V. 8—12). Und von der zweiten persönlichen Wiederkunft
des Herrn sagt er: „Man spreche unter den Nationen: Jehova
regiert! . . . Denn er kommt die Erde zu richten" (V. 31. 33). Wir
haben hier also die „Erscheinung" und die Herrlichkeit des
Reiches des wahren Sohnes Davids, des „Königs der Könige,
des Herrn der Herren". Dann wird das niedergetretene Israel
nicht länger vergessen sein, und auch die Nationen werden
gesegnet sein. Erzählet unter den Nationen Seine Herrlichkeit,
unter allen Völkern Seine Wundertaten! Denn groß ist Jehova
und sehr zu loben, und furchtbar ist er über alle Götter; denn
alle Götter der Völker sind Nichtigkeiten; aber Jehova hat
die Himmel gemacht. Majestät und Pracht ist vor seinem Angesicht. Stärke und Freude in seiner Wohnstätte. Gebet Jehova
Herrlichkeit und Stärke" (V. 21—28)! Ja, dann wird die ganze
Schöpfung „freigemacht sein von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes".
205
Der Himmel, die Erde, das Meer, das Gefilde und die Bäume
des Waldes sind berufen, vor Ihm zu jauchzen und zu jubeln,
weil „Er kommt, zu richten die Erde". — „Und wenn deine
Gerichte auf der Erde sind, werden die Bewohner Gerechtigkeit
lernen".
Wir sehen also den anfangs so reichen Pfad Davids bei der
Einführung der Lade Gottes in ihren einfachen und zeitweiligen Ruheplatz einen guten Verlauf nehmen. Möchte der
Leser aus dieser Geschichte lernen, wie verwerflich es ist, ein
gutes Werk auf eine verkehrte Weise zu verrichten. Alle
Systeme der kirchlichen Parteien sind, gleich dem „neuen
Wagen" Davids, menschliche Erfindungen, die einmal unter
der Hand Gottes zusammenbrechen werden. Eine Verbindung
mit ihnen muß Elend und Verderben zur Folge haben. Nur
wenn wir dem Worte Gottes gehorchen, wenn wir uns, getrennt von der gottlosen, wie von der religiösen Welt, im
Namen Jesu versammeln und uns mit den Gaben begnügen,
die der Geist Gottes uns darreicht, dann wird Friede, Freude
und Segnung unser Teil sein.
Das fälschlich beruhigte Gewissen
Für einen wahren Gläubigen ist nichts wünschenswerter, als
ein ruhiges Gewissen — nichts köstlicher, als das Bewußtsein,
den Willen Gottes getan und in Seinen Wegen gewandelt zu
haben. Nur dann kann er mit Freimütigkeit zu Gott nahen,
mit Freuden seinen Pilgerpfad durch diese Wüste verfolgen
und mit einem glücklichen Herzen der Zukunft entgegenharren. Wenn dagegen das Gewissen durch irgend etwas befleckt
ist, so fühlt man sich unglücklich; man entzieht sich der Gegenwart Gottes, man ist unfähig, im Kampf wider Sünde und
Welt auszuharren, und es bedarf dann einer Demütigung vor
Gott und eines aufrichtigen Bekennens der begangenen Fehlen
damit die anklagende Stimme des Gewissens zum Schweigen
206
gebracht und die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt
werde. Aber wie mancher Gläubige verschließt sein Ohr gegen
die Stimme des Gewissens, oder bemüht sich, sie auf jede nur
mögliche Weise zum Schweigen zu bringen! „Arglistig ist das
Herz, mehr als alles", sagt die Schrift; und ach! wie wahr ist
dieses Wort! Wie viele Mittel hat man nicht schon ersonnen,
um die Mahnungen des Gewissens zu überhören! Wie oft
schon ist das beunruhigte Gewissen durch allerlei Ausreden
fälschlich beruhigt worden! Wie viele Feigenblätter hat man
zusammen geheftet, um Schürzen daraus zu machen! Ach! wie
traurig ist ein solcher Zustand für das eigene Herz, für das
Zeugnis in der Welt und gegenüber unserem Gott, dessen Verherrlichung unsere Freude sein sollte!
Ein treffendes Vorbild von einem solchen Zustande finden wir
in der Geschichte eines Mannes vom Gebirge Ephraim, namens
Micha. Der Heilige Geist teilt uns diese Geschichte in Richter
17 mit und zwar, wie ich nicht zweifle, zu dem Zweck, uns die
trügerischen Gedanken und Urteile des menschlichen Herzens
vor Augen zu stellen. Verweilen wir einige Augenblicke bei
dieser Geschichte. Möge der Herr die daran geknüpften Bemerkungen für das Herz des Lesers segnen und sie dienen lassen
zur Verherrlichung Seines Namens!
„Und Micha sprach zu seiner Mutter: Die tausend und hundert
Silberlinge, die dir genommen worden sind, und worüber du
einen Fluch getan und auch vor meinen Ohren geredet hast,
siehe, das Silber ist bei mir; ich habe es genommen. Da sprach
seine Mutter: Gesegnet sei mein Sohn von Jehova"! — (V. 2).
Beachten wir es, daß diese Frau, wie auch ihr Sohn, den Jehova,
den Gott Israels, kannten und Ihm, wie wir später sehen werden, zu dienen beabsichtigten; denn indem Micha der Mutter
das Geld zurückgibt, sagt sie: „Das Silber hatte ich von meiner
Hand Jehova geheiligt für meinen Sohn, um ein geschnitztes
Bild und ein gegossenes Bild zu machen; und nun gebe ich es
dir zurück. Und er gab das Silber seiner Mutter zurück; und
seine Mutter nahm zweihundert Seckel Silber und gab sie dem
Goldschmied, und der machte daraus ein geschnitztes Bild und
ein gegossenes Bild; und es war im Hause Michas. Und der
Mann Micha hatte ein Gotteshaus, und er machte ein Ephod
207
und Teraphim und weihte einen von seinen Söhnen, und er
ward ihm zu einem Priester" (V. 3—5).
Verweilen wir hier einen Augenblick, um die Handlung Michas
und ihre praktische Anwendung beurteilen zu können. Es ist
selbstredend, daß dieser von Micha eingeführte Gottesdienst
ein selbstgemachter und darum ein Dienst des Fleisches war.
Micha und seine Mutter kannten Jehova und wußten daher
auch sicher, daß sie sich kein „geschnitztes Bild" machen durften, noch irgend „ein Gleichnis dessen, was oben im Himmel
und was unten auf Erden ist"; und dennoch taten sie es, und
zwar unter der Form der Gottseligkeit. Das ist immer die
Natur des eigenwilligen Dienstes, der zwar dem Herrn Ehre
darbringt, aber nicht nach dem Willen Gottes, sondern nach
eigenem Willen. Micha hatte keineswegs die Absicht, den
Dienst des Herrn ganz beiseitezusetzen; aber er setzte seine
Gedanken an die Stelle der Gedanken Gottes. Was hätte auch
die menschliche Vernunft gegen die Einrichtung eines Gotteshauses und gegen die Anstellung eines Priesters einwenden
können? War doch die Stiftshütte Jehovas zu weit entfernt,
um jedesmal dorthin gehen zu können. Es war vielleicht seine
Absicht, Jehova täglich zu dienen, und zu diesem Ende, da
der Weg zur Stiftshütte zu weit war, sich daheim einen Priester zu weihen. Die Verehrung Jehovas war ihm keineswegs
eine gleichgültige Sache; und vielleicht hat er gedacht, daß er
Jehova weit besser diene, als mancher der anderen Israeliten,
die nur einmal im Jahre hinaufgingen, um zu opfern. Und
dennoch — wie schön dies alles auch scheinen mochte — vergaß
er eine Sache, nämlich daß alle seine Handlungen vor Gott
ganz verwerflich waren, weil nach dem Gebot Gottes nur da
geopfert werden sollte, wo die Cherubim Seiner Herrlichkeit
ihren Platz hatten. Armer Micha! Wie nutzlos waren alle deine
Bemühungen und Anstrengungen! Gott nahm keines deiner
Opfer an. Er konnte es nicht tun, weil du nicht Gott, sondern
dir selbst dientest.
Es erging Micha ebenso wie den Kindern Israel vor dem Berge
Horeb. Mose blieb ihnen zu lange auf dem Berge, und da sie
endlich an seiner Rückkehr zweifelten, machten sie sich ein
goldenes Kalb. Die Ursache davon war nicht, daß sie Jehova
ganz und gar verworfen hatten — o nein; sie wollten vielmehr
208
durch dieses Kalb Jehova verehren. Vielleicht haben sie sich
einzureden gesucht, daß Gott zwar, während Mose unter ihnen
war, verboten habe, fremde Götter anzubeten, daß sie aber
jetzt, da Mose abwesend war, nicht wissen könnten, was ihre
Aufgabe sei zu tun. „Mose wird" — haben sie sich vielleicht
gesagt — „wohl nie zurückkehren, darum müssen wir doch
etwas vor Augen haben; die Umstände haben sich geändert,
darum müssen auch wir die Sache etwas anders anfangen."
Wie ernst aber warnt uns Paulus in Kol 2 vor Grundsätzen,
die wir in der Handlungsweise Michas und der Kinder Israel
erblicken! „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr
noch in der Welt? Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht,
(Dinge, welche alle zum Zerstören sind durch den Gebrauch)
nach den Geboten und Lehren der Menschen (welche zwar
einen Schein der Weisheit haben in eigenwilligem Gottesdienst
und in Niedriggesinntheit und im Nichtverschonen des Leibes,
und nicht in einer gewissen Ehre), zur Befriedigung des Fleisches".
Und wie steht es in unseren Tagen hiermit? Sind die Worte
des Apostels vielleicht überflüssig? Der Herr gebe, daß dies
der Fall sei! Doch, geliebte Leser, laßt uns auf uns selbst
sehen und die Frage an uns richten: „Wie verhalte ich mich in
dieser Sache Gott gegenüber?" — Es kommt hier auf den
Grundsatz des Herzens an. Wir können uns von vielen Dingen,
die wider das Wort Gottes streiten, getrennt haben, und dennoch kann unser Dienst, wenigstens in irgendeiner Hinsicht,
ein fleischlicher sein. So lange unsere Anbetung nicht im Geiste
und in der Wahrheit geschieht, ist sie ein selbstgemachter,
eigenwilliger Dienst. Ach, wie wenig werden die Worte des
Herrn: „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn
im Geist und in der Wahrheit anbeten", von den Gläubigen
verstanden und angewendet! Erläutern wir uns dieses durch
ein Beispiel.
Ein Heide, der durch die Verkündigung des Evangeliums gläubig
geworden war, erscheint in unserer Mitte. Im Worte Gottes
wenig erfahren, aber auch ohne menschliche Lehren und Er209
findungen tritt er in die Umgebung einer christlichen Welt. Er
kommt in ein Land, dessen Bewohner sich durchgehends Christen nennen, und er erwartet hier selbstredend eine gesegnete
Offenbarung der Versammlung Christi. Aber ach! wie sieht
er sich in seiner Erwartung getäuscht! In dieser christlichen
Umgebung gewahrt er die schändlichsten Laster: Schwelgerei,
Hurerei und Weltlichkeit in allen Schichten der menschlichen
Gesellschaft; ja, er gewahrt dieses alles unter denen, die sich
Christen nennen. Er durchwandert die Straßen einer großen
Stadt; doch nirgends, nirgends findet er einen Beweis, daß sich
hier Christen aufhalten. Ganz dieselben Grundsätze, die er
in seinem eigenen Lande gefunden hat, werden auch hier angewendet; auch hier hat alles den Stolz, die Eigenliebe, die
fleischliche Gesinnung, mit einem Wort die Feindschaft gegen
Gott zur Quelle. Er spricht mit solchen Christen, findet sie
aber in betreff ihres Zustandes eben so blind und unwissend,
wie seine eigenen Landsleute; sie ehren ihren Gott nicht; sie
haben keine Liebe für den Heiland der Welt; sie folgen ihren
eigenen Lüsten; ja er wird sogar von ihnen verhöhnt, gelästert
und verfolgt. Hierdurch kommt er zu der Folgerung, daß man
sich zwar des Namens eines Christen rühme, sich aber schäme,
ein Christ zu sein und als solcher zu leben, und daß er sich
mithin nicht unter Christen, sondern unter Weltmenschen,
nicht unter Freunden, sondern unter Feinden Gottes befinde.
Wohl gewahrt er eine Form der Gottseligkeit; aber dies hatte
er auch bei seinen Landsleuten gefunden. Auch Paulus fand
dergleichen in Athen. Die Form ist zwar verschieden; aber im
Grunde genommen ist es doch eine und dieselbe Sache. Er
erblickt eine Menge kirchlicher Gebäude, wie er einst in seiner
Heimat die Tempel der Götzen fand; er erblickt überall Priester, wie auch daheim die Götzendiener ihre Priester besaßen;
er findet hier, wie einst dort, eine Menge Menschensatz-ungen,
die zur Befriedigung des Fleisches dienen. Der Gott der Bibel
ist hier ebenso unbekannt, wie drüben im Heidenland. Er
findet den heiligen und gerechten Gott in einen Gott nach
eigenen Gedanken umgewandelt, den sie den Gott der Liebe
nennen, und der, wie die Götter seines Landes, die Sünden
unbeachtet läßt und durch Buße und gute Werke zu versöhnen
ist. Er findet Jesum, den Sohn des lebendigen Gottes, in einen
210
Menschen verändert, der höchstens zum Vorbild dienen kann,
der aber mit unserer Versöhnung nichts zu schaffen hat; und
ob er auch noch die Taufe und das Abendmahl vorfindet, so
erkennt er doch gar bald darin nur noch eine Form, mit der
man noch nicht so ganz brechen will.
Nach langem Suchen findet er endlich auch wahre Gläubige;
aber auch bei ihnen sieht er sich getäuscht, indem er bei ihnen
wenig geistliches Leben, wohl aber viel Gesetzlichkeit und
Formwesen entdeckt. Wie sehr er sich anfangs darüber wundert, wird ihm doch bald die Ursache klar. Er sieht die Gläubigen in Verbindung und Übereinstimmung mit einem weltlichen, halb heidnischen, halb jüdischen System, er sieht, daß
sie sogar an einem weltlichen, ungöttlichen, sogenannten Gottesdienst teilnehmen. Sie bringen ihre Kinder zur Taufe dorthin, damit sie später als Glieder jener Weltkirche aufgenommen werden, während sie selbst am Tische der Ungläubigen
das Abendmahl feiern. Wie könnte es ihn daher noch wundern,
ihr geistliches Leben so schwach zu sehen? Er findet vielmehr
Ursache, Gott zu loben, der trotz ihres fortwährenden Ungehorsams unermüdlich fortfährt, sie zu segnen und zu bewahren.
Ja, wirklich, der Ungehorsam ist groß. Sagt Gott uns doch in
Seinem Worte: „Seid nicht in einem ungleichen Joche mit Ungläubigen; denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit mit
Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen?
und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbilder? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott
gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und
ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Deshalb gehet weg aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht
der Herr, und rühret Unreines nicht an; und ich werde euch
aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet
mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige". — Ach! das Herz unseres Fremdlings muß betrübt
und niedergeschlagen sein, wenn er sieht, wie Gott und Sein
Wort durch die Namenchristen mit Füßen getreten, verachtet
und gehaßt wird, und wie die Gläubigen trotz des ausdrücklichen Verbotes Gottes mit ihnen vereinigt sind.
211
Hat er Ursache zu einer solchen Betrübnis, geliebter Leser?
Gewiß, du wirst es nicht leugnen können; und wir haben uns
wegen so vieler Untreue erneut zu demütigen. Ja, bekennen wir
es mit Aufrichtigkeit, daß unser Zustand so und nicht anders
ist; Gottes Wort Selbst hat uns verurteilt. Möchten wir es trief
fühlen, daß wir das, was in den Augen Gottes böse ist, ausgeübt haben. Wir haben uns zu den Elementen der Welt zurückführen lassen; denn wenn unser Gottesdienst in Verbindung und Übereinstimmung mit der Welt ist, so ist er ein
eigenwilliger Dienst; bekennen wir es ohne Zögern vor dem
Herrn. „Denn wenn wir uns selbst beurteilen, so werden wir
nicht gerichtet".
Es ist sicher unsere eigene Schuld, daß wir uns in diesem Zustande befinden. Wir haben nicht auf das Wort des Herrn
geachtet, wir haben unsere Augen und Ohren verschlossen und
trotz Seines bestimmten Verbots nach den Begierden unserer
eigenen Herzen gewandelt. Soll dieses, geliebte Brüder, noch
länger so bleiben? Soll das Wort des Apostels noch länger
wider uns zeugen, wenn er sagt: „Für die Freiheit hat Christus
uns freigemacht, stehet nun fest und lasset euch nicht wiederum
unter einem Joche der Knechtschaft halten" (Gal 5, 1)? Sollen
wir noch länger den Satzungen der Menschen gehorchen? Soll
unser Herz sich noch länger mit Dingen beschäftigen, die nicht
aus Gott sind? Ach, wann werden doch alle Kinder Gottes erkennen, daß der Gottesdienst, woran sich so viele von ihnen
beteiligen, nicht ein Dienst Gottes, sondern ein Dienst der Welt
ist? Möchte doch der Herr allen Seinen Kindern geöffnete Ohren
und willige Herzen geben, um nach Seinem Willen zu handeln
und Ihm im Geist und in Wahrheit zu dienen! Das Böse,
worin wir uns befinden, ist groß, sehr groß; und nur durch
die Kraft Gottes können wir uns davon trennen. Das Erste,
was wir zu tun haben, ist, uns vor Gott zu demütigen und
dann: „Gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ah", spricht
der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch
aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, spricht der
Herr, der Allmächtige" (2. Kor 6, 17—18). Dies ist der einfache
Weg für alle, die dem Worte Gottes gemäß handeln und wandeln wollen, und die alles für Schaden und Dreck halten wegen
der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu. Und jetzt, ge212
liebter Leser, frage ich dich: Was willst du tun? Willst du
Seiner Stimme gehorchen, oder willst du dein Gewissen auf
fälschliche Wege zum Schweigen bringen? — Doch, kehren
wir zu dem Hauptzwecke dieser Zeilen zurück, indem wir das
fernere Tun Michas betrachten.
„Und es war ein Jüngling aus Bethlehem-Juda, vom Geschlecht
Juda, der war ein Levit und weilte daselbst als Fremdling. Und
der Mann zog aus der Stadt, aus Bethlehem-Juda, um zu weilen,
wo er es treffen würde. Und er kam auf das Gebirge Ephraim
bis zum Hause Michas, um seines Weges zu ziehen. Und Micha
sprach zu ihm: Woher kommst du? Und er sprach zu ihm: Ein
Levit bin ich von Bethlehem-Juda und gehe hin zu weilen, wo
ich es treffen werde. Und Micha sprach zu ihm: Bleibe bei mir
und sei mir zu einem Vater und zu einem Priester, so will
ich dir jährlich zehn Silberlinge geben und Ausrüstung an
Kleidern und deinen Lebensunterhalt. Und der Levit ging hinein. Und der Levit willigte ein, bei dem Manne zu bleiben;
und der Jüngling war ihm wie einer seiner Söhne. Und Micha
weihte den Leviten, und der Jüngling ward ihm zu einem
Priester und war im Hause Michas. Und Micha sprach: Nun
weiß ich, daß Jehova mir wohltun wird, weil ich einen Leviten
zum Priester habe" (V. 7—13).
Wir ersehen aus dieser Mitteilung, daß das Gewissen Michas
unter dem selbstgemachten Gottesdienst durchaus keine Ruhe
gefunden hatte. Er wußte sehr wohl, daß er nicht nach dem
Willen Jehovas gehandelt habe; denn es war ihm keine unbekannte Sache, daß für Jehova nur in Seiner Stiftshütte Opfer
dargebracht wurden, und daß es der Stamm Levi war, den
Jehova sich zu diesem Zwecke auserwählt hatte. Doch anstatt
sich über seine Sünde zu demütigen und so dem Gebote Jehovas
nachzufolgen, sucht er sein Gewissen dadurch zu beruhigen,
daß er einen Leviten zum Priester erwählt und auf diese Weise
seinem Ungehorsam einen Schein von Gehorsam zu geben versucht. „Nun weiß ich", — sagt er — „daß Jehova mir wohltun
wird, weil ich einen Leviten zum Priester habe". — Micha war
mit sich nicht ganz zufrieden, so lange die Übertretung der
Gebote Gottes zu augenscheinlich und zu offenkundig war;
und darum freut er sich über die sich ihm darbietende Gelegen213
heit, einen Priester aus dem Stamme zu bekommen, welchen
Jehova Sich zu Seinem Dienste auserwählt hatte. Jetzt glaubte
er überzeugt zu sein, daß Jehova ihn segnen werde, jetzt
glaubte er sich vollkommen beruhigen zu dürfen, da er ja alles,
was er tun konnte, getan hatte und, soweit es ihm möglich war,
dem Gesetz Jehovas nachgekommen war. Was konnte er noch
weiter tun? Jehova sah ja seinen guten Willen und das mußte
doch wohl genügen. Armer Micha! Wie sehr täuschest du dich!
Wußtest du denn nicht, daß Gehorsam besser ist, als Opfer,
und Aufmerken besser als das Fett der Widder? Wußtest du
nicht, daß der Herr gesagt hatte: „Verflucht sei, wer nicht tun
wird die Worte meines Gesetzes?" Was nützt dir dein ganzer
Gottesdienst, wenn du dich darum ungehorsam gegen deinen
Gott erweist? Dein Tun ist und bleibt ein eigenwilliges Tun
mit einem Schein von Gottseligkeit vor den Augen eines heiligen und gerechten Gottes; welchen Nutzen könnte es dir
bringen? Er will Aufrichtigkeit und Wahrheit in deinem Herzen und nicht Schein.
Micha war zwar ein Hörer des Wortes Gottes; aber sein Wandel
stand nicht damit im Einklang. Er kannte zwar das Gesetz
Jehovas; aber er unterwarf sich seinen Forderungen nicht. Und
dies ist stets beklagenswert; denn Paulus sagt: „Nicht die
Hörer des Gesetzes sind gerecht vor Gott, sondern die Täter
des Gesetzes werden gerechtfertigt werden" (Röm 2, 13). Das
ist sehr ernst und sollte bei uns die Frage hervorrufen: „Wie
steht es bei mir in bezug auf diese Sache? Muß ich mich nicht
selbst verurteilen, sehr oft der Stimme meines Gewissens
nicht gehorcht zu haben? Bedarf ich nicht oft der Ermahnung
des Apostels Jakobus: „Seid Täter des Wortes, und nicht allein
Hörer, die sich selbst betrügen"? Ach, leider werden die meisten von uns dies bejahen müssen. Wir hören zwar den Mann
vom Gebirge Ephraim sagen: „Nun weiß ich, daß Jehova mir
wohltun wird"; aber laßt uns mit Ernst daran denken, daß
das Gebilde der Gedanken des Herzens trügerisch ist, und daß
der Teufel immer bemüht ist, uns durch einen Schein von
Wahrheit zu täuschen, damit wir doch keineswegs zum richtigen Verständnis unseres Zustandes gelangen und uns vor
Gott demütigen mögen. Das ist stets der Zweck und die Absicht des Feindes. Jedoch auf der anderen Seite ist es ebenso
214
wahr, daß die Wahrheit Gottes, wenn sie uns mit der ganzen
Kraft der christlichen Liebe und mit dem vollen Ernst des
Geistes vor Augen gestellt wird, unmöglich ohne Wirkung
bleiben kann. Es ist dann immer eine Stimme in uns, welche
uns zuflüstert: „Das ist die Wahrheit". Wohl dem Herzen,
das dann nicht zu verschlossen ist, um dies zu erkennen, sondern nach der Wahrheit hört! Wohl jedem, der nicht ein „vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter des Wortes ist, dieser wird
glückselig sein in seinem Tun". — Doch ach! wie oft sind wir
bloß Hörer und nicht Täter des Wortes! Und dann „gleichen
wir einem Mann, der sein natürliches Angesicht in einem
Spiegel betrachtet; denn er hat sich selbst betrachtet und ist
weggegangen und hat alsbald vergessen, wie er war". — Sollte
nicht irgendeiner unserer Leser sein Bild in dem Spiegel, den
wir ihm vorhielten, geschaut und sich in dem Zustand, den
wir soeben beschrieben haben, entdeckt haben? Dann sind wir
überzeugt, daß, was er auch dagegen einwenden mag, sein Gewissen nicht ganz ruhig ist. Freilich gibt es auch für ihn unendlich viele Mittel, um das Gewissen zum Schweigen bringen zu
können. Aber möge er bedenken, daß es nur „eitle Überlegungen des Herzens" sind.
Wenn das Herz nicht geneigt ist, den Willen Gottes zu tun,
weil es an diese Erde gefesselt ist und durchaus keine Neigung
hat, alle Dinge für Verlust zu achten wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, dann versteht es sich fast
von selbst, daß es etwas nötig hat, um sich darauf stützen zu
können. Was wir eben über den eigenwilligen Gottesdienst
gesagt haben, mag vielleicht — wir hoffen es sehr — das Gewissen des einen oder des anderen Lesers getroffen und den
Ernst der Wahrheit: „Sondert euch ab"! und „seid nicht in
ungleichem Joche mit Ungläubigen!" seinem Herzen nahegebracht haben. Aber er verhehle es sich auch nicht, daß die Absonderung eine nicht leichte Sache ist, daß sich Fleisch und Blut
dagegen sträuben und daß ein solcher Weg ein Weg der Verleugnung und der Schmach ist; und um das Gewissen zu beruhigen, hat er vielleicht in diesem Augenblick, anstatt sich
der Wahrheit zu unterwerfen, nichts Eiligeres zu tun, als sich
nach Entschuldigungen aller Art umzusehen. „Ich kann" —
sagt er vielleicht — „doch die Welt nicht räumen? und dahin
215
würde es schließlich kommen müssen, wenn ich einen solchen
Pfad wandeln wollte. Und wie kann ich die Herzen beurteilen?
Nein, das überlasse ich Gott, der Herzen und Nieren zu prüfen vermag. Und wo sollte ich eine vollkommene Versammlung auf Erden finden können?" — Vielleicht werden das seine
Gedanken und Einwürfe sein, durch die er sich zu beruhigen
sucht, gerade als ob er keine persönliche Verantwortlichkeit
habe, dem Willen Gottes nachzufolgen. Aber ach! wieviele
Einwendungen und Entschuldigungen er auch imstande sein
mag vorzubringen, so werden doch die oben angeführten
Worte in 2. Kor 6, 16 stets gegen ihn und sein Tun ein lautes
Zeugnis ablegen. Er folgt einer Weise, durch welche der natürliche Mensch sich in ein ewiges Elend stürzt. Er versucht das
Wort,.welches sein Gewissen getroffen hat, unter einer Menge
menschlicher Worte und Überlegungen zu vergraben, um
auf diese Weise jenes ihn verwundende Wort aus dem
Wege zu schaffen. Eitle Mühe! Es wird ihm nicht gelingen;
immer wieder und mit erneuerter Kraft wird der Stachel jenes
Wortes zum Vorschein kommen und das Gewissen treffen,
um es dem Schlafe zu entreißen. Er wird die Erfahrung machen,
daß das Schwert des Geistes eine zweischneidige und eine gar
lästige Waffe ist gegenüber denen, die nicht dem Worte Gottes gehorchen wollen.
„Aber" — sagt vielleicht jemand — „ich muß doch zuerst den
Weg wissen, den ich einzuschlagen habe; denn ich kann doch
nicht einen Pfad betreten, ohne vorher zu wissen, wohin er
führt". Aber, mein Freund, der du diesen Einwand machst,
beantworte mir die Frage: Möchtest du nicht lieber diesen
Weg gar nicht einschlagen und ist nicht deine Abneigung
gegen diesen Weg unausbleiblicher Verleugnung die hauptsächlichste Ursache, daß du, bevor du diesen Weg betreten willst,
vorher die Folgen und den Ausgang eines solchen Schrittes
prüfst? Willst du damit dein Gewissen beruhigen, oder gedenkst du dadurch Zeit zu gewinnen? Wenn die Kinder Israel,
als Mose ihnen befahl, aufzubrechen, um nach den Worten
Jehovas trockenen Fußes durch das Schilfmeer zu ziehen, etwa
gesagt hätten: „Wir wollen zwar deinem Befehle gehorchen;
aber wohin führt unser Weg und wie wirst du uns, wenn wir
das Ziel erreicht haben, weiterführen"? —was würdest du dabei
216
gedacht haben? Würdest du nicht gesagt haben: „Sie haben
keine Neigung, sich durch das Rote Meer führen zu lassen,
und darum machen sie, um das Aufbrechen zu verzögern, alle
diese Einwendungen". Sicher, das würden deine Gedanken gewesen sein. Aber gerade so verhält es sich mit dir, mein geliebter Leser. Du sträubst dich geradeheraus zu sagen: „Ich
glaube wohl, daß Gott dieses will; aber ich habe keine Neigung, in dieser Beziehung Seinen Willen zu tun". Und darum
suchst du allerhand Entschuldigungen auf. Auf die Aufforderung Jesu: „Folge mir nach!" hast du die Antwort: „Herr
erlaube mir, daß ich zuerst hingehe und meinen Vater begrabe". Aber sei versichert, das ist nicht die richtige Art und
Weise eines Nachfolgers Christi. Du hast einfach ohne Widerrede zu folgen; und dann erst wird der Herr dir sagen, was
du weiter zu tun hast. Du kannst völlig überzeugt sein, daß
wenn du einfach den Worten des Herrn folgst, dir alles leicht
werden wird; denn der Herr wird dir fortwährend zur Seite
stehen. Aber so lange du nicht wandelst nach dem Licht, das
Er dir verliehen hat, und auf das Er dich durch diese Zeilen
wieder aufmerksam machen läßt, kann Gott dir unmöglich
weiter Seinen Willen offenbaren. Ach! möchtest du doch nicht
nur ein Hörer, sondern auch ein Täter Seines Wortes sein!
Ein anderer möchte vielleicht vorher die Kosten überschlagen
wollen, indem er sich auf das Wort des Herrn beruft: „Wer
unter euch, der einen Turm bauen will, setzt sich nicht zuvor
nieder und berechnet die Kosten, ob er das Nötige zur Ausführung habe" (Lk 14, 28). Ohne Zweifel ist dieses eine gute
Sache, jedoch nur, wenn die Berechnung eine richtige ist und
man nichts dabei übersieht oder vergißt. Wenn es aber, wie
es leider meistens der Fall ist, nur zur Entschuldigung dienen
soll, um dem Willen Gottes nicht nachzufolgen, dann kann
man jahraus jahrein rechnen und berechnen, ohne zu einem
richtigen Resultat zu kommen, und zwar einfach aus dem
Grunde, weil man immer eine Sache vergißt, nämlich die Hilfe
und Unterstützung Dessen, Der gesagt hat: „Die Haare eures
Hauptes sind alle gezählt"; und: „Ich bin der Gott des Himmels und der Erde, der Gott und Vater eures Herrn Jesu
Christi". — Ein guter Rechner beginnt damit, daß er an den
einen Rand seiner Berechnung die Worte setzt: „Ein jeglicher
217
von euch, der nicht allem absagt, was er hat, kann nicht mein
Jünger sein"; und „wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und
mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein" (Lk 14, 27—33).
und an die entgegengesetzte Seite: „Mein Joch ist sanft, und
meine Last ist leicht; ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen"
(Mt 11 , 30).
Wieder ein anderer erhebt vielleicht einen Einwand, indem er
sagt: „Es mag viel Wahres an der hier vorgestellten Sache sein;
aber woher kommt es doch, daß so viele fromme Christen,
und unter ihnen Männer von großer Bedeutung — Christen,
die wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Liebe zur Walirheit
bekannt sind, einen ganz anderen Weg einschlagen? Und
wenn sie bleiben, wo sie sind, weshalb soll ich denn anders
handeln?" — Weshalb? Weil dein Gewissen und das Wort
Gottes zu dir sagen: „Sei nicht in einem ungleichen Joch mit
Ungläubigen". Würdest du die Gedanken und Handlungen
eines Israeliten gebilligt haben, wenn er während des Aufenthalts Jesu auf dieser Erde etwa gesagt hätte: „Dieser Jesus
von Nazareth tut zwar große Zeichen und Wunder; Er spricht
zwar wie Einer, der Gewalt hat, und es ist augenscheinlich,
daß Er ein Prophet ist, so daß ich Ihm alsbald folgen würde,
wenn Ihm nur die Hohenpriester und Schriftgelehrten — diese
in den Schriften erfahrenen Männer — nachfolgten. Aber weil
diese nichts von Ihm wissen wollen, warum soll ich es denn
tun?" — Gewiß, du würdest sehen und fühlen, daß jener
Israelit eine falsche Folgerung gemacht hätte: aber ich frage
dich: Tust du nicht dasselbe? Wo ist der Unterschied zwischen
deinen und seinen Worten, zwischen deiner und der Entschuldigung eines solcher. Juden? Ich finde keinen. Er klammerte
sich an das Urteil der Menschen, und das tust du auch; während doch Gott in Seinem Worte sagt, daß nur Er wahrhaftig,
jeder Mensch aber Lügner sei. Du handelst, um dein Gewissen
zum Schweigen zu bringen, gerade wie Micha; du versteckst
dich hinter einen Leviten, hinter einen Menschen, der, wie du
meinst, den Willen des Herrn doch wohl kennen müsse. W7
ürde
es nicht besser und dem Herrn wohlgefälliger sein, mit dem
Blindgeborenen zu sagen: „Eins weiß ich, daß ich blind war
und jetzt sehe?" Dann kann man es ruhig anderen überlassen,
zu erforschen, wer uns sehend gemacht hat und wie unsere
Augen geöffnet sind; und während sie nichts zu sagen wissen
218
und vielleicht hoffen, daß unser Zustand nicht von langer
Dauer sein werde, erfreuen wir uns selbst des uns geschenkten
Lichtes und der köstlichen Gemeinschaft mit Ihm, Der gesagt
hat: „Höret auf mich".
Diese und viele andere Entschuldigungen und Einwendungen
werden nicht selten gegen die Wahrheit Gottes erhoben, und
in allen ist der Grundsatz Michas deutlich zu erkennen. Er
hatte das Bewußtsein, daß er den Willen Gottes nicht tat; und
das weißt du auch von dir. Er Weihte einen von seinen Söhnen
zum Priester, und im Grunde tust du dasselbe. Das weltliche
System willst du nicht verlassen; jedoch zur Beruhigung deines
Gewissens beschäftigst du dich vielleicht so wenig wie möglich
damit, weil du dir mit anderen einen zum Priester geweiht hast.
Du sagst: „Ich kann doch nicht die Kirche in einen besseren
Zustand bringen und muß mich daher den Umständen fügen;
dazu gehe ich ja stets bei einem gläubigen Pastor zur Kirche
und zum Abendmahl". — Wohlan, das ist dein Sohn, den du
zum Priester geweiht hast. Ach! du vergißt, daß auch jener
gläubige Prediger sich gleich dir unter die Gewalt der Ungläubigen gebeugt und sich mit ihnen vermengt hat, und daß er,
da er sich sonst in seiner Stellung nicht behaupten kann, sich
in diesem „ungleichen Joche" befindet und sich an diesem
Weltdienste beteiligt. Unglückseliger Selbstbetrug! Möge doch
der Herr allen Seinen Kindern die Augen öffnen, um diesen
Irrtum zu erkennen!
Nichtsdestoweniger gibt es viele Christen, die sich in der
Tat von den sogenannten Landeskirchen trennen, da sie einsehen, daß ein Kind Gottes dort nicht länger bleiben kann,
ohne gegenüber den Worten: „Gehet aus ihrer Mitte"!
ungehorsam zu sein. Aber — schlagen denn sie den rechten
Weg ein? ach nein! denn es gibt viele, welche die Landeskirche verlassen, um selbst wieder ein Kirchlein zu bilden. Das
System, das sie aufrichten, ist völlig nach dem Muster dessen,
das sie verlassen haben, vielleicht nur mit dem einen Unterschiede, daß nur Gläubige darin zu finden sind. Ach! ihr alle,
die ihr also handelt, bedenket wohl, daß euer Gottesdienst
ebenso wie früher ein eigenwilliger ist. Ihr überlegt und handelt wie Micha, der einen Priester einsetzte, indem er sagte:
219
„Jetzt weiß ich, daß der Herr mir wohltun wird, weil ich einen
Leviten zum Priester habe". O laßt euch doch von der Wahrheit überzeugen, damit der Herr nicht nur, weil ihr euch von
den Ungläubigen getrennt habt, sondern auch weil ihr alle
menschliche Satzungen und Überlieferungen beiseitegesetzt
habt, mit Wohlgefallen auf euch herabblicken kann.
Doch kehren wir zu unserem früheren Beispiel zurück. Gesetzt
der aus dem Heidenlande kommende Bruder träte in eure Versammlung; und da er vernommen hat, daß hier nur Gläubige
versammelt sind, so erwartet er selbstredend dort auch nicht
die Verwirrung zu finden, die ihm sonst überall in der bekennenden Kirche vor Augen getreten ist. Er setzt voraus, daß
man hier dem Worte Gottes gemäß versammelt sei, wie es
in i. Kor 14, 26 geschrieben steht, wo er gelesen hat: „Wenn
ihr zusammen kommt, Brüder, so hat ein jeglicher von euch
einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprache, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung: alles geschehe zur Erbauung".
Doch nein, er findet von diesem allen nichts. Statt eines brüderlichen Zusammenkommens sieht er eine Versammlung von
Menschen, die gekommen sind, um eine Predigt von einer
damit beauftragten Person zu hören. Dieser Person ist die
Leitung der ganzen Versammlung aufgetragen; er spricht, er
betet, kurz er tut alles, während seine Brüder, zu denen er
spricht, gezwungen sind zu schweigen, selbst wenn auch jemand in ihrer Mitte sein sollte, der in diesem Augenblick viel
geeigneter gewesen wäre, ein Wort zur Erbauung zu reden.
Selbstverständlich wird die freie Wirksamkeit des Heiligen
Geistes in einer solchen Versammlung nicht anerkannt; an
ihre Stelle sind menschliche Satzungen und Gebräuche getreten. Er findet also dort keine Gemeinschaft der Heiligen; denn
man geht auseinander, ohne einen Beweis, daß man zu einem
Leibe gehöre, gegeben zu haben.
Freilich vernimmt unser Bruder die Behauptung, daß alles
in Ordnung geschehen müsse und es daher notig sei, jemandem vorher die Leitung der Versammlung zu übertragen; aber
er antwortet darauf mit den Worten der Heiligen Schrift:
„Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens,
wie in allen Versammlungen der Heiligen". Er muß also nacli
220
jener Behauptung folgern, daß die Christen, indem sie es für
nötig erachten, selbst eine Ordnung zu schaffen, dadurch den
Beweis liefern, daß sie keine Versammlung bilden, oder daß
der Heilige Geist in unseren Tagen die Ordnung nicht mehr
handhabt. Wie aber könnte er das zuletzt genannte voraussetzen, da er nach wie vor die Bibel einfach als die Offenbarung des göttlichen Willens betrachtet!
Sein Erstaunen wird indes den höchsten Grad erreichen, wenn
er vernimmt, daß die hier oder dort versammelten Gläubigen
einen Prediger angestellt haben, damit dieser jeden Sonntag
predige, bete und danke, das Abendmahl bediene und die
Taufhandlungen verrichte, weil er durch ein solches Verfahren
den Standpunkt verrückt sieht, auf welchen nach der Heiligen
Schrift jeder Gläubige berufen ist. Findet er doch in Offenbarung i, 6 und 5, 10, daß alle Kinder Gottes „zu Königen
und Priestern berufen sind", daß alles, was zum alten Bunde
gehörte, hinweggetan ist und jeder priesterliche Dienst aufgehört hat, daß, nach Hebr 10, 19, alle „Freimütigkeit haben
zum Eintritt in das Heiligtum", und schließlich, daß Petrus
in seinem ersten Briefe sagt: „Ihr aber seid ein auserwähltes
Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation,
ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen verkündigt, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem
wunderbaren Licht". — Zwar liest er auch in dem Worte Gottes, daß der Herr einigen Gliedern der Versammlung Gaben
verliehen hat, welche die anderen nicht besitzen, daß Gott
„etliche gegeben hat als Apostel, und etliche als Propheten,
und etliche als Evangelisten, und etliche als Hirten und Lehrer
zur Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes,, für
die Auferbauung des Leibes Christi" (Eph 4, 11. 12). Allein
nirgends findet er, daß solchen allein das Reden zukomme und
nirgends liest er, daß sie durch menschliche Anordnung geweiht
oder ordiniert werden müssen. Vielmehr gibt die Bibel, als
die alleinige Richtschnur unseres Handelns, ganz entgegengesetzte Anweisungen. Dort findet er, daß sie Brüder unter
Brüdern sein sollen, daß alle Christen eins sind und daß, da
Christus allein der Herr Seiner Versammlung ist, keiner
unter ihnen der Herr oder der Meister sein darf. Dort erfährt er, daß die Gaben keinen Vorzug vor anderen Gläubigen
221
verleihen, sondern daß eine Gabe ohne die andere nicht be -
stehen und „das Auge nicht zu der Hand sagen kann: Ich
bedarf deiner nicht!" sondern daß vielmehr die Glieder, die
schwächer zu sein scheinen, notwendig sind. Mit Betrübnis
erblickt er die Christen unserer Tage auf dem Boden der einstigen Galater, zu denen Paulus sagen mußte: „O unverständige Galater! wer hat euch bezaubert? Seid ihr so unverständig? Die ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr nun im
Fleische vollenden?"
Ja, geliebte Brüder, das ist der Zustand, worin ihr euch befindet. Das Wort Gottes hat euch gerichtet. In eurem Tun ist
durchaus keine Demütigung zu finden. Als ihr euch von dem
Bösen trenntet, habt ihr keineswegs eure eigene Schuld anerkannt; ihr habt nicht anerkannt, daß auch ihr an der allgemeinen Verirrung, an dem Abfall Anteil habt. Denn wenn
dies der Fall gewesen wäre, würdet ihr sicher keine neue Gemeinde gegründet haben. Nach der Meinung eurer Herzen
habt ihr alles verbessern wollen, um zu zeigen, daß ihr, wenn
ihr zur Zeit eurer Väter gelebt hättet, anders gehandelt haben
würdet. Ihr stellt euch grundsätzlich auf den Boden der Pharisäer, zu denen der Herr sagte: „Ihr bauet die Gräber der Propheten und schmücket die Grabmäler der Gerechten, und saget:
Wären wir in den Tagen der Propheten gewesen, so würden
wir nicht ihre Teilhaber an dem Blute der Propheten gewesen
sein. Also gebt ihr euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer
seid, welche die Propheten ermordet haben, und ihr — machet
voll das Maß eurer Väter" (Mt 23, 29—32).
Wirklich, wenn ihr euch in Wahrheit vor dem Herrn demütigt,
werdet ihr sehen, daß ihr euch noch auf demselben Wege befindet wie früher; ihr werdet dann bald zu der Überzeugung
kommen, daß ihr damit beschäftigt seid, neuen Wein in alte
Schläuche zu tun, oder einen Flecken von neuem Tuch auf ein
altes Kleid zu setzen; denn ihr gründet ja eine neue Gemeinde
auf einem alten, unbiblischen System, und deshalb wird unausbleiblich eure neue Gemeinde dieselben traurigen Früchte
tragen, Wie auch die anderen. Die kirchliche Körperschaft, die
ihr verlassen habt, stützt sich ja auf demselben Grundsatz
wie ihr. Sie schreibt Regeln vor, an denen man sich halten
222
müsse, und das tut ihr auch, und — was das traurigste von
allem ist — ihr haltet euch von jedem Gläubigen getrennt, der
euer Bekenntnis, eure Regeln und Vorschriften nicht unterschreiben will. Daher kommen die verschiedenartigen Sekten
unserer Zeit; daher spricht man von Baptisten, von Methodisten, von Herrnhutern und anderen Parteien. Sollte man sich
nicht vielmehr tief schämen über die Geringschätzung und
Beiseitesetzung des Wortes Gottes? Sagt doch Paulus zu den
Korinthern: „Ihr seid noch fleischlich, denn da Neid und
Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach
Menschenweise? Denn wenn einer sagt: „Ich bin des Paulus",
der andere aber: „Ich des Apollos"; seid ihr nicht menschlich?"
— Ja, geliebte Brüder, so lange ihr in diesem Zustande bleibt,
seid ihr fleischlich, und zwar in einem weit höheren Grade,
als die Korinther; denn dort war nur der Grundsatz vorhanden, während bei euch die Trennung tatsächlich stattgefunden
hat. Ach, gehorchet doch dem Worte Gottes und laßt all diese
Entschuldigungen fahren! Wir sind überzeugt, daß ihr, wenn
ihr das Wort Gottes mit Gebet und ohne Vorurteil leset, alle
Irrtümer fahren lassen werdet. Ohne Zweifel ruft euch euer
Gewissen zu, daß der Weg, den ihr wandelt, nicht der richtige
ist. Darum verlaßt diesen Weg, und folgt Jesu nach, und zwar
Ihm allein! Er sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in
meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". — Genügt euch
dies nicht? Müßt ihr noch andere neben Ihm in eurer Mitte
haben? Verlangt ihr noch einen anderen, einen Leviten? Ach!
wie viele tun dies, um dadurch ihren eigenen Ungehorsam zuzudecken.
Und ihr, die ihr euch zwar von den Ungläubigen getrennt
habt, aber mit den Gläubigen keine Gemeinschaft pflegt und
euch nicht mit ihnen versammelt, seid ihr glücklich? — ist euer
Gewissen befriedigt? Unmöglich; denn auch ihr seid dem
Worte Gottes nicht gehorsam, indem es euch zuruft: „. . . indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen ... "
(Hebr 10, 25). Der Herr will nicht allein, daß ihr das Böse
lassen, sondern auch, daß ihr das Gute tun sollt. Und dies
sollte uns nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein großes Vorrecht sein. Du sagst vielleicht: „Ich weiß nicht, wohin!" —
aber kann dies eine Entschuldigung für dich sein und deine
223
Verantwortlichkeit beseitigen? Nein, gewiß nicht! Wenn du
nicht weißt, wohin du gehen sollst, so ist das ein Beweis, daß
du Jesu nicht in allem folgst; denn Er ist bereit, dir den Weg
zu zeigen; Er wird die Seinigen nicht ohne Ausweg lassen.
Oder ist dieses: „Ich weiß nicht, wohin!" bloß ein Vorwand,
während du eigentlich den rechten Weg nicht wissen unllst.
Ach! das wäre sehr traurig; aber nichtsdestoweniger findet
man einen solchen Zustand nicht selten bei den Gläubigen.
Man bleibt lieber, wo man ist, und weshalb? Weil man recht
gut weiß, daß man nach dem Worte Gottes nicht nur verharren soll „in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft,
im Brechen des Brotes und in den Gebeten", sondern auch,
daß einer auf den anderen achthaben soll „zur Anreizung zur
Liebe und zu guten Werken" (Hebr 10, 24). Ja, dieses ist bei
vielen der Hauptgrund, weshalb sie sich anderen Gläubigen
nicht anschließen wollen. „Achthaben aufeinander, das ist eine
lästige Sache", denken sie. Dünkt es ihnen doch viel einfacher,
daß irgendeine Person aus ihrer Mitte damit beauftragt werde,
die Lässigen zu ermahnen und auf alle achtzuhaben. Und sie
haben Recht; denn für das Fleisch ist es eine schwierige Aufgabe, acht auf andere zu haben und sich selbst von anderen
beurteilen zu lassen. Andererseits aber gereicht es jedem, der
Gott im Geist und in Wahrheit dienen will, zur großen Freude,
indem er weiß, daß es zu seinem Besten dient, um ihn bezüglich seines Wandels als einen vollkommenen Menschen vor
Gott hinzustellen.
Wir würden imstande sein, noch eine Menge anderer Entschuldigungen anzuführen, die vorgebracht werden, um das
Gewissen zu beruhigen und sich selbst zu betrügen, aber da
wir hoffen, euer Gewissen erreicht zu haben, wollen wir davon
abstehen. Wir bitten nur, einmal ernstlich darüber nachdenken
zu wollen, was es heißt, vom ewigen Tode errettet zu sein
und das Bewußtsein der Vergebung von allen Sünden zu
haben, und dennoch Ihm, Jesu, dem Sohne Gottes, Dem wir
alles zu verdanken haben, nicht zu folgen, sondern gegen
Seinen Willen eigene Wege einzuschlagen. Ach, entfernt doch
alle Stützen, auf die ihr euer Vertrauen setzt! Beseitigt alle
Entschuldigungen, welche eure Verantwortlichkeit doch nicht
wegnehmen können, und stellt euer Vertrauen doch ganz
224
allein auf Jesum, damit Er euch Seinen Willen offenbaren
möge! Es gibt in der Tat nichts Törichteres im geistlichen
Leben, als das Gewissen zu beruhigen. Hat man den ersten
Schritt auf diesem Wege getan, dann scheint ein Fortschreiten
nicht mehr so schwierig zu sein, bis man schließlich ganz
daran gewöhnt ist und die Stimme des Gewissens völlig verstummt ist. Wenn sich ein Christ einmal in einem solchen
Zustande befindet, dann steht es sehr traurig um ihn; er bildet
sich ein, nach dem Willen Gottes zu wandeln und in Seiner
Gemeinschaft zu leben; aber es ist alles Selbstbetrug. Ja, man
wird oft sehen, daß gerade solche Christen viel für die Sache
des Herrn wirken, um auf diesem Wege die unangenehme
Leere ihres Herzens auszufüllen. Doch bedenken wir es wohl,
geliebte Brüder, daß wir zwar uns selbst täuschen können
aber Gott nicht. Er schaut bis auf den Grund unserer
Herzen, und Er weiß, ob da wahrer oder nur scheinbarer
Frieden herrscht. Er kennt die verborgene Triebfeder all unserer Handlungen. Er Weiß, ob sie aus Liebe zu Ihm hervorkommen, oder aus dem Wunsche, vor den Augen der Menschen besser zu scheinen, als man ist, und zuzudecken, was im
Herzen ist. „Wir sind alle bloß und aufgedeckt vor dem Auge
dessen, mit dem wir es zu tun haben".
Laßt uns daher, geliebte Brüder, auf die Stimme des Geistes
Gottes achten. Wie oft mag schon in unserem Inneren Seine
Stimme vernommen worden sein, ohne bei uns ein offenes
Ohr zu finden! Es ist eine traurige Wahrheit, daß es namentlich in unseren Tagen viele gibt, welche die Schwierigkeit eines
aufrichtigen Wandels vor Gott wohl erkennen, aber auf alle
nur mögliche Weise ihr Gewissen zu beruhigen suchen. Ja,
der Herr gebe uns die Gnade, nicht nur Hörer, sondern auch
Täter Seines Wortes zu sein! Und Er möge auch diese Zeilen
an vieler Herzen segnen, damit alle Seine Kinder Ihm in Aufrichtigkeit dienen und Ihn verherrlichen! Es war das Bedürfnis unseres Herzens, die Christen auf ihre vielen Irrtümer
hinzuweisen und sie unter dem Segen des Herrn von ihren
Verkehrtheiten zu überzeugen. Ja, wir können in der Gegenwart Gottes bezeugen, daß wir diese Zeilen nur in der Absicht
geschrieben haben, um mit Nachdruck ein Übel zu bekämpfen,
welches seiner Natur nach in uns allen wohnt; und wir flehen
225
zu Gott, daß sich niemand von der Meinung beherrschen
lasse, daß das Geschriebene nicht für ihn, sondern für seinen
Nächsten bestimmt sei.
Glückselig der, welcher mit Paulus sagen kann: „Brüder, ich
habe bis auf diesen Tag mit allem guten Gewissen vor Gott
gewandelt" (Apg 23, 1). Glückselig, wer sich wie Paulus übt,
„allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und
den Menschen!" Ja glückselig, der mit vollem Herzen sagen
kann: „Es ist mein Verlangen, allezeit in Aufrichtigkeit vor
Gott zu wandeln!"
Der unausforschliche Reichtum Christi
Wenn wir, meine Freunde, an unsere gänzliche Unwürdigkeit,
an unseren Zustand der Sünde und an unsere völlige Unfähigkeit bezüglich irgendwelcher Verbindung mit Gott denken,
so könnten wir unmöglich eine solche Verbindung mit dem
heiligen Gott voraussetzen, wenn dies nicht in der freien,
unumschränkten Gnade Gottes in Christo seinen Grund hätte;
wir würden es nicht verstehen, wie Gott solche Sünder, wie
wir sind, in Seine Gegenwart einführen kann, wenn
wir nicht wüßten, daß Er dadurch den überschwängiichen
Reichtum Seiner Gnade ans Licht stellen wollte. Ja, im Blick
auf die Sünde, die Eitelkeit und Selbstsucht in uns sind wir
angesichts der Herrlichkeit Gottes versucht, auszurufen: „Ich
bin nichts als Sünde!" Dieses Bewußtsein führt uns zu Gott,
wenn Er in Seiner Liebe und Gnade handelt. Würden wir
kein anders Bewußtsein haben, als das der Sünde, so
Würden wir den Gedanken an das Gericht Gottes nicht
ertragen können. Allein der Gedanke an diese Liebe und
Gnade Gottes, welche sich trotz unserer Sünde und der Verderbtheit unseres Fleisches entfaltet, gibt uns Frieden und
Freude.
Der Mensch hat ganz und gar jedes Anrecht an der Liebe
Gottes verloren. Er kann sich nicht mit Gott in Verbindung
226
setzen und darf nicht antasten, was Ihm angehört. Unsere
Herzen sind nur glücklich in dem Bewußtsein, daß die Gnade
wirksam ist, und daß — in einem gewissen Sinne — je größer
unsere Schuld und je tiefer unser Elend ist, desto erhabener
und herrlicher Gott in Seinen Wegen dasteht; und dieses
öffnet uns den Mund, um mit Sündern, wer sie auch sein
mögen, darüber zu reden. Man sieht, wie sehr das Herz des
Apostels Paulus von diesem Gedanken erfüllt war, und wie
seine Sprache die gewöhnliche Ausdrucksweise überschreitet,
wenn er sich den Vornehmsten der Sünder und den Geringsten
der Heiligen nennt. Wenn er an sich und an die Größe all der
Gnade dachte, womit ihm Gott, indem Er Ihm nicht nur alle
Sünden vergeben, sondern ihm auch die Botschaft dieser Gnade
an andere anvertraut hatte, begegnet war, dann fühlte er sich
vor Gott beschämt.
Petrus und Paulus sind in ihrem Werke zwei beachtenswerte
Gefäße der Erwählung und Beispiele dieser Gnade. Wie wurde
Petrus zubereitet, um seine Brüder stärken und die Lämmer
weiden zu können? War nicht seine Verleugnung das Mittel
seiner Zubereitung, seiner Erziehung, wodurch ihm begreiflich
gemacht wurde, daß er mehr als böse sei? Und auf welchem
Weg wurde Paulus zubereitet? War nicht sein fluchwürdiger
Eifer gegen Christum, indem er die Versammlung verfolgte
und verwüstete, das Mittel seiner Erziehung? — Als Petrus
den Juden vorwarf: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet", hätte man ihm entgegnen können: „Das hast auch
du getan". Und als Paulus sie beschuldigte, den Kelch des
göttlichen Zornes durch ihre Sünden gefüllt zu haben, hätten
sie ihm erwidern können: „Und was hast du getan, als du
die Christen verfolgtest, sie zwangst zu lästern und sie in die
Gefängnisse schlepptest? Hast du nicht dem Satan gedient?"
Ja, dies waren die Wege, auf welchen die Erziehung dieser
beiden Männer bewirkt wurde, und wo sie lernen mußten,
was das Fleisch und was im Herzen ist. Als Paulus den Nationen den Glauben verkündigte, hatte er, der bis in den dritten
Himmel entrückt worden, wegen der Größe dieser Offenbarung einen Dorn im Fleische nötig. Ich bemerke dies, um zu
zeigen, daß die Bosheit des Fleisches immer gleich ist. — Ein
Blick auf das, was diese beiden Männer getan hatten, war sehr
227
demütigend für das Fleisch, wenn Petrus sich sagen mußte:
„Ich habe den Herrn verleugnet — Ihn, Der stets so gütig
gegen mich war, Der mich so sehr liebte und Dessen Warnstimme mich vorher auf die Gefahr aufmerksam machte". Und
es war für Paulus eine schmerzliche Erinnerung, die Christen
verfolgt zu haben und bekennen zu müssen: „Ich habe es von
ganzem Herzen getan; selbst meine Religion diente dazu,
einen erbitterten Feind Gottes aus mir zu machen". — Nichtsdestoweniger mußten diese Erfahrungen das Herz mit Gefühlen der Gnade erfüllen; denn Gott war da. „Wo die Sünde
überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden". Und nicht dieses allein, sondern die Gefäße
dieser Gnade selbst waren auch zubereitet worden, nicht etwa
durch schöne Eigenschaften, sondern durch traurige Erfahrungen. Paulus war als Mensch zubereitet worden und empfänglich gemacht für die Gnade, deren er bedurfte, um an
sich selbst den Glaubenden den Reichtum der Gnade Gottes
zeigen zu können. Er sollte der Zeuge der Güte und Gnade
Christi sein; an ihm sollte man erfahren, was die Sünde gegenüber der Liebe und Gnade Gottes ist. Und nachdem in dieser
Weise das Fleisch an seinen Platz gestellt worden war, konnte
Paulus den unausforschlichen Reichtum des Christus unter
den Nationen verkündigen; denn in ihm selbst hatte sich die
Gnade in einer überströmenden Flut gezeigt.
In betreff der Juden bestand dieselbe Tatsache; allein sie erwarteten etwas, weil sie Verheißungen hatten. Petrus, der
Apostel der Beschneidung, richtet sich an sie als solche, die
ihrer äußeren Stellung nach das Volk Gottes waren, indem er
sie als die Kinder der Verheißung, als die Kinder Abrahams,
als die Erstlinge anredet, während die Nationen noch den an
das kananäische Weib gerichteten Worten des Herrn: „Es
geziemt sich nicht, das Brot der Kinder zu nehmen und den
Hündlein hinzuwerfen" — als Fremdlinge und ohne Bürgerrecht betrachtet werden. Paulus schöpft daher das Recht, zu
den Nationen von Christo zu reden, aus der Quelle jener
Gnade, die nichts anderes kennt als daß Gott das Recht zusteht, Gnade üben zu können. Jene arme Syro-Phönicierin,
die einem verfluchten Geschiecht angehörte und mithin ohne
jedes Anrecht war, genoß, indem sie sich als ein Hündlein
228
anerkannte, die ganze Süßigkeit der Gnade Gottes, als der Herr
zu ihr sagte: „Dir geschehe, wie du willst!" — Wenn es sich
um das Recht handelte, dann mußte Er ihr sagen: „du hast
kein Recht; denn ich bin nur zu den verlorenen Schafen des
Hauses Israel gekommen; und du bist keins von diesen Schafen". Aber das Weib nahm ihre Zuflucht zu der Gnade; und
es war für sie Gnade genug in Gott, um sagen zu können:
„Ich werde von allem essen!" — und wie hätte der Herr sie
nun abweisen können?
Die Botschaft des Heils an die Nationen stellt den ganzen
Reichtum der Gnade, welche in Gott für uns ist, in das hellste
Licht. Dieselben Umstände, die das Fleisch erkennen lassen,
öffnen auch der in Rede stehenden Offenbarung des unausforschlichen Reichtums Christi den Weg — eines Reichtums,
der unsere Begriffe übersteigt. Ein Jude war imstande, seinen
Reichtum erforschen zu können, obwohl die Gnade die gleiche
war. Er konnte sagen: „Siehe, welche Gnade mir begegnet"!
So konnte z. B. Jesajas oder irgendein anderer Prophet das
Gesetz erforschen und vieles darin entdecken, was ihm angehörte. Er konnte darin den Messias und viele herrliche Verheißungen finden, die einmal für Israel in Erfüllung gehen
sollten; er konnte darin vor allem die Gunst Gottes gegen
Sein Volk finden. Jeder, der Einsicht in das Wort Gottes hatte,
konnte dies erfassen. Es waren Verheißungen für ein Geschlecht, dem Gott herrliche Segnungen verkündigt hatte —
Segnungen, die jedoch den Menschen mit Gott auf dem Grunde
anerkannter Segnungen in Verbindung brachten. Sobald es
sich indes um einen Heiden handelte, gab es von all diesem
nichts; (Röm o, 3—5; Eph 2, 12; Phil 3, 4—7) und es bedurfte
eines geistlichen Zustandes, um die Gnade Christi in den Propheten zu erforschen. Ein Jude konnte wissen, daß ein über
alle Völker erhabener König regieren und jede Verheißung die
Krone der Herrlichkeit schmücken werde. Aber für einen Heiden war es nötig, die Segnungen zu entdecken, welche für ihn
aus den ewigen Ratschlüssen Gottes hervorgingen. Nicht nur
handelt es sich um ein zum Genuß der Segnungen berufenes
Volk; sondern darum, daß man Christum nach den Ratschlüssen
Gottes empfängt. Die Gnade beschäftigt sich mit einem armen
Sünder und sucht solche, die ohne jedes Anrecht und unfähig
sind, die Verheißungen erfassen und genießen zu können. Sie
229
nimmt solche verlorenen Sünder, die weder eine Vorstellung
noch ein Gefühl in bezug auf Gott haben, und versetzt sie in
den Genuß des ganzen Reichtums der Gedanken Gottes —
und zwar in Christo Selbst. Deshalb nennt der Apostel dieses
den „unausforschlichen Reichtum des Christus". — Dieses war
nicht allein dem Menschen, sondern auch Gott angemessen;
es war — d. h. nicht in den Gedanken Gottes, sondern in
betreff der Offenbarung — etwas ganz Neues, das den Gewalten und Fürstentümern im Himmel geoffenbart werden
sollte, damit die mannigfaltige Weisheit Gottes, sowohl durch
die Versammlung selbst, als auch durch unsere Offenbarung
in den himmlischen örtern kundgemacht würde.
Prüfen wir indes ein wenig sorgfältiger, was diese Gnade ist,
und richten wir zu ihrem besseren Verständnis unsere Blicke auf
Kap. i, 26—27, wo wir lesen: „das Geheimnis, welches von
den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war,
jetzt aber Seinen Heiligen geoffenbart worden ist, denen Gott
kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses
Geheimnisses ist unter den Nationen, welches ist Christus in
euch, die Hoffnung der Herrlichkeit". Aus dieser Stelle sehen
wir, worin dieser unausforschliche Reichtum besteht. Christus
ist für die Juden nicht die Hoffnung der Herrlichkeit, sondern
der Erfüller der Verheißung. Hier ist Er nicht die Herrlichkeit,
sondern die Hoffnung der Herrlichkeit, weil Er, obwohl Er im
Himmel wohnt, dennoch durch Seinen Geist in uns und in
unserer Mitte wohnt. Dies ist eine ganz neue Sache, jedoch
nach der Darstellung des Apostels nur eine Hoffnung. Wir
werden sehen, wie er diesen Gedanken einleitet und uns in
die herrliche Stellung der Kinder Gottes — ausgedrückt in
den Worten: „Christus in euch" — einführt. Christus in uns,
die Quelle der Kraft und der inneren Beziehungen, ist die
Hoffnung der Herrlichkeit. Dies ist unsere Stellung und unsere
Freude. In Eph 2, 12 sagt der Apostel bezüglich der Gläubigen
aus den Nationen: „Ihr wäret zu jener Zeit ohne Christum,
entfremdet dem Bürgerrecht Israels, und Fremdlinge in betreff
der Bündnisse der Verheißungen,, keine Hoffnung habend,
und ohne Gott in der Welt". Auf welches Fundament hat nun
Gott ihre glorreiche Hoffnung gegründet? Das Wort, welches
Gott gleich im Anfang zu Adam sagte: „Im Schweiße deines
230
Angesichts sollst du dein Brot essen", war ebensowenig ein
Verheißungswort, wie die angekündigten Dornen und Disteln;
— es gab für Adam kein Verheißungswort. Aber was sagte
Gott zur Schlange? indem Er sie verurteilte? „Der Same des
Weibes wird dir den Kopf zermalmen". War etwa Adam der
Same des Weibes? Nein; er war als das Haupt seines Geschlechts von dieser Verheißung ausgeschlossen, während in
dem zweiten Adam alle Verheißungen Ja und Amen sind.
Diese Verheißung ist nicht dem Menschen, sondern Christo,
dem zweiten Adam gemacht worden, weil Gott den ersten
Adam, seiner äußeren Stellung nach, bezüglich der Verheißungen beiseitegestellt hat. Ein anderer, der zweite Adam, der
Same des Weibes, ist als der Gegenstand aller Verheißungen
eingeführt. Es ist dem Menschen schwer, einen Standpunkt
auf einer so niedrigen Stufe einzunehmen und zu sagen: „Ich
bin ein Sünder und nichts als ein Sünder, ich habe jedes Anrecht verloren; ich habe gegen Gott, gegen das Licht meines
Gewissens und gegen meine Erkenntnis gesündigt; ich besitze
nichts und habe nichts zu beanspruchen, als die Verdammnis".
— Dennoch aber ist dies der wahre Sachverhalt; und das Gewissen bestätigt es, selbst wenn der Wille sich nicht darunter
beugen will. Oder möchtest du es wagen, mein Freund, vor
Gott zu treten? Sagt dein Gewissen dir nicht, daß du auf
tausend nicht eins wirst antworten können? Ist nicht auch
Adam durch sein Gewissen überführt worden? Er wartete die
Gegenwart Gottes nicht ab, sondern versteckte sich hinter
die Bäume des Gartens, weil er es nicht wagte, vor Gott hinzutreten. Nun wohlan, bist du bereit, dich vor Gericht zu
stellen? Würdest du wünschen, daß alles, was du getan hast,
vor der Welt offenbar werde? O nein, ich bin gewiß, daß niemand von den Ungläubigen es wagen möchte, mit all seinen
Handlungen vor Gott hinzutreten, denn das Gewissen überführt jeden von der Gerechtigkeit Gottes. Auch du weißt, daß
du schuldig bist, selbst wenn du es nicht einräumen willst und
dich lieber entschuldigen möchtest mit den Worten: „Das
Weib, das du mir gegeben hast, betrog mich". — Dennoch hat
Gott in Seiner Güte, wiewohl dies dein Gewissen nicht sagt,
für alles Sorge getragen; will Er dich doch gewinnen durch die
Gnade, die alles zu heilen vermag. Er stellt den Menschen,
den Nachkommen Adams, als verurteilt beiseite und führt
231
den neuen Menschen in Christo in Seine Herrlichkeit ein. Das
ewige Leben befindet sich in dem neuen Menschen, in dem
Samen des Weibes. Von Anfang an sind alle Verheißungen
Ja und Amen in Christo, dem zweiten Adam, zur Herrlichkeit
Gottes. Dieser Christus ist der Gegenstand aller Gedanken
Gottes. Man begreift jetzt den Reichtum dieser Gnade, sobald
man versteht, daß es sich um den Sohn Gottes, den zweiten
Adam, handelt, um Ihn, Der auch der Heilige und Gerechte
ist. Er ist der Mittelpunkt aller Dinge; Ihm gebührt alle Herrlichkeit; denn die ganze Offenbarung kann nur in Ihm enthalten sein, Der allein ihr Gegenstand ist. Wahrlich, die
Liebe des Christus übersteigt alle Erkenntnis. Für uns, die wir
glauben, hat sich dies alles erfüllt und eine solche unermeßliche, bis ins Unendliche reichende Ausdehnung genommen,
die ihren Ausdruck in Christo, dem Gegenstand der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes findet.
Bezüglich dieser armen Welt ist jeder Unterschied zwischen
Juden und Nationen verschwunden und vernichtet. Gott hat
sowohl den Nationen, als auch den Juden Gnade geschenkt;
denn alle sind unglückliche Sünder. Und wenn die Juden sich
anmaßten, den Genuß der Verheißungen durch ihre eigene
Gerechtigkeit erlangen zu wollen, so stellten sie sich, weil sie
das Licht des Gesetzes hatten, unter eine um so größere Verantwortlichkeit. Alle sind nicht nur „gottlos", sondern auch
„kraftlos". Dieser Zustand trat völlig ins Licht, als der wahre
Gott in ihrer Mitte gegenwärtig und durch Zeichen und Wunder wirksam war. Folglich war sowohl bezüglich des Menschen, der seine ganze Unfähigkeit geoffenbart hatte, als auch
in bezug auf Gott zur Erweisung Seiner unendlichen Liebe die
passende Zeit gekommen, um ins Licht zu stellen, daß alles
unerläßlich abhängig von dieser Liebe war. Auf diesem Punkt
angekommen, findet man die ganze Fülle der Segnungen der
Liebe Gottes. Jeder Unterschied zwischen Juden und Heiden
ist beseitigt, indem die Juden — die Erben der Verheißung —
ebensowohl Kinder des Zornes sind, wie auch die übrigen.
Der Mensch hat gezeigt, was er ist; und Gott hat kundgemacht, was Er ist. Wir haben uns erwiesen als Kinder des
Zorns, die nichts als das Gericht verdient hätten; aber Gott
hat geziegt, daß Er reich an Barmherzigkeit ist. Zu dieser
Erkenntnis muß man gelangt sein, um in Gott alle die Hilfs232
quellen der Gnade und Güte zu entdecken, die sich zu gunsten
eines von Ihm entfernten Wesens, zu gunsten Seines Feindes
verwenden. Man muß die Gnade Dessen verstehen, Der alle
Forderungen der Herrlichkeit Gottes befriedigt hat, und Der
die Absicht hat, den Sünder zu retten, ungeachtet seiner Bosheit und alles dessen, was er ist. Gott ist ein Gott, Der in
Gnade handelt gegen die, welche böse sind — gegen arme Sünder, die jedes Anrecht verloren haben. Wer vermag es zu
fassen? Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus —
der Reichtum, der den Fürstentümern und Gewalten geoffenbart werden mußte. Christus wurde das Gefäß dieser Gnade;
Seine Liebe hat sich gegenüber den elendsten Sündern, gegenüber solchen entfaltet, die ohne Anrecht waren und es nicht
wagen durften, vor Gott zu erscheinen. „Gott, der da reich
ist an Barmherzigkeit", ist gekommen, um den zu retten, der
sich in Sünde und Elend befindet. Anstatt — wie dies hätte
geschehen müssen — den Menschen zu Sich kommen zu lassen,
geht Gott dem Menschen entgegen und gibt Sich ihm zu erkennen. Er kam in die Mitte des Bösen, weil der Mensch
seinen Platz inmitten des Guten nicht nehmen konnte und
nicht nehmen wollte. Gott erschien „im Fleische", jedoch in
Heiligkeit in der Mitte all dieser Ungerechtigkeit und stellte
sowohl die Ungerechtigkeit, als auch die Heiligkeit ins Licht.
Er kam, nicht um den Sünder auszustoßen, sondern um ihn zu
suchen. Man ist glücklich in dem Bewußtsein, daß man es mit
Gott, und zwar mit einem unendlich und überaus heiligen
Gott zu tun hat. Wenn Er nicht vollkommen heilig wäre, so
müßte man noch immer wegen der Sicherheit der Errettung
in Furcht sein; aber es ist ein unendlich heiliger Gott, Der
uns liebt, und Der, wiewohl Er heilig ist, Sünder, versunkene
Kreaturen, sucht, um ihnen Seine Gnade zu schenken und mit
Sich zu versöhnen. Gott war es in Christo, Der mit Zöllnern
und Sündern verkehrte und Sich zum Gesellschafter verrufener Menschen machte. Würden wir Ihn unter solchen gesucht
haben? Nein, man würde dort die Ungerechtigkeit gesucht
haben. Dennoch aber steht Gott, indem Er solche nichtswürdige Geschöpfe rettet, um so mehr verherrlicht da.
Er vernichtet den menschlichen Hochmut, indem Er zeigt, daß
der Mensch nicht Ihn, sondern daß Er den Menschen gesucht
233
hat. Deshalb, geliebte Brüder, haben wir alles, den ganzen
Reichtum des Christus, in Ihm Selbst, in Seiner Person. Christus hat als Schöpfer, als Sohn Gottes, als Erbe der Verheißungen und als Mensch ein Anrecht auf alles. Sein Leben war
ein Zeugnis sowohl von der Liebe, als auch von der Heiligkeit; und Gott ist vollkommen in Ihm verherrlicht worden.
Er konnte sagen: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du
mir gegeben hast, daß ich es tun sollte". Aber ebenso völlig
hat Er auch von der Heiligkeit Gottes Zeugnis abgelegt; denn
Er sagt: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde. . . Und nun
verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war". Er hatte daher
zufolge dieses Werkes gerechte Ansprüche auf diese Herrlichkeit, wiewohl Ihm dieses Recht auch ohne das gehörte.
Welch ein Werk hat Jesus vollbracht! Wieder erblicken wir
den unausforschlichen Reichtum dieser Gnade, wenn wir Ihn
für uns zur Sünde gemacht sehen. Der Heilige und Gerechte
wurde zur Sünde gemacht; der Sohn Gottes, der Fürst des
Lebens, unterwarf Sich dem Tode; der Zorn Gottes traf den
Sohn, den Vielgeliebten, für uns, die elenden Sünder, die
fern von Gott waren und kein Verlangen nach Ihm hatten.
Denn Er, Der unsere Sünden trug, war in den Augenblicken,
wo Sein Schweiß wie Blutstropfen zur Erde fiel, und wo Er
den schrecklichen Kelch des Zornes Gottes leerte, der teuerste
Gegenstand der unendlichen Liebe des Vaters, weil Er Ihn
vollkommen verherrlichte. Die Engel begehrten in die Tiefen
dieses Geheimnisses hineinzuschauen, während sich der Mensch
dieser Szene durch die Flucht entzog. Ja, unsere Vergebung
ist ganz und gar eine göttliche Sache.
Im ersten Kapitel des Hebräerbriefes zeigt uns der Apostel
die göttliche Herrlichkeit Christi. „Gott hat zu uns geredet im
Sohne, den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den
er auch die Welten gemacht hat; welcher, der Abglanz seiner
Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesen seiend und alle
Dinge durch das Wort seiner Macht tragend, nachdem er durch
sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt hat
zur Rechten der Majestät in der Höhe". Welch ein Zeugnis
liefert uns hier der Apostel von der Herrlichkeit Jesu und
234
Seines göttlichen Werkes! In der glorreichsten Weise aber
strahlt uns Seine Gnade darin entgegen, daß Er „uns gereinigt
hat von unseren Sünden". In einem noch höheren Glanz als
in der Schöpfung hat Er Sich in der Liebe der Erlösung gezeigt.
Er offenbarte Sich nicht nur als ein Messias, Welcher nur die
einem Volke gegebenen Verheißungen zu erfüllen hatte, sondern es bedurfte der Erledigung alles dessen, was sich in betreff Satans und der Sünde zwischen Gott und den Menschen
gedrängt hatte, wenn nicht jede Segnung in Frage gestellt sein
sollte. Was könnte uns jetzt noch von Gott trennen? Etwa die
Sünde oder die Macht Satans? Oder könnte überhaupt in
moralischer Beziehung noch irgendeine Schranke zwischen Gott
und dem Menschen bestehen? Unmöglich. Vielmehr ist alles,
was als eine Schranke zwischen Gott und dem Menschen betrachtet werden konnte, im Tode Christi beseitigt worden.
Überall, wo sich die Schwierigkeiten als unübersteiglich erwiesen, und wo das Herz des Menschen, das sich nicht bis
zur Höhe der Gedanken Gottes zu erheben vermochte, keinen
Ausweg sah, da zeigt sich Christus unseren Blicken, und zwar
in der vollkommensten Schwachheit. „Er ist hinabgestiegen in
die untersten Teile der Erde" und hat dort den unerschütterlichen Grundstein, den Felsen der Zeitalter, gelegt, worauf die
Gewißheit unseres Heils gegründet ist. Das ist der unausforschliche Reichtum des Christus. Was könnte uns jetzt noch
verweigert werden, nachdem Gott Selbst durch alles hindurch
gegangen ist? Kann es für uns noch irgendwelchen Zweifel,
oder irgendeine Schwierigkeit geben, nachdem Gott allem zuvorgekommen ist? Wenn es noch irgendeinen Mangel gäbe,
so würde Er nicht alles besitzen, was Er verdient hat. Wir
gehören Christo an, wie gesagt ist: „Von der Mühsal seiner
Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen" (Jes 53, 11). Wie
aber könnte er die Mühsal Seiner Seele genießen, wenn wir
nicht in Seinem Besitz wären? Man sieht, wie angesichts der
Liebe Gottes alles geoffenbart worden und alles in Tätigkeit
gewesen ist; und dennoch hat dies alles nur zur Offenbarung
der Macht dieser Liebe gedient. Jede Schranke, die sich dem
Heil des Menschen entgegenstellte, ist nicht nur weggenommen, sondern hat vielmehr zur Erfüllung des Heils beitragen
müssen. Alle meine Sünden, alle Bosheit meines Herzens,
kurz, alles, was ich als ein Werkzeug Satans war, ist durch
235
das Gericht beseitigt worden. Die Liebe Gottes überstieg all
meinen Haß und beseitigte jedes Böse; es gibt keine Scheidewand mehr zwischen mir und Gott; denn Christus hat diesem
allem ein Ende gemacht. Gott hat bewiesen, daß Seine Liebe
jede Art des Bösen überragte. Und wo entdecken wir dies?
Am Kreuze. Ja, am Kreuze haben wir die Gnade gefunden,
und Den, Den unsere Herzen nötig hatten; wir fanden dort
Gott Selbst, Der alle unsere Sünden getilgt hat, Der alles was
zu unserer Errettung nötig war, vollbracht und uns in den
Besitz von allem gesetzt hat, was Ihm gehört. Christus ist in
das Licht der Gegenwart Gottes eingetreten; denn Er hat das
erfüllt, wodurch der Vater vollkommen verherrlicht worden
ist. Wir sind die Gerechtigkeit Gottes in Ihm, Der für uns zur
Sünde gemacht wurde; wir haben das Leben im Sohne, dem
zweiten Adam, und haben daher auch Teil mit Ihm; denn
Christus hat uns nicht allein die Gerechtigkeit, sondern auch
ihren Preis gebracht. Gott hat uns in Jesu geliebt, und das
Kostbarste was Er im Himmel besaß, Seinen Sohn, für uns
gegeben. Wir sind die Gegenstände Seiner Liebe und befinden
uns jetzt über den finsteren Wolken, die sich zwischen uns
und Gott aufgetürmt hatten, in der Gegenwart Dessen, Der
uns zu der Wohnung Seiner Heiligkeit geleitet hat. Wir sind
in dem Vater, weil Christus Frieden gemacht hat durch das
Blut Seines Kreuzes. Dieser vollkommene Friede ist in Ihm,
und wir alle, die wir glauben, besitzen ihn. Wir sind unaussprechlich gesegnet und können, indem wir Jesum betrachten,
ausrufen: „Alles ist zu Seinem Ruhm, und Er allein ist würdig
ihn zu empfangen". Denn man fühlt das eigene Nichts, sobald
man in die Gegenwart Gottes gestellt ist. Wir wissen, daß
wir die Hölle verdient hatten, aber wir wissen jetzt auch, was
uns Gott in Christo gegeben hat. Und gibt es wohl etwas, das
Ihm nicht gehörte — Ihm, Welcher der Gegenstand der ganzen
Liebe Gottes ist? So viel ich in Gott zu entdecken und aufzuzählen vermag, so viel kann ich mir zueignen; denn Christus, „der hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde,
ist auch hinaufgestiegen über alle Himmel, auf daß er alles
erfüllte"; und ich bin in Ihm und Er ist in mir. Ich habe die
Erlösung gefunden und bin in den Besitz aller Dinge eingetreten; denn überall, wohin ich dringe, genieße ich Christum.
Ja, der unglückliche Heide, der kein Anrecht auf irgendeine
236
Verheißung hatte, besitzt, gläubig geworden, Christum Selbst,
den Gegenstand der ganzen Liebe Gottes. Welch ein unausforschiicher Reichtum!
Geliebte Brüder! Prüfet, was die Liebe Gottes getan hat, statt
daß ihr bei der Betrachtung dessen stehen bleibt, was der
Mensch zu seinem eigenen Verderben getan hat; und die Folge
davon wird sein, daß Christus der Gegenstand unseres Glaubens und unserer Freude ward. Er wohnt in uns, damit wir
die Liebe Gottes genießen können, wie Er sagt: „Auf daß die
Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in
ihnen". Christus hat durch Seinen Geist Wohnung in uns
gemacht; und wir sind in Ihm. Er sagt: „Ihr werdet erkennen,
daß ich in euch bin, und ihr in mir seid". „Christus in uns — die
Hoffnung der Herrlichkeit"; — und ich genieße von allem, was
Er ist. Die Hoffnung, welche ich besitze, beschämt nicht, weil
die Liebe Gottes in mein Herz ausgegossen ist, damit ich in
der Schwachheit meines armen Leibes, in den Schwierigkeiten
und Versuchungen, und im Kampf wider Satan stets die Treue,
die Zärtlichkeit und Güte Jesu, und zwar in den einzelnen
Umständen meines täglichen Lebens, kennenlerne. Ja, ich
mache in der vertrautesten Weise Bekanntschaft mit Ihm; denn
ich kenne Ihn als die „Hoffnung der Herrlichkeit". Es ist für
mich kein fremder, unbekannter Christus, sondern ein Christus, Den ich kenne in allen Bedürfnissen meines Lebens, ein
Christus, in Welchem Gott mir in Seiner ganzen Fülle entgegenstrahlt, Der mich wie ein Freund begleitet und den Bedürfnissen meines Lebens den ganzen Reichtum Seiner Gnade
anzupassen weiß. Ja, ich kenne Ihn und fürchte mich nicht,
kraft des Glaubens zum Himmel zu gehen; denn dort ist Er,
Der mich liebt und versteht, obwohl ich noch auf Erden bin,
und Der, wenn ich droben bei Ihm sein werde, die Mühsal
Seiner Seele genießen und völlig befriedigt sein wird. Er hat
die Gnade für die Seinen vollendet; später wird Er ihnen die
Herrlichkeit, die Er jetzt besitzt, mitteilen und sie zur Befriedigung des Vaterherzens Gottes darstellen.
Ich habe nur einige Punkte von dem unausforschlichen Reichtum des Christus berührt. Die Engel sind die Zuschauer in
allem, wovon wir die Gegenstände sind. Gott wirkt zu unse237
rem Heil; und es ist gut, daß wir Ihn in den Wegen Seiner
Gnade kennen, um diese Gnade und unendliche Liebe zu verstehen, deren Gegenstände wir sind, und ohne die wir verloren sein würden. Gott wollte uns durch die Macht Seines
Geistes demütig machen und verstehen lassen, wie abscheulich die Sünde und wie unendlich die Gnade ist, die uns in den
Reichtum der Herrlichkeit einführt. Es ist nötig, daß unser
armes Herz die Güte des Herrn Jesu selbst in den einzelnen
Umständen des täglichen Lebens kennenlernt, sowie in Seiner
Gunst und Gnade die Gunst und Gnade Gottes selbst erblickt.
Wir bedürfen der Erkenntnis Gottes, um Ihn zu genießen.
Möge Gott diese Gnade, deren Fülle uns in Jesu entgegenstrahlt, durch Seinen Geist unseren Herzen tief einprägen und
uns wachsen lassen in der Erkenntnis Dessen, Der der Friede
unseres Herzens ist, damit wir den ganzen Reichtum Seiner
Liebe und Gnade verstehen!
Eins aber ist not
(Lukas 12, 42)
Aus dieser feierlichen Bemerkung, die der Herr Jesus an Martha richtet, sehen wir, wie Er, wenn wir Sein Wort anhören,
dies mit großem Nachdruck als das „Eine, was not ist" bezeichnet. Und aus diesem Grunde fand auch Maria mehr Anerkennung in Seinen Augen, als ihre Schwester Martha, wiewohl diese, indem sie den Herrn in ihrem Hause aufnahm
und Ihm diente, in einem gewissen Sinn ein gutes Werk verrichtete. Dennoch gibt es etwas Besseres, ja, etwas durchaus
Notwendigeres, wenn unser Dienst ein duftender Wohlgeruch
vor dem Herrn sein soll; denn Er sagt: „Maria aber hat das
gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird".
Es ist dem Herrn über alles andere wohlgefällig, wenn Sein
Wort ein aufmerksames Ohr und ein geöffnetes Herz findet,
so daß die Seele gänzlich durch die Macht Seines Wortes beherrscht werden kann. Unstreitig hat die in unserer Zeit so
238
vielfach zu Tage tretende Schlaffheit und Kraftlosigkeit der
Gläubigen ihren Grund in der Vernachlässigung des „Einen,
was not ist", oder, mit anderen Worten, in der Versäumnis,
zu den Füßen Jesu zu sitzen und Sein Wort zu hören. Die
vielen Sekten und Parteiungen und vor allem die verschiedenartigen Irrlehren unter den Christen sind davon die traurigen
Folgen und verraten nur zu deutlich die mangelhafte Erkenntnis des Wortes des Herrn.
Man kann die Person Jesu und Sein Wort nicht voneinander
trennen, wenn man nicht den Wert und die Kraft von beiden
für das Herz verlieren will. Denn wie kann man Gemeinschaft
mit Christo genießen, wenn man es versäumt, auf Sein Wort
zu achten? Er sagt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut,
was irgend ich euch gebiete" (Joh 15, 14). Und wie kann ich
Sein Gebot kennen und Seinen Willen verstehen, wenn ich
nicht zu Seinen Füßen sitze und auf Seine Worte lausche? Sein
Wort geringzuschätzen bedeutet Geringschätzung Seiner erhabenen Person; und sicher hat Sein Wort nur dann Wert
und Kraft für unsere Herzen, wenn wir verstehen, daß es
Sein Wort ist. Deshalb sagt Er: „Meine Schafe hören meine
Stimme" (Joh 10, 27); und wiederum: „Du hast mein Wort
bewahrt" (Offb 3, 8).
Es ist daher von großer Bedeutung, Jesum zu hören, auf Sein
Wort zu achten und es im Herzen wohnen zu lassen. Durch
nichts anderes kann dieses ersetzt werden. Weder der eifrige
Dienst, noch die große Aufmerksamkeit, welche dem Herrn
durch die Liebe derjenigen gewidmet wurde, die Er liebte,
fanden in Seinen Augen eine solche Anerkennung, wie
das begierige Lauschen auf Sein süßes Wort von Seiten
derer, die zu Seinen Füßen saß. Ohne Zweifel gefiel es dem
Herrn, daß Martha Ihm diente, und sicher wird ihre aufopfernde Liebe manchen unter uns beschämen; allein ein anspruchsloser, segensreicher und unermüdlicher Dienst für Ihn
wird nur da stattfinden können, wo das „Eine, was not ist",
nicht nur nicht versäumt wird, sondern den ersten Platz im
Herzen einnimmt, während ein noch so bereitwilliger und
eifriger Dienst, sobald man ihn zum Gegenstand Nr. 1 macht,
nur zu bald mit Dürre, Unzufriedenheit und Mutlosigkeit
239
enden wird. Dde beiden Schwestern liefern uns dafür die Beweise. Während Maria sich an den Worten des Herrn erquickte,
lesen wir von ihrer so eifrig dienenden Schwester: „Martha
aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen: und sie trat
hinzu und sprach: „Herr! Kümmert es dich nicht, daß meine
Schwester mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun,
daß sie mir helfe" (V. 40)! Der Eifer des Dienstes war mit
einem Male gebrochen. Warum? Weil ihr Herz mit dem Dienst,
aber nicht mit der Person Dessen, Dem der Dienst galt, beschäftigt war!
Wie beachtenswert ist dieses Beispiel für uns! Der Herr sagt:
„Martha, Martha! Du bist besorgt und beunruhigt um viele
Dinge. Eines aber ist not" (V. 41). Sicher bilden die „vielen
Dinge", derentwillen Martha „besorgt und beunruhigt" war,
einen schroffen Gegensatz zu dem von Maria erwählten „guten
Teil", nämlich dem Worte Jesu, auf das sie lauschte. Während
Martha durch die „vielen Dinge" beunruhigt wird, findet
Maria Erquickung und Stärkung durch das erwählte „gute
Teil". Während die „vielen Dinge" nur Zerstreuung, Erschlaffung und Kraftlosigkeit im Gefolge haben, verleiht das „gute
Teil" Trost, Frische und Kraft. Während die „vielen Dinge"
mit Leere, Täuschung und selbst dem Tode endigen, findet das
gebrochene, zu den Füßen Jesu gebeugte Herz in Seinem Worte
das ewige Leben, die unversiegbare Quelle des Lebens.
Und so ist es noch immer. Der Herr Jesus verliert nimmer
Seine Schönheit, Seinen Reiz, Seinen Wert; und ebensowenig
verliert Sein Wort die ihm eigentümliche Kraft. „Er ist derselbe gestern und heute und in die Ewigkeit"! — und „Sein
Wort bleibt in Ewigkeit"; es „vermag weise zu machen zur
Seligkeit und ist nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß der
Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig
geschickt". Wie köstlich und segensreich ist das Wort des
Herrn, und wie wunderbar ist seine Wirkung in den Herzen
derer, die darauf achten! Ja, nur das Wort vermag uns zu
jedem guten Werke geschickt zu machen, und uns zu einem
wahren, ausharrenden und unermüdlichen Dienst zu befähigen,
zu einem Dienst, der in den Augen des Herrn völlige Aner240
kennung findet, selbst wenn die Menschen ihn nicht zu erkennen und zu schätzen vermögen.
Die „vielen Dinge", welche Martha so sehr beunruhigten,
übten auf Maria keinen Einfluß aus, und zwar nicht bloß
deshalb, weil der Zustand der Maria geistlicher war, als der
der Martha, sondern weil das Wort, das sie aus dem Munde
Jesu hörte, sie weit über die „vielen Dinge" erhob und ihren
Gedanken und Neigungen eine andere Richtung verlieh. Hier
zu den Füßen Jesu hatte Maria es gelernt, nicht einen eigenwilligen Dienst zu üben, sondern sich unter der Leitung des
Geistes zu einer Handlung geschickt machen zu lassen, wozu der
Herr sagte: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan" (Mk 14, 6).
Wollen wir daher ein gutes Werk tun, ein Werk, das die Anerkennung Jesu finden soll, so müssen wir zuvor das „gute
Teil" erwählen, d. h. zu Seinen Füßen sitzen und auf Sein
Wort achten. Im anderen Fall beschäftigen wir uns nur mit
jenen „vielen Dingen", die das Herz dürre, mutlos und unruhig machen. Das Wort aber, je mehr seine Autorität anerkannt ist, wird stets seine Kraft geltend machen. Alle unsere
Anstrengungen, um uns dem Einfluß der irdischen Dinge zu
entziehen, werden vergeblich sein, solange wir nicht die Bedeutung der Worte Jesu verstehen: „Eins aber ist not. Maria aber
hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden
wird". Ohne dieses gibt es keinen wirklichen Dienst und kein
entschiedenes Zeugnis für Christum.
Bist du wiedergeboren?
„Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus
dem Geist geboren ist, ist Geist" (Joh 3, 6).
Es gibt zwei Familien auf Erden; die eine Familie besteht aus
den Kindern des Zorns, die andere aus solchen, die für immer
gerechtfertigt und einsgemacht sind mit dem verherrlichten
Menschen Christus Jesus, Der sagen kann: „Siehe, ich und
die Kinder, die Gott mir gegeben hat" (Hebr 2, 13). Jedes
Kind Adams hat die gefallene und durchaus sündliche Natur
Adams; und jedes Kind Gottes hat die Natur Gottes, welcher
nicht sündigen kann.
241
Wie deutlich indes das Wort Gottes den Unterschied zwischen
diesen beiden Familien auch darstellen mag, so weiß doch die
große Mehrzahl der bekennenden Christen nicht im geringsten, was es heißt, wiedergeboren zu sein. Sie leben gedankenlos in den Tag hinein, indem etliche der Lüge Glauben
schenken, als sei bei der Taufe eines Säuglings dessen Wiedergeburt vollzogen, oder andere in ihrer Blindheit meinen, die
Natur Adams sei ebenso schlecht nicht, daß sie nicht durch
Erziehung und Veredlung gut und heilig gemacht werden
könnte. Doch wir wissen nur zu gut, daß der Mensch unter
allen Umständen als ein gefallener, verderbter Sünder aufwächst.
Allein es gibt noch eine andere Klasse, welche einräumt, daß Bekehrung und Wiedergeburt notwendig sind, aber sie können darunter nichts anderes verstehen als eine Veränderung oder Umwandlung der alten, verderbten Natur Adams, welche die Heilige
Schrift als das „Fleisch" bezeichnet, in eine reine und heilige
Natur. Wiederum sind viele von Jugend auf belehrt worden, um
ein „neues Herz" zu beten; und ihre Gebete, um bekehrt zu
werden, lassen es in aller Deutlichkeit durchblicken, daß sie die
Umwandlung der alten Natur Adams in die neue Natur Christi
erwarten. Augenscheinlich sind solche Beter aus ihrem Sündenschlaf aufgewacht und haben angefangen, sich nach dem
Wege des Heils umzusehen. Aber nimmer wird ihr Gebet
Erhörung finden, sondern, da sie in Wahrheit ihren gänzlich
verlorenen Zustand nicht erkennen, die Unruhe ihrer Seele
nur vermehren. Eine solche Art von Bekehrung findet sich in
der ganzen Heiligen Schrift nicht. Sie sagt uns an keiner Stelle,
daß das Fleisch, d. i. unsere gefallene Natur Adams, sich umwandeln oder verändern werde, sondern vielmehr, daß wir
erst bei der Wiederkunft Christi völlig davon befreit werden;
denn Paulus sagt in Phil 3, 20 u. 2.1: „Denn unser Bürgertum
ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesum
Christum als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib
der Herrlichkeit". Bevor aber dieses große und herrliche Ereignis stattfindet, wird keine Umwandlung des Fleisches oder
der alten Natur Adams zu suchen sein. Wir alle, die wir durch
die Gnade wiedergeboren, die wir Kinder Gottes sind, die wir
den „Geist der Sohnschaft" haben und mit Christo vereint
242
sind, müssen durch den Mund des Apostels sagen: „Auch
wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir
selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die
Erlösung unseres Leibes" (Röm 8, 23). Es ist daher außer
allem Zweifel, daß eine durch den Heiligen Geist wirklich erweckte Seele durch eine solche falsche Anschauung über das,
was Bekehrung ist, während des ganzen Lebens in Unruhe
und Knechtschaft gehalten wird. Freilich wird jeder, der an
Jesum glaubt, mit allem Verlangen beten und wünschen, daß
er von der bösen Natur Adams, die eine stete Plage seines
Herzens ist, völlig befreit werde; und es ist ganz gewiß, daß
dieses bei der Ankunft Christi stattfinden wird. „Wir wissen,
daß, wenn er geoffenbart ist, wir ihm gleich sein werden;
denn wir werden ihn sehen, wie er ist". Der Glaube triumphiert in dieser gesegneten Voraussicht.
Aber jetzt ist der durch den Geist erweckten Seele gesagt
worden, daß die alte schlechte Natur durch die Bekehrung
umgewandelt und heilig gemacht werde. Vielleicht fühlt sie
sich eine Zeitlang sehr glücklich; aber nach und nach entdeckt
sie immer wieder die alte Natur mit ihren Lüsten und Leidenschaften in sich, und, geleitet durch die oben bezeichnete falsche
Anschauung von Bekehrung, wird sie gänzlich in Verwirrung
gebracht und richtet schließlich alles Ernstes die Frage an sich,
ob sie überhaupt wohl bekehrt sei. Es ist kaum zu beschreiben,
in welcher Trostlosigkeit sich eine solche Seele befindet; denn
gerade wenn wir wiedergeboren sind, erkennen wir, was die
Plage und Schändlichkeit der Sünde im Fleische ist. „Denn
das Fleisch gelüstet wider den Geist"; und wiederum: „Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lüste des Fleisches nicht
vollbringen". Liefert uns dieses nicht den deutlichsten Beweis,
daß der Wiedergeborene immer noch eine böse Natur oder
das Fleisch in sich hat, und daß er, wenn nicht der Heilige
Geist in ihm wohnte, auch jetzt noch die scheußlichsten Lüste
vollbringen würde? Der Herr möge jeden Gläubigen zur Wachsamkeit leiten!
Was ist nun die Wiedergeburt? Sie ist ganz von Gott, eine
neue Schöpfung. „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine
neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu
geworden. Alles aber von Gott". — Beachten wir es wohl:
243
„Alles aber von Gott". Nichts ist hier von dem armen, gefallenen und verderbten Menschen; denn von den Kindern Gottes, von denen, die an Seinen Namen glauben, lesen wir:
„Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches,
noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren
sind". So wie Gott im Anfang bei der Schöpfung die Welt
nicht aus alten Materialen machte oder umwandelte, so ist
auch die neue Schöpfung nicht aus einer Umgestaltung oder
Reinigung der alten verderbten menschlichen Natur hervorgegangen. Wir werden dies nirgends in der Heiligen Schrift
finden.
Christus ist, nachdem Er das Werk der Erlösung vollbracht
hatte, aus den Toten auferstanden und darum das Haupt der
neuen Schöpfung. Der Geist Gottes beginnt nicht mit dem,
was in dem Sünder ist, sondern teilt das mit, was ganz außerhalb des Sünders ist, und zwar dasselbe Auferstehungsleben
und die Natur des Christus, Der aus den Toten auferstanden
ist und zur Rechten Gottes sitzt; und mithin sind wir „von
oben geboren". Oh, welch ein Leben! Sicher müßte Christus
noch einmal im Himmel sterben, bevor dieses Auferstehungsleben in einem einzigen Gläubigen zu Grunde gerichtet werden
könnte. Weil Er lebt, leben auch wir. Es kann nicht anders
sein; denn in Ihm und in uns ist ein und dasselbe Leben. Und
welch eine Natur? Wir besitzen die neue Natur des aus den
Toten auferstandenen Menschen Christus Jesus. „Wie er ist,
so sind auch wir in dieser Welt" (i. Joh 4, 17). Wie wunderbar ist diese Stellung gegenüber der alten Natur Adams, gegenüber dem als „tot" betrachteten, alten Menschen! „Das
Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden". Vor Gott
existiert die alte Natur nicht mehr; alles ist neu in Christo,
lebendig gemacht mit Christo, auferstanden mit Christo, mitgesetzt in die himmlischen örte r in Christo (Eph 2, 6). Wir
haben nicht zu warten, his der leibliche Tod der alten Natur
ein Ende macht; alles ist unser in Christo, dem auferstandenen Haupte.
Wie mag dieses zugehen? Wie kann ein Mensch wiedergeboren werden? „Der Wind weht, wo er will, und du hörest
sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt, und wohin
er geht; also ist jeglicher, der aus dem Geiste geboren ist . . .
Und gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also
244
muß der Sohn des Menschen erhöht werden" (Joh 3, 8. 14).
Hier haben wir das Wie — das einzige Wie, die einzige Art
und Weise, wie ein Sünder bekehrt wird. Alles andere ist
Lüge und Täuschung. Das Evangelium ist den Menschen eine
Torheit; aber „es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden" (Röm i, 76). So wie die Schlange für die tödlich gebissenen Israeliten in der Wüste aufgerichtet wurde, so ist auch
der gekreuzigte und wieder auferstandene Christus den verlorenen, durch den Biß der Sünde tödlich verwundeten Menschensöhnen vor Augen gestellt; und jeder, der glaubt, ist
vom Tode zum Leben hindurchgedrungen, ist aus Gott geboren und hat das ewige Leben.
Vielleicht könnte einer meiner Leser fragen: „Wie kann ich aber wissen, daß ich von Gott geboren, daß ich ein Kind Gottes
bin?" Ich frage zurück: „Wie kannst du wissen, daß dein Leib je geboren worden ist?" Liefert deine menschliche Existenz nicht den Beweis? Und ebenso beweist die Existenz der neuen Natur, daß du aus Gott geboren bist. Ich blicke
nicht in den Spiegel, um zu prüfen, ob ich sehen kann. Ich richte vielmehr meinen Blick auf irgendeinen Gegenstand; und
wenn ich den klar und deutlich sehe, so ist das der Beweis, daß ich ein gutes Auge habe. Hast du durch den Glauben Jesum
am Kreuz sterben sehen um deiner Sünde willen? Hast du gesehen, wie Er aus dem Grabe wieder auferweckt worden
ist um deiner Rechtfertigung willen? Ist Er der einzige Gegenstand, worauf du vertrauest und auf den du dein Heil
gründest? Hast du Ihn, nachdem Er das Werk der Versöhnung vollbracht und deine Sünden getragen hat, zur Rechten Gottes
gesehen? Siehst du, wie Er droben dich vertritt und für dich bittet? Schaust du Ihn, Der nicht nur herrlich und erhaben ist,
sondern auch die zärtlichste Liebe für den von Natur Armen
und Verlorenen, wie du einer bist, an den Tag legt? Sicher, wenn dein Auge nicht in dieser Weise auf Jesum gerichtet ist,
so ist dein Auge nicht das des alten Menschen. Das alte, verderbte menschliche Herz vertraut nicht in solcher Weise auf
Jesum. Die alte Natur blickt in sich und wünscht dort etwas Gutes für Christum zu finden. Der Glaube hingegen, der nicht
aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott ist, richtet seine Blicke nach außen auf Christum und schaut in Ihm Den,
Der für den armen, verlorenen Sünder allen Forderungen des 245
keiligen und gerechten Gottes entsprochen hat.
„Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch". „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott". Daher kann die Gesinnung des Fleisches oder das Fleisch selbst kein Vertrauen auf Christum setzen. Darum, mein teurer Leser, wenn du dein Vertrauen auf Christum allein setzest, hast du nicht nötig zu fragen: „Bin ich bekehrt? Bin ich widergeboren?" Denn nichts ist gewisser als dieses. Und wenn du sagst: „Ich finde aber so viel Böses in meiner alten Natur", so ist das etwas, was jedes Kind Gottes täglich bei sich findet und zu beklagen hat; denn wenn du nicht ein Kind Gottes wärest, so würdest du darunter nicht klagen.
Paulus sagt: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes" (Röm 7, 18). Aber er sagt auch: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern uner Gnade" (Röm 6, 14). Welch eine kostbare Verheißung! Welch eine glückselige Stellung! Wenn ein Kind Gottes auch stets versucht werden mag, ja selbst wenn du gefehlt hast und aus Mangel an Wachsamkeit von dem Betrug der Sünde überlistet worden bist, wenn du in stets schwerem Kampfe fühlst, wie das Fleisch wider den Geist gelüstet, so
bleibt es dennoch eine ewige, unumstößliche Wahrheit: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen". Wie schlecht das
Fleisch auch sein mag — und sicher, es kann nicht schlechter sein — so ist doch der Gläubige kein Schuldner des Fleisches,
sondern „mehr als Überwinder durch den, der ihn geliebt hat". O möchten doch alle Kinder Gottes nicht mehr in sich schauen,
um dort in ihrer alten Natur etwas zu suchen, das sie nie finden werden! Ach, wie viele Unruhe, wie viele fruchtlose
Anstrengungen würden sie sich ersparen. Sie blicken in ein leeres Grab, worin der auferstandene Jesus nicht zu finden ist.
Sie suchen Früchte an einem faulen Baume, an den längst die Axt gelegt ist. Sie suchen helle, klare Tropfen in einer durchaus unreinen Quelle, in welche sich alle Sümpfe und Kotschleusen dieser Erde ergossen haben. Blicken wir auf Christum, Der um unserer Sünde willen dahingegeben, und um
unserer Rechtfertigung willen auferweckt ist. In Ihm finden wir alles, was wir nötig haben. Er ist der Weg, die Wahrheit
und das Leben.