Inhaltsverzeichnis des
Jahrgangs 1876
Der gegenwärtige Dienst Jesu 5
Gnade und Wahrheit 13
„Kommet her zu mir" — „Gehet von mir" .. . 18
Die Entscheidung für Christum 20
Die Auserwählung 28
Das Hohepriestertum Christi 39
Die Sachwalterschaft Christi 55
Nichts als Freude 68
Der Zustand der Seele nach dem Tode ... . 73
Lobt den Herrn . 83
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" .. . 85
Die Hoffnung des Gläubigen 93
Paulus in dem Briefe an die Philipper ... . 106
Der erste Tag der Woche 108
Die Morgenstunden der Heiligen Schrift ... . 110
Gedanken über das Kommen des Herrn ... . 113
Gedanken, gesammelt aus Vorträgen von G. V. W. 206
Die Schriftstellen sind nach der bekannten Übersetzung
der „Elberfelder Bibel" angeführt
Der gegenwärtige Dienst Jesu
Die Mitteilung in Joh. 13, daß der Herr während des
Abendessens aufstand und Seinen Jüngern die Füße wusch,
ist sehr köstlich und bezeichnend. Sie zeigt dem geöffneten
Glaubensauge, was der Herr in Seiner Liebe gegenwär -
t i g für die Seinen tut. Was Petrus in jenem Augenblick
nicht wußte, aber „hernach" verstehen sollte, das verstehen
wir jetzt durch die Macht und Belehrung des Heiligen Geistes,
und in dem Maße wie wir mit ganze m Herzen die in
dieser Handlung dargestellte Gnade Christi ergreifen, erfreuen
wir uns unserer gegenwärtigen Stellung als solche, welche
Sein sind in dieser Welt.
Für Jesum war die Stunde gekommen, daß Er „aus dieser
Welt zum Vater gehen sollte". Er sieht im Geist das Werk,
welches Er nach dem Willen des Vaters auf der Erde tun
sollte, schon vollbracht. Das Kreuz liegt hinter Ihm. Die
Jünger hatten an der rührenden Gedächtnisfeier Seiner Liebe
teilgenommen — einer Liebe, die stärker ist als der Tod und
die viele Wasser nicht auszulöschen vermögen. Der Verräter
stand im Begriff, sein finsteres und schreckliches Werk zu
vollenden, wodurch zugleich jede Verbindung des Herrn mit
dieser Welt abgebrochen wurde, während Er die Seinen als
die Gegenstände Seiner Liebe in dieser Welt zurückließ. Ihnen sollte dieselbe Liebe bleiben, womit Jesus sie geliebt hatte, als Er Selbst noch in der Welt war. „Er liebte sie bis ans
Ende", durch alle Zeiten hindurch und in allen Umständen.
Das waren die Gefühle des Herzens Jesu im Blick auf Seine Jünger, die mit Ihm zu Tische lagen. _Zugleich empfand Er
auch, daß alle ihre Segnungen von Ihm abhingen. Er wußte,
daß"der. Vater Ihm alle s in die Hände gegeben hatte. Das
Werk ihrer Erlösung, das der Vater Ihm aufgetragen hatte,
hatte Er in wahrhaft vollkommener Weise vollbracht, so daß
Seine Liebe in dieser Hinsicht kein Betätigungsfeld mehr
fand. Das Abendessen war der Ausdruck hierfür. Aber das
war nicht alles, was in Seine Hände gegeben war. Wie_ Er
„von Gott ausgegangen war und zu Gott hinging", also
wollte Er auch die Seinen zu Gott hinführen, damit sie mit
Ihm in derselben Gemeinschaft und Herrlichkeit sein sollten,
in welche Er einzutreten im Begriff stand. Das waren die
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tiefen und mächtigen Gedanken der Liebe und göttlichen
Absichten mit den Seinen, welche das Herz Jesu erfüllten.
Aber wie sollte Er ihnen begreiflich machen, was Seine Liebe
nunmehr für sie tun wollte, wenn sie Ihn nicht mehr sehen
und hören konnten? Wie konnte Er sie fühlen lassen, daß
Er ihnen blieb und daß ihre Segnungen auch fernerhin nur
von Ihm abhingen in der Wirksamkeit einer unveränderlichen Liebe? Er hatte ihnen ein bleibendes Gedenken daran
hinterlassen, daß er in Seiner Liebe für sie starb, und an
diese Liebe bis in den Tod sollten sie beim Anblick des gebrochenen Brotes und des ausgegossenen Weins durch Seine
Worte: „Das ist mein Leib — für euch gegeben", und: „Das
ist mein Blut — für euch vergossen", stets erinnert werden.
Aber in welcher Weise sollte Er ihnen eine bleibende Darstellung von jener Liebe geben, die nun ihre Verbindung
mit Ihm an jenem Platze verwirklichen sollte, den Er jetzt
für sie einnehmen wollte? „Er steht vom Abendessen auf
und legt die Oberkleider ab, und er nahm ein leinenes Tuch
und umgürtete sich. Dann gießt er Wasser in das Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und
mit dem leinenen Tuch abzutrocknen, mit welchem er umgürtet war" (V. 4. 5).
Welch ein Anblick mußte es für die staunenden Jünger
sein, als der Herr, Dessen Macht sie oft bezeugt, Dessen
Herrlichkeit sie auf dem Berge der Verklärung gesehen und
Den sie als den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes,
erkannt hatten, Sich zu dem niedrigsten Dienst, zum Waschen
ihrer Füße, herabließ! Deshalb wohl rief Petrus, als der
Heiland niederkniete, um seine Füße zu waschen, mit ablehnendem Eifer aus: „Herr, du wäschest mein e Füße?"
Aber so sehr er den Herrn auch liebte, so begriff er doch
wenig von dem Geheimnis der Liebe, die von der Höhe der
göttlichen und himmlischen Herrlichkeit herabgekommen war,
um ihm zu dienen. Er verstand noch nicht, wie nötig das
alles für ihn war, was jene Liebe für ihn getan hatte und
noch tun wollte und wie tief Sich der Herr herablassen, wie
fortdauernd diese Liebe sein mußte. Der Herr muß ihm sagen: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber
hernach verstehen". Doch diese Belehrung genügte dem feurigen Jünger nicht. In seiner Unwissenheit sah er nur eine
Herabwürdigung seines Herrn in Dessen Handlung, die er
für seine Person nicht dulden konnte. Deshalb ruft er aus:
..Du sollst nimmermehr mein e Füße waschen". Weder
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fühlte, noch kannte er die Notwendigkeit dieser Erniedrigung
und er suchte den Herrn daran zu hindern, so wie er es
einst im Blick auf das Kreuz getan und sich den Tadel des
Herrn zugezogen hatte: „Geh hinter mich, Satan! du bist
mir ein Ärgernis; denn du sinnest nicht auf das, was Gottes,
sondern auf das, was der Menschen ist". Dort war Petrus
das Werkzeug Satans, indem er sich zwischen den Herrn
und jenes Werk stellen wollte, wodurch Gott verherrlicht und
der Sünder gerettet werden sollte. Das war mehr als Unwissenheit, und daher die Schärfe jenes Tadels. Hier wollte
er sich in einem unverständigen Eifer für die Ehre des Herrn
zwischen diesen und seine eigene Segnung stellen, weshalb
der Herr ihn schlicht belehrt: „Wenn ich dich nicht wasche,
so_hast du kein Teil mit mir", — d. h. er hätte die himmlischer^ Segnungen, in die der Herr jetzt einzutreten im Begriff
war, in Gemeinschaft mit Christo nicht genießen können.
Nur durch die Ausübung der Liebe Jesu in jenem Dienst,
der uns in der Fußwaschung dargestellt wird, können die
Seinen während ihres Wandels in der Welt den Genuß der
Gemeinschaft mit Ihm im Himmel haben. Deshalb zeigte
sich Jesus Seinen Jüngern in jener köstlichen, mit dem
Abendessen verbundenen Handlung als der umgürtete Diener, der jetzt in der Herrlichkeit stets bereit ist, ihnen zu
dienen und ihre Füße zu waschen. Das Brechen des Brotes
sollte sie an Den erinnern, Der auf dem Kreuze ihre Sünden
getragen hatte. Indem sie von diesem Brote aßen und von
diesem Kelche tranken, nährten sie sich von dem gestorbenen
Christus und erfreuten sich jener Liebe, die alles für sie
getan, die sie gerettet und zu Gott geführt hatte, ohne daß
ihnen auch nur eine einzige Sünde den Eintritt in 5eine heilige Gegenwart verwehren konnte. Das leinene Tuch und das
rG3L^VMse£_£^füJlt^3^sphbecken aber sollten ihr Glaubensaugj; jauf Ihn richten, wie Er auch gegenwärtig in Liebe mit
ihnen "beschäftigt ist, und zwar mit .einer Liehe, die — obgleich in Herrlichkeit und außer dem Bereiche ihres natürlichen_j\uges_ausgeübt — sie auf ihrem ganzen Wege durch
die Wüste begleitet. Ja, durch den unaufhörlichen Dienst,
den Jesu in der Fußwaschung den Seinen erweist, befähigt
Er sie zum Genuß Seiner Gegenwart und Seiner eigenen
Freude. Das ist für ein Herz, welches Ihn kennt und liebt,
der köstlichste Teil. Deshalb sagte auch Petrus, indem er
die Kraft der Worte des Herrn: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast d u kein Teil mi t mir " zu fassen begann,
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mit einem brennenden Verlangen nach dem vollen Besitz der
in jenen Worten angedeuteten Segnungen: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt". Er
empfand auf einmal, daß nicht allein seine Füße, sondern
auch seine Natur und sein ganzes Wesen der Reinigung
bedurften. So mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt, übersah er jedoch in Unwissenhei t das Werk der Gnade,
welches der Herr bereits in ihm gewirkt hatte . Wie Tausende von Christen heute, verwechselt auch er praktisch e
Heiligung mit vollendete r Heiligung, die Reinigung der
Person mit der Reinigung der Wege, die Stellung mit dem
Zustand. Der Herr zeigt bei jener Gelegenheit diesen Unterschied sehr klar. „Wer gebadet ist, hat nicht nötig sich zu
waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein; und
ihr seid rein". — Wenn jemand im Morgenlande, wo nur
Sandalen getragen wurden, in der Frühe seinen Leib ganz
gewaschen oder „gebadet"*) hatte, so bedurfte er vor der
Einnahme der Abendmahlzeit nur der Reinigung seiner während des Tages durch den Wandel beschmutzten Füße. Der
Hauswirt besorgte für seine Gäste das Wasser zum Waschen
ihrer Füße, aber nicht zum Baden des ganzen Körpers; denn
das würde die Unreinheit der Person vorausgesetzt haben.
Auf diesen Gebrauch spielt der Herr in dem Tadel an den
Pharisäer Simon für die Ihm in dieser Beziehung widerfahrene Vernachlässigung an, indem Er sagt: „Du hast mir kein
Wasser auf mein e Füße gegeben" (Luk 7, 44).
Die geistliche Bedeutung dieser durch das Verlangen des
Petrus veranlaßten Erklärung des Herrn ist also sehr klar.
Die Jünger waren bezüglich ihrer Person rein — sie waren
wiedergeboren. Sie waren durch das Waschen der Wiedergeburt „ganz rein" und schon im Besitz eines neuen Lebens
und einer neuen Stellung vor Gott, wie sie nicht vollkommener sein konnten. Wiedergeboren „aus Wasser und Geist",
besaßen sie eine „göttliche Natur", kraft welcher sie hinsichtlich ihrer Person ein für allemal passend für die Gegenwart Gottes gemacht waren und folglich zu jeder Zeit ein
Anrech t auf die Gemeinschaft mit Gott im Heiligtum
hatten. Aber wegen des Genusses dieser Gemeinschaft und
ihres Wandels mit Jesu im Heiligtum mußten ihre Füße von
der Verunreinigung gesäubert werden, die sie sich auf ihrem
*) Dieses Wort unterscheidet sich im Urtext von dem auf die Fu&waschung angewandten Wort.
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Wandel durch eine böse Welt zugezogen hatten. Und das
geschah mittels der Anwendung des Wortes durch den Geist
nicht auf ihre Person , sondern auf ihr Her z und Ge -
wissen , so daß sie sich infolgedessen selbst richteten und
von allem trennten, was in ihren Gedanken und in ihrem
Wandel mit der Natur und dem Charakter Gottes unvereinbar war. Dies allein befähigte sie, mit Jesu an den himmlischen Segnungen teilzuhaben, welche Er als Mensch für sie
in Besitz genommen hatte.
Es muß hier bemerkt werden, daß weder die Person noch
die Füße mit Blu t gewaschen sind. Insoweit bedarf es der
„Waschung mit Wasser durch das Wort". Im Blick auf die
Stellun g ist es eine ein für allemal vollendete Handlung,
die sich nicht wiederholt; aber hinsichtlich des Zustande s
bedarf es einer jedesmaligen Wiederholung, sooft man sich
irgendwie eine Verunreinigung im Wandel zugezogen hat,
weil es sich um die praktische Gemeinschaft oder den Genuß
handelt. Das erhellt vorbildlich die Weihung der Priester in
Verbindung mit dem Waschbecken, wovon wir hier das
gepriesene Gegenbild sehen: „Und Aaron und seine Söhne
sollst du herzunahen lassen an den Eingang des Zeltes
der Zusammenkunft und sie mit Wasser waschen" (2. Mose
29. 4). Dann wurden ihnen die priesterlichen Kleider angezogen; es wurde Blut auf ihr rechtes Ohrläppchen, auf ihren
Daumen und auf die große Zehe ihres rechten Fußes gegeben, und nachdem sie mit dem heiligen Salböl besprengt
waren und man die erforderlichen Opfer dargebracht hatte,
waren sie ein für allemal für den „priesterlichen Dienst" geheiligt. Ihre priesterliche Stellung war vollendet und somit
ihr Anrech t zum Eintritt in das Heiligtum auf immer
gültig. Aber ihre p r a k t i s c h e Fähigkeit zu diesem Eintritt Jünd„ zum Dienst am Altar .vor_dem Herrn erforderte
noch etwas anderes, nämlich den täglichen Gebrauch des
Waschbecken s : „Und Aaron und seine Söhne sollen
ihre Hände und ihre Füße darau s waschen. Wenn sie in
das Zelt der Zusammenkunft hineingehen, sollen sie sich mit
Wasser waschen, daß sie nicht sterben, oder wenn sie dem
Altar nahen zum Dienst, ein Feueropfer zu räuchern dem
Jehova. Und sie sollen ihre Hände und ihre Füße waschen,
daß sie nicht sterben" (2. Mose 30, 19^20). Die Annahme
ihres priesterlichen Dienstes war verbunden mit der Waschung ihrer Personen im Wasser des Waschbeckens zur Zeit
ihrer Weihung, während die Fähigkeit zur praktischen Aus9
Übung dieses Dienstes, und zwar so oft sie dienten, mit der
Waschung ihrer Hände und Füße mit Wasser aus demselben
Waschbecken verknüpft war.
Das Letztere nun stellt uns der Herr in der Handlung
der Fußwaschung vor Augen. Sein gegenwärtiger Dienst in
der Herrlichkeit trennt die Seinen in der Welt durch die
Wirksamkeit des Wortes auf ihr Gewissen von jeder Verunreinigung, die sie sich, wiewohl sie schon Geheiligte sind,
auf ihrem Wandel zugezogen haben, so daß sie als Priester
mit Ihm an dem Dienst und der Anbetung Gottes innerhalb
des Vorhangs teilhaben können.
Alle Gläubigen sind vollkommene Priester vor Gott, wie
wenig sie auch davon verstehen und genießen mögen. Ihre
Leiber sind gewaschen mit reinem Wasser, besprengt mit
dem Blute Christi und gesalbt mit dem Heiligen Geiste.
Ihre Weihung ist eine vollendete Tatsache, und sie sind un -
widerruflic h ein „heiliges Priestertum" — die wahren
Söhne Aarons. Um jedoch mit dem wahren Aaron, mit Christo, teilzuhaben im himmlischen Heiligtum, müssen ihre
Füß e beständig mit dem Wasser des Waschbeckens gewaschen werden. Die Gläubigen waschen sich nicht selbst, sondern Christus wäscht ihre Füße, und zwar nach Seiner Kenntnis dessen, was der Gegenwart Gottes angemessen ist. Die
Triebfedern dieser Handlung in Liebe und Einsicht befinden
sich gan z un d ga r in Ihm Selbst. Unsere Errettung und
unsere Weihung zum Priestertum sind souveräne Akte der
Liebe Christi. Seine Hände haben alles bewirkt; Sein Name
sei dafür gepriesen! Ebenso hängt auch unsere Gemeinschaft
von Christo und nicht von uns selbst ab; auch sie ist ein
souveräner Akt Seiner Liebe, die unsere Füße wäscht und
unsere Gemeinschaft wiederherstellt. „Was ich tue, weißt du
jetzt nicht, du wirst es aber hernach verstehen". Wenn unsere Gemeinschaft und unsere Kraft zum Dienst, nachdem wir
sie durch unsere Nachlässigkeit verloren hatten, wieder hergestellt worden sind, so wissen wir, w e r es getan hat; wir
aber können nur eins tun: Ihn dafür preisen. Obwohl wir
stets „ganz rein" vor Gott sind, so fühlen wir uns doch
ohne Seine Gemeinschaft unglücklich und haben das Bedürfnis nach Wiederherstellung — nach Reinigung unserer Füße.
Blicken wir dann auf Jesum, so sehen wir in Ihm Den, Der,
diesem Bedürfnis entsprechend, umgürtet ist, und daß Er
unsere Füße wäscht, macht unsere Herzen angesichts der in
dieser Handlung sich offenbarenden Liebe wieder glücklich
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und bringt uns zu dem Bewußtsein , daß die Gemeinschaft mit Ihm wiederhergestellt ist — wir haben ein „Teil"
mit Ihm.
Möge unser treuer und hochgelobter Heiland, Dessen
Dienst hinsichtlich unserer Herzen und Wege so unentbehrlich ist, unsere Herzen im demütigen Verständnis Seiner
Gnade und Liebe bewahren! Denn je mehr wir diese Gnade
verstehen, desto mehr werden wir zu jener Gnade geleitet,
durch welche wir in Liebe andern dienen. Das aber führt
uns zu einem sich unmittelbar anschließenden weiteren Gegenstand der Betrachtung, ausgedrückt in den Worten des
Herrn: „Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure Füße
gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße
zu waschen". Es ist unmöglich, im Genuß der göttlichen Segnungen selbstsüchtig zu bleiben; die Glückseligkeit macht
mitteilsam. So genügte es dem Sohn der Liebe des Vaters
nicht, in den Segnungen jener Liebe zu bleiben; es war Ihm
ein Bedürfnis, den Vater zu offenbaren, wie Er ihn kannte.
Er sagte zu dem Vater im Blick auf die, welche Ihm der Vater aus der Welt gegeben hatte: „Ich habe ihnen deinen
Namen kundgetan und werde ihn kundtun, auf daß die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei". Dieses ist die
Sprache Seines Herzens — die geheime Quelle jenes gesegneten Dienstes der Liebe, den Er von den Höhen des Himmels her an den Seinen in dieser Welt ausübt. Es ist dieselbe Sprache und derselbe Dienst, wenn jener Jünger, „welchen Jesus liebte", sagt: „Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf daß auch ihr mit uns Gemeinschaft habt und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem
Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus. Und dieses
schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig sei". — Beider
Herzen, das des Lehrers und des Jüngers, werden durch
denselben Beweggrund geleitet, nämlich daß andere ein „Teil
mit mir" haben. Die Liebe findet in dem verborgenen Genuß
der eigenen Segnungen ihre Wonne im Dienen. Die Vollkommenheit eines solchen Dienstes sehen wir in Ihm, Der
mit Recht „Herr und Lehrer" genannt wird. Und wenn Er
sagt: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, auf daß, gleichwie
ich euch getan habe, auch ihr tut", so fügt Er hinzu: „Wenn
ihr dies wisset, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut". Welche
Glückseligkeit aber könnte mit dieser verglichen werden, die
aus der Gemeinschaft mit Jesu in diesem heiligen Dienst
entspringt, zu welchem Er auch uns beruft?
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Es gilt, in diesem uns zur Nachahmung dargestellten
Dienst zwei Elemente zu beachten: die Liebe, welche frei
von Selbstsucht, alles, was wir an Segnungen Gottes besitzen, mit andern zu teilen sucht, und die Demut des Herzens, die dazu befähigt, sich den Gegenständen unserer Liebe unterzuordnen, um das Mittel zu deren Segnung zu werden. Nur insofern, als wir die Gnade Jesu, welcher uns die
Füße wäscht, verwirklichen, sind wir zu diesem Dienst fähig.
Die Liebe und Niedriggesinntheit, ohne die ein solcher Dienst
unmöglich ist, kann uns nur aus Seinem Herzen durch unsere Gemeinschaft mit Ihm zufließen. Je mehr wir uns dessen
erfreuen, was Gott in Licht und Liebe ist, wir vermögen dies
nur, wenn unsere Füße von Christo in der obenerwähnten
Weise gewaschen sind, desto mehr sind wir moralisch imstande, bei anderen das zu entdecken, was mit diesem Gott
unvereinbar ist und ihre Gemeinschaft mit Ihm stört. Wir
sehen dann in göttlicher Weise, was die Kraft der Anbetung
und des Dienstes in ihnen schwächt, und sowohl die Liebe
zu ihnen, als auch die Betrachtung der Herrlichkeit in ihnen,
treibt uns an, ihnen die Füße zu waschen. Aber zugleich
werden wir dadurch auch in dem Bewußtsein unseres Nichts
zu Christo getrieben, um von Ihm die zu diesem Dienst notwendige Kraft und Weisheit zu erlangen.
Nur der Gedanke an die Wiederherstellung ihrer Gemeinschaft mit Gott darf uns leiten, wenn wir ihnen mit Zittern
und Sanftmut des Herzens nachgehen in der Liebe und Kraft
Christi- Die SchönFTeit der Gesinnung, in welcher die Fußwaschung_ ausgeübt werden sollte, zeigt uns der Apostel sehr
treffend in den Worten:,, Brüder, wenn auch ein Mensch von
einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wiede r zurech t im Geiste der Sanftmut/indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht werdest" (Gal 6, 1). — Diese Gesinnung ist weit von
dem Geiste entfernt, der nur Fehler bei anderen sucht, um
sie zu richten, wozu wir so neigen, wenn wir nicht wachsam
über uns selbst sind. Offenbare Fehler anderer aber haben
wir nicht zu beschauen, sondern durch die Anwendung des
Wortes Gottes in einer Weise beseitigen zu helfen, die den
Eindruck gibt, daß unsere Hilfe nur von Liebe und Demut
bestimmt ist. Es genügt nicht, daß ich das Böse in einem
anderen kenne und das leinene Tuch und das Wasser in
Bereitschaft zur Fußwaschung habe, sondern ich muß vor
allem sein Vertrauen zu gewinnen und sein Herz in meiner
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Gegenwart in Ruhe zu bringen suchen durch das Gefühl, daß
die Liebe und nur die Liebe mich zu Ihm geführt habe. Er
muß es mir abfühlen, daß ich bereit bin, mich zu seinen
Füßen zu beugen und sie zu waschen, wenn er sich mir nur
überlassen will.
Wir müssen es als ein gesegnetes Vorrecht betrachten, daß
der Herr uns berufen hat, einander die Füße zu waschen. JEs
ist ein Dienst, den wir allen Heiligen schulden, und wir sollten darüber wachen, ihn an allen auszuüben, die Christo
angehören. Wir bedürfen dazu nicht der besonderen Gabe
eines Lehrers oder Hirten, sondern es ist einfach ein Dienst
der Liebe, den ein Gläubiger dem andern nach der Ermahnung des Herrn im tagtäglichen Leben schuldet. Wenn wir
glücklich sind im Herrn und mit Ihm wandeln, wird es bei
uns an der Ausübung dieses Dienstes gegen andere nicht
fehlen. Nach diesem Dienst, der durch die glänzendsten Gaben nicht ersetzt werden kann, besteht ein großes Bedürfnis
unter den Heiligen; es ist der Dienst, der im Hause, in der
Einsamkeit des täglichen Lebens ausgeübt wird. Hier ist der
Platz der wahren Fußwaschung und je mehr wir Christum
als Den kennen, Der in unserem vertraulichen Verkehr mit
Ihm die Füße wäscht, desto mehr werden wir im vertrauten
Umgang mit anderen Gläubigen ihnen die Füße zu waschen
suchen.
Möge der Herr uns helfen, daß wir einander in Liebe
dienen! Wir werden dann erfahren, daß es nicht ein einseitiger, sondern ein gegenseitiger Dienst ist.
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Gnade und Wahrheit
„Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und
die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden". In diesen
wenigen aber wichtigen Worten zeigt uns der Geist Gottes
den Wechsel oder vielmehr den Gegensatz, den die Handlungsweise Gottes gegen den Menschen durch das Kommen
Seines Sohnes in die Welt erfahren hat. Indem er von der
göttlichen und persönlichen Herrlichkeit Dessen redet, Der
Seinen Platz unter den Menschen genommen hat, sagt Johannes : „Das Wort war bei Gott und das Wort war Gott . . .
und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns". Es
wohnte unter den Menschen, aber „voller Gnade und Wahrheit" für den Menschen.
Mit Moses kam das Gesetz, das Aussprüche Gottes an den
Menschen enthielt. Gott forderte darin die völlige Unterwerfung des Menschen unter dessen Autorität, während es zugleich die Grundlage der Beziehung des Menschen zu Gott
bildete — eine Grundlage, welche den Gehorsam gegen den
bekannten Willen Gottes zur Bedingung des Segens machte.
Das Gesetz sagte dem Menschen, wie er sein sollte, und
sicherte ihm nach der gerechten Regierung Gottes die Segnungen für den Fall zu, daß er die göttlichen Forderungen
erfüllte , während es ihn aus demselben Grunde ohne
Barmherzigkeit verdammte, wenn er auch nur in einem Punkte fehlte. Moses zeigte in seiner Rechten und Linken die
Forderungen Gottes als ein Licht, durch welches der Mensch
sehen konnte, wie er sein sollte. Er offenbarte die Grundsätze, nach denen Gott allein mit dem Menschen in dem
Zustand verkehren konnte, in welchem das Gesetz ihn fand.
In jedem Falle aber deckte dieses Licht mehr oder weniger
nur das Böse auf, so daß nach dem Grundsatz der Regierung
keine Segnung stattfinden konnte. Paulus erklärt uns dieses
merkwürdige Resultat lehrhaft mit den Worten: „Denn so
viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluche". Es
bleibt also für den Menschen, insofern er zu Gott nach dem
Grundsatz des Gesetzes in Beziehung steht, keine andere
Aussicht, als das Gericht. Und je mehr das Licht des Gesetzes sein Herz und seine Wege beleuchtet, umso mehr sagt
ihm sein Gewissen, daß sein Gericht gerecht ist, ohne daß
ihm das Gesetz auch nur den entferntesten Ausweg zum
Entrinnen zeigt.
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Der Grund hierfür ist sehr klar: das Gesetz zeigt nie, was
Gott in Sich Selbst fü r den Menschen ist, sondern was
Gott in Seiner Autorität vom Menschen in dem Zustand
erwartet, worin er sich befindet. Moses hatte die Aufgabe,
Gott nicht anders als nur auf der Grundlage der menschlichen Verantwortlichkeit zu offenbaren. Weiter ging jene
Haushaltung oder die durch Mose dargestellte Beziehung
Gottes zu den Menschen nicht. Das Licht, welches er in bezug auf Gott und Menschen darbot, war nur eine teilweise
und begrenzte Offenbarung, wie auch die Wahrheit, die er
dem Menschen zum Bewußtsein brachte. Dieses beschränkte
Maß an Wahrheit enthielt keinen Anflug von Gnade, die
doch den durch diese Wahrheit geoffenbarten Zustand allein
hätte heilen können. Folglich war sein Dienst ein Dienst des
Todes und der Verdammnis; nur Elend und Seelennot bezeichneten seinen Pfad. Und wo das Gesetz auch jetzt noch
seine Stimme hören läßt, hat es dieselben unausbleiblichen
Folgen.
Während der Haushaltung des Gesetzes, die mit Moses
beginnt und endet, gab es nur Finsternis — eine Dunkelheit,
welche durch das Licht des Gesetzes nur noch schärfer hervorgehoben wurde. Das Evangelium ist daher keine Fortsetzung oder Entwicklung der vorhergehenden Haushaltung;
es steht zu ihr vielmehr in allen seinen Zügen in einem offenbaren Gegensatz. Es beginnt, wo das Gesetz endigt. Moses und seine Haushaltung verschwinden, um Christo Platz
zu machen, mit Dessen Eintritt ein vollständiger Wechsel in
der Handlungsweise Gottes mit den Menschen eingetreten
ist. Es handelt sich hier aber nicht nur um einen Wechsel in
der Haushaltung, auch nicht bloß darum, daß eine andere
Person mit der Fülle der Macht und mit anderen Grundsätzen gekommen ist, um von seiten Gottes eine neue Grundlage der Beziehungen mit Gott einzuführen, sondern der
Gekommene ist „Gott, geoffenbart im Fleische". Es ging nun
nicht mehr um Forderungen, deren Erfüllung Gott von dem
Menschen erwartete und deren Gerechtigkeit der Mensch anerkennen mußte, obgleich sie ihn unter die Verdammnis
brachte, sondern Gott Selbst kam, wie Er in Sich Selbst ist,
„voller Gnade und Wahrheit" für die, zu denen Er kam.
Moses und seine Haushaltung mußten notwendig der Gegenwart Dessen weichen, Der in der Fülle Seiner eigenen Person kam, um Selbst mit dem Menschen zu verkehren, und
zwar im Grundsatz nicht danach, was der Mensch für Gott
sein sollte, sondern was Gott für den Menschen sein wollte.
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Moses erwartet alles von Seiten des Menschen für Gott;
das ist Gesetz. Mit Jesum Christum kommt alles von Seiten
Gottes zu dem Menschen; das ist unergründliche Gnade, die
ihrer Natur nach alles ausschließt, was sie nicht selbst ist.
Das Gesetz fordert alles und gibt nichts; die Gnade fordert
nichts und gibt alles. Das Gesetz wirkt Zorn, die Gnade
wirkt Segen und nur Segen.
Es ist daher unmöglich, daß der Mensch in einer Vermischung der Grundsätze von Gesetz und Gnade Beziehungen zu Gott erlangen kann. Können Moses und Christus die
Herrlichkeit einer gemeinschaftlichen Haushaltung teilen?
Kann jemand, der nur fordert und der die verdammt, welche
seiner Forderung nicht entsprechen, zu einer wirksamen
Übereinstimmung mit dem gelangen, der nur gibt und nichts
als Segnungen zu spenden hat? Können Zorn und Liebe sich
vereinen, um miteinander in Beziehung zu demselben Gegenstand treten? Unmöglich.
Die Stelle: „Das Gesetz ist durch Moses gegeben; die
Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden", hat also nicht die Bedeutung, daß durch den einen das
Gesetz, durch den anderen Gnade und Wahrheit eingeführt
ist, sondern enthält die Ankündigung, daß eine Handlungsweise mit dem Menschen einer anderen nach der Vollkommenheit der Wege Gottes Platz gemacht hat. Auch die Würdigkeit der beiden Personen steht beziehungsweise zueinander im Gegensatz. So sind z. B. Gnade und Wahrheit nicht
bloß gekommen , sondern sie sind in dieser göttlichen,
Fleisch gewordenen Person lebendig vertreten, so daß solche,
die zu Jesu kommen, nichts anderes als „Gnade und Wahrheit" finden und sagen können: „Aus Seiner Fülle haben
wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade".
Aber wodurch kennzeichnet sich die Gnade, welche keine
Vermengung zuläßt? Durch die göttliche Liebe inmitten der
Sünder — eine Liebe, die Verlorene sucht und Sich für sie
verwendet. Das vermochte die Gnade nur in einer Welt, wo
alle Sünder sind, deren Zustand die Tätigkeit der Liebe in
ihrem Charakter als Gnade hervorruft. Sie fand bei dem
Menschen nur Sünde, Haß und Elend; aber sie vergibt die
Sünde, tilgt den Haß und heilt das Elend. Sie gab Sich sogar
in den Tod, um alles hinwegzuräumen, was den Segnungen
ihrer Gegenstände hindernd im Wege stand. Was unter
den Menschen als die „Gnade" geoffenbart wurde, war
aber zugleich auch die „Wahrheit", welche alles in seinem
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wahren Zustand vor Gott offenbarte, in seinem wahren
Verhältnis zu Gott durch die Gegenwart Christi auf einmal ins Licht stellte. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit,
Gott und Mensch — kurz die Wahrheit von allem ist
in jeder Beziehung unter dem Strahl dieses Lichts enthüllt
worden. Was der Mensch zu tun hat, beschränkt sich darauf, daß er dieses Licht — die Wahrheit annimmt. Das
Licht wird nicht von dem Objekt verändert, auf das es
fällt, sondern es beleuchtet einfach alle s und zeigt so seine
wahre Gestalt. Das Gesetz bringt zwar Wahrheit, aber nicht
„die Wahrheit", welche alles aufdeckt, was geoffenbart werden kann. Im Licht des Gesetzes sieht sich der Mensch allerdings als Übertreter, über den das Tod und Verdammnis
bringende Gericht Gottes verhängt ist. Doch wenn er zu
Jesus kommt, so sieht er alles , weil er zu „dem Licht"
gekommen ist, das ihm die ganze Wahrheit zeigt. Er sieht
nicht nur, daß er ein Übertreter, sondern daß er seiner Natur
nach ein Sünder und Feind Gottes ist; er erblickt alle Folgen
eines solchen Zustandes Gott und der Ewigkeit gegenüber.
Aber er erblickt daneben auch eine Liebe, die herabgekommen ist, um ihn von alledem, was durch das Licht geoffenbart worden ist, zu befreien; denn „das Licht ist das Leben
der Menschen". So entschwinden der Seele die Angst und
die Schrecken des Todes und der Verdammnis, und es kehren Friede und Freude in das Herz ein. Während die Wahrheit sich ganz und gar mit dem Gewissen beschäftigt, erfüllt die Gnade das Herz und treibt alle Furcht aus, weil die
göttliche Liebe in Tätigkeit ist, um einen Sünder zu segnen.
Das sind die Erfahrungen dessen, der zu Jesu kommt;
„Gnade und Wahrheit" nehmen Besitz von ihm; er findet
Frieden mit Gott und Freude in Gott. „Gott ist die Liebe — Gott ist Licht". Das ist und war Er in Seiner Natur
von Ewigkeit her. Und Er — die Liebe und das Licht — ist
in Christo Jesu als „Gnade und Wahrheit" geoffenbart worden in dem Charakter, der dem Menschen, und zwar nicht
dem unschuldigen Menschen, sondern dem Sünder angepaßt
ist. — Das Gesetz wendet sich an Menschen, die gerecht sein
sollten und verdammt sie; die Gnade und Wahrheit verkehrt
mit Sündern und errettet sie.
Geliebter Leser! Auf wen ist dein Ohr gerichtet? Auf
Moses oder auf Christum Jesum? Moses kann dir nur das
Gesetz und dessen schreckliche Drohungen geben; Jesus
Christus hat für dich nur Gnade und Wahrheit mit all den
Segnungen, welche die göttliche Liebe gewähren kann.
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„Kommet her zu mir!
„Gehet fort von mir!"
Wie inhaltsschwer ist das Wörtchen „Komm!" das ehemals
nach seinem unschätzbaren Wert von den Lippen Jesu ausgesprochen wurde! Es charakterisiert die derzeitigen Wege
Gottes gegen die Welt und begegnet den Bedürfnissen dessen, der sich durch die Sünde elend und verlassen fühlt. Es
redet von einem Gott, der die Tür vor dem Klopfen eines
wahrhaft bekümmerten Menschen nicht verschließt, sondern
sie vielmehr weit vor ihm öffnet, um ihn mit Freuden in
Seine Arme zu schließen. Wie der Wind die Spreu, so verscheucht es jede Furcht, die als die Frucht der Sünde in dem
Herzen eines jeden Nachkommen dessen wohnt, der sich
einst vor der Gegenwart Gottes unter den Bäumen zu verbergen suchte. Es verkündigt uns einen Gott voll unendlicher Barmherzigkeit, Der dem verlorenen Sohn ungeachtet
seiner Missetaten entgegeneilt, ihn umarmt, küßt, bekleidet
und aufnimmt. Es ließen sich wohl Bände füllen über die
Sprache, die dieses kleine Wort zu uns redet. Es ist da s
mächtig e charakteristisch e Wor t vo n heu -
t e — „komm!"
Es findet seinen Widerhall in dem Herzen, der Offenbarung, den Wegen und der Botschaft Gottes, in jener Botschaft, deren klangvolle Töne sich überall hören lassen, wo
irgend in dem weiten Bf reich der Sünde das Evangelium der
Gnade Gottes verkündigt wird. „Komm! komm! komm!" —
so dringt es wie ein feierliches Echo aus den geweihten
Räumen hernieder, wo die Engel Gottes sich freuen über
einen Sünder, der Buße tut. ,^Wenn jemand dürstet, der
komme zu mir und trinke!" So schallt es uns aus jenem
kostbaren Buche entgegen, das uns allein den Willen Gottes
offenbaren kann. Alle Wege Gottes mit dem Sünder, wie
persönliche Ermahnungen, ein verlängertes Leben, abgewandte Gefahren, Pfade der Trübsal, flüstern im geheimen
in flehendem Tone: „Komm!" — „Komm!" so ertönt es von
den Lippen des Herolds heute wie immer schon seit Tagen,
Wochen, Monden und Jahren. „Komm!" ist der gnädige
Ruf, der vom Himmel herab in Liebe und Ernst an Alte und
Junge, an Reiche und Arme, an Juden und Nationen, an
Ehrbare und Lasterhafte gerichtet ist. „Kommet her zu mir
18
alle Mühselige und Beladend" — Alle werden eingeladen; alle sind willkommen. „Alles ist bereit, kommt . . .!"
Wie wunderbar, daß Got t mit einer brennenden Sehnsucht Sünde r einladen kann! Wahrlich höchst wunderbar!
Aber die einzige und alleinige Ursache ist: „Gott ist Liebe".
— Doch wie hat der Sünder die Liebe aufgenommen? Die
Antwort aus dem Munde Dessen, Der „wie nie ein Mensch
geredet hat" lautet: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß
ihr das Leben habt". Kann es möglich sein? Kann man eine
solche Liebe, Gottes eigene Barmherzigkeit hartnäckig von
sich weisen? Der Herr sagt es: „Ihr wollt nicht zu mir kommen". —
Geliebter Leser! Der Herr sagt nicht: „Ihr könn t nicht
zu mir kommen", sondern: „Ihr woll t nicht zu mir kommen". Der Mensch besiegelt sein Urteil durch seine eigene
vorsätzliche Verachtung der Barmherzigkeit Gottes. Welch
eine ernste, feierliche Wahrheit! Die Tür ist geöffnet, die
Gelegenheit gegeben, und eine treue und liebevolle Stimme
ruft: „Komm!" Aber der Mensch antwortet darauf mit Geringschätzung und Verachtung. Sein Leben, seine Sünden
und alle seine Wege sind eine einzige Verachtung der Barmherzigkeit Gottes. „Sie aber achteten es nicht und ginge n
hin , der eine auf seinen Acker, der andere an seinen Handel'' — der Ruf vom Himmel verhallt im Munde. Schrecklich!
Aber was wird aus dem Verräter? Ist er etwa der Vernichtung oder der Vertilgung anheimgegeben? O nein, ein
weit schrecklicheres Los wartet seiner. Er, der sein Ohr dem
einladenden Worte des Herrn gegenüber verschlossen hat,
wird gezwungen sein, einmal ein anderes Wort zu hören,
eine andere Wahrheit anzunehmen und die Folgen seiner
Torheit zu ernten. Er wird zu Boden sinken vor dem markerschütternden Ton der Worte: „Geh e vo n mir! " Nachdem ihm das liebliche Wort „Komm!" oftmals vergeblich zugerufen worden ist, wird das furchtbare Wort: „Gehe von
mir!" in sein Ohr dringen. Ach! dann wird es heißen: "Gehet von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer!"
O geliebter Leser! Kannst du diesen Gedanken ertragen?
Ist es nicht entsetzlich, von Ihm zurückgewiesen zu werden,
Der die einzige Quelle der Liebe, des Lichts und der Segnungen ist, Der mit herablassender Gnade dich ertrug, Sich
mit großem Verlangen nach dir sehnte, dir unaufhörlich
nachging und dir immer und immer wieder das süße Wort:
„Komm! komm! komm!" zuflüsterte? Kannst du den Ge19
danken an den „Wurm, der nicht stirbt" und an das „Feuer"
das nicht erlöscht", ertragen, wo doch eine Veränderung oder
Milderung deiner furchtbaren Lage nie mehr zu erwarten
ist? Willst du es wagen, dem Schrecken des Wortes: „Geh
von mir!" die Stirn zu bieten? Willst du es wagen, der entsetzlichen Finsternis, dem undurchdringlichen Dunkel, der
unbeschreiblichen Einsamkeit, den nagenden Gewissensbissen und der unaufhörlichen Todesangst zu trotzen?
Steh still und denk nach! Wach auf! Betrachte die ganze
Wirklichkeit dieser Wahrheit und öffne dein Ohr der Barmherzigkeit, welche dir in diesem Augenblick noch zuruft:
„Komm! komm! komm!"
Die Entscheidung für Christum
(Ruth 1)
Das erste Kapitel des Buches Ruth stellt uns drei Charaktere beispielhaft für drei verschiedene Seelenzustände vor
Augen. Noomi ist das traurige Beispiel für eine abtrünnige
Seele; Orpa verkörpert den Zustand eines Menschen, der
die Welt höher achtet als Christum, und Ruth ist das schöne
Bild einer Seele, die Christo vor allem anderen den Vorzug
gibt. Was ist dein Charakter, mein teurer Leser? Bist du ein
Abtrünniger? Achtest du die Welt höher als Christum? Oder
gibst du Christo vor allem anderen den Vorzug?
Noomi hat die Liebe Gottes gekostet, Ihm dann aber den
Rücken gekehrt und die Welt wieder liebgewonnen. Ihr
gleicht, wer eine Zeitlang mit dem Herrn gewandelt und
Seinen Namen bekannt hat, wer die Köstlichkeit Seiner Gemeinschaft genossen hat und Ihm eine Zeitlang aufrichtig
zugeneigt zu sein schien, sich aber — anfangs unmerkbar,
später mehr und mehr offenbar — dennoch von dem Herrn
abgewandt hat. Ach! in einer Seele, die Christum für die
Welt hingegeben hat, ist alles bitter. „Nennt mich nicht
Noomi (lieblich), nennt mich Mara (bitter)", sagt sie. Darum,
mein Leser, bist du ein solcher, so kehre um! Du fehlst dem
Vater im Schöße Seiner Familie; du fehlst dem Heiland an
Seiner Seite und du fehlst dem guten Hirten in Seiner Herde. Kehre um mit aufrichtigem Bekenntnis und Selbstgericht!
Sein Herz ist gegen dich unverändert geblieben; trotz all
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deiner Verirrungen liebt Er dich vollkommen; Er verlangt
danach, dich wieder in Seiner Nähe zu sehen.
Zehn Jahre hatte Noomi mit den ihrigen außerhalb des
jüdischen Landes zugebracht. Sie hätte das Land ihrer Väter,
da wo Gott bekannt war, nie verlassen sollen. Man wird einwenden, daß die Hungersnot im Lande sie zur Auswanderung gezwungen habe. Freilich waren die Umstände wider
die Natur; aber die Natur wendet sich stets von Gott ab.
Deshalb ist eine solche Handlungsweise töricht. Konnte Gott
in Bethlehem nicht ihr Leben fristen? — „Bethlehem" heißt:
„Brothaus". Konnte Gott sie dort nicht ernähren? Was erreichte sie durch ihre Auswanderung? War in Moab alles
nach ihrem Wunsche? Nein, ein Herz, das sich vom Herrn
abwendet und die Welt lieb gewinnt, findet nur Mühe und
Unruhe, nicht aber Frieden.
Noomi hatte Judäa mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen verlassen. Nach kurzer Zeit wurde das Liebste, das sie
in der Welt besaß, von ihrer Seite hinweggerafft und ins
Grab gelegt. Zuerst starb Elimelech, ihr Mann; kurz darauf
folgten ihre beiden Söhne Machion und Kiljon, und „das
Weib blieb übrig von ihren beiden Söhnen und von ihrem
Manne" (V. 5). Das sind die Wege des Herrn. Es war, als
hätte Er zu ihr gesagt: „Ich habe dich zu lieb, um diese Stützen, auf welche du dich lehnst, an der Seite zu lassen; ich
werde sie hinwegnehmen, auf daß du dich allein auf mich
stützen lernst". O gepriesen sei Sein Name! Wiewohl sie
sich von Ihm abgewandt hatte, Er verließ sie nicht. Wenn Er
züchtigt, so geschieht es nur zu dem Zwecke, das abtrünnige
Herz wieder zu sich zu ziehen.
In dieser Weise weiß die Gnade Gottes das Herz zurückzuführen. Noomi trat den Rückweg an, nicht nur weil sich
das Gefilde Moab als eine Grabstätte für sie erwiesen hatte,
sondern weil sie, nachdem sie in Moab alles einbüßt, vernommen hatte, daß „Jehova sein Volk besucht habe, um ihnen Brot zu geben" (V. 6). Wie gern besucht der Herr die
Seinen! Er mag sie, wenn es nötig ist, züchtigen; aber es ist
die Lust Seines Herzens, sie mit überströmender Freude zu
erfüllen. Es war des Herrn Gnade, die Noomi zurückführte.
Was brachte Petrus nach der Verleugnung seines Herrn
zurück? Der liebevolle Blick Jesu. Kurz zuvor hatte der arme
Jünger mit einem Schwur versichert, daß er „diesen Menschen" nicht kenne und nun ruht das Auge Jesu auf ihm,
als wollte Er ihn fragen: „Petrus kennst du mich wirklich
21
nicht?" Es war kein Blick der Verachtung oder des strengen
Verweises, obwohl Petrus ihn verdient gehabt hätte. Nein,
es war ein Blick jener unendlich zarten und starken Liebe,
die alle Erkenntnis weit übersteigt — ein Blick, der besagte:
„Wenn du mich auch nicht kennst, so kenne doch ich dich,
und meine Liebe ist nicht geschwächt". „Und Petrus ging
hinaus und weinte bitterlich". Kein Wunder, die Gnade hatte
sein Herz zerbrochen. Später stellte der Herr den zerknirschten Jünger wieder her, indem Er Petrus zur Verurteilung
dessen bringt, was ihn zu Fall gebracht hat, dann aber
schenkt Er ihm Sein volles Vertrauen wieder. Wir würden
wohl sagen, daß ein Mensch, der so gehandelt hat, unser
Vertrauen nicht mehr verdient. Aber der Herr handelt anders. Nachdem Er den Jünger gelehrt hat, sich selber zu richten, beschenkt Er ihn erneut mit seinem vollen Vertrauen.
Richten wir jetzt unsere Blicke auf die beiden Personen,
die sich bereit erklärten, der Witwe zu folgen. In dieser Beziehung begeht Noomi selbst noch auf ihrem Rückwege eine
Torheit, die nicht wieder gutzumachen war. Anstatt ihre
Schwiegertöchter zu dieser Reise zu ermuntern, sucht sie beide — bei Orpa mit Erfolg — zum Zurückbleiben zu bewegen.
Die beiden jungen Frauen hatten gleichen Kummer erfahren;
sie befanden sich in gleichen Umständen, unter gleichen Einflüssen und unter dem gleichen Zeugnis; denn aus den
Worten Ruths geht deutlich hervor, daß Noomi mit ihnen
über Gott und Seine Verheißungen geredet hatte. Orpa genoß dieselben Vorrechte wie Ruth und anfänglich kehrten
sie daher auch beide der Welt den Rücken, taten den ersten
Schritt, die Welt preiszugeben und sich dem Herrn zuzuwenden. Aber dann schieden sich ihre Wege. Orpa blieb zurück.
Sollte nicht der eine oder andere Leser in der armen Orpa
sein eigenes Bild sehen? Wer du auch sein magst, mein
Freund, ich zweifle keinen Augenblick daran, daß du Stunden ernsten Nachsinnens durchlebt hast — Stunden, in denen
du völlig von der Notwendigkeit deiner Bekehrung überzeugt
warst. Oder hast du nie gezittert, wenn du eine Predigt über
Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und über das kommende Gericht angehört hast? Sicher bist du manches mal beunruhigt
worden. Aber hast du Christum erwählt? Du magst zugegeben haben, daß es besser sei, ein Christ als ein Kind dieser
Welt zu sein. Du magst dir deiner Sünden bewußt und beunruhigt geworden sein bei dem Gedanken, daß du es einmal mit Gott zu tun haben wirst und daß das kommende
Gericht mit raschen Schritten herannaht.
22
Doch vielleicht sagst du: „O nein, ich habe kein Schuldgefühl, keine Angst vor der Zukunft, keine Besorgnis in
bezug auf Gott und meine Seele". Sprichst du wirklich so?
Dann, mein armer Freund, hast du noch Tage fürchterlicher
Einsicht, schrecklicher Angst, unaussprechlicher Gewissensbisse zu erwarten, und zwar an einem Orte, wohin kein
Hoffnungsstrahl dringt und wo Überführung, Angst und
Gewissensqual zu spät kommen. O mein Freund! Möchtest
du doch noch heute erwachen und zur rechten Oberzeugung
kommen — heute, wo du noch Zeit hast, dich für Christum
zu entscheiden! Hast du dich angesichts des Todes von Bekannten oder Freunden nie gefragt: „Was würde mit mir
sein, wenn ich abgerufen worden wäre?" Antworte mir
doch: Wie würde es um dich stehen, wenn du heute sterben
müßtest? Wo würde nach einem Leben ohne Gott, ohne
Christum, mit allen deinen Sünden auf deinem Gewissen,
in Ewigkeit, in endlos langer Ewigkeit dein Aufenthalt sein?
Wohin würdest du gehen, wenn Gott, nachdem du dich bisher nur mit der Welt und ihren Vergnügungen beschäftigt
und in der Sünde gelebt hast, deinem Leben beim Lesen dieser Zeilen plötzlich ein Ende setzte? Ach! es ist sicher die
höchste Zeit zur Umkehr. Wende dich zu Jesu! Könntest du
einen gelegeneren Augenblick für deine Errettung abwarten?
Ist es nicht eine dringende Notwendigkeit, dich heute für
Christum zu entscheiden? O gewiß. Er hat dich lieb und
möchte dich so gern erretten. Sein Name ist „Jesus" d. h. der
Herr, Der selig macht. Er lädt dich ein, dein Vertrauen
auf Ihn zu setzen. Willst du dein Kommen etwa bis morgen
verschieben? O Unglückseliger! Wer bürgt dir dafür, daß du
morgen noch Gnade finden kannst?
Vor kurzer Zeit stand der Verfasser dieser Zeilen am
Sterbelager eines Mannes, der am Tage zuvor noch gesund
und wohlauf gewesen, aber binnen sechs Stunden hinweggerafft worden war, und das, mein teurer Leser, kann morgen, ja heute noch, auch mit dir der Fall sein! Ach! wenn
du in deinen Sünden sterben würdest! Laß dich warnen,
denke an deine arme Seele, entfliehe dem zukünftigen Zorn!
Willst du nicht, daß der Herr dir deine Sünden vergebe?
Willst du nicht zu der Schar der Erlösten des Herrn gehören?
Ach! entscheide dich, entscheide dich noch heute, entscheide
dich für Christum.
Was war das Gefilde Moab für Noomi gewesen? Eine
Grabstätte. Und was ist-diese Welt? Eine große Grabstätte.
23
Der Leichenwagen, der dir auf dem Wege begegnet, erinnert
dich an den Tod. Du gehst einige Schritte weiter, und dein
Blick fällt auf ein Haus mit geschlossenen Fensterläden: auch
dort ist der Tod. Es begegnet dir ein alter Bekannter, dessen
trüben Blicke und dessen Traueranzug dir verkünden, daß
der Tod auch in seinem Hause teure Bande der Natur durchschnitten hat. Du kehrst in dein Haus zurück und findest
dort einen Brief mit schwarzem Rand, und der Inhalt sagt
dir, daß der Tod dich wieder eines Freundes beraubt hat.
Und schließlich — einen Tag, eine Woche oder ein Jahr später — findet sich in der Zeitung unter der Zahl derer, die
plötzlich gestorben sind, auch dei n Name .
Welch ein Trost ist es, den Blick von dieser düsteren Szene abwenden und zu dem lebendigen Gott erheben zu können! Und welch eine herrliche Erquickung liegt in dem Wissen, daß Er, Der mich unendlich liebt, nie sterben kann! Je
teurer mir jemand ist, desto bitterer ist mir sein Verlust,
wenn der Tod ihn von meiner Seite reißt. Aber Er, Der für
mich zur Rechten Gottes ist, kann nicht sterben. Er ist einmal gestorben, und zwar für mich, und nun kann mein Herz
sich fest an Ihn klammern, ohne daß dieses Band je zerreissen wird. O mein Freund, der du erlebt hast, wie der Tod
dir das Teuerste entriß, willst du nicht Ihn kennenlernen,
Der die Auferstehung und das Leben ist? In Ihm ist Leben
für die Toten, Trost für die Lebenden, Brot für die Hungernden; alles ist in Jesu, dem Einzigen, Der dir nie mehr entrissen werden kann.
Vielleicht wendest du ein, daß doch nicht alle Gläubigen
glücklich seien. Das ist wahr, und die Ursache ist, daß sie
abgeirrt sind wie Noomi. Sie wollen neben Christo auch die
Welt genießen. Sie haben zu viel von Christo, um noch
Freude in der Welt zu finden, und sie haben zu viel von
der Welt, um völlige Freude in Christo zu genießen. Ihre
Doppelherzigkeit macht sie unglücklich. Doch welch traurige
Folgen hat eine solche Unentschiedenheit! Ihr Betragen übt
den verderblichsten Einfluß, besonders auf junge Menschen
aus, weil sie verkünden: „Ihr braucht nicht so ganz der Welt
zu entsagen und auf der Seite Christi zu stehen; denn das
würde euch nur Schaden bringen". Sie gleichen der Witwe
Noomi, die sagte: „Kehret um, meine Töchter!" Welch eine
traurige Sprache gegenüber solchen Seelen, die im Begriff
stehen, sich für Christum zu entscheiden! Umkehren? Wohin? Umkehren nach der Hölle, nach dem Feuersee? Umkeh24
ren zuerst nach Moab und seinen Abgöttern und dann ins
Verderben? Das also war der Rat einer Frau, die den lebendigen Gott kannte, und dieser Rat lautete: „Genieße von
der Welt, soviel du kannst, und gehe dann schließlich für
ewig verloren". Selbst der Ungläubige verachtet einen Christen, der so spricht. Ach! wenn wir der Wahrheit einen weiten Spielraum setzen, so verlieren wir alles und gewinnen
nichts.
Wie annehmbar hingegen schienen die Segenswünsche
Noomis zu sein: „Jehova erweise Güte an euch" (V. 8), und:
„Jehova gebe euch, daß ihr Ruhe findet" (V. 9). Welch ein
Widerspruch! „Wende dich vom Herrn ab und siehe zu, daß
du Ruhe findest". Was hätten die beiden Frauen antworten
können? „Wir besaßen alles; aber der Tod hat es uns entrissen, und wir stehen einsam und verlassen in der Welt".
Gerade solche Seelen bieten Gott die Aufgeschlossenheit, bei
ihnen einzukehren und sie zu erfüllen, zu trösten und zu
befriedigen. Daß sie es ernst meinen, ist ihren Worten zu
entnehmen: „Wir wollen mit dir zurückkehren" (V. 10). Sie
entschieden sich für Christum. Aber Noomi sagt: „Kehret
um!" Wie ist das möglich? „Kehret um von Gott und wendet euch zur Welt!" — zu der Welt, in der Noomi selbst
keine Befriedigung gefunden hatte. Die Witwe ist ein Bild
jener unbeständigen, wankelmütigen Christen, die nicht an
die Errettung anderer glauben können und die ihrer eigenen
Errettung kaum gewiß sind. Deshalb sagt sie: „Wenn ihr mit
mir geht, so verliert ihr alle Aussichten in dieser Welt (V.
11-13); kehret daher um und der Herr gebe euch Glück und
Ruhe in dieser Welt". Ach! bei Orpa blieben diese Worte
nicht ohne Wirkung, und wieviele geben sich gleichen Einflüssen hin? Wie mancher denkt an den Verlust seiner
Freunde und an den Spott seiner Bekannten und urteilt:
„Nein, dieser Berg ist nicht zu ersteigen!" Freilich, der Pfad
ist steil; aber auf der Höhe des Berges, am Ende des Pfades,
zeigt sich der Glanz der Herrlichkeit, der Freude und des
Segens bei Christo bis in alle Zeitalter.
Bis hierher waren die beiden Frauen denselben Weg gegangen. So können auch jetzt zwei Angehörige derselben
Familie durch das Evangelium bewogen worden sein, sich zu
Jesum zu wenden; aber wenn die Stunde der Entscheidung
kommt, entschließt sich der eine für Gott, der andere für die
Welt. Wer sagt: „Ich bin nicht darauf vorbereitet; ich habe
25
die Kosten nicht überschlagen", der gleicht Orpa. Sie küßte
ihre Schwiegermutter (V. 14), verabschiedete sich von ihr
und wandte sich von Gott und Seinen Segnungen ab. Von
diesem Augenblick an trennen sich die Wege Ruths und
Orpas. Sie scheiden voneinander für ewige Zeiten, indem
jeder Schritt, den sie zurücklegen, die Kluft zwischen ihnen
erweitert. Arme Orpa! Welch ein trauriges Ende nach einem
so herrlichen Anfang!
Vielleicht denkt der eine oder andere, daß dieses Gemälde
zu trübe gezeichnet sei, und er fragt: „Werde ich in der Tat
so viel von der Welt einbüßen? werden meine Aussichten
in diesem Leben wirklich verloren sein? In diesem Falle
möchte ich mich doch nicht für Christum entscheiden". So
kehrt er nach den ersten Schritten zu Gott hin zurück, wählt
die Welt und verwirft Christum. Unglücklicher Tor! die Reize dieser Welt ziehen dich an; aber was wird das Ende sein?
Noch eine kurze Zeit, und das Gras ist verdorrt; es wird
morgen in den Ofen geworfen. Wie entsetzlich ist das Ende
einer unbekehrten Seele! Die Welt und ihre Freuden sind
in der Tat verlockend; doch sie bieten kein wirkliches Glück
für diese Zeit, wohl aber wirkliche Qual in der Ewigkeit. Du
verwirfst Gott in Seiner Gnade in Christo; du wählst eine
von Gott verworfene und verurteilte Welt, um einer Ewigkeit entgegenzugehen, in die niemals ein Strahl von Hoffnung, Licht und Liebe zu dringen vermag. Das sind die
„herrlichen" Aussichten, die die Welt dir bietet. Es sind die
Aussichten des reichen Mannes im Evangelium, der plötzlich
aus dem Schöße der Welt in den Feuerpfuhl geschleudert
wird. Dein Weg endet im Tode und im ewigen Gericht.
Mein teurer Leser, du erblickst also entweder in Orpa
oder in Ruth dein eigenes Bild. Entweder erwählst du die
Welt und verwirfst Christum wie Orpa, oder du sagst wie
Ruth: „Ich kann nicht zurückbleiben, auch wenn der Weg
rauh und steil ist; ich richte mein Auge auf das Ende des
Weges". — Ruth ist das Bild des Gläubigen, der sonst sagt:
„Ich will, was ich sonst auch einbüßen mag, Jesum besitzen;
denn Er zieht mich an; Ihn muß ich haben". Alle falschen
Vorstellungen Noomis vermögen nicht, Ruth zurückzuhalten.
Sie sagt: „Wohin du gehst, will ich gehen, und wo du weilst,
will ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist
mein Gott" (V. 16). Wie verachtet das Volk Gottes auch sein
mochte, ihr Blick richtete sich dennoch auf den Gott dieses
Volkes.
26
Ich richte an jeden, der nach dem ewigen Leben trachtet,
die Frage: „Wonach trachtest du?" — Antwort: „Nach Gott
Selbst". Der Prophet Jesaias redet von Göttern, die nicht zu
erlösen vermögen (Kap. 45), und dann zeigt er, daß Gott ein
„gerechter Gott und Heiland" ist. Er ist ein gerechter Gott;
Er haßt die Sünde. Er ist aber auch ein Heiland; Er hat Seinen eigenen, vielgeliebten Sohn hingegeben, um am Kreuze
für Sünder zu sterben, „der Gerechte für die Ungerechten,
auf daß er uns zu Gott führe". Und jetzt ist Er bereit, alle
die durch Jesum zu Ihm kommen, selig zu machen. Er ist
reich an Barmherzigkeit; denn Er hat Seinen eingeborenen
Sohn nicht verschont, um uns erretten zu können. Wunderbare Gnade! Völlig befriedigt durch das Opfer Jesu, ruft
Er jedem beunruhigten Sünder zu: „Wer an den Sohn
glaubt, hat das ewige Leben". Er sagt nicht: „Wer an den
Sohn glaubt, der hat das Gefühl, im Besitze des ewigen Lebens zu sein". O nein, denn dann würde Satan der Seele
stets zuflüstern: „Du hast noch nicht das wahre Gefühl". —
Wenn du an den Herrn Jesus glaubst, so has t du das
ewige Leben. In dem Augenblick, wo dein Herz sagt: „Wohlan, Gott ist für mich; denn Er hat Seinen Sohn für mich in
den Tod gegeben, um mich von allen meinen Sünden zu erlösen", — kannst du auch von Gottes Gnade sagen: „Ich bin
errettet; ich habe das ewige Leben".
O wie glücklich ist die Seele, die sich für Christum entschieden hat! „Als Noomi sah, daß Ruth fest darauf bestand,
mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden" (V. 18). „Und
sie kamen nach Bethlehem beim Beginn der Gerstenernte"
(V. 22). Im folgenden Kapitel lesen wir, daß Ruth bis zum
Schluß der Gersten- und Weizenernte Ähren las. Was besagt das? Alles was sie sammelte, war ihr Eigentum. Teurer
Leser! Hat sich auch dein Herz einmal für Christum entschieden, dann ist alles dein, was Er besitzt. Jesus Christus,
Der die Toten lebendig macht, reicht allen, die an Ihn glauben, Leben, Frieden und Freude dar; Er wird bald kommen
und sie zu Sich nehmen in die ewige Herrlichkeit.
Nun, mein teurer Leser, nach welcher Seite hin willst du
dich entscheiden? Für Christus oder für die Welt? Einen Mittelweg gibt es nicht. Lege diese Betrachtung nicht weg, ohne
dich zu entscheiden; denn wenn du noch heute abgerufen
wirst, dann wirst du entweder zu den Feinden, den Widersachern des Herrn, oder zu den Seinen gezählt werden, die
Ihm angehören und die Ihn bis in alle Ewigkeit loben und
preisen werden.
17
Die Auserwählung
Unter den wichtigen Lehrsätzen der christlichen Wahrheit
steht die Lehre von der Auserwählung an hervorragender
Stelle. Sie macht uns mit den vor Grundlegung der Welt gefaßten Ratschlüssen Gottes bekannt. „Er hat uns auserwählt
in Christo vor Grundlegung der Welt" (Eph 1, 4). Nicht 3ie
Schöpfung des Himmels und der Erde ist das erste, was wir*"
von Gott erfahren; o nein, vor Grundlegung der Welt, als
noch nichts von dem bestand, was jetzt ist, hat Gott an uns
gedacht, hat Er uns auserwählt, uns gekannt und uns verordnet, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein. Kostbare Wahrheit! Gott ist Liebe; das ist Seine Natur, Sein
Wesen und diese Liebe hat Er offenbaren und mitteilen
wollen. Das beschloß Er, ehe die Welt war. Es ist in der Tat
herrlich, als gebeugte Sünder zu Jesu gekommen zu sein
und die reiche Barmherzigkeit Gottes erfahren zu haben;
aber weit herrlicher ist es, wenn wir, nachdem wir im Glauben an Jesum Frieden mit Gott gefunden haben, aus dem
Munde Gottes vernehmen, daß Er nicht erst jetzt, sondern
vor Grundlegung der Welt an uns gedacht hat. Ja, dann lernen wir, daß die Auserwählung nicht eine Folge unseres
Glaubens, sondern daß unser Glaube eine Folge der Auserwählung ist, ja daß sogar alle Dinge, die Erlösung, das
Kommen Christi auf die Erde, die Schöpfung des Himmels
und der Erde ihre Ursache in der Auserwählung Gottes vor
Grundlegung der Welt haben. Weil Gott uns auserwählt
hatte, wurden Himmel und Erde, wurde der Mensch geschaffen und nachdem der Mensch gefallen, war diese Auserwählung die Ursache der durch Christum vollbrachten Erlösung.
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist die Lehre
von der Auserwählung eine unendlich trostreiche Kostbarkeit für den Christen. Er lernt daraus, daß seine ganze
Glückseligkeit in der ewigen Liebe und den ewigen Absichten Gottes begründet liegt. Diese Erkenntnis löst ihn von
sich selber und bringt ihn in eine engere Verbindung mit
Gott. Sie stellt seine Füße auf einen festen, unerschütterlichen Boden; denn was ist sicherer als die ewige Liebe Gottes? Sie beseitigt alle Gedanken an eigenes Wirken und eigene Vortrefflichkeit; denn „es liegt nicht an dem Wollenden,
noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden
28
Gott" (Röm 9, 16). Leider hat der Mensch diese herrliche
Wahrheit mißbraucht und sie als einen Stein des Anstoßes
auf den Weg des verlorenen Sünders gelegt. Nichts steht
mehr im Widerspruch zur Schrift und zur Absicht des Heiligen Geistes als diese mißbräuchliche Anwendung. Die AuserwähJuijgjLst eine Wahrheit, die in der Versammlung Christi _gelehrt werden soll, die aber für eine an die Welt gerichtete__Predigt^ ungeeignet ist. Den verlorenen Sündern muß
das Evangelium der Gnade Gottes in Christo verkündet werden; sie müssen an Christi statt gebeten werden, sich mit
Gott versöhnen zu lassen. Wenn auch der Prediger des
Evangeliums weiß, daß nur soviele glauben werden, als zum
ewigen Leben verordnet sind, so darf er doch die Auserwählung nicht in seine Predigt einbeziehen. Tut er es, so
schwächt er die Verkündigung der Gnade Gottes und das
Gefühl der Verantwortlichkeit des Menschen bezüglich der
Annahme des Evangeliums. Nie haben die Apostel so gehandelt. Sie predigten das Evangelium alle r Kreatur ;
sie bewogen die Mensche n zu glauben. In der christlichen Wahrheit, und mithin auch in der Auserwählung aber
unterwiesen sie nur die, welche glaubten. Also geziemt es
sich auch jetzt. Die Lehre von der Auserwählung ist im
I n n e r n des Hauses zur Stärkung und Tröstung der G I ä ub i_g e n am Platz. Es ist der Teufel, der ihr einen Platz
auße r hal b des Hauses angewiesen hat zum Anstoß bekümmerter Seelen.
Was nützt es auch, daß man mit unbekehrten Menschen
oder mit bekümmerten, noch nicht erlösten Seelen über die
Auserwählung redet? Die natürliche Folge einer solchen Torheit ist, daß viele sagen: „Wenn ich nur wüßte, daß ich auserwählt wäre, dann dürfte ich mir Jesum und die Erlösung
wohl zueignen". Aber wer kann dies wissen? Wo steht in
der Bibel, wer auserwählt ist? Nirgends. Unsere Namen stehen nicht darin. Und das wäre doch erforderlich, wenn ich
vorher wissen müßte, ob ich ein Auserwählter sei oder nicht.
In der Bibel aber steht, daß jeder, der an Jesum glaubt, das
ewige Leben hat und daß alle auserwählt sind, die das Evangelium angenommen haben. Der Sünder braucht also nicht
zu wissen, ob er auserwählt ist, um zu Jesu zu kommen;
im Gegenteil, er darf nicht als ein Auserwählter, sondern
muß als ein verlorener Sünder, als ein Gottloser, als ein
Feind Gottes zu Jesu kommen. Erst dann, wenn er an Jesum
glaubt, wird ihm gesagt, daß er auserwählt ist. Woher wuß29
te Paulus, daß die Thessalonicher auserwählt seien? Hören
wir seine Worte: „Wissend, von Gott geliebte Brüder, eure
Auserwählung. Denn unser Evangelium war nicht bei euch
im Worte allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen
Geiste und in großer Gewißheit. Und ihr seid unsere Nachahmer geworden und des Herrn, indem ihr das Wort aufgenommen habt in vieler Drangsal mit Freude des Heiligen
Geistes" (1. Thess 1, 4-6). Ihre Annahme des Evangeliums
..mit Freude des Heiligen Geistes war also für ihn Beweis
ihrer Auserwählung. Und dieser Beweis kann auf keine andere Weise geführt werden. Wie unglücklich sind solche, die
anstatt auf Jesum zu sehen und zu Ihm ihre Zuflucht zu
nehmen, ihr Auge auf die Auserwählung richten! Verharren
sie dabei, dann wird die für die Gläubigen so trostreiche
Wahrheit durch deren Mißbrauch für sie Anlaß zu ihrem
ewigen Verderben werden. O, daß alle Prediger des Evangeliums diese bedauernswürdige Torheit erkennen möchten,
damit sie die Seelen nicht aufhalten und durch Lehrsätze
verwirren, die nicht in diesen Bereich gehören. Ihre Aufgabe
ist es, auf den einzigen Namen hinzuweisen, Der unter dem
Himmel gegeben ist und durch Welchen wir errettet werden
können.
Prüfen wir jetzt, was der Heilige Geist über die Auserwählung lehrt. Wir können uns zu diesem Zweck auf zwei
odex.dre_LStellen in den Briefen des Paulus beschränken; denn
an wievielen Stellen des Neuen Testaments auch von Auserwählung und von Auserwähjten gesprochen wird, die L e h -
r c von der Auserwählung finden wir nur in diesen wenigen
Stellen und zwar am ausführlichsten im ersten Kapitel des
Jrpheserbriefes, sodann in Röm 8, 29, 30 und endlich in Röm
9. Hier wird jedoch nur der Grundsatz der Auserwählung
hervorgehoben um, wie wir sehen werden, den Juden ,:u
beweisen, daß, da ihre eigene Existenz als Volk auf die Auserwählung Gottes gegründet sei, sie notwendigerweise auch
die Auserwählung der Heiden annehmen müßten.
In Eph 1, 4 lesen wir: „Wie er uns auserwählt hat in ihm
vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und tadellos seien
vor ihm in Liebe". Wie bereits bemerkt, geschah unsere Auserwählu_ng_vsr_.Gxu^ .sie ist der erste Gedanke im Herzen Gottes, der Plan Seiner ewigen Liebe, ehe
die Welt war. Diesem ersten wichtigen Gedanken folgt der
zweite: wozu er^ uns auserwählt hat, nämlich „daß wir heilig
und tadellos seien vor ihm in Liebe". Gott wollte uns vo r
30
Sich , vor Seinem Angesicht haben; Er wollte uns in Seine
Gegenwart bringen. Dazu aber mußten wir Ihm gleichen.
Ein ehrlicher Mensch kann sich in Gesellschaft eines unehrlichen nicht behaglich fühlen; noch viel weniger kann Gott
das in Seiner Gegenwart dulden, was im Gegensatz zu Seiner Heiligkeit steht. Wollte Er uns daher in Seine Gegenwart bringen, so mußten wir Ihm gleich sein. Christus ist es;
Er ist persönlich das Bild des unsichtbaren Gottes. In Ihm
sind die Liebe, die Heiligkeit, die Vollkommenheit in all
Seinen Wegen vereinigt. Darum sind wir in Ihm auserwählt.
Gott ist heilig in Seinem Charakter, tadellos in Seinen Wegen,
Liebe in Seiner Natur, und wir sind in Christo auserwählt,
daß wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe. Welch
ein Glück! Wir sind in der Gegenwart Gottes, Ihm gleichend,
und zwar in Christo, Der der Gegenstand und der Maßstab
der göttlichen Liebe ist, so daß Gott all Seine Wonne in uns
finden kann, und da wir der göttlichen Natur teilhaftig sind,
sind wir auch fähig, von dieser Natur völlig zu genießen.
Aber der Heilige Geist geht noch einen Schritt weiter (V. 5).
Erfordert die heilige Gegenwart Gottes, daß wir unbedingt
heilig, tadellos und in Liebe sind, so hätten wir als Engel
vor Gott sein können. Wir würden damit sicher zufrieden
gewesen sein; aber Seine Liebe wäre dadurch nicht befriedigt worden. Gott wollte nicht nur Engel vor Seinem Angesicht haben; Er wollte Kinder besitzen. Er wollte in der
engen und innigen Beziehung eines Vaters zu uns stehen
und mit uns, als Seinen Kindern, Gemeinschaft machen. Darum fügt der Apostel hinzu: „Nach dem Wohlgefalle n
seine s Willens" . Das erste war — mit Ehrerbietung
gesprochen — notwendig ; das zweite entsprang dem Bedürfnis des liebenden Herzens Gottes, Seiner herrlichen
Wonne. „Der uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch
Jesum Christum für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens".
Wir erfahren also, daß Gott uns vor Grundlegung der
Welt auserwählt hat, damit wir — in sittlicher Beziehung
Ihm gleich — vor Seinem Angesicht stehen, und daß Er uns
zuvorbestimmt hat, Seine Kinder zu sein. Wir sind auserwählt in Christo und Kinder durch Jesum Christum. Christus
ist das Bild des unsichtbaren Gottes; wir tragen dieses Bild,
da wir in Ihm auserwählt sind. Christus ist der Sohn und
wir treten in demselben Verhältnis vor den Vater. Welch
eine unaussprechliche Gnade! Mögen unsere Herzen mehr
31
befähigt werden, dieser Gnade zu vertrauen und sie zu genießen!
Als zweite Stelle belehrt uns Röm 8, 29. 30 über die Auserwählung. Der Apostel geht hier davon aus, daß „denen,
die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die
nach Vorsatz berufen sind" (V. 28). Wir sind berufen nach
dem Vorsatz, den Gott in Sich Selbst vor Grundlegung der
Welt gefaßt hat. „Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat
er auch zuvorbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern". Gott hat uns also zuvorerkannt — das will in Verbindung mit dem, was in Eph 1 gelehrt wird, besagen: Gott
hat uns vor Grundlegung der Welt als die Seinen erkannt,
und Er hat die, welche Er als die Seinen erkannt hat, auch
zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu
sein. Das will wohl nicht besagen, daß wir bestimmt seien,
Christo durch unseren Wandel auf der Erde gleichförmig zu
sein. Dazu sind wir sicher berufen; wir müssen Seinen Fußtapfen nachfolgen und Ihm praktisch durch den Heiligen
Geist mehr und mehr gleich werden. Darum aber geht es
hier nicht. Die Vorbestimmung, dem Bilde des Sohnes Gottes gleichförmig zu sein, bezieht sich auf die Gleichförmigkeit mit Christo in der Herrlichkeit. „Wir wissen", sagt
Johannes. ..daß, wenn PS gpoffpnbart werderT wird, wir Ihm
gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist"
(1. Joh 3, 2). Christus, das Weizenkorn, ist in die Erde gefallen und gestorben und hat in der Auferstehung Frucht
hervorgebracht. Diese Frucht sind die Gläubigen. Sie sind
mit Ihm verbunden; sie sind eins mit Ihm; sie sollen die
Herrlichkeit mit Ihm teilen. Er sagt Selbst: „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben", und
„ich will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir
seien, wo ich bin". Jetzt sind wir noch auf der Erde und
wandeln noch in einem sterblichen, verweslichen Leibe umher; aber wenn Jesus kommt, so werden die Entschlafenen
in Ihm auferweckt und die übriggebliebenen Lebenden verwandelt werden. Dann empfangen sie alle einen Leib, der
Seinem verherrlichten Leib gleichförmig ist (1. Thess 4;
Phil 2). Dann werden sie als Söhne Gottes geoffenbart sein,
weil sie Söhne der Auferstehung sind und dann ist der Vorsatz Gottes in Erfüllung getreten; denn dann sind sie alle
dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig. Dann wird man eine
Familie von Brüdern sehen; denn Jesus schämt sich nicht,
32
uns Brüder zu nennen. Zu Maria Magdalena sagte Er nach
Seiner Auferstehung: „Gehe hin und sage meinen Brüdern!"
Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß, wie herrlich
und innig die Gemeinschaft und die gesegnete Familie Gottes auch sein mögen, unser hochgelobter Herr dennoch den
ersten Platz einnehmen wird. Wir sind durch die Gnade Seine Brüder; aber Er ist das Haupt und der Erstgeborene vieler Brüder.
In V. 30 finden wir_ eine Verbindung der Wege Gottes in
der Zeit mit Seinem vor Grundlegung der Welt gefaßten
Vorsatz. „Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er
auch berufen, und welche er berufen hat, diese hat er auch
gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er
auch verherrlicht". Alles wird hier unter einem göttlichen
Gesichtspunkt und gemäß der Absicht Gottes betrachtet,
nicht als ob die Berufung, die Rechtfertigung und die Verherrlichung bereits vollbrachte Tatsachen seien, sondern
weil der Heilige Geist uns vorstellt, was nach Gottes Willen
von Anfang bis zu Ende unsere herrliche Stellung ist. Es
W3.r__der vor Grundlegung der Welt gefaßte Ratschluß Gottes,
uns dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu machen, und
dieseaJVQrsatz erfüllt Er durch die Berufung, Rechtfertigung
und_ Verherrlichung der Auserwählten, so daß hier also das
herrliche Resultat mit Gottes ewigem Vorsatze und RatschluJLyerbunden ist.
In diesem Zusammenhang muß hervorgehoben werden,
daß Gott Personen auserwählt hat. Dies kommt in Eph 1,
wie auch in Röm 8 deutlich zum Ausdruck. Es steht also
mit der Wahrheit ganz und gar im Widerspruch, wenn behauptet wird, Gott habe im voraus nur gesehen, wa s einzelne Personen sein, tun und glauben würden. Der Apostel
sagt_durchaus nicht: „Wa s Gott zuvorerkannt hat", sondern ^ W e 1 c h e Er zuvorerkannt hat". Gott hat die Menschen zuvorerkannt und nicht nur ihren Zustand oder ihr
Verhalten. Und in Eph 1 heißt es: „Wie er uns auserwählt
hat in ihm vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und
tadellos seien vor ihm in Liebe", nicht aber: „Daß wir heilig
und tadellos vor Ihm in Liebe waren".
Auch die einschlägigen Stellen in Röm 9 sind oft höchst R>öi
verkehrt ausgelegt worden. Aus diesem Grunde müssen wir
uns damit etwas ausführlicher beschäftigen. Was ist der
Zweck der Belehrung des Apostels in diesem Kapitel? Er hat
in ,den vorhergehenden Kapiteln bewiesen, daß die Juden
33
wie die Nationen vor Gott Sünder und dem Gericht Gottes
verfallen seien und daß sie also beide, wollten sie errettet
werden, aus Gnaden und keineswegs aus Gesetzeswerken
gerechtfertigt werden müßten. Das hob den Vorrang des
gläubigen Juden gegenüber dem gläubigen Heiden auf. Als
Sünder standen sie gleich, aber auch, wenn sie durch die
Gnade erlöst und mit Christo vereinigt waren. Der Einwand
der Juden hingegen zielte dahin, daß ihnen die Verheißungen Gottes anvertraut waren und daß sie deshalb weit über
den Gläubigen aus den Nationen stehen würden, und es
gereichte ihnen sehr zum Anstoß, in den Nationen Mitgenossen desselben Evangeliums und derselben Vorrechte in
Christo erblicken zu müssen. Der Apostel antwortet darauf,
daß Israel ohne Zweifel im Besitz der Verheißungen sei,
daß diese jedoch nicht dem Samen Abrahams nach dem Fleische, „sondern den Kindern der Verheißung" nach der Auswahl Gottes gegeben worden seien. Nicht alle aus Israel seien Israeliten, sonst hätten auch die anderen Söhne Abrahams
Erben der Verheißung sein müssen. Doch Gott hatte gesagt:
„In Isaak wird dir ein Same genannt werden". Bei Rebekka
zeigte sich dies noch offenkundiger. Selbst als ihre Kinder
noch nicht geboren waren, sagte Gott: „Der Größere wird
dem Kleineren dienen". Damit will der Apostel sagen: „Eure
Existenz als Volk, eure Vorrechte, die euch gegebenen Verheißungen sind auf die Auserwählung Gottes gegründet.
Hätte Gott nicht Isaak zum Sohn der Verheißung auserkoren, dann wäre Ismael euer Stammvater geworden, und hätte
Gott nicht Jakob über Esau erhoben, dann würdet ihr jetzt
keine Kinder der Verheißung sein. Ist Gott ungerecht, weil
Er die Nationen zu den Segnungen des Evangeliums beruft,
dann war es auch ungerecht, daß er Ismael und Esau als die
Häupter Seines Volkes verworfen, und daß Er zu Moses
gesagt hat: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und
werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme". Diese aus
2. Mose angeführten Worte, welche Gott zu einer Zeit sprach,
als Israel das Gesetz, bevor es noch ins Lager gekommen,
durch seinen Tanz um das goldene Kalb bereits übertreten
hatte, zeigen deutlich, wie unberechtigt die Einwendungen
der Juden gegen die Auserwählung der Nationen waren.
Hätte Gott Sich damals nicht in unumschränkter Gnade Seines Volkes erbarmt, so würde Er es in Seinem Grimm in
eine m Augenblick vernichtet haben. Wenn sich nun das
ganze Dasein Israels, wie es die Geschichte klar beweist, #uf
34
den souveränen Willen Gottes stützt, so daß es nicht an dem
Wollenden, noch an dem Laufenden, sondern allein an dem
begnadigenden Gott liegt, dann aber müssen sie auch aus
demselben Grund djeAuserwählung der Nationen annehmen
und dies umso mehr, da Israel als Volk, wie der Apostel
in dem letzten Teil dieses Kapitels beweist, Christum und
in Ihm die Segnungen des Evangeliums verworfen hat.
Man sieht hieraus, daß in diesem Kapitel zwar von dem
Grundsatz der Auserwählung die Rede ist, daß es sich hier
aberkeineswegs um unsere Auserwählung zur Seligkeit handelt wie in Eph 1 und Röm 8. Freilich enthalten die Worte
in V. 15 und 16 die allgemeingültige wichtige Wahrheit, daß
alles in Gott und keineswegs in uns seinen Grund hat; sie
sind dabei auch auf uns und unsere Auserwählung anwendbar; gleichwohl enthält dieses Kapitel nicht die Lehre von
der Auserwählung zur ewigen Herrlichkeit. Das wird noch
deutlicher "hervortreten, wenn wir dem, was der Apostel hier
darstellt, noch einige Bemerkungen hinzufügen.
Um den Juden die Gerechtigkeit der Einführung der Nationen zu den Segnungen des Evangeliums zu beweisen,
beruft sich Paulus auf den Grund ihres eigenen Bestehens
als Volk. Dieser Grund war die Auserwählung Gottes. Gott
hatte den Isaak über den Ismael und den Jakob über den
Esau erhoben. War das eine Auserwählung zur Seligkeit gewesen? Keineswegs; davon war durchaus keine Rede. Isaak
und Jakob wurden hier nicht auserwählt, um selig zu werden, sondern um die Häupter, die Stammväter des irdischen
Volkes Gottes zu sein. „Der Größere wird dem Kleineren
dienen". Es ist daher irreführend, wenn man diese Stelle
zum Beweis für unser e Auserwählung anführt, diese steht
damit in keiner Verbindung. Die ganze Beweisführung des
Apostels würde sonst ihre Kraft verlieren. Wir wissen aus
dem Brief an die Hebräer, daß Esau verworfen wird; das
steht hier nicht zur Erörterung. Zudem war die Auserwählung Isaaks und Jakobs keine Auserwählung vor Grundlegung der Welt wie es die Auserwählung zur Seligkeit ist,
sondern eine Auserwählung in der Zeit. Überall, wo von
einer Auserwählung zur Seligkeit die Rede ist, wird von dem
Vorsatz Gottes vorijärundlegung der Welt oder vor den
Zeiten der Zeitalter gesprochen, während hier, wo es sich
um die AuserwäRTung zu einem Haupte des irdischen Volkes
Gottes handelt, vnn der Auserwählung zu einem Zeitpunkt
die Rede ist, wo die Kinder noch im Mutterleibe waren.
35
Hieraus folgt selbstredend, daß die Worte: „Den Jakob
habe ich geliebt; aber den Esau habe ich gehaßt", oft ganz
falsch gedeutet werden. Zudem ist es beachtlich, daß diese
Worte nicht in 1. Mose sondern im Propheten Maleachi zu
finden sind. Im 1. Buch Mose wird nur gesagt: „Der Ältere
wird dem Jüngeren dienen" (Kap. 25. 23). Erst nachdem
die Nachkommen Esaus ihre Bosheit und Feindschaft gegen
Israel in auffälliger Weise an den Tag gelegt hatten, wurde
gesagt: „Den Jakob habe ich geliebt; aber den Esau habe
ich gehaßt". Ebenso war es mit Pharao. Dieser Mann war
ein Gottloser, ein Unterdrücker des Volkes Gottes und sagte
zu Moses und Aaron: „Wer ist Jehova, auf dessen Stimme
ich hören soll, Israel ziehen zu lassen?" Dieser gottlose
Mann, der sich gegen Gott auf jede nur mögliche Weise auflehnte, wurde von Gott dem Gericht der Verhärtung unterworfen, so daß er schließlich in seinen Sünden umkam. Das
geschieht auch heute noch, und so wird es in den letzten
Tagen sein. Nachdem die Menschen die Wahrheit verworfen
haben, wird Gott einen Geist des Irrtums senden. Das aber
ist Gericht. Man beachte es wohl. Gott verleitet niemanden
zur Sünde. Dies zu behaupten, würde nichts als Gotteslästerung sein. Aber wenn der Mensch die Sünde tut und liebt
und darin verharrt, so straft Gott ihn mit dem Gericht der
Verhärtung.
Man hat aus diesen Worten auch die Lehre von der Verwerfung geschöpft. Doch nichts ist weiter von den Gedanken
Gottes entfernt, als diese Lehre. Es ist der menschliche Verstand, der folgert: „Wenn Gott den einen erwählt, verwirft
Er auch den anderen". Doch das sind menschliche Schlüsse
und durchaus nicht die Gedanken Gottes. Wer den einen
vor dem andern auszeichnet — und das ist hier bei Jakob
und Esau der Fall —, bezeugt ihm zwar eine Gunst; das
aber schließt doch keineswegs eine Verurteilung des andern
in sich. Die Auserwählung wird in der Schrift klar gelehrt;
über die Verwerfung finden wir in ihr kein Wort. Im Gegenteil, Gott Rat den Menschen rein, unschuldig und ohne
Sünde geschaffen. Der Mensch ist es, der sich von Gott
durch die Sünde losgerissen hat und der deshalb dem ewigen
Verderben unterworfen ist. Überdies hat Gott für den sündigen, feindseligen Menschen Seinen vielgeliebten Sohn gegeben und läßt die frohe Botschaft der Vergebung und des
Friedens durch Ihn in der Welt verkündigen und wieder ist
es der Mensch, der den Heiland verwirft und von sich stößt
36
und der darum in seinen Sünden stirbt. Anstatt daß Gott
einen einzigen Menschen, wie etliche in gotteslästerlicher
Weise lehren, für die Verdammnis bestimmt hat, hat Er
vielmehr alles mögliche getan, um den Menschen zu erretten und zu erlösen. Die Menschen aber sind samt und sonders in einem so schrecklich feindseligen Zustande, daß, wenn
es keine Auserwählung gäbe, alle ohne Unterschied verloren
gehen würden. Man hüte sich daher vor dem Versuch, Gott
durch die Verwerfungslehre zur Ursache der ewigen Qual
der Verlorenen zu machen und damit die Verantwortlichkeit
des Menschen und die Gerechtigkeit Seines Gerichtes zu verneinen. Halten wir an der Schrift fest! Sie allein stellt uns
die Wahrheit in ihrer wirklichen Bedeutung vor Augen, während alle menschlichen Auffassungen trügen und nicht selten, vielleicht ohne es zu wollen, den Boden der Wahrheit
unterhöhlen.
Aber — könnte man fragen — wie sind denn die Worte
des Apostels Paulus in V. 21 zu verstehen: „Hat der Töpfer
nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß
zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?" Meine
Antwort ist: „Die Macht Gottes ist unumschränkt". Wenn
der Mensch sich gegen Gott auflehnt und Ihm das Recht
streitig machen will, zu tun und zu lassen, was Er will, dann
sagt der Apostel: „O Mensch, wer bist du, der du das Wort
wider Gott nimmst? Wird das Geformte zu dem Former
sagen: Warum hast du mich so gemacht?" Gott hat das
Recht, souverän nach Seinem Willen zu handeln, und niemand
ist befugt, Ihn zu beschuldigen. Dieses Recht Gottes aber
wird hier nachdrücklich unterstrichen. Es wird aber nirgendwo gesagt, daß Gott von diesem Recht Gebrauch gemacht hat.
Er hat das Recht zu tun, was der Töpfer tut; aber es ist die
Frage, ob Er Sich dieses Rechtes bedient hat. Die beiden
folgenden Verse beweisen, daß Gott, wiewohl Er das Recht
hat, Seinen Zorn zu erzeigen und Seine Macht kundzutun,
im Gegenteil die Gefäße des Zorns mit vieler Langmut ertragen hat. Die unterschiedliche Ausdrucksweise in den Versen 22 und 23 ist beachtenswert und für den in Rede stehenden Gesichtspunkt entscheidend. Von den Gefäßen der
Begnadigung wird gesagt, daß Gott sie zur Herrlichkeit zuvor bereitet habe, während dies von den Gefäßen des Zorns
nicht gesagt wird. Von diesen lesen wir, daß Er „die Gefäße
des Zornes, zubereite t zu m Verderben , mit vieler
Langmut ertragen", aber nicht, daß Er sie zum Verderben
37
zuvorbereitet habe. Während die Gefäße der Begnadigung
von Got t Selbs t zur Herrlichkeit zuvorbereitet sind, haben die Gefäße des Zornes sic h selbs t durch ihr Verharren im Bösen sowie durch ihren Unglauben zubereitet,
obwohl Gott sie mit vieler Langmut ertragen hat. Von einer
Verwerfung oder Vorherbestimmung zur ewigen Verdammnis ist also durchaus keine Rede. Gott wird sicher einmal Seinen Zorn an den Kindern des Ungehorsams erweisen und
sie in den Feuersee werfen; aber nicht Er ist schuld an ihrem
Elend. Er wird allen den Beweis liefern, mit wieviel Geduld
und Langmut Er sie in all ihren Sünden und Ungerechtigkeiten ertragen hat, so daß niemand auch nur ein einziges
Wort zur Beschuldigung hervorzubringen vermögen wird.
Gebe der Herr uns erleuchtete Augen des Verständnisses,
daß wir die Wahrheit richtig erfassen und durch sie von allen menschlichen Gedanken und Auffassungen freigemacht
werden!
38
Das Hohepriestertum Christi
(Hebr 4, 14-16)
Über das Hohepriestertum unseres Herrn Jesus Christus
herrscht bei vielen Kindern Gottes eine höchst unklare Vorstellung. Das gilt sowohl für den Platz, den es einnimmt, als
auch für die Grundlage, worauf es ruht. Man hat weder eine
richtige Vorstellung von der Verbindung, in der das Hohepriestertum Christi mit anderen Wahrheiten, wie z. B. der
Erlösung, steht, noch von dem, was Gott uns damit geben
will. Folglich begreift man auch nicht, wieviel man wegen
dieses mangelhaften Verständnisses entbehrt. Verweilen wir
daher einige Augenblicke bei dieser wichtigen Wahrheit, um
zu prüfen, was die Heilige Schrift darüber lehrt.
Mit dem Hohepriestertum Christi befaßt sich der Brief an
die Hebräer. Dieser Brief stellt uns ein erlöstes Volk von
Pilgrimen und Fremdlingen vor Augen. Dieses Volk befindet sich nicht in Ägypten, nicht in Kanaan, sondern auf dem
Wege durch die Wüste. Das soll jedoch nicht besagen, daß
die hier dargestellten Gläubigen nicht gleich anderen ihren
Platz in den himmlischen örtern haben; aber von dieser Seite werden die Kinder Gottes in dem Brief nicht betrachtet.
Von solchen Segnungen, über die besonders im Brief an die
Epheser, aber auch in dem an die Kolosser gesprochen wird,
finden wir hier kein Wort. Es ist noch nicht einmal von unserer Auferstehung die Rede wie in den Briefen an die Römer und an die Philipper.
Der Heilige Geist stellt uns in diesem Brief von Anfang
an Christum vor Augen, wie er zur Rechten Gottes sitzt,
und das ist einer der bezeichnenden Charakterzüge Seines
Priestertums. Solange Christus auf der Erde war, konnte Er
kein Priester sein. Sein Priestertum ist ausschließlich himmlisch; Er ist der Priester für ein himmlisches Volk. Der Vorhang ist zerrissen, der Himmel geöffnet und der Heilige
Geist als Folge der Erlösung und der Verherrlichung Christi
auf die Erde herniedergestiegen. Die Grundlage ist fest und
durch die Tatsache gesichert, daß Christus, nachdem Er die
Reinigung unserer Sünden bewirkt hat, nun im Himmel und
demnach in einer lebendigen Verbindung mit der'en ist, deren Er Sich nicht schämt, sie Brüder zu heißen. Darum werden die Gläubigen, an welche dieser Brief gerichtet ist, im
39
dritten Kapitel „Genossen der himmlischen Berufung" genannt. Sie waren nicht nur berufen, um später den Himmel
zu ererben, sondern Er, Der sie berief, war auf Grund einer
vollbrachten Erlösung bereits im Himmel. Das aber ist eine
höchst wichtige Wahrheit; denn der Platz, den unser Herr
im Himmel einnimmt, wird hier als die Folge des vollkommenen, allgenugsamen Opfers betrachtet, das Er Selbst für
unsere Sünden gebracht hat. Er, der Sohn Gottes, Der,
um das Verlorene zu suchen und zu erretten, auf die Erde
gekommen war, nahm auf Golgatha den Zorn Gottes auf
Sich, und nachdem Er durch Sich Selbst die Reinigung unserer
Sünden bewirkt hat, ist Er zum Himmel emporgestiegen
und hat Sich zur Rechten Gottes gesetzt, um dort eine andere
Wirksamkeit aufzunehmen, die auf das Zunichtemachen der
Sünde durch das Opfer Seiner Selbst gegründet war.
Die Anwendung des Priestertums Christi für die Gläubigen wird hierdurch klar ins Licht gestellt. Vorausgesetzt wird
ein erlöstes Volk zu Gunsten dessen das große und durchaus
notwendige Werk der Gnade bereits vollbracht ist. Vorausgesetzt wird weiter, daß die Gläubigen ohne irgendwelche
Unsicherheit in diesem Werk ruhen, aber dennoch, inmitten
vieler Schwierigkeiten, Versuchungen und Verfolgungen
durch den Herrn bewahrt werden müssen. Die Lehre des
Hebräerbriefes zeigt uns eindeutig, daß, bevor Christus in
den Himmel einging um das Priestertum zu übernehmen,
Gott alles getan hat, was bezüglich der Sünden getan werden mußte. Die mangelhafte Einsicht in diese große und
wichtige Wahrheit ist die Ursache der Verwirrung und Finsternis, die so viele Gemüter hinsichtlich des Priestertums
Christi beherrschen. Wenn der Gläubige nicht in dem vollbrachten Werke Christi ruht und kein gereinigtes und vollkommenes Gewissen hat, ist es selbstredend, daß er das
Priestertum Christi als Ersatz für das Fehlende in Anspruch
nimmt. Die wahre Gnade des Priestertums geht aber auf
diese Weise völlig verloren; denn es geht voraus, Christum
zu kennen und zu wissen, daß die Sünden durch Sein Blut
vergeben sind. Solange man sich dessen nicht voll gewiß ist,
kann von einer Zueignung des Priestertums durchaus nicht
die Rede sein. Leider besitzen die meisten Gläubigen nicht
viel mehr als die Hoffnung ihrer Errettung. Das Priestertum
verliert seinen wahren Sinn, solange nicht die Erlösung in
ihrer Einfachheit und Fülle angenommen ist; sonst wird der
Wandel 'und das Priestertum Christi in die Waagschale ge40
worfen, um das zu vollbringen, was der Tod am Kreuze bereits vollbracht hat.
Eine nähere Prüfung des Hebräerbriefes wird dies noch
deutlicher machen. Bevor der Heilige Geist Seine Belehrungen über das Priestertum aufnimmt, stellt Er uns mit der
größten Genauigkeit und Vollständigkeit die Person des
Herrn Jesu vor, und zwar in zwiefacher Weise: als den Sohn
Gottes und als den Sohn des Menschen. Auf beiden Naturen beruht Sein Priestertum. Wäre Er nicht in einem Sinne,
wie ein anderer es nicht sein kann, der Sohn Gottes gewesen, so würde Er auch nicht Hoherpriester in der Bedeutung
dieses Briefes sein können; und wäre Er andererseits nicht
so wesentlich wie ein anderer Mensch — jedoch in einem
Ihm allein eigenen Charakter — der Sohn des Menschen
gewesen, so würde es kein Priestertum geben, das für uns
gültig wäre. Der Herr Jesus war beides; im ersten Kapitel
sehen wir ihn als Sohn Gottes, im zweiten als den Sohn des
Menschen. Erst am Schluß des zweiten Kapitels ist zum
erstenmale vom Priestertum die Rede.
Beide Kapitel stellen uns zugleich die Vollkommenheit der
Erlösung dar. Über den Inhalt des ersten Kapitels haben wir
bereits gesprochen. Im zweiten Kapitel lesen wir: „Denn es
geziemte ihm, um deswillen alle Dinge und durch den alle
Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte,
den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu
machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die,
welche geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher
Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen".
Das Priestertum steht daher in Beziehung zu den Geheiligten, und zwar zu ihnen allen. Christus hat durch die Gnade
Gottes für all e — für all e Menschen — den Tod geschmeckt (V. 9). Aber sobald der Apostel von dem Priestertum redet, spricht er nicht mehr von allen, sondern nur von
den Geheiligten — nicht mehr von dem Samen Adams, sondern von dem Samen Abrahams im geistlichen und nicht
buchstäblichem Sinne.
Das Priestertum Christi ist also eindeutig von Seinem
Versöhnungswerk auf Golgatha unterschieden. Dieses dehnt
sich über die ganze Welt aus, während jenes nur mit den
Geheiligten in Verbindung steht. Was im Alten Testament
durch das auf den Gnadenstuhl gesprengte Blut vorgebildet
wurde, dehnte sich auf alle aus. Es war dabei durchaus nicht
von denen die Rede, die sich in unmittelbarem Bereiche der
41
Segnungen Gottes befanden; nein, das Blut hatte einen
grenzenlosen Wert. „Durch Gottes Gnade schmeckte er den
Tod für alle". Aber sobald wir Christum in Seinen Tätigkeiten und in Seinen Leiden als Hoherpriester betrachten,
sehen wir nur die, welche in einer besonderen Gnadenbeziehung zu Ihm stehen. „Weil nun die Kinder Blutes und
Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise an
denselben teilgenommen, auf daß er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze
Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren".
Das macht sehr deutlich, daß Christus nur für Sein erlöstes Volk, für die Geheiligten, für die Kinder ein barmherziger und treuer Hoherpriester ist. „Denn er nimmt sich
fürwahr nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams
nimmt er sich an". Nach Seinem wohlgefälligen Willen machte Er sündige Menschen zu Kindern Gottes, während die
Engel in der Stellung bleiben, die sie von jeher einnahmen.
„Daher mußte er den Brüdern in allem gleich werden"; denn
sonst hätte Er kein „barmherziger und treuer Hoherpriester
sein können. Vor Seinem Kommen in diese Welt war Christus kein Hoherpriester. Erst mußte Er „den Brüdern in allem gleich werden"; erst mußte Er am Kreuz das Erlösungswerk vollbringen, bevor von einem Hohenpriester die Rede
sein konnte. Auch war Er während Seines Wandels auf der
Erde kein Hoherpriester. Erst seitdem Er diese Erde verlassen hatte und zu Seinem Vater gegangen ist, kann Er als
der Hohepriester Seines erlösten Volkes betrachtet werden
und so sehen wir Ihn als Hohenpriester mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Sein Hohepriestertum ist ein Amt, das Er
im Himmel für die bekleidet, die von der Welt abgesondert
und zu Gott gebracht sind.
Erst nachdem uns dies alles vorgestellt ist, finden wir am
Ende des zweiten Kapitels Christum als Hohenpriester. Er
ist „in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer
Hohepriester, um die Sünden des Volkes zu sühnen". Das
erinnert uns an den großen Versöhnungstag. Dort erschien
der Hohepriester und kein anderer, und er allein bewirkte
die Versöhnung für das ganze Jahr. Nur einmal im Jahr
ging er in das Allerheiligste, um das Blut der Versöhnung
vor Gott zu bringen. Was der Hohepriester oder die Priester
auch sonst zu tun haben mochten, welche Opfer sie auch
täglich bringen mußten, diese Handlung — die Versöhnung
42
im Innern des Vorhangs — geschah nur einmal im Jahr, und
zwar in der von Gott bestimmten Zeit. Der Hohepriester
vertrat bei dieser Gelegenheit das Volk und opferte den
Bock, auf den das Los Jehovas gefallen war, für die Sünden
des Volkes. Danach brachte er das Blut in das Innere des
Vorhangs, um „Sühnung zu tun wegen der Unreinigkeiten
der Kinder Israel und wegen der Übertretungen nach allen
ihren Sünden". Dann trat er aus dem Allerheiligsten heraus,
legte seine beiden Hände auf den Kopf des noch lebendigen
Bockes — des Bockes Asasel, der in die Wüste gesandt werden sollte — und bekannte auf ihn alle ihre Sünden und
schließlich wurde dieser Bock in die Wüste hinausgejagt als
ein Sinnbild dafür, daß alle Sünden hinweggetan waren
(3. Mo 16).
Zur Versöhnung Israels bedurfte es also zweier Böcke. Sie
dienten dazu, die Versöhnung unter ihren beiden großen
Gesichtspunkten vorzustellen. Die eine Handlung war der
Ausdruck des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde, die
andere, die damit in Verbindung stehende Tröstung für uns,
daß alle Sünden hinweggetan sind und nicht mehr gesehen
werden. Beide Handlungen finden wir im Neuen Testament
deutlich wieder, so z. B. in Röm 3 und 4, wobei der letzte
Teil des dritten Kapitels mehr dem Lose Jehovas entspricht,
während der Schluß des vierten Kapitels uns jenes Los vor
Augen stellt, welches auf den Bock Asasel fiel. Das erste
Geschehen zeigt uns, daß Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist; hier finden wir das
Blut auf dem Gnadenstuhl. Im zweiten Geschehen aber sehen
wir Christum als den, „welcher unserer Übertretungen wegen
dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt
worden ist"; denn Seine Dahingabe wegen unserer Sünden
wird uns in dem fortgesandten Bock vorgebildet, der mit
den Sünden des Volkes in die Wüste gesandt wurde. Daß
der Bock Asasel ein Vorbild der Auferstehung sei, ist aus
diesen Opfern nicht zu schließen. Anders verhält es sich z.
B. bei der Opferung Isaaks oder auch bei dem Opfer, das
ein Aussätziger zu seiner Reinigung bringen mußte; in diesem Fall mußte der lebendige Vogel, nachdem er in das Blut
des geschlachteten Vogels getaucht worden war, auf offenem
Felde freigelassen werden (3. Mo 14). Der Bock Asasel
wurde zwar auch freigelassen, jedoch nur um in die Wüste,
in ein abgesondertes, unbewohntes Land getrieben zu werden. Der Himmel aber ist kein unbewohntes Land und kann
43
nicht mit einer Wüste verglichen werden. Das Bild soll daher,
wie ich glaube, das Wegtun der Sünde Israels, die Vernichtung des sichtbaren Zeugnisses ihrer Ungerechtigkeiten vorstellen.
Das, was nun am großen Versöhnungstag geschah, ist ein
Vorbild von dem, was Christus tat. Nachdem Er Sich Selbst
zum Opfer hingegeben und Sein Blut zur Vergebung der
Sünden vergossen hatte, ging Er mit diesem Blut in das
himmlische Heiligtum und brachte es dort als der große Hohepriester Seines Volkes vor das Angesicht Gottes, um dadurch für die Sünden des Volkes Sühnung zu tun und das
Volk mit Gott zu versöhnen. Diese Versöhnung ist eine
ewige. „Er aber, nachdem er e i n Schlachtopfer für Sünden
dargebracht, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes" (Hebr 10, 12). „Die Summe dessen aber, was wir sagen,
ist: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich gesetzt
hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln"
(Hebr 8, 1). Eine jährliche Wiederholung der Versöhnung
findet nicht mehr statt. Das Blut der Versöhnung ist von
dem großen Hohenpriester in die Gegenwart Gottes gebracht
und von Gott angenommen worden und Er, Der das Blut
dorthin gebracht hat, hat Sich zur Rechten Gottes gesetzt .
Dort sitzt Christus für immerdar als der Hohepriester Seines
Volkes. Sein Blut ist im Heiligtum. Es ist nicht nur das Werk
der Versöhnung vollbracht, sondern die Versöhnung ist auch
angenommen. Die Geheiligten stehen kraft dieser angenommenen Versöhnung, kraft dieses Blutes in der Gegenwart
Gottes und werden, da ihr großer Hohepriester nie Seinen
Platz im Heiligtum verläßt, für immer dort sein. Er lebt,
um ihren Platz in der Gegenwart Gottes zu bekleiden.
Die Versöhnung geschah allein durch den Hohenpriester;
sie unterschied sich von dem eigentlichen, gewöhnlichen
Dienst des Priesters und war insofern doch eng verbunden
mit ihm, als sie seine Grundlage bildete. Die Sühnung der
Sünden war die erste Forderung und der Grund, auf welchem
der Priester täglich zugunsten des Volkes vor Gott erscheinen
konnte.
Das führt zu einer anderen, nicht minder wichtigen Offenbarung über die Person Dessen, Dem es allein geziemt,
ein wahrer Hoherpriester zu sein. „Denn worin er selbst
gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden". Herrliche Wahrheit! Laßt uns
einige Augenblicke mit Andacht diesen Worten nachsinnen,
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nicht so sehr weil es sich dabei um uns, sondern weil es sich
um Ihn handelt, Dessen Herz so oft durch Seine Freunde
wie durch Seine Feinde versucht wurde. Welch eine herzliche Zuneigung, welch eine gnädige Fürsorge, daß Er durch
die Menschen versucht werden wollte, um denen, die versucht werden, umso besser helfen zu können!
Was bedeutet hier das Wörtchen: „versucht?" Diese Frage
ist von höchster Wichtigkeit; denn mancher, der sich einen
Begriff davon gemacht hatte, ist dadurch auf schreckliche
Irrwege geraten. Dieses Wort, dem die Bezeichnung „Geheiligte" vorausgeht, bezieht sich sicher nicht auf innere
Neigungen zum Bösen. Kein Gedanke daran; denn die Behauptung, daß der Herr auf eine solche Weise versucht worden sei, wäre Lästerung. Überhaupt ist, wenn von dem Priestertum zu unseren Gunsten gesprochen wird, wohl von
Schwachheiten und Versuchungen, doch keineswegs von Sünden und Übertretungen die Rede. Wie würde der Herr auch
mit unseren Sünden Mitleid haben können, da Er doch die
Sünde haßt? Daß das unmöglich ist, beweisen klar und eindeutig die Worte: „Da wir nun einen großen Hohenpriester
haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesum, den Sohn
Gottes, so laßt uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben
vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem
versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen
die Sünde" (Hebr 4, 14. 15).
Der Heilige Geist offenbart uns hier eine Wahrheit, die
sowohl mit der Herrlichkeit Christi, als auch mit dem Bedürfnis des Gläubigen in vollem Einklang steht. Es ist sicher
wahr, daß Christus nie eine Sünde tat; aber der Heilige
Geist läßt uns hier eine weit herrlichere Wahrheit verstehen.
Christus ist in allem in gleicher Weise versucht worden wie
wir, ausgenommen die Sünde. Er hat nicht nur nie gesündigt, sondern Er hatte keine Sünde und das ist ein großer
Unterschied. In Ihm war keine Sünde; es gab in Ihm keinen
Anknüpfungspunkt für die Sünde. Er willigte nicht nur nie
in die Sünde ein, nein, es gab in Ihm gar keine Sünde, in
welche Er hätte einwilligen können. In Seiner Natur als
Mensch wohnte nichts Böses, auf das der Teufel hätte einwirken können. Das Böse kam Ihm von außen her entgegen.
In einer gefallenen und verderbten Welt war Er den listigen
Anläufen des Teufels ausgesetzt. Alles was geeignet war,
Ihm Schmerz zu bereiten, stürmte auf Ihn ein, und zwar
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nicht seitens der Juden, sondern auch durch Seine Jünger.
Am Anfang Seiner Laufbahn suchte der Teufel Ihn durch
das, was angenehm war, zu verführen, und am Ende trachtete
er, Ihn zum Aufstand gegen Gott zu reizen, indem er Ihm
die unaussprechlichen Schrecken des Todes vorstellte, dem Er
entgegenzugehen im Begriff stand.
So ist also Christus in gleicher Weise wie wir zu allen
Zeiten, unter allen Umständen — sei es durch Vorspiegelungen des Schmerzes oder der Freude — versucht worden und
zwar — das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren — in
einem weit höheren Maße als wir. „Keine Versuchung hat
euch ergriffen, als nur eine menschliche", sagt Paulus in 1. Kor
10, 13. Kann das von Jesus gesagt werden? Sind wir nicht
alle überzeugt, daß der Herr mehr als irgendein anderes
Wesen versucht wurde und daß keine Versuchung damit zu
vergleichen ist? Es ist sicher wahr, daß Jesus in allem, gleichwie wir, versucht worden ist; das besagt aber keineswegs,
daß wir, wie etliche behaupten, in allem versucht werden
gleichwie Er. Wenn wir unseren Blick auf die drei uns bekannten Versuchungen Jesu in der Wüste richten, müssen
wir erkennen, daß wir in einer solchen Weise nie vom Teufel versucht worden sind. Unsere Versuchungen mögen denen
des Herrn ähnlich sein, aber sie sind ihnen nie vergleichbar.
Sind wir je vierzig Tage hindurch von dem Teufel versucht
worden? Sicher nicht, und wir werden, wie ich glaube, auch
nie in solche Versuchungen kommen.
Während daher der Herr in allem versucht worden ist,
gleichwie wir, so wurde Er dennoch in einer Weise versucht,
die Ihm allein eigen war. Und das konnte nicht anders sein;
denn Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht in
einem gewöhnlichen Sinne ein natürlicher Mensch und selbst
nicht ein natürliches Haupt der Menschheit. Er wurde Mensch
—das ist unstreitig wahr — aus Gnaden geboren von einem
Weibe; aber Er war der Sohn Gottes, ja Gott Selbst und im
Begriff, den ersten Platz in einer neuen Schöpfung einzunehmen. Er war das Gegenbild des ersten Menschen — indem sich dieser in Sünde, Er aber in Gerechtigkeit und Gnade offenbarte. Während der erste Mensch, Adam, unter den
günstigsten Umständen fiel und sich und seinen Nachkommen den Tod brachte, blieb der zweite Mensch, Jesus Christus, Sieger in den fürchterlichsten Versuchungen, umringt
von Tod und Elend, und nun ist Er der verherrlichte, aus
den Toten auferstandene Mensch im Himmel.
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Der Zustand, in dem Adam vor dem Fall war, erklärt uns,
was Versuchung ist; denn die allgemeine Annahme, daß
eine Versuchung das inwendige Böse voraussetzt, ist ganz und
gar falsch. Wer so denkt, vermengt die Versuchung mit der
Begierde oder Neigung zur Sünde. Adam wurde versucht,
obwohl weder Sünden noch innere Zuneigung zum Bösen
in ihm war, bevor er fiel. Es bedarf also nicht der Sünde für
die Versuchung in dem hier bezeichneten Sinne. Die erste
Versuchung trat an jemanden heran, der ohne Sünde war.
Ebenso war es bei dem zweiten Menschen. Auch Er war
ohne Sünde und, was noch mehr ist, als „das Heilige" geboren. Er lebte, ohne die Sünde zu kennen. Wie könnte
daher von einer in Ihm wohnenden Neigung zur Sünde die
Rede sein? Es war die Absicht des Teufels, die Sünde in Ihn
hineinzubringen. Doch selbst am Ende Seines Lebens kam
„der Fürst dieser Welt und fand nichts in Ihm". Satan entdeckte in dem „Menschen" Christus Jesus weder innere Sünde, die er hätte wecken können, noch irgendeinen Mangel
an Gemeinschaft mit Gott oder an Abhängigkeit von Gott,
wodurch die Sünde sich hätte festsetzen können. Wenn der
Teufel Jesum nur dazu hätte bewegen können, Seinen eigenen Willen zu tun, so würde die Sünde existent geworden
sein, und alles wäre verloren, jede Hoffnung entschwunden
gewesen. Doch, Gott sei Dank! das konnte nicht geschehen;
denn der Herr war sowohl eine göttliche Person als auch abhängiger Mensch. Christus ist ebensowohl Gott, wie es der
Vater und der Heilige Geist ist. Seine Menschwerdung hat
Seine Gottheit nicht im geringsten geschmälert, da Er die
Menschheit in Seiner Person zur Vereinigung mit Gott erhob. Sowohl Seine Gottheit als auch Seine Menschheit behielten ihre ihnen eigentümlichen Eigenschaften; dennoch
waren beide Naturen in ihrer ganzen Vortrefflichkeit in der
Person Jesu vereinigt. So kam Jesus auf diese Erde, um Seinen Gott und Vater zu verherrlichen und uns von all unseren Sünden zu erlösen, und einen solchen Jesus haben wir
als Hohenpriester vor Gott.
Welch eine Kraft liegt daher in den Worten: „Worin er
selbst gelitten hat, als er versucht wurde". Ja, Er litt. Und
wo Er leidet, wenn Er versucht wird, da kann von keiner Neigung zur Sünde die Rede sein. Der Sünder tut seinen
eigenen Willen; er kümmert sich nicht um den Willen
Gottes, und das ist Sünde. Aber Jesus tat nie Seinen eigenen
Willen. Er wollte es nie und zögerte nie einen einzigen Au47
genblick allein Dem zu gehorchen, dem Er erklärt hatte:
„Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott zu tun". So
war es, bevor Er kam; so war es auch am Anfang, am Ende,
und während Seines ganzen Lebens. Nicht einen Augenblick
tat Er Seinen eigenen Willen. Er lebte als Diener in völliger
Abhängigkeit von Seinem Vater. Er war — mit einem Wort
— der vollkommene Mensch, Der Einzige, Der nur den Willen
Gottes getan hat. Darum hat auch niemand so gelitten wie
Er; denn nach dem Maße der Liebe und Heiligkeit leidet
jemand mehr oder weniger, abgesehen von der Herrlichkeit,
die Er allein besaß.
So ist es jetzt mit den Kindern Gottes. Sie wollen nicht
ihren eigenen, sondern den Willen Dessen tun, Den sie als
„Vater" anrufen dürfen. Das aber ist keine Kleinigkeit in
einer Welt, in der nur Eigenliebe herrscht und die in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen lebt und handelt.
Der Herr Jesus tat gerade das Entgegengesetzte, und so tun
auch die, welche Ihm angehören. Petrus nennt uns „Auserwählte, nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung
Jesu Christi". Der Gehorsam Christi wird also auch von uns
gefordert. Er unterwarf Sich stets dem Willen des Vaters
vollkommen. Er litt; und dieses Leiden war eine Folge der
Versuchungen Satans gegen Den, Der die Wonne Gottes war
und Der Sich stets weigerte, Seinen Gehorsam aufzugeben.
Zudem litt Er, indem sich Seine Seele mit heiligem Abscheu
gegen das Böse sträubte, das wohl nicht im Ihm war, Ihm
aber überall von außen her begegnete.
Die Einflüsterungen des Feindes konnten Seinen eigenen
Willen nicht wachrufen, bewirkten aber Leiden und Betrübnis in Ihm. Er litt eben deshalb, weil Er der Heilige war.
Darum lesen wir: „Denn worin er selbst gelitten hat, als er
versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht
werden". Wie beachtenswert ist es doch, daß wir als „Söhne
Gottes" durch den Heiligen Geist in der neuen Natur zu
demselben Gehorsam berufen sind!
Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Christen auf
der Erde im Hebräerbrief betrachtet. Sie sind erlöst, geheiligt; sie sind Kinder Gottes und Christus nennt sie Seine
Brüder. Aber zu gleicher Zeit befinden sie sich im Bereich
der Versuchung in der Wüste. Der Psalmist erinnert die
Kinder Israel an den „Tag der Versuchung in der Wüste".
So ist es auch mit uns. Wir befinden uns in der Wüste und
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die Jetztzeit ist der Tag der Versuchung. Wir werden versucht und vielfältig auf die Probe gestellt. Unser Gott läßt
alles zum Guten mitwirken; denn wir durchschreiten eine
Stätte, wo jeder Ursprung von Macht, wo jede gute und
vollkommene Gabe, wo das Licht, das unseren Weg bescheint, von obe n kommt und nicht aus uns selbst oder
von der uns umgebenden Welt. Es gibt nichts um uns her
und nichts in unserer alten Natur, das uns helfen könnte. Es
ist nur geeignet, uns zu verleiten und unsere Schritte zu
hemmen, während der Teufel es zum Bösen verführt. Doch
Christus weiß das; Er hat Sein wachsames Auge sowohl auf
den Teufel, als auch auf uns gerichtet. Ein Feldherr, der
früher in einer belagerten Stadt dem Feinde selbst die Spitze
zu bieten hatte und ihn zum Abzug zwang, kann am besten
die Lage seiner Freunde ermessen, die, von demselben Feind
umzingelt, noch mit einem Verräter in der Stadt zu kämpfen
haben. Um wieviel mehr kann daher Jesus Mitleid mit uns
haben! Es gibt keinen größeren Irrtum als die Annahme,
daß Jesus, um mit uns fühlen zu können, den alten Menschen in Sich gehabt haben müsse. Diese Annahme zerstört
die moralische Herrlichkeit und Vollkommenheit der Person
Christi und den Wert Seines Werkes samt dessen Folgen;
ja, wir würden keinen Erlöser haben und uns im Ergebnis
kaum vom Unglauben, der den Sohn und Sein Werk leugnet,
unterscheiden. Es läuft fast auf eins hinaus, ob wir die Gottheit Christi leugnen oder Seine vollkommene, fleckenlose
Menschheit untergraben; denn beides leitet zu den schrecklichsten Folgen, es beraubt uns des vollkommenen Menschen,
Der allein kraft Seiner Vollkommenheit imstande war, unsere Sünden auf Sich zu nehmen und die Schuld zu bezahlen.
Ich wiederhole deshalb nachdrücklich, daß Christus durchaus
unter Versuchungen zu leiden wußte und in vollkommener
Weise Mitleid mit uns haben kann, die wir gegen denselben
Versucher, aber auch gegen das Fleisch in uns zu wachen haben. Sollte Sein Mitleid darum geringer sein, weil Er den
Kampf gegen das Fleisch nicht zu bestehen hatte? Im Gegenteil, der alte Mensch beschäftigt jemanden in dieser oder
jener Weise mit sich selbst, Er aber war ganz frei, zu lieben,
zu dienen und zu leiden.
Jedoch kommt Christus, wie bereits bemerkt, nur den
Gläubigen, den Kindern Gottes, den heiligen Brüdern, die
„der himmlischen Berufung teilhaftig sind", zu Hilfe. Sie
sind die „Geheiligten". Das Priestertum Christi steht nur mit
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den Heiligen in Verbindung. Darum gedenkt der Apostel,
wenn er von dem Priestertum Christi spricht, mit keinem
einzigen Worte der „Sünden". Wenn dennoch viele Christen
meinen, daß Christus als Hoherpriester der Sünden wegen
auftrete, die wir von Zeit zu Zeit begehen, so ist das abwegig. Die Schrift lehrt es nicht. Im Gegenteil, unser Brief
verbindet Sein Priestertum mit der Hilfe und dem Mitleid,
die wir erfahren, wenn wir versucht werden, wie Christus
versucht wurde.
Christus hat Mitleid mit unseren „Schwachheiten", keineswegs aber mit unseren Sünden. Wenn ein Gläubiger gesündigt hat, so ist von Seiten Gottes für dieses Bedürfnis eine
andere Vorsorge getroffen worden; denn in diesem Falle ist
Christus unser „Sachwalter bei dem Vater" (1. Joh 2). Hier
aber ist nur von dem Hohenpriestertum Christi die Rede
und in dieser Eigenschaft des Hohenpriestertums befaßt Er
Sich nicht mit unseren Sünden. Als Hoherpriester beschäftigt Er Sich mit unseren „Schwachheiten". „Wir haben nicht
einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit
unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde".
Er sitzt nun zur Rechten Seines Vaters, und dort ist Er in
Seiner liebreichen Sorge für mich beschäftigt, um mich zu
unterstützen und mir zu helfen inmitten all der Leiden und
Prüfungen, die ich durch die Menschen, durch die Welt und
den Teufel um Seines Namens willen zu ertragen habe. Er
ist in der Herrlichkeit; i c h bin in der Wüste, jedoch mit der
Hoffnung, bald dort zu sein, wo Er ist, in derselben Herrlichkeit. Doch Er läßt uns — gepriesen sei Sein Name! — auch
während unserer Pilgerschaft in der Wüste nicht allein. Er
ist un s ein großer Hoherpriester und wir dürfen mit Freimütigkeit zu Ihm gehen, „auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe". Er kennt
und das ist überaus köstlich — jedes Leid aus eigener Erfahrung. Er weiß, welch ein Feind Satan ist: Er kennt seine
Schlauheit, List und Bosheit. Er, der Heilige, wurde vollkommener Mensch, wurde uns in allem gleich, ausgenommen die
Sünde und darum kann Er in vollkommener Weise Mitgefühl
mit uns haben, ja, mit uns leiden in unseren Schwachheiten.
Die Wahrheit, daß Er nicht nur nicht sündigte, sondern
ohne Sünde war, und daß Seine Versuchungen von der Sünde
getrennt waren, findet im folgenden Kapitel (Hebr 5) eine
nähere Erklärung. „Denn jeder aus Menschen genommene
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Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit
Gott". „Nun, bezieht sich das nicht auf Jesum?" fragt vielleicht jemand. „War Er nicht aus den Menschen genommen?" — Meine Antwort ist, daß der Heilige Geist hier
keineswegs das Priestertum Christi beschreibt, sondern gerade das jüdische Priestertum kennzeichnet und zwar im Blick
auf den Gegensatz, den dieses zu Seinem eigenen bildet. Das
leuchtet deutlich aus den nachfolgenden Worten hervor:
„Auf daß er sowohl Gaben als auch Schlachtopfer für
Sünden darbringe; der Nachsicht zu haben vermag mit den
Unwissenden und Irrenden, da auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist; und um dieser willen muß er, wie für das
Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden". — Diese Feststellung räumt, dünkt mich, jede Schwierigkeit für den
Gläubigen aus. Wenn der hier in Rede stehende Hohepriester nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst,
für seine eigenen Sünden opfern muß, so kann damit Christus nicht gemeint sein. Wir zitieren weiter: „Und niemand
nimmt sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen,
gleichwie auch Aaron. Also hat auch der Christus sich nicht
selbst verherrlicht". Der Apostel beginnt hier mit einem
Vergleich, jedoch nur um den Gegensatz umso schärfer hervortreten zu lassen. Allerdings verherrlichte Christus Sich
nicht Selbst; aber Er, Der zu ihm gesagt hat: „Du bist mein
Sohn!" Derselbe Gott setzte Ihn als Priester ein. „Du bist
Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks". Wir
sehen also, daß hier, wo uns die Wurzel, der Stamm und die
Früchte vor Augen gestellt werden, das Wesen des Priestertums Christi darin besteht, daß Er nicht nur der Sohn des
Menschen, sondern auch der Sohn Gottes war und ist. Der
Hohepriester, von dem in den ersten Versen des fünften
Kapitels die Rede ist, ist, wie jeder andere nur ein Kind
Adams — ein Hoherpriester, der „Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden", und zwar einfach
deshalb, weil er nicht besser war. Er war, wie jeder andere,
„mit Schwachheiten umgeben". Kein Wunder daher, daß er
mit seinen Mitmenschen Nachsicht hatte. Doch dies alles
bildet einen völligen Gegensatz zu der Majestät und der
Gnade des himmlischen Hohenpriesters, Der, obwohl der eingeborne Sohn Gottes, Sich dennoch zur Menschwerdung erniedrigte, um als Sohn des Menschen hier auf der Erde zu
wandeln.
Das Priestertum Christi steht also, wie bereits gesagt,
in Beziehung zu den Versuchungen und Schwachheiten derer,
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die Er die Seinen nennt, die Er liebt und bis ans Ende lieben
wird. Es dient zu ihrer Stütze, wenn sie versucht werden,
wie Er versucht wurde, wenn sie um der Gerechtigkeit oder
um Seines Namens willen leiden, wenn sie — mit einem
Wort — durch irgend etwas, das nicht die Folge ihrer Sünden
ist, geprüft werden. Wohl hat der Herr in Seiner Gnade auch
bezüglich der Sünden Vorsorge getroffen. Er kann Sich in
Seiner Barmherzigkeit auch mit jemanden beschäftigen, dessen Leiden eine Folge seiner eigenen Sünden sind; aber davon ist hie r nicht die Rede. Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Unterweisungen der Heiligen Schrift nicht miteinander zu vermengen. Eine Verbindung des Hohenpriestertums Christi mit unseren Sünden und Gebrechen mag
vielleicht mit unseren Wünschen und Gedanken mehr übereinstimmen; aber darauf kommt es nicht an. Der Gläubige
darf sich nicht um menschliche Urteile kümmern; seine Aufgabe ist es, die Bibel zu erforschen und sich dem Urteil Gottes zu unterwerfen. Eine völlige Unterwürfigkeit unter das
Wort wird uns allein in den Stand setzen, die Absicht und
die Gedanken des Heiligen Geistes recht zu verstehen.
Solange wir noch Gottlose und Sünder waren, konnte von
Mitleid und demzufolge naturgemäß von einem Priestertum
nicht die Rede sein. Wir bedurften damals nicht des Mitleids mit unseren Sünden, sondern eines Sühnopfers für
unsere Sünden — eines Sühnopfers, wie nur Christus es darbringen konnte. Ein rechtlich gesinnter Mensch und vor allem ein Heiliger Gottes begehrt kein Mitleid mit seinen
Sünden. Christus litt für uns, der Gerechte für die Ungerechten, und durch Sein kostbares Blut reinigte Er uns von
unseren Sünden. Das war der Weg, auf welchem Gott diesem
unserem Bedürfnis begegnete. Aber Mitleid mit unseren
Sünden kann Er nicht haben. Jetzt jedoch, nachdem wir in
Christo eine neue Schöpfung geworden und nicht allein im
Blut, sondern auch im Wasser durch das Wort gewaschen
sind — „Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser
und Blut, Jesus, der Christus, nicht durch das Wasser allein,
sondern durch das Wasser und das Blut" — jetzt, da wir
nach Seinen eigenen Worten in Christo ganz rein und ohne
Sünde sind, bedürfen wir nicht mehr eines Sühners für unsere Sünden sondern eines Hohenpriesters, der in allen Versuchungen, in allen Mühen und Gefahren, denen wir auf der
Erde um Seines Namens willen ausgesetzt sind, uns vollkommen unterstützen, ja selbst mit uns leiden kann.
52
Und das ist es eben, was der Herr Jesus nun für uns tut.
Er beschäftigt Sich mit einem jeden von uns persönlich .
Er ist nicht der Hohepriester der Versammlung — das wird
nirgendwo im Neuen Testament gesagt — nein, es ist ein
persönlicher Segen, eine persönliche Beziehung zwischen Christo und den Seinen. Wir befinden uns in dieser Welt im
Machtbereich des Feindes; wir durchschreiten die dürre Wüste
als Fremdlinge und Pilger; deshalb bedürfen wir des Priestertums Christi.
Als die Kinder Israel durch die Wüste wanderten, offenbarte sich oftmals der Hochmut des menschlichen Herzens,
so z. B. als Korah sich gegen Moses auflehnte und erklärte,
daß sie keines Priesters mehr bedürften, weil sie alle ein
heiliges Volk bildeten. Die Folge war, daß eine große Plage
unter dem Volke entstand und daß Jehova die Anstifter im
Zorn in den Schlund der Erde warf. Kurz danach aber wird
dem Volke in einer beachtenswerten Weise die große Wichtigkeit des Priestertums vorgestellt. Jedes Familienhaupt
mußte für jeden Stamm einen Stab ins Heiligtum bringen.
So auch Aaron. Als nun Moses am folgenden Morgen in das
Zelt des Zeugnisses trat, sah er, daß der Stab Aarons Blüten
gebracht und Früchte getragen hatte. Dieser Stab des Hohenpriesters war demzufolge das Kennzeichen des auserwählten
Priestertums. Die Israeliten konnten nicht ohne Autorität
sein; kein Gläubiger kann das begehren; denn nicht der
Mensch, sondern Gott muß regieren. Aber es handelt sich
hier nicht um die richterliche Autorität, die an den Stab des
Moses geknüpft war und die nur Verwüstung und Gericht
über ihre Häupter hätte bringen können. Der Stab Aarons
hingegen war der Ausdruck der priesterlichen Gnade; er war
der Stab der lebendigen Kraft, des Lebens nach dem Tode,
das Früchte hervorbringt. Damit zeigt uns der Heilige Geist
in überzeugender Weise, daß es für die Führung des Volkes
durch die Wüste ganz anderer Mittel bedurfte als für seine
Befreiung aus Ägypten. Als die Israeliten jenseits des Roten
Meeres standen, waren sie zwar aus den Händen ihrer Feinde befreit; aber wer würde sie durch die Wüste geführt
haben, wenn Gott nicht auch in dieser Beziehung Vorsorge
getroffen hätte? Sicher niemand. Daher bedurfte es der Gnade
des Priestertums, vorgestellt in dem blühenden Stabe Aarons;
es bedurfte der Kraft eines endlosen Lebens (4. Mo 16 u. 17).
So begegnet der Herr Jesus auch unseren Bedürfnissen
während unseres mühevollen Wandels hienieden. „Er ver53
mag völlig zu erretten, die durch ihn zu Gott nahen", und
Er errettet sie völlig. Hier ist nicht von der Erlösung der
Sünder, sondern von der Erlösung der Heiligen die Rede,
von der Erlösung jener, denen, wie der Apostel sagt, „ein
solcher Hoherpriester geziemte: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern, und höher als die
Himmel geworden". Solche errettet Er, bringt sie durch alle
Mühen und durch die Folgen der eigenen Schwachheiten hindurch, wohlbehalten ins Vaterhaus. Herrliche Wahrheit! Ja,
unser treuer Führer, unser mitleidiger Hoherpriester wird
uns in dieser Wüste nicht verlassen. Er leidet mit uns, die
wir heilig, vollkommen und ohne Sünde in Ihm sind. Das
heißt nicht, daß wir nicht sündigen, Gott bewahre uns vor
einem solchen Irrtum! Leider willigen wir nur zu oft in die
Versuchungen Satans ein. Daß der Herr in Seiner unendlichen Gnade auch in dieser Beziehung Vorsorge getroffen hat,
ist bereits dargetan. Darum geht es jedoch hier nicht. Nur
mit den Seinen und nur mit den Schwachheiten und Versuchungen, die Ihm Selbst auf dieser Erde begegnet sind, kann
Er Mitleid haben. Der Herr schenke es uns allen, diese
Wahrheit recht zu verstehen!
54
Die Sachwalterschaft Christi
(1. Joh 2, 1. 2)
In der Betrachtung über das Hohepriestertum Christi sind
dessen Charakter und Zweck so deutlich wie möglich erläutert und es ist klar herausgestellt worden, daß es ausschließlich in Beziehung zu solchen steht, die durch das Werk Christi in die Gegenwart Gottes gebracht sind. Nicht für die Welt
ist Christus Hoherpriester, sondern für die, welche geheiligt
sind bezüglich deren Er Sich nicht schämt, sie Brüder zu
nennen. Es ist nicht die Absicht Gottes, uns durch dieses
Hohepriestertum in eine neue Stellung zu versetzen; Er will
uns vielmehr in der Stellung, die wir eingenommen haben
erhalten und uns, die wir durch das Blut Jesu bereits nahegebracht sind, unterstützen und helfen. Die Grundlage hierfür sind zwei Tatsachen. Christus hat als Hoherpriester Sein
Blut ins Heiligtum vor Gott gebracht, um für die Sünden des
Volkes Sühnung zu tun; dann aber hat Er Sich zur Rechten
Gottes gesetzt. Sein Blut ist bereits vor dem Angesicht Gottes und Er sitzt als Hoherpriester zur Rechten Gottes. Es
bedarf keiner Versöhnung mehr; sie ist geschehen und Er,
Der sie vollbracht hat, sitzt zur Rechten Gottes. So sind wir
also zu Gott, in die Gegenwart Gottes, in das Heiligtum,
gebracht und diesen Platz kann ein Christ nie mehr verlieren.
Er kann fehlen, und — wie betrübend das auch für Gott
ist — er kann sündigen; aber der Zugang zu Gott bleibt offen. Unsere Freimütigkeit zum Eintritt ins Heiligtum kann
uns nicht genommen werden; wir sind nahegebracht, und
zwar für immer. Durch nichts kann uns dieser Platz streitig
gemacht werden. Gott kann das Opfer Seines Sohnes nicht
geringschätzen, Dessen Blut, von Ihm Selbst dargebracht, für
immer vor Gottes Angesicht ist.
Dennoch ist es möglich, daß jemand, der den Herrn bekannt hat, sich wieder von Ihm abwendet. Der Brief an die
Hebräer zeigt es so klar, daß niemand es bestreiten kann.
Der Apostel richtet eine höchst ernste Warnung an die Hebräer, die das Judentum verlassen und das Christentum angenommen hatten, und sicher bedürfen die Christen aus den
Heiden derselben Warnung. Jedoch beachte man wohl, daß
der Apostel nicht von einem Fallen in die Sünde, sondern
von einem Abwenden von Christo spricht, von einem Abfall
55
vom Christentum. Er spricht von jemand, der den Sohn
Gottes mit Füßen tritt, Dessen Blut für gemein achtet und
den Geist der Gnade schmäht (Hebr 10, 29). Er hat solche
im Auge, die, von der Neuheit und Schönheit des Christentums angezogen, sich diesem angeschlossen und die Segnungen der Gläubigen genossen hatten, ohne wirklich wiedergeboren und Kinder Gottes zu sein (Hebr 6). In jenen Tagen, wo die Frische des Christentums einen grellen Gegensatz zu dem veralteten, dürren Lehrsystem der Rabbiner und
der eitlen Philosophie der Griechen bildete, war es kein
Wunder, daß sich viele zum Christentum hingezogen fühlten und nach christlichen Grundsätzen zu handeln und zu
leben trachteten. Doch solche natürliche Zuneigungen halten
keinen Stand. Früher oder später wird der wahre Zustand
der Herzen offenbar. Bevor jedoch solche Erscheinungen unter den Hebräern an den Tag treten konnten, wurden diese
durch den Heiligen Geist gewarnt und auf die schrecklichen
Folgen ihres Abfalls aufmerksam gemacht (Hebr 10). Wenn
man jedoch durch die Gnade Gottes der neuen Natur teilhaftig geworden ist und als verlorener Sünder in Jesu eine
ewige Erlösung gefunden hat, dann kann nicht mehr von
einem Abfall die Rede sein; dann vermag uns nichts zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu, unserem
Herrn, ist. Nur für solche ist das Hohepriestertum Christi.
Durch Sein Blut nahegebracht, unterstützt Er sie und hilft
Er ihnen in allen Schwierigkeiten, in allen Schwachheiten und
Versuchungen.
Hinzu kommt, daß Christus, der Hohepriester, Mitleid mit
unseren Schwachheiten hat und uns hilft, wenn wir versucht
werden. In einer Welt voller Sünde und Ungerechtigkeit, wo
Satan noch als Fürst regiert, müssen wir leiden, weil wir Ihm
nachzufolgen begehren, und in dieser Lage bedürfen wir Seiner Hilfe und Seines Mitgefühls. Nach dieser kurzgefaßten
wiederholenden Klarstellung wollen wir uns nun mit dem
zur Betrachtung stehenden Thema beschäftigen, nämlich mit der
Fürsprach e oder Sachwalterschaf t Christi.
Wir wissen alle, daß wir Kinder Gottes und Geheiligte in
Christo sind und dennoch leider sündigen. „Wir alle straucheln oft" (Jak 3, 2). Das ist Sünde. Wir dürfen es nicht
Schwachheit nennen. „Straucheln " bedeutet auch nicht
etwa ein Mittelding zwischen Sünde und Schwachheit. Nein,
laßt uns die Dinge bei ihren rechten Namen nennen und
das Wort nicht durch allerlei Trugschlüsse schwächen. Wir
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wollen vielmehr wahr und aufrichtig vor Gott und Menschen
sein und vor allem nicht die Rechte Gottes gegenüber unserer bösen Natur antasten, die in dem Tode Christi gerichtet ist.
Nun, geliebte Brüder, worin offenbart sich die Vorsorge
Gottes, wenn wir gesündigt haben? Nicht in dem Hohenpriestertum, sondern in der Sachwalterschaft Christi. Als
Hoherpriester kommt Er uns, wie wir gesehen haben, zu
Hilfe, wenn wir infolge der Versuchungen leiden, die uns die
Sünde, die Welt und der Teufel bereiten; in diesem Leiden
hat Er Mitleid mit uns. Aber als Fürsprecher oder Sachwalter
beginnt Seine Tätigkeit für uns, wenn wir gesündigt haben.
Es ist höchst bedeutsam, daß wir diese beiden Offenbarungen
der Gnade und Liebe Gottes nicht miteinander vermengen.
Geschieht das, so verliert man die wahre Kraft und den wahren Trost aus beiden; ja, man büßt alles ein, was Gott uns
in dieser zwiefachen Weise aus Gnaden schenken will. So
verhält es sich mit allen Wahrheiten. Das Hohepriestertum
Christi steht in Beziehung zu unseren Schwachheiten; Seine
Sachwalterschaft hat es mit unseren Sünden zu tun.
Wir dürfen nie aus den Augen verlieren, daß Christus der
Sachwalter der Gläubigen ist. Er ist — ebensowenig wie Hoherpriester — Sachwalter für die Welt. In beiden Stellungen
hat Er es nur mit den Gläubigen zu tun. Diese Unterscheidung ist deshalb so bedeutsam, weil hieraus erhellt, daß
Seine Fürsprache nicht die Sühnung unserer Sünden in sich
schließt; denn wäre diese nicht schon vollbracht, so könnten
wir keine Gläubigen, keine Kinder Gottes, keine Heiligen
sein. Seine Sachwalterschaft hat vielmehr den Zweck, für
uns zu dem Vater zu reden, wenn wir als Gläubige, als
Kinder Gottes gesündigt haben, damit unsere Beziehungen
zu Ihm aufrechterhalten, und die praktische Gemeinschaft
wiederhergestellt wird, die durch unsere Sünde unterbrochen ist.
Das wird in den Schriften des Apostels Johannes behandelt. Wie Paulus uns Christum als den Hohenpriester darstellt, wenn er zu einem Volke spricht, das kraft des Blutes
Jesu gereinigt, geheiligt und vollkommen gemacht ist, so
stellt uns Johannes, der unsere Gemeinschaft mit dem Vater
und Seinem Sohne Jesus Christus bezeugt, unseren Herrn
als den Sachwalter vor Augen. Im ersten Kapitel seines ersten Briefes lehrt er uns, in welchem Verhältnis wir zu Gott
stehen. Wir sind nicht nur in die Gegenwart Gottes gebracht,
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sondern wir haben auch Gemeinschaft mit dem Vater und
mit Seinem Sohne Jesus Christus. Wir haben ein neues Leben; wir sind der göttlichen Natur teilhaftig geworden und
die Folge davon ist, daß wir uns der Gemeinschaft mit dem
Vater und dem Sohne erfreuen können. Diese Gemeinschaft
ist ein so inniges, zärtliches Verhältnis, daß sie sofort unterbrochen wird, wenn wir sündigen. Der Vater kann keine Gemeinschaft mit der Sünde haben.
Ohne Zweifel bezeugt uns die Schrift und die eigene Erfahrung, daß Gott den gottlosen Sünder durch das Blut Jesu
reinigen und in Seine Gegenwart bringen kann. Durch die
Gnade sind wir berufen und durch e i n Opfer für immerdar
vollkommen gemacht. Ja, wir sind Kinder Gottes geworden;
wir besitzen die göttliche Natur; wir stehen in einer Beziehung zu Gott, wie sie nicht inniger sein könnte. Das alles
bleibt ewig wahr und unverändert. Wenn aber von einer
Gemeinschaft im praktischen Sinne die Rede ist, so verhält
es sich ganz anders. Eine solche Gemeinschaft kann unterbrochen werden und wird unterbrochen, sobald wir sündigen.
Es ist höchst bedeutsam, daß wir diesen Unterschied im Auge
behalten, weil sonst unsere Sicherheit vor Gott, das Vertrauen unserer Seele und unser Genuß der Nähe Gottes in Frage
gestellt werden. Viele bezweifeln ihre Errettung und ihren
Anteil an Christo, weil sie nach ihrer Bekehrung Sünden bei
sich entdecken. Andere suchen ihr Gewissen durch den Gedanken zu beruhigen, daß man, solange man in diesem Leib
und in dieser Welt sei, nicht wandeln könne, ohn e zu sündigen. Noch andere nehmen die Sünde leicht und machen sich
keine Unruhe darüber, weil sie sich der Vergebung und Reinigung durch das Blut Christi rühmen. Sie alle befinden sich
im Irrtum; die Schrift belehrt uns über diesen Punkt ganz
anders. In ihr ist keine Spur von Ungewißheit für den Gläubigen bezüglich seines Anteils an Christo zu finden. Alles
ist fest, sicher und unveränderlich. Doch es zeigt sich in ihr
auch keine Spur von Leichtfertigkeit gegenüber der Sünde.
Im Gegenteil, wir sind von der Sünde erlöst; wir sind gereinigt und geheiligt, zu Gott gebracht; wir befinden uns in
Seiner Gemeinschaft. Sollten wir nun nicht mit ganzer Seele
Abscheu vor der Sünde fühlen? Sollten wir sie nicht meiden
und hassen? O gewiß; kein geistlich gesinnter Christ wird
anders denken. Die unaussprechliche Gnade Gottes besteht
gerade in unserer Befreiung von der Sünde. Und wie könnte
man diese Gnade wertschätzen und zugleich der Sünde ge58
genüber gleichgültig sein! Nein, jemehr wir uns der Gnade
Gottes erfreuen, und je sicherer wir unseres Anteils an Christo und unserer geistlichen Vorrechte sind, desto größer wird
unsere Abscheu vor der Sünde sein. Darum schickt der Apostel Johannes, wenn er — für den Fall, daß wir gesündigt
haben — über die Sühnung Gottes reden will, die Worte voraus : „M ein e Kinder , ic h schreib e euc h dieses ,
a u f da ß ih r nich t sündiget" .
Ein Christ braucht nicht zu sündigen. O nein. Er kann,
wenn er ein zartes Gewissen hat, wenn er sich selbst mißtraut und in Abhängigkeit vor Gott wandelt, durch die Gnade Gottes und durch die Kraft des Heiligen Geistes die
Sünde hassen, vor ihr fliehen und in Gerechtigkeit und Heiligkeit leben. Nie kann er sich entschuldigen, wenn er in die
Sünde eingewilligt hat. Er ist mit Christo der Sünde gestorben und der Macht der Sünde entrückt. Darum ist jede Sünde eine Folge des Mangels an Wachsamkeit. Das ist so sicher, daß der Apostel, wenn er sich mit den Sünden der
Gläubigen beschäftigt, sich veranlaßt sieht, in einer ganz
besonderen und bemerkenswerten Weise darüber zu sprechen.
Zunächst sagt er: „Ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht
sündiget". Die Gläubigen werden ermahnt, auf Grund alles
dessen, was im ersten Kapitel gesagt ist, nicht zu sündigen.
Ihr tagtäglicher Wandel soll zu ihrem früheren Betragen in
völligem Gegensatz stehen. Aber kann man denn nicht mehr
sündigen? Zeigt sich denn überhaupt bei einem Christen
keine Sünde mehr? Ach, leider! Wenn wir aber gesündigt
haben, was dann? Gibt es keine Hilfe, keine göttliche Sühnung? O ja, Gott sei dafür gepriesen! „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater,
Jesum Christum, den Gerechten". Aber beachten wir die
Weisheit und Genauigkeit des hier gebrauchten Ausdrucks.
Der Apostel sagt nicht: „Wenn w i r gesündigt haben". O
nein; das konnte er nicht sagen. Er hätte sonst die ganze
Familie Gottes in seine Aussage einbezogen und damit den
Eindruck erweckt, als ob alle notwendig sündigen müßten.
Das aber setzt der Geist Gottes keineswegs voraus. Er stellt
klar: „Ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nich t sündiget". Daher heißt es nun: "Wenn jeman d gesündigt hat",
wenn es jemanden gibt, — einen Gläubigen —, der gesündigt,
in seinem Wandel versagt hat, obwohl er eines neuen Lebens
teilhaftig und in die Gemeinschaft Gottes gebracht ist. „Wenn
jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei
59
dem Vater". Und wiederum ist die Ausdrucksweise beachtlich. An sich müßte es entweder heißen: „Wenn jeman d
gesündigt hat, so hat er " oder: „Wenn wi r gesündigt haben, so haben w i r einen Sachwalter" Aber der Heilige Geist
hält sich hieran nicht, sondern sagt mit göttlicher Genauigkeit: „Wenn jeman d gesündigt hat", weil es sich dabei
um eine persönliche Sache handelt, die nicht vorkommen
sollte. Und Er sagt nicht: „Er hat", sondern: „Wi r haben
einen Sachwalter bei dem Vater", weil Christus der Sachwalter eines jeden Christen und nicht bloß des einen oder des
andern ist. Wenn Er gesagt hätte: „E r hat", so würde das
den Eindruck erwecken, als ob unsere Sünde die Betätigung
des Herrn hervorrufe und Seine Sachwalterschaft erst beginne, nachdem wir gesündigt haben. Das aber ist keineswegs
der Fall. Christus ist nicht nur stets als Hoherpriester bei
Gott, sondern auch als Sachwalter bei dem Vater. Er ist als
solcher für alle Gaubenden da, um in jedem Augenblick dem
Bedürfnis zu entsprechen, das durch das Sündigen eines Gläubigen entsteht. So wird es mit göttlicher Genauigkeit durch
die Worte ausgedrückt: „Wenn jeman d gesündigt hat —
w i r haben einen Sachwalter bei dem Vater".
Untersuchen wir nun, worin die Sachwalterschaft Christi
besteht. Zunächst müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf
richten, daß der Apostel nicht sagt: „Wir haben einen Sachwalter bei Gott" , sondern: „bei dem Vater" . Das zeigt
uns, daß es sich hier nicht um Rechtfertigung, sondern um
die Wiederherstellung der Gemeinschaft handelt, die durch
unsere Sünde unterbrochen ist. Durch das Opfer Christi sind
alle unsere Sünden vor dem Angesicht Gottes hinweggetan
worden. Das Blut ist im Heiligtum und der Hohepriester
sitzt zur Rechten Gottes. Durch das Blut sind wir nahegebracht und befinden uns in der Gegenwart Gottes. Das ist
unveränderlich. Wir sind für immerdar vollkommen gemacht.
Wir sind nun Kinder , und Gott ist unser Vater . Auch
das ist unveränderlich. Niemand und nichts kann uns von
Seiner Liebe scheiden. Wiewohl also selbst die Sünde des
Gläubigen in seinem Wandel auf der Erde ihn nicht aus der
Nähe Gottes vertreibt oder das zwischen Gott und ihm geknüpfte Band zerreißt, so unterbricht sie doch den Genuß
der Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne Jesus
Christus. Der Vater ist ein heiliger Vater; Er kann keine
Gemeinschaft mit der Sünde haben und Sein Kind, das gesündigt hat, nicht die Freude Seiner Gemeinschaft genießen.
60
Wie wird nun die durch die Sünde gestörte Gemeinschaft
mit dem Vater wiederhergestellt? Durch die Sachwalterschaft
Christi.
Wie aber vollzieht sich diese Sachwalterschaft bei dem
Vater? Zweierlei wird von Jesu gesagt. Er ist der „Gerechte".
Des Vaters Auge kann daher mit Wohlgefallen auf Ihm
ruhen. Er hat Gott in allem vollkommen verherrlicht. Es war
Seine Speise, den Willen des Vaters zu tun; Sein ganzes
Leben auf der Erde war von Anfang bis zu Ende ein lieblicher Wohlgeruch für Gott. Wenn Er daher für die Seinen,
für Seine Brüder, die gesündigt haben, zu dem Vater spricht
und sie vertritt, so kann der Vater Ihn annehmen. Die Meinung, daß die guten Werke Jesu statt unserer bösen Werke
gerechnet und angenommen würden, ist folglich ganz und gar
falsch. Sicher ist Jesus unser Stellvertreter; aber Er war das
im Gericht am Kreuz. Als Sünder finde ich in Jesu meinen
Stellvertreter, der für meine Sünden litt und starb, der an
meiner Statt den Zorn Gottes trug. Aber davon ist hier nicht
die Rede. Hier handelt es sich um den Wandel des Gläubigen und in dieser Beziehung ist Jesus nicht mein Stellvertreter, sondern mein Sachwalter. Die verwerfliche Meinung, Er
sei für meine Sünden als Gläubiger durch Seinen guten Wandel mein Stellvertreter, vernichtet die Zartheit des Gewissens
ganz und gar. Es wäre nämlich dann ganz gleichgültig, wie
ich lebe und wandle. Nein; Jesus ist wohl der Gerechte und
als solcher mein Sachwalter bei dem Vater; aber Seine persönliche Gerechtigkeit könnte mir, wie herrlich sie vor Gott
und wie nötig sie zu meiner Hilfe auch ist, an und für sich
nichts nützen. Er muß für mich zum Vater sprechen, damit
die gestörte Gemeinschaft wiederhergestellt werde, und der
Vater nimmt Sein Angesicht an, weil Er in Ihm Seine Wonne
hat.
Doch Jesus ist nicht nur der Gerechte; Er ist auch die
„Sühnung für unsere Sünden". Darum können auch die
Worte folgen: „Nicht allein aber für die unseren, sondern
auch für die ganze Welt". Das Blut ist vor dem Thron; aus
diesem Grunde kann das Evangelium nicht allein den Juden,
sondern der ganzen Welt verkündigt werden. Alle n kann
zugerufen werden, an dem Heil in Christo teilzunehmen. Für
die Gläubigen aber gilt, daß Christus die Sühnung für ihr e
Sünden ist, so daß diese hinweggetan sind. Auf dieser Grundlage kann Christus unser Sachwalter sein. Er ist nicht nur der
„Gerechte", so daß Gott Sein Angesicht annehmen kann,
61
sondern Er ist überdies auch die Sühnung für unsere Sünden, so daß Er den Vater auf diese Sühnung, auf das Blut,
hinweisen kann und es auf diese Weise möglich macht, die
unterbrochene Gemeinschaft wiederherzustellen.
Welch ein Gnade strahlt uns hier entgegen! Ich habe gesündigt, und — was die Sache noch verschlimmert — ich habe
gegen Seine Gnade gesündigt, weil ich nicht wachsam und
demütig im Gebet gewandelt habe. Ich habe Gott, meinen
liebreichen Vater, entehrt. Und was sagt die Schrift? Sagt
sie etwa: „Wenn jemand gesündigt hat, so hat er seine Segnungen eingebüßt" — oder: „so muß er aufs neue zum Heiland gehen, um das ewige Leben zu empfangen?" Nichts von
alledem. Die Schrift sagt: „Wenn jemand gesündigt hat —
w i r habe n eine n Sachwalte r be i de m Vater" .
Wie unaussprechlich herrlich! Wir haben bei dem Vater jemanden, der alle unsere Angelegenheiten behandelt, der da,
wo wir nichts ausrichten können, für uns tätig ist und der
über jeden Fall mit dem Vater redet. Und Er ist unseres Vertrauens völlig würdig. Er hat uns so unaussprechlich geliebt,
daß Er Sein Leben für uns dahingab. Wir können keinen besseren Sachwalter haben. Siehe, mein Bruder! Du bist über
eine von dir begangene Sünde in großer Traurigkeit, und du
verurteilst dich umso tiefer, je mehr du die Liebe Dessen
kennst, gegen Den du gesündigt hast. Welch einen Trost hat
die Gnade bereitet! Die Schrift spricht von Einem, auf Den
du völlig vertraust, Dem du dein ganzes Herz übergeben
hast, Der deine ganze Geschichte, den Zustand deiner Seele,
die Gesinnung deines Herzens kennt — und Er wird dir aushelfen, zwar zu deiner Demütigung, aber zur Ehre Gottes.
Er spricht mit dem Vater über dich, über deine Sünde, über
deinen Fall, damit die unterbrochene Gemeinschaft wiederhergestellt werde.
Und diese Gnade des Herrn Jesus ist — erwägen wir es
mit Ernst — nicht eine Frucht unserer Reue oder unseres Bekenntnisses; o nein; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken
darf, die Frucht Seines liebenden Herzens. Der Gedanke, daß
die Bekehrung und die Wiederherstellung der Seele eine
Antwort auf das Gebet oder eine Folge des Bekenntnisses
der Sünden und der Reue über das begangene Böse sei, ist
ein großer Irrtum. Die Schrift belehrt uns ganz anders. In
ihr nimmt Gott i n alle m den ersten Platz ein. Es ist Gott,
Der das gute Werk im Menschen anfängt, wenn dieser sich
fern von Gott, ohne Gott in der Welt befindet und nicht ein62
mal daran denkt, Ihn zu suchen, und es ist Gott, Der den
Anfang zur Rückkehr des Gläubigen in Seine Gemeinschaft
macht, wenn dieser von Ihm abgewichen ist. Das ist Gnade.
„Wenn jemand gesündigt hat — wir habe n einen Sachwalter bei dem Vater". So spricht der Heilige Geist; Er sagt
nicht, wie die Menschen es wünschen: „Wir werde n einen
Sachwalter haben , wenn wir unsere Sünden bekennen und
bereuen". Wiewohl Petrus nach seinem Fall bitterlich weinte,
so setzten doch nicht seine Tränen die Sachwalterschaft in
Tätigkeit. Vielmehr waren die Tränen seiner Reue eine Folge der Fürbitte Jesu. Bevor der Fall des Jüngers geschah, hatte der Herr zu ihm gesagt: „Ich aber habe für dich gebetet,
auf daß dein Glaube nicht aufhöre". Die Sachwalterschaft
Jesu bringt den Gläubigen zur Reue, zum Bekenntnis und
zur Rückkehr in die Gemeinschaft Gottes. Wir sehen von
Anfang bis zu Ende, bei jedem Schritt und Tritt auf dem
Wege des Lebens nichts als die Gnade Gottes. Alles findet
seinen Ursprung in der Gnade. Der Ruhm des Menschen
ist gänzlich und zu aller Zeit ausgeschlossen.
Das führt uns zu einem anderen Gesichtspunkt. Christus
ist unser Sachwalter bei dem Vater und die Folge dieser Sachwalterschaft ist das Werk der Gnade Gottes in der Seele und
die Zurückführung der Seele in die Gemeinschaft Gottes.
Denn es fühlt nicht nur der Vater , daß Sein Kind gesündigt hat, sondern auch ich richte mic h selbst . Auf diese
Weise wird die Fürsprache Jesu in der Praxis wirksam. Er
spricht für mich zum Vater und Er wirkt in meiner Seele. Er
schlägt die Wunde, läßt mich durch den Heiligen Geist meine Sünde fühlen und bekennen und führt mich auf diese
Weise zurück in die Gemeinschaft mit dem Vater. Wie dies
geschieht, wird uns in den Evangelien durch eine sinnbildliche Handlung des Herrn Jesus, sowie in der Wiederherstellung des gefallenen Jüngers treffend und herrlich vor Augen
gestellt.
In Joh 13 lesen wir: „Als Jesus wußte, daß seine Stunde
gekommen war, daß er aus dieser Welt zum Vater hingehen
sollte, — da er die seinigen, die in der Welt waren, geliebt
hatte, liebte er sie bis ans Ende". Welch ein Trost für uns!
Er liebt uns bis ans Ende. Wenn Er diese Welt verlädt, so
geschieht es nur, um auf eine andere Art für die Se'nen
tätig zu sein. Auf der einen Seite sehen wir den Teufel in
all seiner List und Bosheit dem Herrn gegenüber; er hatte es
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in das Herz Judas Iskariot gegeben, daß er Jesum überlieferte. Auf der anderen Seite sehen wir den Sohn Gottes in der
ganzen Fülle Seiner göttlichen Liebe zu den Seinen. Er geht
nicht nur zu Gott in all der Reinheit und Majestät zurück,
mit welcher Er von Ihm ausgegangen war, sondern mit der
Herrlichkeit, welche der Vater Ihm jetzt gegeben hat. „Jesus,
wissend, daß der Vater ihm alles in die Hände gegeben, und
daß er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe, steht
von dem Abendessen auf und legt die Oberkleider ab, und
er nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich". Er war noch
immer der Diener. Der Mensch überhebt sich und will den
Eindruck erwecken, als ob er in der Welt etwas sei; Gott erniedrigt sich, wird ein Mensch, ja, ein Knecht, um uns von
dem eigenen Ich und dem Teufel zu erlösen. So war und handelte Jesus, als Er hier auf der Erde wandelte; und so handelt
Er auch jetzt noch, ja so wird er verfahren bis ans Ende, bis
wir alle bei Ihm in Seiner Herrlichkeit sein werden.
Jesus versetzt Sich im Evangelium des Johannes, und zwar
vom Anfang des dreizehnten bis zum Ende des siebzehnten
Kapitels, im Geiste in die Zeit nach Seiner Auferstehung aus
den Toten. Er redet zu den Jüngern, als sei das Werk der
Erlösung und Versöhnung bereits vollbracht und als stehe Er
im Begriff, zum Vater zurückzukehren. „Als Jesus wußte, daß
seine Stunde gekommen war, daß er aus dieser Welt zum
Vater hingehen sollte". So beginnt das dreizehnte Kapitel,
und in Seinem Gebet zum Vater sagt Er: „Das Werk habe
ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun
sollte .. . Ich bin nicht mehr in der Welt; . . . und ich
komme zu Dir". Das kennzeichnet den Boden, auf den Er
Sich stellte, als Er diese Worte spricht, und es macht deutlich, daß das, was Er hier sagt und tut, Bezug hat auf die
Zeit Seines Hingangs zum Vater. Die sinnbildliche Handlung
Jesu, das Waschen der Füße der Jünger, stellt uns Seine Tätigkeit vor, die Er, nachdem Er in die Herrlichkeit eingegangen ist, stets für die Jünger üben wird. „Was ich tue, weißt
du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen". Wäre die
Fußwaschung nichts weiter als ein Beweis der Erniedrigung
und der Liebe Jesu gewesen, so hätte Er diese Worte nicht
sagen brauchen; denn das konnten Seine Jünger gut verstehen. Aber es war eine sinnbildliche Handlung, deren geistliche Bedeutung von höchstem Wert für uns ist. Die Fußwaschung ist ein Bild von der Reinigung der gläubigen Seele
durch das Wort Gottes.
64
„Wenn ich dich nicht wasche", sagt Jesus auf die Weigerung des Petrus, „so hast du kein Teil m i t mir". Er sagt
nicht: a n mir". Petrus war ein Jünger Jesu; er war mit Jesu
verbunden und hatte teil an Christo. Aber der Herr kehrt
jetzt zum Himmel, in die Herrlichkeit zurück, und Er will die
Seinen an dieser Herrlichkeit teilnehmen lassen, und zwar
schon jetzt, während sie noch auf der Erde wandeln, durch
Glauben, und hernach, wenn Er kommen wird, durch Schauen. Doch wir könnten unmöglich an den himmlischen Segnungen, an dem Genuß der Gemeinschaft mit dem Vater
teilhaben, wenn wir uns verunreinigt haben, und darum muß
Er stets unsere Füße waschen. „Wenn ich dich nicht wasche,
so hast du kein Teil mit mir". Ernste Worte! Würden wir sie
recht verstehen, so könnten wir nicht leichtfertig gegenüber
der Sünde, aber auch nicht leichtfertig gegenüber unserer
Reinigung von der Sünde sein.
Diese Reinigung von der Sünde nun ist eine Reinigung
durch Wasse r und nicht durch Blut . Durch das Blut Christi sind unsere Sünden aus dem Buche Gottes ausgelöscht
und vor Seinem Angesicht hinweggetan. Christus hat Sein
Blut vor Gott in das himmlische Heiligtum gebracht und dadurch die Sünden des Volkes gesühnt. Die ist ein für allemal
geschehen. Er hat eine ewig e Lösung erfunden, und alle ,
die glauben, sind i n Ewigkei t vollkommen vor Gott.
Aber es gibt auch eine Reinigung durch Wasser — eine Reinigung des ganzen Leibes und eine Reinigung der Füße. Es
müssen nicht nur unsere Sünden ausgetilgt, sondern auch
unsere Seelen gereinigt werden. Das geschieht beim Beginn
unserer christlichen Laufbahn. „Es sei denn, daß jemand aus
Wasse r und Geist geboren werde, so kann er nicht
in das Reich Gottes eingehen". Und wodurch geschieht
es? „Durch die Waschung mit Wasser durch das Wort" (Eph
5, 26). Das durch den Heiligen Geist auf unsere Gewissen
angewandte Wort Gottes bringt die Seele zur Erkenntnis der
Sünde und wirkt in ihrer Reue über die Sünde, so daß sie
sich mit einem Schuldbekenntnis zu Gott wendet und den
Pfad der Sünde verläßt. Jeder Gläubige kennt das aus Erfahrung. Diese Reinigung oder Absonderung nun geschieht
durch die Waschung des ganzen Leibes mit Wasser. Die Söhne Aarons wurden beim Beginn ihres priesterlichen Dienstes
ganz gewaschen und waren dann ganz rein, so daß diese
Waschung nie mehr wiederholt wurde. Hierauf anspielend
sagt Jesus zu Petrus: „Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich
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zu waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein;
und ihr seid rein". Doch wiewohl die Söhne Aarons einmal
ganz gebadet waren und eine solche Reinigung niemals wiederholt wurde, so mußten sie doch jedesmal, wenn sie im
Lager gewesen waren, die Hände und Füße waschen. Der
Herr sagt daher zwar zu Petrus: „Wer gebadet ist, ist ganz
rein" aber auch: „Er hat nötig, sich die Füße zu waschen"
und: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit
mir". Obwohl die Seele sich bei der Bekehrung einmal von
den Sünden ab- und zu Gott hingewandt hat, muß sie sich
doch bei jeder Verunreinigung durch eine bestimmte Sünde
von dieser Sünde wegwenden; sie muß zur Reue und zum
Bekenntnis kommen, um so wieder in die Gemeinschaft des
Vaters, die durch die Sünde gestört ist, zurückzukehren.
Diese Fußwaschung der Gläubigen nun ist eine Frucht der
Sachwalterschaft Jesu bei dem Vater. Nachdem die Erlösung
vollbracht war, ist der Herr gen Himmel gefahren und hat sich
zur Rechten Gottes gesetzt. Dort ist Er der große Hohepriester bei Gott und der Sachwalter bei dem Vater. Von dort hat
Er den Heiligen Geist zur Erde in die Herzen der Gläubigen
gesandt, und Dieser wirkt, entsprechend der Sachwalterschaft
Jesu, durch das Wort in unseren Seelen. Der Heilige Geist
stellt uns in das Licht des Wortes und läßt uns dadurch erkennen und fühlen, was Sünde und was nicht in Übereinstimmung mit der Heiligkeit Gottes und mit unserer Berufung als Kinder Gottes ist. Er bringt uns zur Erkenntnis unserer Sünde und zur Reue, praktisch also zurück in die Gemeinschaft mit dem Vater. Solange man seine Sünde nicht
bekannt hat, gibt es keinen Genuß der Gemeinschaft Gottes,
keine Glückseligkeit in Seiner Gegenwart; man fühlt sich
dort nicht auf dem rechten Platz. Aber sobald das Selbstgericht wirklich vollzogen ist und man sich von der Sünde abgewandt hat, fühlt man sich wieder glücklich in der Nähe des
Vaters und man genießt erneut Seine Liebe und Güte.
Welch eine Gnade! Welch eine liebreiche Vorsorge in all
unserer Bedürftigkeit als Gläubige! Jesus bittet für uns im
Himmel, auf daß wir nicht aus der Gemeinschaft des Vaters
ausgestoßen werden, und als Antwort auf Seine Bitte wirkt
der Heilige Geist durch das Wort in uns, damit unsere Seelen sich praktisch wieder des Genusses dieser Gemeinschaft
erfreuen dürfen.
Wie das peschieht, zeigt uns die Geschichte der Wiederherstellung des Petrus in der treffendsten Weise. Wie ernst
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hatte der Herr Seinen Jünger gewarnt, bevor dieser fiel! Und
wie abwegig erweist sich hier die Meinung, daß man sündigen müsse, um sich kennenzulernen. Hätte Petrus der Warnung des Herrn geglaubt und sich vor der Gefahr, in der er
sich befand, gefürchtet, so würde er sicher nicht so tief gefallen sein. Allein voll Selbstvertrauen beachtete er die Worte
des Herrn nicht und betrat in eigener Kraft die Stätte der
Gefahr. So ist es stets. Unser Ohr ist nie schwerhöriger, als
wenn wir keine Lust zu hören haben.
Doch betrachten wir jetzt die Gnadenwege des Herrn.
„Ich habe für dich gebetet, damit dein Glaube nicht aufhöre".
Das waren die Worte des Herrn vor dem Fall, und sicher
waren sie nicht durch die Reue des armen Jüngers hervorgerufen. Jesus, der Sachwalter der Seinen bei dem Vater, war
tätig, und alles was weiter geschah, war eine Antwort auf
die Fürbitte Jesu. Als Petrus zum dritten Mal mit Eiden und
Flüchen seinen Herrn verleugnet hatte, wandte Jesus sich
um und blickte ihn an. Welch ein Augenblick für den Jünger! Welch eine Gnade von Seiten des Lehrers! „Und Petrus
gedachte an das Wort des Herrn, wie er zu ihm sagte: Ehe
der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen". Das ist
die Waschung mit Wasser durch das Wort. Die Worte Jesu
drangen in ihrer ganzen Kraft und Schärfe in die Seele des
gefallenen Jüngers. „Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert". Und was
war die Folge? Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Der
Blick Jesu erinnerte ihn an die Worte Jesu, und diese brachten ihn zu aufrichtiger Reue. Doch das reichte noch nicht hin.
O nein, die Seele des Petrus mußte in die Gemeinschaft mit
Jesu zurückgeführt und das rechte Dienstverhältnis des gefallenen Jüngers mußte wiederhergestellt werden. Und wie
verfährt der Herr? Nach Seiner Auferstehung erscheint Er
zuerst dem Petrus und führt eine besondere Unterredung mit
ihm. Der reumütige Jünger wird von dem auferstandenen
Herrn aufgesucht und empfängt die Versicherung Seiner unveränderlichen Liebe. Doch Petrus war nicht nur ein Gläubiger, sondern auch ein Diener des Evangeliums und darum
mußte er nicht nur zur Gemeinschaft des Herrn zurückgeführt, sondern auch als Diener wiederhergestellt werden. Das
geschah am See von Tiberias. Dort vertraute der Herr, nachdem Er die Wurzel des Bösen, das Selbstvertrauen bloßgelegt hatte, dem gefallenen, aber wiederhergestellten Jünger
die Obhut Seiner Schafe und Lämmer an. So war also die
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Verheißung Jesu erfüllt: „Ich habe für dich gebetet, auf daß
dein Glaube nicht aufhöre und bist du einst zurückgekehrt,
so stärke deine Brüder". Der Herr tut kein halbes Werk.
Wenn Er jemanden unter den Seinen wiederherstellt, so geschieht es in vollem Maße. — O gnadenreicher Jesus! Wie unaussprechlich groß ist Deine Liebe, wie unwandelbar Deine
Treue! Wie herrlich weißt Du Deinen Zweck zu erreichen
und Deinen Namen zu verherrlichen! Möchten wir doch auf
Deine Stimme lauschen und auf Deine Wege achten!
Nichts als Freude
Ich wurde zu einem älteren Manne, einem wohlhabenden
Pächter gerufen, von dem man annahm, daß er nur noch
wenige Wochen leben werde. Er war mir unbekannt, und
ich wünschte zu erfahren, ob er bereit sei, in die Gegenwart
Gottes zu treten. Er war jedoch so sehr von seinen Leiden
und Angelegenheiten erfüllt, daß er nur von ihnen redete
und mich nicht zu Worte kommen ließ. Als es mir endlich
dennoch gelang, mit ihm über das Heil seiner Seele und den
Herrn Jesus Christus, den Heiland der Sünder, zu sprechen,
unterbrach er mich in gleichgültigem Tone mit dem Einwand,
daß dies ohne Zweifel alles sehr gut sein könne für jemanden, der es verstehe; er habe wohl auch oft von solchen
Dingen gehört, könne aber nichts davon begreifen. Kaum
hatte er das gesagt, so brachte er sofort das Gespräch wieder
auf seine Familienangelegenheiten — auf seine Ochsen, Äcker
und dergleichen.
Als ich das Haus verließ, schienen mir der trübe, bewölkte
Himmel und die durch den rauhen Herbstwind zum Teil
entblätterten Bäume nicht so düster als das Innere dieser
Behausung, in die das Licht des Evangeliums der Herrlichkeit
Christi bis jetzt keinen Eingang gefunden hatte. Bei den
folgenden Besuchen ging es nicht besser und traurig verließ
ich diesen Ort, an dem ich zwar persönlich stets mit großer
Höflichkeit und vielem Wohlwollen empfangen worden war,
wo aber die Botschaft Gottes so wenig Zutritt gefunden hatte.
Ungefähr sechs Monate später empfing ich von dem Pächter einen Brief, in dem er mich, meine Freude darüber voraussetzend, seiner Errettung versicherte. Man wird leicht
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begreifen, daß ich über diese entschiedene Ausdrucksweise
nicht wenig erstaunt war und da ich kurz danach in seine
Gegend kam, machte ich ihm sofort meinen Besuch. Er sah
kräftig und wohl aus und sein Angesicht strahlte jenes Licht
wider, das „den Glanz der Sonne übertrifft". — Der Herr
hat mich in Seine Hand genommen", rief er mir zu; „Er
hat meinen Leib geheilt und meine Seele gerettet". — Ich
erkundigte mich nach den näheren Umständen, und er teilte
mir seine Erfahrungen mit, die ich hier, soweit sie mir im
Gedächtnis haften geblieben sind, mit seinen eigenen Worten
wiedergebe.
„Obgleich ich sehr gleichgültig zu sein schien, so hatten
Ihre Worte doch in meinem Innern eine Seite berührt, deren
dumpfer Ton meine Seele erzittern machte. Tod, Gericht und
Ewigkeit standen mir immer gleich Schreckensgestalten gegenüber. Ich wußte, daß ich ein Sünder war und vor Gott
nicht bestehen konnte. Aber was sollte ich machen? Ich versuchte in einsamen Stunden zu beten; aber in meiner armen
Seele wurde es immer öder und leerer. Sie hatten mir gesagt,
daß der Herr Jesus gekommen sei und alles vollbracht habe,
was der Sünder zu seinem ewigen Heile bedürfe. Aber ich
verstand Ihre Worte nicht und dachte: das ist alles recht
schön, aber ich darf doch die Hände nicht in den Schoß legen, sondern muß doch ein wenig mitwirken, sei es durch
Buße und Gebet oder durch etwas dergleichen. O ich verlebte
Tage der Angst und des Schreckens und nirgendwo zeigte
sich mir ein Ausweg.
Eines Abends nun, nachdem ich mich unglücklicher denn
je als ein elender, verlorener und in Finsternis versunkener
Sünder zu Bett gelegt hatte, träumte ich, daß ich aufgewacht
sei, aber — nicht mehr existiere. Wie wunderbar mir dies
auch zu sein schien, so drängte sich mir doch die Überzeugung auf meine Seele, daß nichts mehr von mir übriggeblieben sei. Ich befand mich in einer öden Einsamkeit. Es gab
für mich kein Pachtgut, keine Ernte, kein Vieh mehr; aber
wunderbarer als all dieses — ich selbst war nicht mehr. „Gibt
es denn nicht noch etwas, was nicht vergangen, was übriggeblieben ist?" fragte ich mich. Und klar wie die Sonne am
Himmel trat der Gedanke vor meinen Geist, daß jemand
existiere, der nie vergehen könne und Dieser Eine schien mir
den ganzen Himmel und die Erde auszufüllen. Und wer war
diese geheimnisvolle Person? Kein anderer als der Herr Jesus
Christus. „Ja du bist nicht mehr, nur Christus allein ist noch
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da", flüsterte eine Stimme in meiner Seele. Und nun verstand ich, daß ich gerade dieser Erkenntnis bedurfte. Der
arme, elende Sünder, dieser Gegenstand meiner so großen
Betrübnis, war ganz und gar nicht mehr vorhanden; der
allein Übriggebliebene war vollkommen, und auf Ihn und
nicht auf mich hat Gott Sein Auge gerichtet. Ich war beseitigt; statt meiner stand Christus vor Gott, und Gott war
befriedigt.
Voll Freude erwachte ich und rief mit lauter Stimme:
„Jetzt weiß ich, daß ich, was den alten Menschen betrifft,
vor Gott nicht mehr existiere und daß Christus meinen Platz
eingenommen hat. Der Herr Selbst hat mir gezeigt, daß Er
nicht nur meines Wirkens , sondern auch meine r
selbs t nicht bedarf. Er hat mit mir auf Golgatha ein Ende
gemacht, und Christus steht da an meiner Statt. Was könnte
Gott noch weiter fordern? Christus ist für mich vor Ihm
und Gott findet in Ihm völlige Befriedigung, so daß ich
nichts anderes zu tun habe, als diese Tatsache anzuerkennen
und Ihn zu preisen. Wie ist doch alles so einfach, wenn man
nur Augen hat, es zu sehen \" —
„Jetzt erst begriff ich Ihre Worte, die Sie damals zu mir
sprachen. O was wäre aus mir geworden, wenn ich fortgefahren wäre, mich in meine eigenen Gedanken und Wege
zu verlieren und wenn der Herr mir nicht zu Hilfe gekommen wäre! Doch nein, zu Hilfe ist Er mir nicht gekommen;
Er hat vielmehr alles Selbst getan und mich gänzlich beiseite
gelassen; ich durfte nicht mitwirken. Es ist gesegnet, ja
höchst gesegnet, zu wissen, daß ich jetzt außer Christum
nicht nur nicht s bin , sondern auch nicht s besitze .
Sonst pflegte ich im Blick auf mein Pachtgut zu sagen:
„Mein e Äcker , mei n Vieh usw.". Jetzt aber denke ich
bei mir selbst: Wenn mich der Herr in diesem Augenblick hinwegnimmt, so bleibt von diesem allen nichts mehr, was mir
noch angehört; es wird unbedingt nichts für mich sein. Aber
ich habe Christum und nichts als Christum. Welch ein Gedanke! Er ist mein, für immer mein".
Das waren die Worte eines Mannes, der diese herrliche
Wahrheit: „Ich bin beiseite gesetzt, und Christus ist an meiner Stelle" durch die Belehrung des Heiligen Geistes kennengelernt hatte — eine Wahrheit, die zu erfassen oft den weiter
geförderten Christen so schwer fällt. Von jenem Augenblick
an bis jetzt, anderthalb Jahre später, füllte Christus in der
Tat für ihn den Himmel und die Erde aus. Seine Umwand70
lung war in die Augen springend und konnte nicht verborgen bleiben. Wer ihn früher gekannt hatte, der kannte ihn
jetzt kaum wieder. Seine Denkensart, seine Handlungsweise
— alles war verändert. Eines Tages sagte er zu mir:
„Sie sehen, daß der Herr mir deshalb die Gesundheit wiedergegeben und mich noch hier gelassen hat, damit ich ein
Zeuge für Christum sei und das betrachte ich als mein größtes Vorrecht. Ich sehe mit dankbarem Herzen, daß bei manchen Seelen das Wort Gottes Eingang zu finden scheint; aber
viele Bekannte, die ehemals meine Gesellschaft liebten, wenden mir jetzt gänzlich den Rücken. Es geht ihnen wie es auch
mir gegangen ist; sie haben kein Herz für die Wahrheit. Zuweilen begegne ich einzelnen Menschen, die täglich mit zerknirschten Herzen zu Gott flehen, daß Er sie von ihren
Sünden erretten möge und mir ist es, als ob man in einem
solchen Zustand um etwas bitte, was Gott bereits gewährt
hat. Aber sie erkennen die Errettung nicht, die in dem Opfer
Christi auf Golgatha vollbracht und dem Sünder geboten ist".
Etwa einen Monat später teilte er mir mit, daß er die Absicht habe, einige entfernt wohnende Verwandte zu besuchen,
um ihnen, wozu er bisher keine Gelegenheit hatte, das
Evangelium zu verkündigen. Vor seiner Abreise besuchte er
noch einen seiner jüngst bekehrten Nachbarn, der seinem
Ende nahe war, und nahm Abschied mit den Worten: „Wir
werden uns in der Herrlichkeit wiedersehen. Sie gehen dorthin, und ich werde ihnen bald folgen".
Seine Worte sollten sich bestätigen; denn nicht lange nach
der Rückkunft von seiner Reise erhielt ich die Nachricht, daß
er sehr krank sei. Ich eilte zu ihm und fand ihn seinem
Ende nahe. Er flüsterte mir zu: „Ich bin vollkommen glücklich bei dem Gedanken, daß ich zum Herrn gehe. Nur noch
wenige Augenblicke, und ich werde für immer bei Ihm sein.
Eins nur möchte ich noch wünschen, nämlich laut genug
sprechen, um, wie ich es gern möchte, allen sagen zu können, was der Herr ist. Aber ich kann Ihn preisen und werde
dies bald noch besser tun können. Ich fühle keine Schmerzen, sondern im Gegenteil nicht s al s Freude" . — Etliche Stunden später war er ausheimisch von dem Leibe und
einheimisch bei dem Herrn.
Geliebter Leser! Siehst auch du Christum an deiner Statt
und kannst du durch die Gnade erkennen, daß Gott Ihn an
deiner Statt anschaut? O könntest du doch mit dem Apostel
sagen: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir"
71
(Gal 2, 20). „Wer gestorben ist, ist freigesprochen von der
Sünde" (Röm 6, 7). Nicht nur die Sünde ist für den Gläubigen beseitigt, sondern auch der Sünder ist als solcher verschwunden. Christus, Der unseren Platz auf dem Kreuze unter dem Gericht einnahm, lebt jetzt für uns in der Herrlichkeit; Seine Annahme bei Gott ist das Maß der unsrigen. Gott
hat Wohlgefallen an uns, weil Er uns in Christo und nur in
Ihm sieht. Das allein gibt uns vollkommenen Frieden, weil
es uns zeigt, daß Gott vollkommen befriedigt worden ist. Die
vollkommene Liebe des Vaters ruht unverhüllt auf uns, weil
wir in Dem sind, an Welchem Er Seine Wonne hat. Der
Sünder ist weder verändert noch verbessert, sondern hinweggetan. Christus allein, der vollkommene Mensch, erfüllt die
Herrlichkeit Gottes. Und mit Ihm sind wir eins, wenn wir
wahrhaftig Gläubige sind. „Denn wer dem Herrn anhängt,
ist ei n Geist mit ihm" (1. Kor 6, 17).
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Der Zustand der Seele nach dem Tode
Der Zustand der Seele nach dem Tode ist für jeden von
uns von größtem Interesse. Die bekennende Christenheit hat
die große Wahrheit der Wiederkunft Christi zur Aufnahme
der Heiligen und zum Gericht der Erde vor dem Ende der
Welt verworfen. Sie hat die der Auferstehung durch das
Neue Testament beigelegte Bedeutung aus dem Auge verloren und demzufolge der -unbestimmten Vorstellung, daß
man nach dem Tode zum Himmel gehe, einen absoluten
Charakter eingeräumt, der jeden anderen Begriff von Glück
und Herrlichkeit ausschließt — eine Vorstellung, die selbst im
gesunden evangelischen Teil des Christentums herrscht. Die
Schrift aber redet zu betont von der Wiederkunft des Herrn,
als daß der Gedanke, durch den Tod zum Himmel zu gehen,
den Geist des Gläubigen beherrschen sollte. Dieser Gedanke
findet sich in der Schrift nur bei dem Räuber am Kreuz, dem
die Verheißung zuteil wurde, mit Christo im Paradies zu
sein. Es wird nicht bestritten, daß auch wir dahin gehen;
aber der schriftgemäße Gedanke ist stets, daß wir zu Christo
gehen. Seit Er im Himmel ist, gelangen auch wir ohne Zweifel dahin; aber die Schrift kehrt nie die Tatsache hervor, daß
wir im Himmel, sondern daß wir bei Christo sein werden und
das ist für unsere geistlichen Neigungen höchst beachtlich.
Die Schrift stellt Christum vor unsere Seelen und nicht den
Himmel, wiewohl wir sicher dorthin kommen und glücklich
sein werden. Ich erwähne das nur, um die Gewohnheiten
unserer Gedanken zu charakterisieren. Unsere arme menschliche Natur gerät, um die Untiefen zu vermeiden, so leicht
auf Klippen. Sie folgt ferner so gern ihren eigenen Gedanken, anstatt einfach das Wort Gottes anzunehmen. Nichtsdestoweniger hat die wiedererkannte Wahrheit von der Wiederkunft des Herrn und der ersten Auferstehung viele Gläubige belebt und die Vorstellung, durch den Tod in den Himmel zu gehen, beseitigt — eine Vorstellung, die zu unbestimmt und zu wenig schriftgemäß ist, als daß sie die befriedigen könnte, welche die Schrift erforschen. Manche sonst im
Glauben gesunde Christen haben behauptet, daß die Seele
schlafe und sich bis zur Auferstehung in einem bewußtlosen
Zustand befinde, während andere, irregeleitet durch diesen
falschen Begriff, nicht nur das unmittelbare Glück der Entschlafenen, die bei Christo sind, sondern die Hoffnung des
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Gläubigen selbst in Frage stellen. Ach, wie schnell vergrößert
sich die Zahl jener Irregeleiteten, die die Fundamentallehren
des Evangeliums leugnen!
Es ist nicht meine Absicht, hier denen entgegenzutreten,
die die Unsterblichkeit der Seele leugnen; denn das haben
andere schon in überführender Weise getan. Ich beabsichtige
nur, einfach und schriftgemäß zu beweisen, daß der Gläubige
nach seinem Abscheiden sich bei Christo eines unmittelbaren
Glückes zu erfreuen hat in einem Zwischenzustand, in welchem sich auch Christus bezüglich Seiner Stellung als Mensch
befindet, obwohl Er in der Herrlichkeit ist. Auch nach seinem
Abscheiden erwartet der Christ die Auferstehung des Leibes,
weil erst sie ihn in seinen endlichen Zustand der Herrlichkeit einführen wird. Die Menschen reden von verherrlichten
Geistern; die Schrift spricht davon nie. Die Absicht Gottes
in bezug auf uns ist, daß wir dem Bilde Seines Sohnes
gleichförmig sein sollen, damit Er der Erstgeborene unter
vielen Brüdern sei. „Es ist noch nicht offenbar geworden, was
wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar wird,
wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie
er ist". — „Und wie wir das Bild dessen von Staub getragen
haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen"
(Röm 8, 29; 1. Joh 3, 2; 1. Kor 15, 49).
Dies wurde bei der Verklärung geoffenbart, als Moses und
Elias in der Herrlichkeit erschienen (Luk 9, 28-36). Unser
ewiger Zustand der Freude und Herrlichkeit besteht in der
Tatsache, daß wir allezeit bei dem Herrn sein werden und
daß Er Selbst uns ins Vaterhaus aufnehmen wird. Letzteres
findet sich sogar in der Geschichte der Verklärung wieder,
wo Moses und Elias in die Wolke eintraten; aus welcher die
Stimme des Vaters kam. (vgl. auch 1. Thess 4, 17). Christus
wird kommen und uns zu Sich aufnehmen, nachdem wir auferweckt oder nach Seinem Bilde verwandelt sind; dann wird
unser armer irdischer Leib dem Leibe Seiner Herrlichkeit
gleichförmig sein (Phil 3, 21). Das ist unser ewiger Zustand.
Hierzu hat Gott uns schon bereitet und uns das Unterpfand
des Geistes gegeben (2. Kor 5, 5). Bei dem Herrn und Ihm
für immer gleich sein, ist unsere ewige Freude und die Frucht
der Liebe Gottes, Der uns zu Seinen Kindern gemacht hat
und uns in die für uns im Vaterhause bereiteten Wohnungen
einführen will.
Zwiefach ist unser Teil: Wir werden Christo gleich und
bei Ihm sein, und wir werden in Ihm gesegnet sein mit jeder
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geistlichen Segnung in den himmlischen örtern. Diese Vorzüge haben wir durch die Erlösung erworben; aber wir besitzen sie noch nicht. Obwohl von Gott dazu bereitet, besitzen wir jetzt nur das Unterpfand des Geistes. Den Gesichtspunkt unserer Gleichförmigkeit mit Christo haben wir bereits erörtert. Die dabei angeführte Stelle: „Wir werden allezeit bei dem Herrn sein" —, führt uns mit der Autorität der
Schrift zu dem zweiten Punkt der Betrachtung, nämlich zu
unserem Teil mit Christo in den himmlischen örtern. Hierzu
sei auf einige Stellen hingewiesen, die Auskunft darüber
geben, was die Christen, die mit Christo geglaubt und gelitten haben, charakterisiert. Es ist gesagt, daß Gott alles, was
in den Himmeln und auf der Erde ist, in dem Christus zusammenbringen wird (Eph 1, 10), daß alle Dinge durch und
für Christum geschaffen sind (Kol 1, 16. 20) und daß alles
Seinen Füßen unterworfen sein wird (Hebr 2; 1. Kor 15, 27.
28; Eph 1, 22). Aber es wird auch vermerkt, daß Ihm noch
nicht alle Dinge unterworfen sind (Hebr 2). Er sitzt jetzt auf
dem Thron des Vaters und nicht auf Seinem eigenen (Offb
3, 21). Gott hat gesagt: „Setze dich zu meiner Rechten, bis
ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße". Er wartet
also, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt werden (Hebr 10). Die Zeit wird kommen, wo nicht allein die
Dinge in den Himmeln und auf der Erde versöhnt sein werden (Kol 1, 20), sondern wo selbst die Dinge unter der Erde
— die höllischen — Seine Gegenwart und Autorität anerkennen müssen. Jedes Knie wird sich vor Ihm beugen, jede Zunge wird bekennen müssen, daß der von den Menschen verachtete und verworfene Jesus Christus Herr ist, zur Ehre
Gottes, des Vaters (Phil 2. 10. 11). Das alles haben wir noch
zu erwarten.
In dieser Vereinigung aller Dinge in den Himmeln und
auf der Erde unter Christo als dem Haupte haben wir un -
s e r Teil in den himmlischen örtern, — jetzt im Geist und
später in Herrlichkeit; beide Tatsachen können in Wirklichkeit nicht voneinander getrennt werden. Wir sind selbstverständlich jetzt noch nicht in der Herrlichkeit; aber sie ist
unsere gegenwärtig e Berufun g — das, was wir erwarten und wozu wir erkauft und gebildet worden sind.
Jetz t haben wir diesen Schatz in irdenen Gefäßen und seufzen beschwert. Wenn wir außer dem Leibe sein werden, hören diese Seufzer auf, und wir werden in der Freude bei
Christo sein. Bei Seiner Wiederkunft werden wir einen Leib
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bekommen, der dieser himmlischen Stellung entspricht und
wir werden so in der Herrlichkeit sein. „Er hat uns gesegnet
mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen örtern in
Christo" (Eph 1, 3). „Wir wissen, daß, wenn unser irdisches
Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den
Himmeln" (2. Kor 5, 1). „Denn unser Wandel (unser Bürgerrecht oder unsere Beziehungen im christlichen Leben) ist
in den Himmeln" (Phil 3, 20). In demselben Kapitel (V. 14)
ist auch die Rede von der „Berufung Gottes nach oben";
denn die wahre Kraft des Ausdruckes: „Himmlische Berufung" ist: „berufen nach oben". Dasselbe wird auch im Brief
an die Hebräer bezeugt, daß nämlich Christus als unser
Vorläufer in das Innere des Vorhangs eingegangen ist, das
heißt, in den Himmel selbst, und daß wir der himmlischen
Berufung teilhaftig sind (Kap. 6, 18-20; 9, 24; 3, 1). Als
solche, die durch den Heiligen Geist mit Christo eins sind,
sitzen wir in Christo in den himmlischen örtern — nicht m i t
Ihm, sondern i n Ihm. Das ist unser Platz. Wenn der Herr
kommt, so wird Er als der Sohn des Menschen alle Ärgernisse und die das Gesetzlose tun zusammenlesen und alsdann werden die Gerechten leuchten in dem Reiche ihres
Vaters (Matth 13, 41. 43). Aus diesem Grunde zeigten Moses
und Elias, in Herrlichkeit auf der Erde geoffenbart, nicht nur
den Zustand der Heiligen im Reiche, sondern sie traten auch
in die Wolke ein, in der Gott wohnt und aus der sich die
Stimme des Vaters hören ließ.
Unser Teil besteht also augenscheinlich darin, daß, wenn
Gott alle Dinge in den Himmeln und auf der Erde unter
ein Haupt zusammenbringen wird, wir Christo in der Herrlichkeit gleich und allezeit bei Ihm sein werden, und zwar im
Himmel selbst, gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den
himmlischen örtern, im Gegensatz zu den zeitlichen Segnungen Israels auf der Erde. Wenn wir Seine Miterben sind, so
müssen wir auch, was weit besser ist, im Vaterhaus wohnen,
in das Er gegangen ist. Deshalb wird uns klar und deutlich
gesagt, daß unsere Hoffnung in den Himmeln aufbewahrt
ist (Kol. 1, 5), und zwar ein „unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil (1. Petr 1, 4). Das
alles beweist uns, daß unsere Segnungen in jenem Bereich liegen, in den unsere Hoffnung hineindringt, und in
den unser Vorläufer bereits eingegangen ist. Wir werden
das Bild des Himmlischen tragen und allezeit bei dem
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Herrn sein. Er ist hingegangen, um uns eine Stätte im
Hause des Vaters zu bereiten und Er wird wiederkommen, um uns zu Sich zu nehmen. Er hat gesagt: „Vater,
ich will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei
mir seien, wo ich bin". Es wäre noch manches hinzuzufügen über diese Segnung und die Stellung, welche uns
gegeben ist, damit „Er in den kommenden Zeitaltern den
überschwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen
uns erweise in Christo Jesu". Der angekündigte Zweck
dürfte aber nach dieser Beweisführung und Darstellung unserer Segnungen erreicht worden sein. Die Ausführungen
stellen klar, daß von unserer Bekehrung an bis zur Herrlichkeit unsere Berufung zu aller Zeit dieselbe ist und daß es nur
eine Hoffnung unserer Berufung gibt. Gott hat uns zu Seinem eigenen Reich und zu Seiner eigenen Herrlichkeit berufen und wir rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Das Haus des Vaters ist die Wohnstätte Seiner Kinder.
Einzugehen ist aber noch auf die Frage nach dem Zwischenzustand. Es ist wohl geklärt, wo sich alle unsere Segnungen
befinden und was die Erlösung uns erworben hat. Der Gott
aller Gnade hat uns zu Seiner ewigen Herrlichkeit durch
Jesum Christum berufen, damit wir einen vollständigen Teil
der eigenen Herrlichkeit Christi bilden; denn was würde ein
Erlöser ohne die Erlösten sein? Von dem Augenblick an, wo
ich glaube, daß der vielgeliebte Sohn Gottes für mich als
Mensch gestorben ist, lerne ich den unschätzbaren Wert alles
dessen zu begreifen, was ich zufolge dieses Todes empfangen
habe. Der Brief an die Hebräer liefert — und das ist der einzige Zweck dieses Briefes — den Beweis, daß wir ein himmlisches Teil haben im Gegensatz zu dem Judentum, dessen
Teil irdisch war und in der Wiederherstellung Israels begründet liegt. Sie besaßen einen Hohenpriester au f de r
Erde , weil Gott Seinen Thron hienieden zwischen den Cherubim hatte; aber uns geziemte ein anderer — ein Hoherpriester, „heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den
Sündern und höher als die Himmel geworden", weil unser
Platz und unser Teil bei Gott sind. Unser Platz und unsere
Berufung sind in den himmlischen örtern. Alles mußte im
Einklang sein, die Vortrefflichkeit des Opfers und des priesterlichen Dienstes. Was aber sagt das Wort Gottes über
unseren Zwischenzustand von dem Augenblick an, wo wir
diese Hütte, in welcher wir seufzen, verlassen, bis zu dem
Augenblick, wo dieser Leib der Niedrigkeit bei der Wieder77
kunft Christi dem Leibe Seiner Herrlichkeit gleichförmig gemacht -werden wird?
Wenn wir diese unsere künftige Gleichförmigkeit mit Ihm
(Phil 3, 21) sowie die Wahrheit, daß unser Teil und unsere
Berufung himmlisch sind, begriffen haben und wenn wir bedenken, daß alles einfach unser Bürgerrecht jetzt und für immer im Himmel ist, beschränkt sich diese Frage nur noch darauf: Inwieweit genießen wir dies wenn wir sterben? Ist
unser Genuß dann größer oder geringer als jetzt? „Gott ist
nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen; denn für
ihn leben alle" (Luk 20, 38). Mit ihrem Abscheiden sind die
Gläubigen wohl ganz und gar für die Welt gestorben, für
Ihn aber leben sie wie für den Glauben. Man behauptet, daß
sie schlafen; aber diese Vorstellung ist unbegründet. Daß
Stephanus entschlief, besagt lediglich, daß er starb, daß seine
Seele nach dem Tode entschlafen sei. Gott wird die, welche
in Jesu entschlafen sind, mit Ihm bringen (1. Thess 4, 14);
sie allein sind die „Toten in Christo (V. 16). Das ergibt sich
auch aus dem 1. Brief an die Korinther. „Etliche sind entschlafen" (Kap. 15, 6), heißt, sie sind gestorben; hier steht
dasselbe Wort, wie in 1. Thess 4, 14, und zwar als Gegensatz zu dem in demselben Kapitel sich vorfindenden Ausdruck: „Wir, die Lebenden", und zu dem Worte in 2. Kor 5:
„Einheimisch in dem Leibe". „Entschlafen" heißt also „sterben", und das ist eine treffende Bezeichnung für die Tatsache, daß die Gestorbenen nicht etwa aufgehört haben zu
existieren, sondern daß sie in der Auferstehung wieder aufwachen werden, wie ein Mensch vom Schlaf aufwacht. Der
Sterbefall des Lazarus liefert uns dafür einen klaren Beweis
(Joh 11). Der Herr sagt: „Lazarus, unser Freund, schläft;
aber ich gehe hin, daß ich ihn wieder aufwecke". Die Jünger meinten, Er rede von der Ruhe des Schlafes. Jesus sagte
ihnen dann gerade heraus: „Lazarus ist gestorben". — Der
„Schlaf" bezeichnet hier also den Tod und das „Aufwekken" die Zurückführung aus dem Zustand des Todes durch
Auferstehung; es handelt sich mithin nicht um ein Aufwekken der Seele, als ob diese schlafe, um sie dann zu lassen,
wo sie sich befindet. Entschlafen und sterben sind für den
Christen gleichbedeutend; der Schlaf der Seele ist nichts als
eine Erfindung.
Paulus wußte, daß Gott ihn für die Herrlichkeit bereitet
hatte und er redete davon, wie von einem gemeinschaftlichen
Glaubensgut aller Christen. Er wünschte nicht, als wäre er
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kampfesmüde, entkleidet zu werden, d. h. zu sterben; sein
Sehnen war, daß das Sterbliche vom Leben verschlungen
würde. Die Christen haben Christum als ihr Leben wie auch
als ihre Gerechtigkeit. Deshalb haben sie selbst in bezug auf
den Tod ein stetes Vertrauen, indem sie wissen, daß sie
„während einheimisch in dem Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind" (2. Kor 5, 6). Sie haben das Leben — ein ewiges Leben in Christo; aber sie tragen es hier in irdenen Gefäßen, abwesend von dem Herrn. Sobald sie diese armseligen Gefäße, in welchen sie seufzen und beschwert sind, verlassen, sind sie einheimisch beim Herrn. Ist das nun besser
oder schlimmer? Und wo ist der Herr? Will das besagen, daß
der Heilige Geist, der Geist des Lebens in Christo Jesu, den
die Glaubenden schon als Macht des Lebens besitzen, sich
dann schlafend in einem bewußtlosen Zustand befinde? War
das die Hoffnung des Apostels, der in diesem Leben in Christo eine solche Macht erblickte, daß er nicht mit dem Tode,
sondern vielmehr mit dem Augenblick rechnete, wo das
Sterbliche vom Leben verschlungen werden wird? Erinnern
wir uns doch, daß Christus unser Leben ist; weil Er lebt,
darum leben auch wir. Oder verlieren wir etwa, wenn wir
sterben, unser Verhältnis zu Ihm?
Paulus war bedrängt und wußte nicht, was er wählen
sollte (Phil 1); er hatte Lust abzuscheiden, um bei Christo
zu sein, weil es weit besser war. Obwohl das Leben für ihn
Christus war, so war doch das Sterben ein Gewinn. Aber es
war seine Freude und Glückseligkeit, ganz für Christum zu
leben, so daß das Verweilen in der Hütte für ihn der Mühe
wert war. Hätte er das Sterben vorziehen und es als Gewinn
betrachten können, wenn es ihn in den Zustand der Bewußtlosigkeit versetzt und des Gedenkens an Christum und
Seinen Dienst enthoben haben würde? War es sein Wunsch
und seine besondere Freude, sich schlafen zu legen und
nichts mehr von Christo zu hören? Nein, er hielt es für besser, bei Christo zu sein, als — wiewohl ihm das der Mühe
wert war — hienieden zu dienen. Es wäre doch vergleichsweise
absurd anzunehmen, die Schilderung des Nutzens und der
Genüsse, die ich bei einem Freunde zu finden hoffe, drücke
das Verlangen aus, bei meiner Vorsprache alsbald in einen
tiefen Schlaf zu fallen, um ja nichts von dem wahrzunehmen,
was um mich herum vorgeht. Erinnern wir uns daran, daß
der Herr den sterbenden Räuber, der Ihn unter allen Menschen allein in jener denkwürdigen Stunde bekannte, mit den
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Worten tröstet: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!"
War dieses: „Mit mir" und „im Paradiese sein" nicht ein
Glück, das Er ihm damals verhieß? Bestand dieses Glück
etwa in einem tiefen Schlaf und in einem bewußtlosen Zustand? Eine solche Behauptung wäre doch wohl höchst töricht und stände zudem im klaren Widerspruch zu dem Sinne
der Worte Christi. Diese Worte schreibt Lukas, der durch
sein ganzes Evangelium hindurch die göttliche Gnade in dem
Sohne des Menschen bezeugt und den gegenwärtigen Zustand der Dinge klarstellt. Die beiden ersten Kapitel dieses
Evangeliums sind gänzlich dem armen, gottesfürchtigen Überrest gewidmet, der Christum erwartet; sie liefern ein kostbares Gemälde von jenen Armen im Geiste, die Gott inmitten des rebellischen und ungläubigen Volkes Israel angehören. Dann enthüllt Lukas das Geschlechtsregister Christi bis
hin zu Adam und offenbart bis zum Schluß seines Evangeliums die Gnade, die in dem Sohne des Menschen erschienen
ist, um den Menschen zu segnen, und die ihn von da an
segnet, und zwar auf eine himmlische Weise. Dieses Evangelium beschäftigt sich nicht, wie das des Matthäus, mit den
Haushaltungen, sondern stellt die Gnade dar, und zwar eine
gegenwärtige Gnade, die himmlische Gnade durch das Evangelium, den gegenwärtigen Zustand der Dinge. Es entspricht
nach seinem Maße dem Zeugnis des Paulus und der Apostelgeschichte. Obgleich nun der arme Räuber die Macht der
Gnade und des Glaubens in glänzender Weise demonstrierte,
und Christum als Herrn gerade dann bekannte, als alles mit
diesen Würden in Widerspruch stand, überstieg seine Erkenntnis die der Gläubigen seiner Nation nicht. Er wußte
nichts von einem himmlischen Reich, erwartete aber sicher,
daß Der, Welcher am Kreuze hing, in Seinem irdischen Reiche kommen werde und voll glücklichen Vertrauens zu Christo bittet er Ihn, Sich dann seiner zu erinnern. Die Antwort
des Herrn steht im Einklang mit den Grundzügen des Evangeliums und besagt: „Du brauchst nicht so lange zu warten;
ich bringe dir das Heil durch Gnade; heute, an diesem Tage,
wirst du mit mir im Paradiese und mein geeigneter Begleiter
in der Segnung sein".
Das ist das Teil der entschlafenen Heiligen; sie sind bei
Christo im Besitz der Segnungen, abwesend vom Leibe und
einheimisch beim Herrn. Ich kenne die jämmerliche Ausflucht, deren man sich bei dieser Stelle bedient, indem man
liest: „Wahrlich, ich sage dir heute, du wirst mit mir im
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Paradiese sein". Durch diese Lesart wird nicht nur der Einklang mit dem Inhalt des Lukasevangeliums zerstört, sondern
auch die ganze Ordnung umgekehrt und diese Stelle ihres
Sinnes beraubt. Das Wörtchen „heute" steht am Anfang des
Satzes, um die Erwiderung auf das Wort des Räubers: „Wenn
du in deinem Reiche kommst", mit Nachdruck zu betonen.
Es ist kindisch, jenes Wörtchen mit der feierlichen Versicherung: „Wahrlich, ich sage dir", verbinden zu wollen, und
zerstört die Anspielung auf die Bitte des Räubers, der nur
erwartete, daß Christus, wenn Er in Seinem Reiche komme,
Sich seiner erinnern möge. „Nein", sagt der Herr mit dem
feierlichen „Wahrlich", dessen Er Sich bedient, „du sollst nicht
einmal so lange warten, sondern wirst heute noch mit mir
im Paradiese sein". Was sollte das Wort in der Fassung:
„Wahrlich, ich sage dir heute" für eine Bedeutung haben?
Es würde die Versicherung ihrer Feierlichkeit entkleiden,
während die Worte: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du
mit mir im Paradiese sein", weit über die Hoffnung des
Räubers hinausgehen und uns andere als irdische Freuden
offenbaren, die uns erwarten, wenn wir aus dieser Welt
scheiden, um bei dem Herrn zu sein.
Durch die Bosheit der Juden ging die Verheißung des Räubers in Erfüllung, indem sie ihm die Beine brachen, ihre
Bosheit war auch das Mittel zur Erfüllung des Erlösungswerkes, das dem armen Räuber das Recht gab, bei Christo
im Paradiese zu sein. Das war auch die Erwartung des Stephanus, als der Tod seinen Lauf auf der Erde beendete. Er
sah Christum und bat Ihn, seinen Geist aufzunehmen. Hat
Christus ihn aufgenommen? Oder hat Er nur dem Dienst
und der Freude des Stephanus ein Ende gemacht und ihn
zum Schlafe niedergelegt?
Der Zwischenzustand ist also nicht die Herrlichkeit; denn
dazu gehört die „Auferweckung des Leibes in Herrlichkeit".
Er wird unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit". Aber der
Zwischenzustand ist die Segnung dort, wo es weder Unreinigkeit noch Sünde gibt. Man ist bei Christo Selbst, der
Quelle unaussprechlicher Freude. Paulus und Stephanus sind
in ihrer Hoffnung und ihrem unerschütterlichen Vertrauen
nicht getäuscht worden, und die dem Räuber vom Herrn gegebene Verheißung ist nicht unerfüllt geblieben. Ich richte an
jedes vorurteilsfreie Gemüt die Frage, ob die in 2. Kor 5,
in Phil 1 und in Apstg 7 vorgestellte Hoffnung, sowie die
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an den Räuber gerichteten Worte des Herrn lediglich einen
tiefen Schlaf, einen Zustand der Bewußtlosigkeit verheißen.
Läßt uns die Schilderung des Zustandes des reichen Mannes
und des armen Lazarus durch den Herrrn schließen, daß sich
der Gottlose und der Gerechte in Schlaf und Bewußtlosigkeit
befinden? Man wird einwenden, daß das nur eine bildliche
Darstellung sei. Ich räume dies völlig ein; aber es kann doch
unmöglich eine falsche Darstellung sein, die uns schlafende
und bewußtlose Männer vor Augen stellt.
Überdies stellt uns 2. Kor 5, 6-8 einen glückseligen Zustand bei Christo vor Augen, der eintritt, sobald man gestorben ist. Diese Stelle bezieht sich unverkennbar auf den
Tod; denn der Apostel hatte am Leben verzweifelt (2. Kor 1).
„Ausheimisch vom Leibe und einheimisch bei dem Herrn
sein", bezeichnet nicht die Auferstehung; vielmehr ist hier
die Rede vom Verlassen des Leibes; man ist entkleidet. Auch
in der Stelle, in der der Apostel vom Abscheiden spricht, um
bei Christo zu sein, geht es nicht um die Auferstehung oder
die Verwandlung, sondern um den Tod; denn er sagt: „Sterben ist Gewinn" (Phil 1, 21).
Wir können nicht sagen, in welcher Weise ein Geis t
Christum genießt; aber das macht keine Schwierigkeit. Mein
Geist genießt Christum trotz aller Hindernisse, die ihm das
elende, irdene Gefäß, in dem er sich befindet, in den Weg
legt. Wir freuen uns, wiewohl wir Ihn Selbst nicht sehen,
mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude. Jetz t genießt meine Seele, nicht mein Leib, Christum in geistlicher
Weise inmitten der Hindernisse des irdenen Gefäßes und
ausheimisch vom Herrn; dann wird sie Ihn ohne das Hindernis des irdenen Gefäßes und einheimisch bei dem Herrn
genießen. Der Gläubige kann vollkommen sicher sein, daß
er einheimisch bei dem Herrn sein wird, wenn er diesen
Leib verläßt, und daß dann die Freude der Gegenwart des
Herrn sein Teil sein wird. Es kann niemand mehr als ich
auf der Wiederkunft und der Erwartung des Herrn, sowie
auf der Wichtigkeit unserer Auferstehung bestehen und immer wieder komme ich darauf zurück, so oft sich mir bei den
Gläubigen eine Gelegenheit dazu bietet. Dadurch soll aber um
keinen Preis die Wahrheit beeinträchtigt werden, daß für
Gott alle — selbst die Geister im Gefängnis — leben, noch sollen die herrliche Freude, die Segnung, und der „Gewinn", bei
dem Herrn zu sein, wenn wir sterben, geschmälert werden.
Denn dieser Gedanke war stets die Freude der Heiligen und
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hat schon über manches Sterbebett ein himmlisches Licht
verbreitet, wie dies, wenn der Herr verziehen sollte, auch
weiterhin der Fall sein wird.
Die Schrift redet klar und ausdrücklich von dem Glück des
Christen bei seinem Abscheiden, von seinem Vorrecht, bei
Christo zu sein; sie erblickt darin die Ursache für eine grössere Freude, als sie der glückseligste Dienst auf Erden zu
gewähren vermag. Von diesem Glück und diesem Vorzug
spricht sie aber ebenso nachdrücklich, wenn es sich um das
Kommen Christi zur Aufnahme all Seiner Heiligen handelt
mit dem Ziel, Ihm gleich und für immer bei Ihm in der Herrlichkeit zu sein. Das wird der vollkommene und vollendete
Zustand der ewigen Segnung sein, nachdem die Hochzeit des
Lammes stattgefunden hat und wir alsdann allezeit bei dem
Herrn sein werden. J. N. D.
Lobet den Herrn!
Seit achtzehnhundert Jahren sitzt Christus als das von
Gott angenommene Opfer zur Rechten Gottes. Wie wunderbar groß und wie anbetungswürdig ist diese Gnade! Er, Der
auf der Erde die kostbare Gabe der Liebe Gottes für uns,
die elenden Sünder, war, ist nun als das vollgültige Opfer
der Gerechtigkeit in Seiner Gegenwart, so daß Gott um dieser Gnade willen auf so arme Geschöpfe, wie wir es sind,
herniederblicken und zu uns sagen kann: „Das tat ich für
euch; was tut ihr für mich? Dieses Opfer brachte ich für
euch; darum erwarte ich auch ein Opfer von eurer Seite. Ich
erwarte das Opfer des Lobes, das ist die Frucht der Lippen,
die meinen Namen bekennen" (Hebr 13, 15. 18).
Wenn ich bedenke, daß Christus mich geliebt und mich
von allen meinen Sünden in Seinem Blute gewaschen hat,
daß ich jetzt ein Erbe aller Segnungen geworden bin, die
Ihm, dem himmlischen Menschen geschenkt sind, ja, daß ich
sogar mit Ihm herrschen soll — wenn ich bedenke, wie Er
mich auch jetzt in Gefahren schirmt und schützt, mich in steter, unwandelbarer Liebe geleitet und in allen meinen Mängeln und Gebrechen mit so großer Langmut und Geduld
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trägt, wie Er in unendlicher Gnade über mich wacht, mich
stützt, meine Füße wäscht und für mich betet —, wenn ich
dies alles bedenke, sollten sich dann meine Lippen Seinem
Lobe versagen können? O mein Gott, wie soll ich Worte
finden bei dem überwältigenden Gedanken, daß ich in dem
Blute Deines vielgeliebten Sohnes vollkommen gemacht und
gewürdigt bin, mit Ihm zu herrschen? Ich muß Dein Wort
zur Hand nehmen, um die rechten Ausdrücke für das zu finden, was allen Verstand weit übersteigt. Du hast nicht nur
alle meine Sünden auf Ihn gelegt, um mich vor Deinem
schrecklichen Zorn zu retten, sondern Du hast mich auch
durch Deinen Geist einsgemacht mit dem Sohne Deiner Liebe. Gelobt und gepriesen sei Dein Name!"
Der Gedanke an das kostbare Blut, das uns von allen
unseren Sünden gewaschen und uns zum Wandel im Licht
fähig gemacht hat, gibt selbst dem schwächsten Gläubigen
beständig neue Ursache zum Lob und zur Anbetung. O möchte doch stets jene Frucht der Lippen bei uns gefunden werden! Nichts ist mehr geeignet, das Herz von allen Banden
der Welt zu befreien, als die erhabene Macht des Lobes.
Hast du, mein christlicher Leser, einmal begonnen, Gott zu
loben, dann wird dich vieles, was das Werk und die Person
Jesu Christi betrifft und was du früher kaum beachtet hast,
zum Loben und Danken stimmen. Du fragst vielleicht, wie
dein Lobopfer beschaffen sein muß und in welcher Weise
du es bringen mußt. Es muß die Frucht aus Gottes eigenem
Garten sein. Da, wo Gott Selbst Seine Freude hat, mußt du
die Blumen und Früchte deines Lobes pflücken. Und wenn
du in diesen Garten getreten bist, so wirst du finden, daß
du nie die rechte Fülle des Lobes gekannt hast, das als ein
lieblicher Wohlgeruch von deinen Lippen emporsteigen wird.
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„Ich bin der Weinstock,
ihr seid die Reben"
(Joh 15, 1-8)
Das Wort Gottes allein ist die lautere und reine Qelle der
Wahrheit. Dennoch neigen so viele dazu, ihre eigenen Gedanken hineinzutragen — Gedanken, die sie von anderen hervorragenden christlichen Männern übernommen und zu den
ihrigen gemacht haben, ohne zu prüfen, ob sie wirklich
aus jener Quelle der Wahrheit geflossen sind. Das ist eine
traurige Erscheinung, die hauptsächlich in der Eigenliebe begründet liegt. Sollten nicht alle unsere Anschauungen das
Wort Gottes zur Grundlage haben, und sollten wir nicht alles verwerfen, was mit diesem Worte nicht in völliger Harmonie ist? Zum wahren Verständnis der Heiligen Schrift
aber gehört ein „einfältiges Auge" und ein „gehorsames
Herz"; beide sind Wirkungen des Geistes Gottes. Wo das
eine oder das andere fehlt oder wo gar beide vermißt werden, gibt es keine wahre und göttliche Einsicht in die Gedanken Gottes. Nur bei einem einfältigen Auge und einem
unterwürfigen Herzen ist das Bewußtsein der Abhängigkeit
von Gott lebendig, so daß das göttliche Wort unter Gebet
und Flehen erforscht werden kann. Möge der Geist Gottes
auch uns bei der Betrachtung des gewählten Schrifttextes
leiten!
Zunächst müssen wir beachten, daß uns Christus in diesem Abschnitt (Joh 15, 1-8) weder als Heiland vorgestellt
wird, der das Verlorene suchen und uns zu erretten gekommen ist, noch als das Haupt Seines Leibes im Himmel oder
Seiner Versammlung, die Er in ununterbrochener Gnade und
Liebe nährt und pflegt. Bezüglich der errettenden und bewahrenden Liebe Gottes in Christo Jesu können die Seinen völlig versichert sein, daß niemand sie aus Seiner Hand rauben
kann. Seine Gnade und Macht bewahren den Erlösten ebenso
vollkommen wie sie den Sünder erretten. Im vorliegenden
Abschnitt handelt es sich jedoch keineswegs um diese errettende und bewahrende Gnade und Macht des Herrn. Er
nennt sich hier den „wahren Weinstock" und nimmt mithin
den Platz Israels ein. Israel war von alters her der „Weinstock"; denn wir lesen in Psalm 80, 8:„ Einen Weinstock
zogest du aus Ägypten, vertriebest Nationen und pflanztest
85
ihn". Aber dieser Weinstock — Israel nach dem Fleisch —
blieb leer und ohne Frucht. Christus, der Sohn Gottes, nahm
als der „wahre Weinstock" seine Stelle ein. Er wurde von
Gott aus Ägypten heraufgeführt (Matth 2, 15) und nahm
Israels Platz in Segnung ein (Vergl. Jes 49). Wie groß auch
die Vorrechte und demgemäß die Verantwortlichkeit dieses
Volkes sein mochten, so war doch nun alles, was sich außerhalb des Bereiches Christi befand, unter der Gewalt des
Feindes. Segnungen für die Seele werden nur in Christo gefunden. Außer Ihm war kein Heil, kein Frieden zu finden.
Der einzige wahre Weinstock war Jesus, und als solcher stellt
Er Sich hier Seinen Jüngern vor. Er nimmt stellvertretend
den Platz alles dessen ein, womit sie bisher verbunden waren und worin sie bis zu diesem Augenblick ihre religiöse
Befriedigung vergeblich gesucht hatten. Das ganze jüdische
System hatte sich als völlig kraftlos erwiesen, der Seele irgendwie Ruhe und Heil zu verschaffen, und daher wurde
auch keine Frucht gefunden. Israel war also nicht der wahre
Weinstock; Christus ist es, der im Gegensatz zu Israel an
dessen Stelle als der wahre Weinstock auf der Erde gepflanzt
ist. Anders als in den vorhergehenden und nachfolgenden
Kapiteln, wo Jesus in Seiner letzten Unterredung mit Seinen
Jüngern Seine unwandelbare Liebe zu ihnen bezeugt und
ihnen erklärt hat, was Er nach Seinem Weggang für sie sein
wollte, nimmt Er hier in Seiner Stellung auf der Erde Seinen
Platz als Weinstock ein und kennzeichnet Seine Beziehungen
zu Seinen Jüngern und Bekennern, die auf der Erde gesehen
werden. Als Haupt ist Christus im Himmel; als Weinstock
ist Er gepflanzt auf der Erde. Im Himmel kann weder vom
Pflanzen eines Weinstockes, noch vom Beschneiden der Reben die Rede sein; beides geschieht auf der Erde.
„Mein Vater ist der Weingärtner" — nicht der „allmächtige Gott"., unter welchem Namen Er Sich Abraham offenbarte, und ebensowenig „Jehova", wie Er Sich Israel kundgemacht hatte, sondern „mein Vater". Der Fürsorge dieses
Vaters sind alle anvertraut, die mit Christo in Verbindung
sind; stets bedürfen sie Seiner Pflege, damit Frucht hervorgebracht werde. Israel war nicht der wahre Weinstock, und
darum konnte von Frucht keine Rede sein. Christus ist der
wahr e Weinstock. Bringt eine Rebe in Ihm keine Frucht,
so ist sie untauglich und wird abgeschnitten; bringt sie
Frucht, so wird sie vom Vater gereinigt, damit sie mehr
Frucht bringe (V. 2). Es wird Frucht gesucht. Wie bereits ge86
sagt, handelt es sich hier nicht um die errettende und bewahrende Gnade Gottes, sondern um die Verantwortlichkeit aller, die den Namen Christi tragen, um die Verantwortlichkeit
aller Bekenner Christi. Die Beziehung zu Christo im Himmel, die, weil der Heilige Geist sie bewirkt hat, niemals
aufgelöst werden kann, kommt hier nicht in Betracht. Es ist
vielmehr ein Band, das auf der Erde geknüpft und das bereits vorhanden war, als der Herr hienieden wandelte. Es
umfaßt alle, die Ihm zu jener Zeit trotz der Verachtung seitens der Juden nachfolgten, alle, die später das Juden- und
das Heidentum verließen, sich Ihm anschlössen und auf Seinen Namen getauft wurden; es umfaßt jetzt die ganze Christenheit auf der Erde. Dieses Band kann lebendig und ewig
sein oder auch nicht. Die Frucht allein kennzeichnet den
Charakter der Rebe. Die Verantwortlichkeit dehnt sich auf
alle aus; ein jeder wird auf die Probe gestellt. Alle Wege
derer, die mit Christo in Verbindung sind und Ihm anzugehören bekennen, werden abgewogen. Wo keine Frucht gefunden wird, da wird Gericht geübt; wo sich Frucht zeigt, da
folgt zu ihrer Vermehrung die Reinigung. Das Beobachten
äußerer Vorschriften und Satzungen, wie es von dem alten
Weinstock Israel gefordert wurde, genügt keineswegs. An
diesem Wein stock war und blieb man eine gute Rebe, wenn
man als Jude geboren, wenn man beschnitten war und die
Satzungen beobachtete; man wurde nur dann abgeschnitten,
wenn man das Gesetz absichtlich übertrat. Anders verhält
es sich mit dem wahren Weinstock; nur wer wirklich Frucht
bringt, ist eine gute Rebe.
Während nun der Vater die unfruchtbaren Reben durch
das Gericht hinwegnimmt, beschäftigt Er Sich mit den fruchttragenden, um ihre Frucht zu vermehren. Seine züchtigende
Hand ist stets bemüht, alles hinwegzuschneiden, was dem
Hervorbringen der Frucht hinderlich ist. Er leitet uns Wege,
führt uns durch Schwierigkeiten und begegnet uns mit Züchtigungen aller Art, die geeignet sind, unseren Eigenwillen
zu brechen, unser Selbstvertrauen zugrunde zu richten und
das Gefühl der Abhängigkeit stets wach zu erhalten. Das
sind die Mittel, durch welche der Vater uns reinigt, und wie
sehr bedürfen wir einer solchen Reinigung! Mag die Frucht
bisher gering gewesen sein, sie wird sich unter der Bemühung des Vaters vermehren und zu Seiner Verherrlichung
dienen. Wieviel Ursache haben wir im Blick auf das herrliche
Resultat, uns der Trübsale zu rühmen und die mannigfachen
87
Versuchungen für lauter Freude zu achten! Alle Wege, die
der Vater uns führt, sind gesegnet.
„Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu
euch geredet habe" (V. 3). Hiermit wendet sich der Herr an
Seine Jünger. Judas Iskariot hatte sich bereits entfernt (Kap.
13, 30), und früher schon hatten sich viele Seiner Jünger
umgewandt und wandelten nicht mehr mit Ihm (Kap. 6, 66).
Die bei Ihm gebliebenen Jünger waren schon durch das zu
ihnen geredete Wor t gereinigt. Beachten wir es wohl, daß
Er nicht sagt: „Gereinigt durch das Blut, das ich für euch
vergießen werde". Das „Wort" steht mit unserer Verantwortlichkeit, das „Blut" mit Seiner Gnade in Verbindung.
Das Wort richtet alles, was dem in Christo Jesu geoffenbarten Charakter Gottes oder dem durch Ihn kundgemachten
Willen des Vaters entgegensteht. Und dieses Gericht findet
seine Anwendung auf die Gedanken und Gesinnungen des
Herzens, auf unsere Handlungen und Wege. Nichts entgeht
diesem scharfen, zweischneidigen Schwert, dem Worte Gottes. Da, wo die Reinigung durch das Wort vollzogen ist, ist
der Mensch bekehrt, wiedergeboren, einer neuen Natur teilhaftig geworden. Wir ersehen das aus dem 3. Kapitel unseres
Evangeliums, wo das Wort im Bilde des Wassers dargestellt
wird; das Wort wird sodann auch zur praktischen Reinigung
an jedem Tage unseres Wandels auf der Erde angewandt
(vergl. Joh 13). Ohne Zweifel ist der Gläubige durch das
Versöhnungsblut Christi gereinigt; jede Spur von Sünde und
Schuld ist durch dieses kostbare Blut für immer getilgt; aber
davon ist hier nicht die Rede. Der Herr spricht hier nur von
Seinem Wort als dem Mittel der Reinigung und dem Gericht,
sowohl in bezug auf die Zucht, als auch in bezug auf das
Abschneiden. Es handelt sich hier nur um die Verantwortlichkeit des Menschen und nicht um das, was die Gnade und
die Macht Gottes zu tun vermögen. Es ist die persönliche
Verantwortlichkeit eines jeden Menschen — eine Verantwortlichkeit, der niemand ohne die Gnade zu entsprechen vermag,
die aber nichtsdestoweniger in ihrer ganzen Schärfe festgestellt wird. Bald schon trennten sich viele vom Judentum
und später vom Heidentum und ließen sich auf Christum
taufen; aber sie mußten auf die Probe gestellt werden, weil
das Fleisch fähig ist, den Glauben nachzuahmen und einen
Schein von Gottseligkeit anzunehmen.
Zum Fruchtbringen genügte weder die Taufe, noch die
Annahme der Formen des Christentums; das Bleiben in Chri88
sto war unabweisbar nötig. Deshalb sagte der Herr: „Bleibet
in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe nicht von sich
selbst Frucht bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock,
also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir" (V. 4). Die
Quelle aller Kraft für die Jünger war in Jesu. Sie mußten
in Ihm bleiben und Er in ihnen. Weil es sich um die Verantwortlichkeit handelt, so wird die an den Menschen gerichtete Aufforderung an die Spitze gestellt: „Bleibet in mir
und ich in euch". Handelt es sich dagegen um die Gnade, so
steht Gott allein für immer an erster Stelle; denn nur die
Gnade vermag zu erretten und zu bewahren. Wenn nun das
Bleiben in Christo von der Verantwortlichkeit des Menschen
abhängig gemacht wird, so ist es in Frage gestellt. Dennoch
ist es unmöglich, daß eine Rebe Frucht bringen kann, die
nicht am Weinstock bleibt, ebenso unmöglich ist es, daß ein
Mensch Gott Frucht zu bringen vermag, wenn er nicht in
Christo bleibt. Wir sind gänzlich von Ihm abhängig und Er
verändert Sich nicht. Das Bewußtsein unserer steten und völligen Abhängigkeit ist die erste und absolute "Voraussetzung;
es wird zur Folge haben, daß wir stets auf Ihn blicken, und
indem wir Ihm völlig vertrauen, mit unseren Herzen stets in
Seiner Nähe bleiben. Ein solches Verhalten beweist einerseits das reale Wirken Gottes in der Seele und wird andererseits zum Hervorbringen der wahren Frucht gereichen; denn
außer Ihm vermögen wir nichts zu tun (V. 5) — nichts, was
Gott Wohlgefallen und wodurch Er verherrlicht werden könnte.
Christus ist also nicht nur das ewige Leben für die Seele,
sondern auch die alleinige Quelle der Kraft und der Frucht
während unseres ganzen Lebens auf der Erde. Nur wer in
Ihm bleibt, bringt viel Frucht. Wer wahres Selbstgericht übt,
seine Freude und Wonne an Christo hat, wer, ausharrend im
Gebet, in stetem und gläubigen Hinschauen auf Christum
durch alle Schwierigkeiten hindurchgeht, der wird reichlich
Frucht zum ewigen Leben hervorbringen. Aber ach! wieviele
ermatten darin! Sie hören auf, im Licht des Richterstuhls
Christi zu wandeln und selbstredend erkaltet dann ihr Eifer,
I h m wohlzugefallen. Ihr Gewissen mahnt, beunruhigt sie und
klagt sie an; aber sie verlieren Christum mehr und mehr aus
ihren Augen und machen von Tag zu Tag immer ersichtlichere Rückschritte und nicht wenige von ihnen sinken endlich so tief, daß sie wiederum ihre Genüsse hier unten suchen und mit den Trebern dieser Welt ihren Hunger stillen.
Gibt es nicht sehr viele, die zwar bekennen, daß nur in
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Christo das Heil zu finden sei, trotz dieses Bekenntnisses
ihre Befriedigung in äußeren Formen, Satzungen und selbstgewählten Wegen suchen? Wie ernst reden solche Erfahrungen zu dem Herzen eines Jüngers des Herrn! Er hat uns
auserwählt, damit wir Frucht bringen — eine Frucht, welche
bleibt, und Er sagt: „Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß
ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger sein"
(V. 8). Die Verherrlichung des Vaters war stets das erste und
entscheidende Anliegen Jesu. Er konnte am Ende Seiner irdischen Laufbahn in vollkommener Weise sagen: „Ich habe
dich verherrlicht auf der Erde". Selbst im Blick auf die
schreckliche Stunde, die vor Ihm lag, wünschte Er nur, daß
der Name des Vaters verherrlicht werde (Joh 12, 27. 28). Er
brachte Frucht im höchsten Maße, und wir erweisen uns als
Seine Jünger dadurch, daß wir viel Frucht bringen. So verherrlichen wir auch den Vater. Welch ein Vorrecht für uns!
Möchte doch Seine Verherrlichung in all unseren Gedanken,
Worten und Werken stets an erster Stelle stehen!
Ja, der Name des Vaters wird dadurch verherrlicht, daß
wir viel Frucht bringen und das kann nur geschehen, wenn
wir in Christo, der alleinigen Quelle des Fruchtbringens,
bleiben. Nur aus Ihm fließt jede Segnung, alle Gnade und
alle Kraft, ja die ganze Fülle, deren wir zum Fruchtbringen
bedürfen und wir genießen von dieser Gnade, Kraft und Fülle, wenn in dem lebendigen Bewußtsein unserer Abhängigkeit das Auge des Glaubens auf Ihn gerichtet und das Herz
praktisch in einer steten, verborgenen Gemeinschaft mit Ihm
bleibt.
„Wenn jemand nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und
wirft sie. ins Feuer, und sie verbrennen" (V. 6). Es ist hier
zu beachten, daß der Herr nicht sagt: „Wenn ihr" , sondern
„wenn jeman d nicht in mir bleibt". Die elf Jünger, die
in jenem Augenblick um Ihn versammelt waren, hatten um
Seinetwillen alles verlassen. Der Herr kannte sie als fruchtbringende Reben und als solche, die schon rein waren. Ssin
zu ihnen geredetes Wort hatte sie gereinigt. Sie waren wiedsrgeboren aus Wasser und Geist. Das Werk des Geistes
war in ihnen gewirkt; sie waren gebadet und ganz rein; sie
halten nvx nötig, sich die Füße zu Avaschen. Die Worte des
hier angeführten Verses enthielten daher keine unmittelbare
Warnung für sie. Es würde überhaupt die größte Verwirrung zur Folge gehabt haben, wenn man jene Worte auf das
90
ewige Leben oder auf unsere Einheit mit Christo anwenden
wollte. Unmöglich kann das ewig e Leben vertilgt, unmöglich die bis zum Tage Christi durch den Geist geschehene
Versiegelung ungültig gemacht, unmöglich ein Glied des Leibes Christi abgeschnitten werden. Würde nicht dadurch dieser Leib für immer verstümmelt sein? Einem solchen Gedanken dürfen wir nie Raum geben. Unleugbar gibt es viele, die
sich nach Seinem Namen nennen und die auf Seinen Namen
getauft sind, die Ihn als ihren Herrn anrufen und bekennen
und ganz und gar die Form der Erkenntnis besitzen. Was
aber wird ihr Ende sein, wenn sie nicht in Ihm erfunden
werden? Wie groß ist die Menge derer, die durch ihre Erkenntnis und ihr Verhalten eine Zeitlang den Schein eines
wahren Jüngers von sich geben, sich aber danach wieder umwenden und es mit ihnen dann ärger ist, als vorher! Von
solchen spricht Petrus in seiner zweiten Epistel (Kap. 2, 9-22),
und Judas nennt sie „fruchtleere, zweimal erstorbene Bäume"
V. 12). Alles wird auf die Probe gestellt. Wer keine Frucht
bringt, wird abgeschnitten und wer nicht in Christo bleibt-,
nicht in Ihm erfunden wird, dessen Teil wird in dem See
sein, der mit Feuer und Schwefel brennt (Offb 21, 8).
Doch der Herr verheißt, indem Er Sich wieder speziell mit
Seinen wahren Jüngern beschäftigt, noch einen Segen von
hohem Wert. „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in
euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird
euch geschehen" (V. 7). Köstliche Zusage! Wir wissen, daß
alle Macht in der Hand unseres Gottes ist. Er allein vermag
uns zu jeder Zeit und in allen Umständen zu helfen, und
wir — schwach und hilflos in uns selbst — sind von Seiner
Macht völlig abhängig. In dieser Stelle nun wird uns ein
Weg geoffenbart, auf dem wir selbst über ihre Hilfsmittel
frei verfügen können, so daß alles geschehen wird, um was
wir bitten. Und dieser Weg, auf dem allein dieses große
Vorrecht genossen werden kann, ist genau gekennzeichnet.
Zunächst heißt es: „Wenn ihr in mir bleibt". Es ist also vor
allem nötig, daß unser Herz dem Herrn Vorrang vor allen
anderen einräumt und im Bewußtsein völliger Abhängigkeit
unser Auge stets auf Ihn gerichtet bleibt. Dann heißt es
weiter: „Und wenn meine Worte in euch bleiben". Wir bedürfen also eines unterwürfigen Sinnes, um uns in allen Umständen unter Sein Wort, den Ausdruck Seines Willens, zu
beugen und unsere Herzen durch den Einfluß des Wortes
beherrschen und leiten zu lassen. Dann, aber auch nur dann
91
können wir versichert sein, daß alles, um was wir bitten,
geschehen wird; denn nur in diesem Falle sind wir fähig,
um das zu bitten, was nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
und zu unserem Besten ist. Wir nahen Gott auf einem unerschütterlichen Grund und dieser Grund ist Christus und
Sein Wort. Welch eine trostreiche Wahrheit! Möge der Herr
uns in Seiner reichen Gnade verleihen, daß wir im völligen Bewußtsein unserer Ohnmacht und Abhängigkeit und im ungeschwächten Vertrauen auf Seine mächtige Hilfe diesen
gesegneten Pfad wandeln und das Fruchtbringen zur Verherrlichung Seines Namens als unser höchstes Vorrecht betrachten. Er ist dazu ganz und gar bereit; Sein eigenes Wort
bürgt uns dafür. Denn Er ruft den Seinen zu: „Dies habe
ich zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch sei und
eure Freude völlig werde (V. 11). Und wiederum: Ih r habt
nicht mich auserwählt, sondern i c h habe euch auserwählt
und euch gesetzt, daß i h r hingehet und Frucht bringet, und
eure Frucht bleibe, auf daß, was irgend ihr den Vater bitten
werdet in meinem Namen, er euch gebe" (V. 16).
92
Die Hoffnung des Gläubigen
„Denn in Hoffnung sind vvir errettet worden", schreibt der
Apostel an die Römer. Das heißt nicht etwa, daß wir errettet
zu werden hoffen. O nein, ein solcher Gedanke ist dem ganzen Neuen Testament fremd. Eine solche Unsicherheit ist
nicht das Teil des Gläubigen. Seine Errettung beruht nicht
auf einem so unbestimmten Hoffen, Wünschen und Meinen,
sondern er weiß bestimmt, daß, wenn sein irdisches Haus,
diese Hütte, zerstört wird, er einen Bau aus Gott hat (2. Kor
5, 1). Er ist errettet worden. Das ist völlig gewiß. Darin besteht nicht der mindeste Zweifel; denn Jesus hat ihn errettet. Aber er ist in der Hoffnung der Herrlichkeit errettet
worden. Er erwartet die Erlösung seines Leibes, welcher die
Unsterblichkeit anziehen muß. Jetzt ist er in der Hoffnung
errettet, dann wird er es im Schauen sein. Das aber wird
stattfinden bei der Ankunft des Herrn, der uns nach Seiner
Verheißung in das Haus des Vaters bringen wird, in dem
viele Wohnungen sind und wohin Er gegangen ist, um uns
eine Stätte zu bereiten. Herrliche Hoffnung! Der Sohn des
lebendigen Gottes, unser Heiland und Erlöser, unser Freund
und Bräutigam, wird vom Himmel herabkommen, um uns
zu ewiger Freude im Hause des Vaters abzuholen. Kann es
eine bessere und herrlichere Stätte als das Haus des Vaters
geben? Ist ein höherer Genuß denkbar, als für immer in der
Gegenwart Jesu Ihm gleich zu sein und Ihn zu sehen, wie
Er ist? Voll Anbetung beugen wir uns vor Ihm nieder,
Der uns solch eine Errettung bereitet hat! Wie sehr sollten
wir uns nach Seiner herrlichen Ankunft sehnen!
Ja, Seine herrliche Ankunft — sie ist die Hoffnung des
Gläubigen. Und dennoch gibt es so viele, die diese herrliche
Wahrheit nicht verstehen. Sie stellen sich unter der Ankunft
Christi nichts anderes vor, als daß Er, wenn wir sterben,
kommen und daß am Ende aller Dinge eine allgemeine Auferstehung und ein allgemeines Gericht stattfinden wi^d. Es
ist sehr schwer zu bestimmen, worin eigentlich die Hoffnung
solcher Gläubigen besteht, oder es muß iene soeben bezeichnete falsche Hoffnung sein, die eine Errettung in die Zukunft verlegt. Gewöhnlich geht die Ungewißheit bezüglich
der Errettung Hand in Hand mit der Verwerfung der herrlichen Wahrheit der Ankunft Christi. Und dennoch ist nichts
natürlicher und einfacher, als daß Er, Der Gegenstand unseres
93
Glaubens , auch der Gegenstand unserer Hoffnun g
ist. Erwägen wir dies mit allem Ernst. Es ist eine sehr bedeutsame Wahrheit; unsere tägliche Freude hängt ganz und gar
davon ab.
Wenn wir Jesum als Den kennen, Der uns liebt und Der
für uns starb, dann kostet es uns keine Mühe, unser Vertrauen auf Ihn zu setzen; wir glauben an Ihn. Die Erkenntnis Seiner Liebe bewirkt ein unerschütterliches Vertrauen;
das Zeugnis des Wortes über den Wert Seines Blutes bringt
jede Unruhe zum Schweigen und treibt alle Furcht aus. Wir
sind ganz glücklich in Ihm. Seine Liebe entspricht allen Forderungen unseres Gewissens. Uns bleibt nur übrig, den
Herrn zu lieben und zu loben. Warum sollte Er, Der der Gegenstand unseres Glaubens ist, nicht auch der Gegenstand
unserer Hoffnung sein? Warum sollte Er nicht die tägliche
Erwartun g unserer Seeele sein, wie Er die tägliche R u -
h e unserer Seele ist? Sicher, wenn ein Gläubiger stirbt, so
geht seine Seele sogleich zu dem Herrn ins Paradies. Das ist
herrlich; aber in der Schrift wird dies nie als die Hoff -
nun g des Gläubigen bezeichnet. Vielmehr wird ihm vorgestellt, daß er nicht sterben, sondern Jesu entgegengerückt
werden wird in die Luft, um allezeit bei Ihm zu sein. Der
Tod ist für den Gläubigen keine Notwendigkeit. Christus ist
für ihn gestorben, und er ist mit Christo gestorben. Der Tod
herrscht nicht mehr über ihn. Sowie er von der Macht der
Sünde und von der Macht Satans befreit ist, so ist er auch
der Macht des Todes entrückt. Er kann sterben, wenn die
Zeit für die Ankunft Christi noch nicht gekommen ist; aber
sein Sterben ist nicht unbedingt nötig. „Wir werden nicht
alle entschlafen" (1. Kor 15). Und sterben wir vor der Ankunft Jesu, so ist der Tod nur ein Entschlafen in Jesu und
ein Hingehen von dieser Erde ins Paradies, um mit Jesu den
herrlichen Morgen der ersten Auferstehung abzuwarten. Doch
wie köstlich dies auch sein mag, so ist es doch nicht die
Hoffnun g des Gläubigen. Nein, seine Hoffnung ist die
Ankunft des Herrn Jesu. Das bezeugt die Heilige Schrift und
sie allein enthält die Wahrheit. Viele setzen voraus, daß die
Wahrheit Seiner Ankunft nur eine Meinung gewisser Gläubigen sei; aber hierin täuschen sie sich sehr. Sie ist eine
Wahrheit, die uns sehr deutlich und bestimmt in den Briefen
des Apostels Paulus, und zwar ganz besonders in den Briefen an die Thessalonicher, vorbestellt wird. Verweilen wir
hierbei einen Augenblick.
94
Ohne Zweifel hatte Paulus die Thessalonicher bei der Verkündigung des Evangeliums von der Wiederkunft des Herrn
Jesus in Herrlichkeit unterrichtet. Das geht klar aus Apstg
17 hervor, wo die Juden ihren Beschuldigungen gegen die
Christen eine politische Wendung geben durch die Worte:
„Diese alle handeln wider die Verordnungen des Kaisers,
indem sie sagen, daß ein anderer König sei — Jesus". Das
war der Grund dafür, daß die Thessalonicher vom Augenblick
ihrer Bekehrung an täglich die Rückkunft Jesu erwarteten.
Daß gleichwohl einige ihrer Brüder starben, beunruhigte sie
und brachte sie in Verwirrung. Ihre Traurigkeit war sehr groß.
Nicht daß sie Zweifel wegen der Errettung ihrer Geliebten
gehabt hätten; o nein, aber es machte sie traurig, daß diese
bei der Ankunft des Herrn nicht anwesend sein würden und
Ihn nicht begrüßen könnten. Von dieser Traurigkeit hörte
Paulus und schrieb ihnen sofort einen Brief. Sie waren erst
seit kurzer Zeit bekehrt und hatten viele Verfolgungen von
seiten der Juden und der Nationen zu erdulden. Der Apostel
hatte nach ihrer Bekehrung nicht lange genug bei ihnen verweilen können, um sie gründlicher in der Wahrheit zu unterweisen. Doch ihre Unwissenheit und Traurigkeit diente
dem Herrn dazu, Seine Gedanken und Pläne bezüglich dieser
herrlichen Verheißung vollständiger kundzutun. In einer neuen Offenbarung empfängt der Apostel Aufschluß über die
Aufeinanderfolge der Ereignisse. Diese Offenbarung ist höchst
bedeutsam; denn wiewohl sie zunächst deshalb gegeben wird,
um die betrübten Herzen der Thessalonicher zu trösten, so
ist sie doch auch zur Unterweisung der Heiligen aller Zeitalter bestimmt.
„Wi r wolle n abe r nicht , Brüder , da ß ihr ,
w a s di e Entschlafene n betrifft , unkundi g
seid , au f da ß ih r euc h nich t betrübet , wi e
auc h di e übrigen , di e kein e Hoffnun g ha -
ben" . — Diese eifrigen, liebenden Christen wußten noch
nicht, daß die entschlafenen Heiligen bei dem Herrn sein
würden, wenn Er kommt, und wie sie an Seiner Herrlichkeit
teilhaben könnten. Sie waren so erfüllt von der Erwartung
des Herrn, daß sie an ein Sterben vor Seiner Ankunft nicht
gedacht hatten und darum waren sie betrübt, weil dennoch
etliche ihrer Brüder starben. Und was antwortet ihnen der
Apostel? Tadelt er sie wegen ihres Verlangens nach der Ankunft Jesu? Sagt er ihnen etwa, daß sie sich zu intensiv mit
dieser Erwartung beschäftigten? Ermahnt er sie, lieber an andere Dinge zu denken? In unseren Tagen ist eine solche
95
Denkweise nicht selten. Mancher Christ spricht über die Ankunft Jesu in einer Weise, als ob der Apostel bestrebt gewesen sei,, die Thessalonicher von der brennenden Sehnsucht
nach dieser Ankunft abzulenken. Doch wenn wir den Brief
aufmerksam lesen, so erkennen wir, daß Paulus gerade das
Gegenteil lehrt. Ihr Warten auf den Herrn wird in jedem
Kapitel zu ihrem Lobe erwähnt. Und in ihrer Traurigkeit
tröstet sie der Apostel nicht, wie das leider heutzutage oft
mit dem Gedanken geschieht, daß sie den Entschlafenen bald
folgen würden, sondern er richtet vielmehr ihren Blick beständig auf die Ankunft Jesu und spornt sie an, Ihn vom
Himmel zu erwarten, wahrend er ihnen zugleich eine neue
Offenbarung gibt, um sie zu versichern, daß die Entschlafenen in Jesu, ebenso wie sie, an der Herrlichkeit dieses Ereignisses teilhaben würden.
„Den n wen n wi r glauben , da ß Jesu s ge -
storbe n un d auferstande n ist , als o wir d
auc h Got t di e durc h Jesu m Entschlafene n
m i t ih m bringen" . Die erste Bemühung des Apostels
geht dahin, das Auge dieser betrübten Jünger auf Jesum zu
lenken — auf Ihn, Der gestorben und auferstanden war. Nur
der Blick auf unseren hochgepriesenen Herrn verleiht wahren
Trost; von Ihm allein empfangen wir Kraft und Mut inmitten unserer vielen Versuchungen. Nur bei Ihm finden wir den
Sieg über Tod und Grab. In Ihm erblicken wir Den, Der
starb, begraben wurde, aus dem Grab auferstand und sich
dann zur Rechten Gottes setzte. Er ist das Leben des Gläubigen. Auch wir sagen triumphierend: „Also wird auch Gott
die durch Jesum Enschlafenen mit ihm bringen". Unser Leben ist verknüpft mit Ihm, Der gestorben und auferstanden
ist, und es gehört der Herrlichkeit an. Alle, die in Jesu entschlafen sind, werden auferstehen und die Erde in derselben
Weise verlassen wie Er, nur mit dem Unterschiede, daß Er
kraft des Rechts, das Er besaß, in den Himmel ging. Er ruft
die Toten und sie kommen aus ihren Gräbern; Er ruft die
Lebenden, und sie werden verwandelt und zugleich mit jenen „entrückt werden in Wolken, dem Herrn entgegen in
die Luft". Es ist eine feierliche Handlung der Allmacht Gottes, die das Leben der Gläubigen und das Werk Gottes versiegelt und sie einführt in die Herrlichkeit Christi. Gesegnetes Vorrecht! Herrliche Gnade! Sie aus dem Auge zu verlieren, vernichtet den wahren Charakter unserer Freude und
unserer Hoffnung.
96
„Denndiese s sagenwireuc h imWort e de s
Herrn , da ß wir , di e Lebenden , di e übrigblei -
b e n bi s zu r Ankunf t de s Herrn , de n Ent -
schlafene n keinesweg s zuvorkomme n wer -
den . Den n de r Her r selbs t wir d mi t gebie -
tende m Zuruf , mi t de r Stimm e eine s Erzen -
gel s un d mi t de r Posaun e Gotte s hernieder -
komme n vo m Himme l un d di e Tote n i n Chri -
s t o werde n zuers t auferstehen ; danac h wer -
d e n wir , di e Lebenden , di e übrigbleiben ,
zugleic h mi t ihne n entrück t werde n i n de n
Wolke n de m Herr n entgege n i n di e Luft ;
u n d als o werde n wi r allezei t be i de m Herr n
sein . So ermunter t nu n einande r mi t diese n
Worten" . Wir wissen, daß der Apostel stets unter der
unmittelbaren Leitung des Heiligen Geistes schrieb; hier
aber war zur Unterweisung und Tröstung der betrübten
Thessalonicher eine ganz besondere Hervorkehrung der Autorität erforderlich, und darum leitet er seine Offenbarung
mit den Worten ein: „Dieses sagen wir euch im Worte des
Herrn". Eine Parallele hierzu finden wir in 1. Kor 11, wo der
Apostel sagt: „Denn ich habe von dem Herrn empfangen,
was ich auch euch überliefert habe". Dort hatte er einem
Mißbrauch des Abendmahls des Herrn entgegenzutreten, hier
einem Irrtum in bezug auf das Kommen des Herrn zu begegnen.
Welche Gnade erweist hier der Herr Jesus Seinen Jüngern! Er versichert, daß die Reihenfolge der bei Seiner Ankunft stattfindenden Ereignisse mit der Auferstehung der in
Jesu Entschlafenen den Anfang machen werde und daß diese
Entschlafenen durch ihren Hingang nicht etwas eingebüßt
haben, sondern im Gegenteil die ersten sein werden, die
zubereitet sind, dem Herrn entgegenzugehen. „Die Toten in
Christo werden zuerst auferstehen". Sie werden also auf erweckt werden, bevor noch die Verwandlung der Lebenden
stattfindet. Welch eine Fürsorge des Herrn Jesu! Und zugleich läßt er uns wissen, daß jedes, mit Seiner Ankunft in
Verbindung stehende Ereignis in einem Augenblick, im einem
Nu, erfüllt werden wird.
O möchten wir doch diese doppelte Herrlichkeit Jesu mit
stiller Bewunderung und Anbetung betrachten! Er steht auf
von Seinem Thron, steigt hernieder vom Himmel. Er gibt
das Signal durch die Stimme des Erzengels, und die Posaune
97
ertönt. So wie eine Armee den Befehl ihres Führers dem
Posaunen- oder Trompetensignal entnimmt, so wird auch die
Armee des Herrn augenblicklich Seinem Rufe folgen. All die
Entschlafenen werden auferweckt und die übriggebliebenen
Lebenden verwandelt werden. Sie werden alle zusammen in
die Wolken eintreten und von diesen umgeben, dem Herrn
entgegeneilen in die Luft und also allezeit bei dem Herrn
sein. Dort gibt es keine Trennung mehr. Darum fügt der
Apostel hinzu: „So ermuntert nun einander mit diesen Worten".
Paulus erklärt also den Thessalonichern, daß Gott alle, die
in Jesu entschlafen sind, mit Ihm bringen wird. In den Versen 15 bis 18 teilt er die Weise mit, wie das in Vers 14 Gesagte in Erfüllung gehen wird. Wenn der Herr in Herrlichkeit auf diese Erde zurückkehrt, so wird es in Begleitung
aller Heiligen geschehen. Aber zuerst wird Er die Entschlafenen auferwecken, sodann die übriggebliebenen Lebenden
verwandeln und sie alle in den Himmel aufnehmen.
Die Heiligen gehen also alle von dieser Erde hin zur Herrlichkeit droben im Himmel, um allezeit bei dem Herrn zu
sein! Welch ein Ereignis! Kein einziges Glied der Familie
Gottes bleibt im Grabe und kein einziger Gläubiger bleibt
auf dem Erdboden. Alle gehen zusammen dem Herrn entgegen in die Luft. Wer vermag sich die glückselige Begegnung
an diesem Morgen unverhüllter Freude vorzustellen? Ohne
Zweifel wird die Person des Herrn alle anziehen und jedes
Herz erfüllen; aber dennoch werden wir daneben alle erkennen, die, obwohl von uns geschieden, uns stets teuer geblieben sind! ja, wir werden alle kennen, die sich mit uns der
überschwenglichen Liebe des Herrn erfreuen. Und da alle
das Bild des Herrn tragen, werden sie Ihn nie mehr aus den
Augen verlieren. Jeder wird seine eigene Freude haben; aber
die besondere Freude jedes Einzelnen wird die Freude aller
sein. Aus eine m Mund und mit eine m Lied werden sie
Ihn preisen, Der sie durch Sein teures Blut gereinigt und sie
zu Königen und Priestern gemacht hat.
Wie herrlich wird dies alles sein! Wie viele werden uns
dort begegnen, die mit uns hienieden so innig verbunden
waren und deren Abscheiden aus dieser Welt eine Lücke in
unseren Herzen zurückließ! Wie viele werden uns willkommen heißen im Lande der Herrlichkeit, von denen der Tod
uns eine Zeitlang getrennt hatte! Wie vollkommen werden
alle verändert und dennoch dieselben sein. Keiner kann mit
98
dem andern verwechselt werden, und keiner kann unbekannt
bleiben. Alle sind dort beieinander und alle sind herrlich,
unsterblich, unverderblich. — Aber was ist alle diese Freude
im Vergleich mit der unaussprechlichen Wonne, das Antlitz
Dessen zu sehen und die Stimme Dessen zu hören, Der als
der Bräutigam Seine Braut abgeholt hat? Johannes sagt: „Wir
werden ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er
ist". In der Tat, Gott hätte uns nichts Besseres geben können, als gleichförmig mit Christo zu sein; es hätte uns kein
größeres Glück zuteil werden können, als Christum zu sehen,
wie Er ist. Wir werden Ihn sehen und kennen in der ganzen
Größe Seiner Liebe und in dai ganzen Herrlichkeit Seiner
Allmacht. Kein Engel wird diesen Platz einnehmen. Nein,
uns, den ehemals verlornen, schuldigen Geschöpfen, hat Gott
Seine überströmende Gnade geoffenbart, auf daß Er verherrlicht und gepriesen werden möge von Zeitalter zu Zeitalter.
Wenn nun die Heiligen im Himmel, im Hause des Vaters
aufgenommen sein werden, dann werden sie im Licht geoffenbart werden, wie der Apostel sagt: „Wir müssen alle
vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden" (2. Kor
5, 10). Das will jedoch nicht sagen, daß die Heiligen, was
ihre Person betrifft, einem Gericht unterworfen sein werden.
O nein; Christus ist an ihrer Statt gerichtet worden, und sie
werden nie mehr ins Gericht kommen, wie der Herr Selbst
gesagt hat. Es will vielmehr sagen, daß alle ihre Werke und
Wege im Licht der Gegenwart Gottes gesehen werden sollen, damit sie erfahren, welche Gedanken Er über das hat,
was sie für Ihn getan haben. Wenn wir in unseren verherrlichten Leibern sind, wird es unmöglich sein, Furcht oder
Traurigkeit zu fühlen; aber im Licht geoffenbart, werden
wir, und zwar in Übereinstimmung mit den Gedanken Jesu,
eine vollkommene Kenntnis von jedem Augenblick und von
jedem Ereignis unseres verflossenen Lebens haben. Alles,
was in unseren Handlungen, Worten und Beweggründen
von uns selber war oder für den Herrn geschah, wird durch
das volle Licht beschienen werden — alles, was unverständlich war, wird vollkommen erkannt werden. Dann ist jedes
Rätsel gelöst, jede Dunkelheit verschwunden und das volle
Licht aufgegangen. Und wirklich, alles was von uns selber
ist, wird im Licht der vollkommenen Gnade Gottes verschwinden, so daß wir von dem Richterstuhl in stiller dankbarer Bewunderung über die Geduld hinweggehen, die uns
während unserer Reise durch die Wüste getragen hat, um
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uns endlich sicher in die Herrlichkeit zu bringen. „Denn wir
sehen jetzt durch einen Spiegel im Rätsel, dann aber von
Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann
aber werde ich erkennen, gleichwie auch ich erkannt worden
bin" (1. Kor 13, 12).
Dann folgt, wie uns das Gesicht in der Offenbarung belehrt, die Hochzeit des Lammes. „Die Hochzeit des Lammes
ist gekommen, und sein Weib hat sich bereitet". Jesus stellt
sie Sich Selber dar als eine Versammlung ohne Flecken o-der
Runzel (Eph 5). Welch ein Tag wird es sein! Welch ein Tag
für uns, aber auch welch ein Tag für die Bewohner des Himmels! Wiewohl diese schon lange an die Herrlichkeit gewöhnt sind, werden sie doch dann etwas anschauen, das sie
zuvor noch nie gesehen haben: Die erlösten Sünder in Gemeinschaft mit Jesu, die Braut verbunden mit dem Bräutigam, das Weib mit ihrem Mann! W i e Jesus, s o ist die Versammlung, w o Er ist, d a ist auch sie; wa s Er ist, da s ist
auch sie, und zwar in alle Ewigkeit. Das ist eine ganz neue
Szene — der Anblick einer früher völlig unbekannten Herrlichkeit. Zwar wird uns die Hochzeit des Lammes nicht ausführlich beschrieben, weil ein Mensch die himmlische Herrlichkeit
nicht zu fassen vermag. Aber das, was uns darüber mitgeteilt wird, ist genug, um uns mit Bewunderung und Anbetung zu erfüllen und die Sehnsucht nach dem Anbrechen dieses Tages in uns wachzurufen.
„Laßt uns fröhlich sein und frohlocken und ihm Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen und sein
Weib hat sich bereitet" (Offbg 19, 7). Das wird der Ruf
Tausender von Engeln im Himmel sein — wie eine Stimme
vieler Wasser und wie eine Stimme starker Donner. Und
sollten wir uns nicht erfreuen — wir, denen diese Herrlichkeit zuteil wird, die wir nicht die Gäste dieser Hochzeit, sondern die Braut selber sind?
Nachdem dann die Hochzeit des Lammes gefeiert und alles zubereitet ist, wird der Herr als der zweite Adam mit
Seiner himmlischen Eva, mit den verherrlichten Heiligen und
den Tausenden von Engeln Sich aufmachen, um in Herrlichkeit zu erscheinen und von der Erde Besitz zu nehmen. Doch
bevor wir dieses Geschehen betrachten, müssen wir einen
Augenblick bei den Ereignissen verweilen, die zwischen der
Aufnahme der Heiligen in den Himmel und ihrer Rückkehr
von dort auf die Erde stattfinden werden.
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Wenn die wahre Versammlung des Herrn, welche Sein
Leib ist, von der Erde hinweggenommen sein wird, dann
wird der Herr das noch zurückgebliebene verwerfen (Offb 3,
16). Er wird die Kirche, die ein Zeuge und ein Pfeiler der
Wahrheit zu sein berufen war, wegen ihres Abfalls von Ihm
ausspeien. Der Geist Gottes beginnt dann in dem jüdischen
Überrest Seine Wirksamkeit. Diese Getreuen Israels, die sich
zu dem Gott ihrer Väter bekehren und sich wegen ihrer Sünden demütigen, werden als Boten des Reiches das „ewige
Evangelium denen verkündigen, die auf der Erde ansässig
sind, und jeder Nation und Stamm und Sprache und Volk"
(Offb 14, 6). Das in Matth 25 beschriebene Gericht der bei
der Ankunft Christi auf Erden lebenden Völker ist das Resultat dieser Predigt. Die Brüder sind diese getreuen Israeliten, die Schafe, diejenigen, welche ihr Zeugnis angenommen
und die Böcke alle, die es verworfen haben. In Offb 7 wird
uns in einem Gesicht die große Schar aus den Juden und
Nationen gezeigt, die durch das ewig e Evangeliu m
bekehrt wurden.
Aber während die Liebe Gottes in dieser Weise wirksam
ist und der Heilige Geist Sich also offenbart, bedient sich
der Teufel seiner ganzen Macht, um die ganze Erde zu verderben und wider den Herrn und Seinen Gesalbten in Aufruhr zu bringen. Die verworfenen Bekenner des Christentums
werden hingegeben, der Lüge zu glauben und ein Spielball
des Teufels zu werden, weil sie „die Liebe zur Wahrheit
nicht annahmen, damit sie errettet würden". Der Antichrist
und das Tier — das Haupt der geistlichen und das Haupt der
politischen Macht — werden die ganze prophetische Erde, d.
i. das römische Reich, mit ihren Lästerungen erfüllen. Außerhalb dieses Gebietes sind die Völker zornig und werden sich
zu einem großen Kriege rüsten. Der Drache und seine Engel
werden durch Michael und seine Engel überwunden, und ihre
Stätte wird nicht mehr in den himmlischen Örtem gefunden
werden. Auf die Erde geworfen und sich wohl bewußt, daß
ihre Zeit kurz ist, vereinigen sie ihre Macht auf der Erde
(Offb 12, 7-12). Und diese Macht wird so groß sein, daß
die Menschen niederfallen und das Tier und den Drachen,
der dem Tier die Macht gibt, anbeten werden, wenn Gott —
was während einer kurzen Zeit geschehen wird — aufhört,
beiden zu widerstehen. Die Sünde erreicht in der Person des
Antichristen, in dem der Teufel wohnt, ihren Höhepunkt,
und dann ist alles reif für das Gericht.
101
Nun kommt der Herr. Die Himmel öffnen sich. „Und
siehe, ein weißes Pferd, und der darauf saß, genannt Treu
und Wahrhaftigkeit, und er richtet und führt Krieg in Gerechtigkeit". Aber Er kommt nicht allein; die Heere im Himmel folgen Ihm. „Und die Kriegsheere, die im Himmel sind,
folgten ihm auf weißen Pferden, angetan mit reiner, weißer
Leinwand". — Er wird kommen, um der Bosheit und Gottlosigkeit des Menschen und des Teufels auf der Erde ein
Ende zu machen. „Er wird die Erde schlagen mit der Rute
seines Mundes, und mit dem Hauche seiner Lippen den Gesetzlosen töten" (Offb 19, Jes 11; 2. Thess 2).
Welch ein entsetzliches Schauspiel wird das sein! In dem
Augenblick, da die Welt sich gänzlich dem Teufel überliefert
hat und „Friede und Sicherheit" ruft, wird sich plötzlich, in
einem Nu, der Himmel öffnen und der einst verworfene und
gekreuzigte Heiland erscheinen. Er ist bekleidet mit Gerechtigkeit, Sein Schwert gegürtet um Seine Hüfte; Seine Augen
sind wie eine Feuerflamme, und auf Seinem Haupt trägt Er
viele Diademe. Die Heiligen und die Engel folgen Ihm und
besingen sein Lob. Und die Welt? Ach! sie werden Ihn anschauen, Den sie durchstochen haben. Jedes Auge wird Ihn sehen, jedes Herz mit Schrecken erfüllt sein. Die Genüsse der Erde
und die tagtäglichen Beschäftigungen werden aufhören, und
alle werden vor Ihm stehen, ihrem Richter und Herrn. Nirgendwo findet sich dann eine Hoffnung für die Verwerfer
Jesu. Ihre Totenglocke läutet. Die Hand des Herrn bringt
das Gericht. „Und er tritt die Kelter des Weines des Grimmes des Zornes Gottes, des Allmächtigen. Und er trägt auf
seinem Gewände und auf seiner Hüfte nun den Namen geschrieben : Köni g de r König e un d Her r de r Her -
ren" . Wie entsetzlich! O möchten doch alle, die Jesum noch
nicht kennen und die Ihn bis jetzt verworfen haben, ihre
Augen auf dieses hereinbrechende Gericht richten, damit sie
noch in dieser Zeit der Gnade ihre Zuflucht zu Ihm nehmen,
Der allein von Gericht und Verdammnis zu erretten vermag.
So werden der Himmel von dem Teufel und seinen Engeln,
die Erde von ihren gottlosen Fürsten gereinigt. Das Tier und
der falsche Prophet werden lebendig in den Feuersee geworfen; Satan aber wird gebunden und in den Abgrund eingeschlossen (Offb 20). Der Sieg ist vollkommen. Der Teufel,
die Quelle alles Bösen, wird tausend Jahre lang gebunden im
Abgrund sein und der hochgepriesene Herr das Königreich
einnehmen. „Das Reich der Welt unseres Herrn und seines
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Christus ist gekommen und er wird herrschen von Ewigkeit
zu Ewigkeit" (Offb 11, 15). Das ist das tausendjährige Reich.
Christus wird öffentlich anerkannt werden und als König
herrschen, während der Teufel gebunden ist. Welch eine
Wandlung wird sich dann auf der seufzenden Erde zeigen,
wenn Satan und seine Engel von der Oberfläche der Erde,
aus den Wohnungen der Menschen gewichen sind und Christus und Seine verherrlichten Heiligen über die ganze Erde
regieren. Dann wird für die Schöpfung der Tag des Segens
und der Ruhe angebrochen sein — jener Tag, der so oft von
den Propheten des alten Bundes besungen worden ist. Die
Wildnis und die dürren Plätze werden fröhlich sein; die
Wüste wird sich erfreuen und blühen wie eine Rose, das dürre, durstige Land von Quellen überströmt werden. Die Berge
werden fließen von neuem Wein und die Hügel überfließen
von Milch und Honig. Die wilden Tiere des Feldes werden
zahm sein und mit den Lämmern ihre Nahrung nehmen;
aller Streit, aller Krieg unter den Menschenkindern wird ein
Ende haben. So wird Gott den Menschen mit Segnungen
überhäufen. Er wird dessen Tränen trocknen, sein Elend aufhören lassen, und große Freude wird sich um ihn her ausbreiten. Und dies alles geschieht um des Verdienstes Seines
Sohnes Jesu Christi willen, Der Sich durch das vollbrachte
Werk des Kreuzes ein Recht auf alle Dinge erworben hat.
Es gibt drei Wege, auf denen Sich Christus vollkommen
offenbaren und Gott verherrlichen wird — Gnade, Regierung
und Herrlichkeit. Die Gnade verwirklichte Er während Seiner
Erniedrigung auf der Erde; die Regierung wird während der
Dauer des tausendjährigen Reiches und die Herrlichkeit in
der Ewigkeit in Erscheinung treten. Im tausendjährigen Reich
wird die Offenbarung Gottes in der Ausübung der Herrschaft stattfinden. Keine menschliche Sprache wird imstande
sein, die Herrlichkeit dieser Herrschaft auszudrücken. Dem
Teufel ist es dann nicht mehr gestattet, den Menschen zu
versuchen, und über die glückliche Menschheit wird die Güte
Gottes ausgebreitet sein. Die Himmel droben, Israel und die
Nationen hienieden, die Erde, das Meer, die niederen Wesen
— alles ist dann der Herrschaft Christi unterworfen, alles in
Sein ausgedehntes Gebiet aufgenommen, und zwar zur Ehre
und Herrlichkeit Gottes durch Christum.
Doch nichts kann so erniedrigend für den Menschen sein,
als das, was wir am Ende des tausendjährigen Reiches finden.
Gott wird dann zeigen, daß eine tausendjährige Herrlichkeit
103
nicht imstande ist, den Menschen ohne Seine rettende Gnade
zu verändern. Sobald der Teufel wieder losgelassen ist und
seine Macht erneut ausüben kann, wird er den unbekehrten
Teil der Völker verführen und zum Streit wider Gott und
das Lamm versammeln. Aber sie alle werden verschlungen
vom Feuer, das Gott aus dem Himmel herabfallen läßt.
Und dann kommt der Schluß der Geschichte des Menschen
— der Tag des Gerichts. Johannes bezeugt: „Und ich sah
einen großen weißen Thron und den der darauf saß, vor
dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel; und
keine Stätte ward für sie gefunden. Und ich sah die Toten,
die Großen und die Kleinen, vor dem Throne stehen" (Offb
20, 11. 12). Es ist durchaus nicht schwer, dieses letzte Gericht
von der Ankunft des Herrn und der ersten Auferstehung zu
unterscheiden. Wenn der Herr kommt, so kommt Er aus dem
Himmel auf die Erde, und die Erde wird durch Ihn in der
herrlichsten Weise gesegnet. Allein das ist hier nicht der Fall.
Hier gibt es keine Erde; der Himmel und die Erde sind entflohen und keine Stätte wird für sie gefunden. Es ist die
Auferstehung und das Gericht der Gottlosen, die von Beginn
der Welt an gestorben sind. Alle werden nach ihren Werken
gerichtet; alle werden verdammt und in den Feuersee geworfen, und das ist der zweite Tod. Entsetzlicher Gedanke! O
Mensch, bedenke, was zu deinem Frieden dient! Bedenke,
wie schrecklich es ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu
fallen.
Ja, es wird ein entsetzlich ernster Augenblick sein. Alle,
die je auf der Erde lebten, werden dort einander gegenüber
stehen — die Gerechten bei dem Herrn, die Gottlosen vor
dem Thron. Welch ein Unterschied zwischen beiden! Die
einen mit verherrlichten Leibern, unverderblich und unsterblich, gleichförmig dem Bilde Christi, die andern in der ganzen Nacktheit ihres elenden Zustandes. Entblößt von allen
Feigenblättern eigener Gerechtigkeit wird ein jeder im Lichte
der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit seine Sünde sehen. Alle werden dort erscheinen müssen: „Und das Meer
gab die Toten die in ihm waren, und der Tod und der Hades
gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken". Die Tiefe des Meeres
und die unsichtbare Welt werden gezwungen, ihre bejammernswerten Gefangenen loszulassen, damit diese von den
Lippen des von ihnen verworfenen Jesus ihr Urteil vernehmen. Der Himmel und die Erde sind vergangen, und nichts
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wird gesehen als der große weiße Thron in blendendem Glänze, sowie die herrliche Majestät Dessen, Der darauf sitzt.
„Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem
Buche des Lebens, so wurde er in den Feuersee geworfen".
Das ist das Ende der menschlichen Geschichte — das Ende
aller Begebenheiten. Jetzt beginnt die Ewigkeit, in der keine
Zeit mehr ist. Die Gottlosen sind verloren, die Gerechten
gerettet, und alle Wege Gottes haben sich als Wege der
Herrlichkeit und Majestät erwiesen. Seine Liebe wird neue
Himmel und eine neue Erde schaffen zum Wohnplatz für
Seine Heiligen, und Gott kommt, um in ihrer Mitte zu wohnen. „Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er
wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und
Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott" (Offb 21, 3).
Amen, Amen! Jesu eile,
Still' das Sehnen Deiner Braut;
Mächtiglich die Wolken teile,
Daß Dich unser Auge schaut.
Steige auf am Horizonte,
Morgenstern durchbrich die Nacht!
O daß Deine Braut schon thronte
Dort mit Dir in Himmelspracht!
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Paulus im Brief an die Philipper
Der Apostel Paulus wendet sich in diesem Brief an die
Philipper als ein einfacher Diener, als ein liebender Bruder,
als eins mit ihnen und als ein Mitgenosse ihrer Freude. Man
hört hier nicht den Ton des gebietenden und ermahnenden
Apostels, sondern er läßt vielmehr seiner Liebe zu diesen
Heiligen freien Lauf, weil sie vollkommene Gemeinschaft mit
ihm am Evangelium hatten.
Der Apostel war bereits zwei Jahre lang in Rom gefangen.
Er war berufen, ein Bewahrer der Wahrheit zu sein. Menschlich gesprochen ruhte alles auf seinen Schultern. Vielleicht
dachten manche: „Wie traurig ist es, daß jemand, wie Paulus, in seiner Wirksamkeit gehindert und in ein Gefängnis
gesperrt ist!" Vielleicht mögen im Anfang ähnliche Gedanken
im Herzen des Apostels selbst aufgestiegen sein. Doch in
den zwei Jahren hatte er unendlich mehr gelernt, als er
wahrscheinlich je unter anderen Umständen gelernt haben
würde. Er erfuhr, welche Hilfsquellen in Gott waren — sowohl für ihn selbst, als auch für die Versammlung. Für sich
selbst fand er in Gott eine Quelle von Freude, die ihn über
alle Umstände erhob und in den Stand setzte, aus der Absonderung und der Einförmigkeit seiner Gefangenschaft alle
Liebe, die sein Herz erfüllte, den geliebten Philippern und
mithin auch uns, die wir diesen Brief besitzen, mitteilen zu
können. Der Apostel konnte sich in allem freuen. Wenn er
der Heiligen gedachte und für sie betete, so geschah es stets
mit Freude, indem er auf das vertraute, was Gott für sie tun
konnte und wollte, auch wenn er noch im Gefängnis bleiben
mußte. Wenn er hörte, daß etliche aus Neid und Streit das
Evangelium predigten, um seinen Banden Trübsal zuzufügen,
so freute er sich dennoch, weil trotz allem „Christus verkündigt" wurde. Sollte es ihm vergönnt sein, seine vielgeliebten
Philipper noch einmal wiederzusehen, so wußte er, daß dies
zur Förderung und Freude im Glauben sein würde; wenn
aber der Herr es anders beschlossen hatte, so daß er, Paulus,
„wie ein Trankopfer gesprengt werde über das Opfer und
den Dienst ihres Glaubens", dann sagte er: „So freue ich
mich und freue mich mit euch allen". Das Geheimnis der
Freude des Apostels bestand in der Erkenntnis der Vortrefflichkeit Christi Jesu, seines Herrn. Er hatte die Gerechtigkeit
Gottes erkannt, und der Glaube hatte diese vollkommene
Gerechtigkeit zu der seinen gemacht. Darum hatte er von
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allem, dessen er sich dem Fleische nach rühmen konnte, Abschied genommen und es als Schaden und Dreck geachtet.
Christus war nun sein ein und alles. Gott hatte ihm Christus dargestellt als den Gegenstand seiner Liebe, seiner
Wünsche und seiner Bestrebungen. Ihm zu folgen, war das
feurigste Verlangen des Apostels. Gott hatte alles für ihn
getan, und Paulus konnte sich in allem auf Ihn stützen. Dies
befreite ihn von allem Kummer über sich selbst und über
die Versammlung. Er stand fest im Herrn und konnte zu den
Gläubigen sagen: „Seid meine Nachahmer!" Wer von uns
würde so sprechen dürfen? Wer würde es wagen, auf sich
als ein Vorbild hinzuweisen? Wie oft verlieren w i r Christum, Der allein vor unseren Blicken stehen und unser Herz
erfüllen sollte, aus den Augen und geben uns Wahrnehmungen hin, die einen abträglichen Einfluß auf uns ausüben. Gehört deine Neigung der Welt, dann bist du von der Welt.
Zieht dich deine Neigung zu Christo, so gehörst du Christo
an. Darum kann Paulus sagen: „Stehet also fest im Herrn,
Geliebte'" Und während die- Freude über die Stellung, in die
Gott ihn berufen hat, sein Herz überwältigt, ruft er aus:
„Freuet euch in dem Herrn allezeit! Wiederum will ich sagen: Freuet euch! Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen
Menschen; der Herr ist nahe". Und dies bringt er in Verbindung mit der Kraft des Lebens in Christo. In der Erwartung
der nahen Ankunft des Herrn konnte er allen alles sein. In
derselben Gesinnung wie Jesus, Der, „wissend, daß er von
Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe", ein leinenes
Tuch nahm, um die Füße der Jünger zu waschen, konnte sich
Paulus über alle Umstände — sei es Mangel, oder sei es
Überfluß — erheben; er vermochte alles durch Christum, der
ihm Kraft gab.
So ermahnte er auch die geliebten Philipper, um nichts besorgt zu sein, sondern völlig und in allem Gott zu vertrauen;
denn nur das würde den Frieden Gottes in ihrem Herzen
bewahren. Nicht allein den Frieden der Seele mit Gott, sondern mehr noch den Frieden, der in Gott Selbst ewiglich
wohnt, sollten sie genießen, so daß das Herz, befreit von
Sorge und Kummer, die es nur beunruhigen und zerstreuen,
ungehindert imstande sei, zu erwägen „alles was wahr, alles
was würdig, alles was gerecht, alles was rein, alles was lieblich ist, alles was wohllautet, wenn es irgend eine Tugend
und wenn es irgend ein Lob gibt". So würde der „Gott des
Friedens" mit ihnen sein.
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Hier ist nicht nur die Rede davon, daß man Frieden habe
von den Qualen, die ein beunruhigtes Gewissen verursacht;
ja, der Apostel geht selbst über den Frieden hinaus, der in
Gott wohnt, indem er sagt: „De r Got t de s Frieden s
wirdmi t euchsein" . Welch ein unaussprechliches Vorrecht! Möchten wir es alle in reichem Maße genießen! Der
Gott des Friedens will auch auf allen unseren Wegen mit
uns sein.
Der erste Tag der Woche
In den Schriften des Neuen Testaments ist der erst e
T a g de r Woche , der Sonntag, ein ganz besonderer und
hervorragender Tag. Es ist der Auferstehungstag des Herrn
— jener herrliche Tag, der die gesegnete Tatsache verkündigt,
daß der Tod überwunden, der Fürst dieser Welt gerichtet,
jeder Glaubende gerechtfertigt und des ewigen Lebens teilhaftig geworden ist. — Es war an diesem erste n Ta g de r
Woche , als der Herr Sich den beiden Jüngern auf dem
Wege nach Emmaus nahte, sie begleitete und ihnen die
Schriften öffnete. Als der Tag sich neigte, kehrte Er auf ihr
Bitten bei ihnen ein, und sie erkannten Ihn am Brechen des
Brotes (Luk 24). Am Abend desselbe n Tages , als die
Jünger versammelt waren, trat Jesus plötzlich in ihre Mitte,
begrüßte sie mit dem Frieden, den Er für sie gemacht hatte,
und hauchte ihnen den Geist des Lebens ein. Wiederum am
erste n Ta g de r Woche , acht Tage später, finden wir
die Jünger versammelt und Jesum in ihrer Mitte. Er überzeugte den Thomas von Seiner Auferstehung und beschämte
ihn wegen seines Unglaubens (Joh 20). Es war der erst e
T a g de r Woche , als die Jünger alle an einem Ort beisammen waren, daß der Heilige Geist auf sie herniederkam,
um für immer in den Herzen und in der Mitte der Gläubigen zu wohnen (Apg 2). Am erste n Ta g de r Woch e
kamen die ersten Christen zusammen um das Brot zu brechen (Apg 20. 7). In bezug auf die Sammlung für die Heiligen verordnete der Apostel in Korinth, wie zuvor auch in
den Versammlungen in Galatien, daß an jedem ersten Wochentag ein jeder nach dem Gedeihen seines Erwerbs bei sich
zurücklegen und sammeln möge (1. Kor 16).
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So ist also dieser erste Tag vor all den übrigen Tagen der
Woche ausgezeichnet und geheiligt, d. h. abgesondert worden
durch die glorreiche Auferstehung des Herrn, durch Seine gesegnete Gegenwart in der Mitte der Seinen, durch die herrliche Ausgießung des Heiligen Geistes und durch das Zusammenkommen der Apostel und der ersten Christen, besonders
zum Brechen des Brotes. Es kann auch noch hinzugefügt werden, daß der erste Tag der Woche im Buch der Offenbarung
als de r Ta g de s Herr n bezeichnet wird, an dem Johannes im Geiste war und von Gott die herrliche Offenbarung
empfing, die jenes Buch enthält.
Wird es nun nach diesen einfachen und klaren Zeugnissen
der Schrift für ein einfältiges Auge und ein nüchternes, Gott
unterwürfiges Herz schwer sein zu verstehen, wie der Gläubige den Sonntag, den ersten Tag der Woche, zuzubringen,
Wem er sich an diesem Tage zu widmen habe? Gewiß nicht;
ein einsichtsvoller Christ wird auch hierin einem gesetzlichen
Geist und einer falschen Freiheit gleich fern bleiben.
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Die Morgenstunden
der Heiligen Schrift
Beim Lesen der Heiligen Schrift begegnen wir hie und da
einzelnen Stellen, die gleich der Morgendämmerung beim
Beginn eines Tages unseren Augen und Herzen höchst
freundlich entgegenleuchten.
Da ist zunächst die Schöpfun g — dieser herrliche
Beweis von der Allmacht Gottes, dieser Anfang aller Zeiten,
diese erhabene Schaustellung der Werke Gottes, worüber,
wie wir im Buch Hiob lesen, die Morgensterne zu jubeln
sich gedrungen fühlten.
Im zweiten Buch Mose begegnen wir einem anderen wichtigen Ereignis. Dort tritt Israel zum ersten Mal als eine
selbstständige, unabhängige Nation auf. Der Herr sagt durch
den Propheten Hosea: „Als Israel jung war, da liebte ich
es, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen". Es
war, als ob eine ganz neue Zeit angebrochen, als ob Israel,
da es durch Gott von seinem Druck befreit war, aufs neue
geboren worden wäre. Es war gleichsam ein Auferstehen aus
dem Grab, das Anbrechen eines neuen herrlichen Tages, als
das Volk das entgegengesetzte Ufer des Roten Meeres erreicht hatte und mit Moses Loblieder zur Ehre seines Retters und Helfers in der Not anstimmte.
Auch die Geburt unseres Herrn war eine Begebenheit, die
als wahre Morgenröte ihre lieblichen Strahlen über die Erde
verbreitete. Ein lange, finstere Nacht war vorübergegangen.
Israel war unter eine fremde Herrschaft gestellt worden; kein
Prophet erhob mehr seine Stimme, keine Wunder oder Zeichen gab es mehr; es bestand keine Verbindung mehr zwischen Gott und Seinem Volke mittels der Urim und der
Thummirn' oder des Ephods der Priester. Die Herrlichkeit
des Tempels war entschwunden, und der ganze Gottesdienst
im Verfall. Nichts unterschied die Stadt des Friedens, den
von Gott auserwählten Platz von anderen Städten, als nun
und dann das Herabsteigen des Engels in den Teich Bethesda. Alles befand sich in völliger Finsternis. Aber die Geburt
Christi machte dieser langen, finsteren Nacht ein Ende; sie
rief gleichsam die Schöpfung aus ihrem Schlaf und verkündigte allen das Licht eines herrlichen, neuen Morgens.- Engel
erschienen wieder und sangen Loblieder zur Ehre Dessen,
Der das Licht auf die Erde gesandt hatte.
HO
Ebenso war die Auferstehung eine dieser herrlichen Morgenstunden. Es war ein Morgen nach einer Nacht, wie sie
gleich finster niemals auf der Erde geherrscht hatte — ein
Morgen, der ein nie gekanntes Licht über die Erde verbreitete, der Vorbote eines ewig dauernden Tages. Es war der
Obergang vom Schatten des Todes in den Tag des Lebens.
Es kam „die Dämmerung des ersten Wochentages", sagt
Matthäus.
So wird auch das Königreich Christi hier auf der Erde
solch ein Morgen sein. Es wird ein Tag sein nach einer langen Nacht, der Tag Christi nach dem Tag der Sünde und des
Todes, das Reich Christi nach dem Reich dieser Welt. In
2. Sam 23 lesen wir in bezug auf dieses Reich: „Ein Herrscher unter den Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottesfurcht; und er wird sein wie das Licht des Morgens, wenn
die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne Wolken: von ihrem
Glänze nach dem Regen sproßt das Grün aus der Erde".
Zu diesen Herrlichkeiten gehört auch die Erscheinung des
neuen Himmels und der neuen Erde. Es ist die Schöpfung
in ihrer Wiedergeburt. „Und ich sah einen neuen Himmel
und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste
Erde waren vergangen" (Offb 21). Das ist der Wohnplatz
der Gerechtigkeit, jener Platz, wo Gott „alles in allem" sein
wird.
Es ist herrlich, so wunderbare Geschehnisse, so packende
Ereignisse an unserem Auge vorüberziehen zu sehen. Jedoch
wünsche ich, die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen
Gesichtspunkt zu lenken, nämlich darauf, daß der Mensch,
verführt durch die Einflüsterungen Satans, die herrlichen
Offenbarungen der Macht und Liebe Gottes von Zeit zu
Zeit in die Schatten des Todes verwandelt hat. Die Schöpfung, die so herrlich und so voll Leben und Freude aus der
Hand Gottes gekommen ist, wurde durch den Menschen bald
zu einer Wildnis voller Dornen und Disteln. Die vom Herrn
Selbst so reich gesegnete Erde wurde verflucht — verflucht
um der Sünde des Menschen willen. Israel, das am Ufer des
Roten Meeres den Lobgesang der Erlösung anstimmte, kam
in die babylonische Gefangenschaft, und das Land der Verheißung, in dem sich die herrlichen Offenbarungen der Allmacht Gottes entfalteten, wurde verwüstet und der Herrschaft des Unbeschnittenen unterworfen. Die Strahlen der
Sonne, die sich einst von Bethlehem aus über die Erde verbreiteten und das Anbrechen eines neuen, herrlichen Tages
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für Israel ankündigten, schwanden in der finsteren Nacht
Golgathas, und zwar wegen der Sünde des Menschen. Und
wie sieht es in unserer Zeit aus? Derselbe Jesus, Der am
Kreuz starb, ist auferstanden, und damit ist eine neue Morgenstunde für die Erde angebrochen. Aber sieht man gegenwärtig nicht deutlich, daß diese Wahrheit mehr und mehr
in den Hintergrund gedrängt wird, so daß sie schließlich,
wenn die Versammlung von der Erde hinweggerückt sein
wird, in der Nacht der in der Offenbarung beschriebenen
Gerichte ganz und gar verschwinden wird?
In der Tat, man braucht nur seine Augen offenzuhalten,
um die beständig zunehmende Erschlaffung der Christenheit
im allgemeinen wahrzunehmen und von der Erfüllung der
prophetischen Worte überzeugt zu werden: „Ich werde dich
ausspeien aus meinem Munde". Das Reich Christi, das mit
einem „Morgen ohne Wolken" verglichen wird, wird enden
in dem Abfall Gogs und Magogs, in dem Gericht des Todes
und Hades, hinsichtlich all derer, die nicht geschrieben sind
in dem Buche des Lebens, sowie in dem Entfliehen der Erde
und des Himmels vor dem Angesicht Dessen, Der auf dem
weißen Thron sitzen wird.
Aus diesen Vorbildern ersehen wir, daß der Mensch Gott
beständig im Wege steht, um Ihn an der Ausführung Seiner
Ratschlüsse zu hindern und daß durch unsere Schuld die
reichen Segnungen Gottes immer wieder in einen Fluch verwandelt worden sind. Einmal jedoch wird es anders sein.
Wenn der Morgen der Ewigkeit, der Morgen des neuen Himmels und der neuen Erde angebrochen sein wird, dann wird
nichts imstande sein, diesen Morgen in Finsternis zu verwandeln. Dieser Morgen wird immer frisch und jung bleiben; Gott wird dafür Sorge tragen. Seine Sonne wird in
Ewigkeit nicht untergehen. Sein Name sei dafür gepriesen!
Erwägen wir es tief, wie unendlich vieler Liebe und Geduld es von seiten Gottes bedurfte, beständig aufs neue zu
beginnen, wiewohl Er wußte, daß der Mensch doch bald wieder alles in den Schatten des Todes verwandeln würde! Aber
Gott kann nicht wohnen, wo Finsternis ist. Er ist kein Gott
der Toten, sondern der Lebendigen, und darum wird Er —
mag auch der Mensch sich nicht mit Ihm vereinigen, um das
Licht zu bewahren — für Seine eigene Herrlichkeit Sorge
tragen. Und wie Er in der Morgenstunde der ersten Schöpfung das Licht aus der Finsternis hervorstrahlen ließ, so
wird Er auch den Morgen der neuen Schöpfung in ewiger,
unveränderlicher Schönheit bewahren.
112
Gedanken über das Kommen des Herrn
Einleitun g
Das neue Testament stellt dem aufmerksamen Leser drei
ernste und wichtige Tatsachen vor Augen:
1.) da ß de r Soh n Gotte s i n dies e Wel t ge -
komme n ist , si e abe r wiede r verlasse n hat ,
2.) da ß de r Heilig e Geis t aufdieseErdeher -
abgestiege n ist un d noc h imme r au f ih r
weilt , und
3.)daßderHerrJesuswiederkommenwird .
Das sind die in den Schriften des Neuen Testaments entfalteten drei wichtige Wahrheiten, und jede von ihnen ist sowohl in Bezug auf die Welt als auch im Blick auf die Kirche
oder Versammlung von doppelter Tragweite — auf die Welt
insgesamt und jeden unbekehrten Christen insbesondere, auf
die Versammlung im ganzen und jedes einzelne ihrer Glieder besonders. Es ist niemanden möglich, sich dem Einfluß
dieser drei großen Tatsachen auf seinen persönlichen Zustand
und seine zukünftige Bestimmung entziehen zu können. Es
geht hierbei nicht nur um gewisse Lehren, sondern vielmehr
um die Tatsachen, die uns in möglichst einfacher Weise von
den verschiedenen inspirierten Schreibern vor Augen gestellt
sind. Es ist kein Versuch des Ausschmückens oder des Hervorhebens; die Tatsachen sprechen für sich selbst. Sie sind
aufgezeichnet, um ihre eigene mächtige Wirkung auf die
Seele auszuüben.
Betrachten wir zunächst die Tatsache, da ß de r Soh n
Gotte s i n diese r Wel t gewese n ist . „Also hat
Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab";
— „Der Sohn Gottes ist gekommen". Er kam in vollkommener Liebe als der absolute Ausdruck des Herzens und der
Gedanken Gottes. Er war der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck Seines Wesens und dennoch ein demütiger, sanftmütiger, gütiger und wirklicher Mensch, so gütig
und freundlich gegen jedermann, daß selbst der Ärmste nahen konnte. Tagtäglich sah man Ihn in den Straßen und
Häusern, wie Er in zärtlicher, gewinnender Weise die kleinen
Kinder in Seine Arme nahm, der Witwe Tränen trocknete,
das geschlagene und betrübte Herz tröstete, den Hungrigen
113
speiste, den Kranken heilte, den Aussätzigen reinigte, kurz
jeder Art menschlichen Elends begegnete und den Notschrei
aller durch Seine Hilfe und Sein Mitgefühl beantwortete. „Er
ging umher, Gutes tuend". Er war der unermüdliche Diener
für die Bedürfnisse der Menschen. Er dachte nie an Sich
Selbst, suchte niemals Sein eigenes Interesse. Er lebte nur
für andere. Es war Seine Speise, den Willen Gottes zu tun
und die bekümmerten und mühseligen Herzen der Menschenkinder zu erquicken; aus Seinem liebenden Herzen ergossen sich Ströme des Segens für alle, die den Druck dieser
sündhaften, kummervollen Welt fühlten.
Es ist eine bewundernswürdige Tatsache, daß diese Welt
besucht, diese Erde betreten worden ist von dem Hochgepriesenen, von Ihm, dem Sohne Gottes, dem Schöpfer und Erhalter des Weltalls, und zugleich dem demütigen, Sich Selbst erniedrigenden, liebenden und gnadenreichen Sohn des Menschen, Jesus von Nazareth — von Ihm, Der, obwohl „Gott
über alles gepriesen in Ewigkeit", dennoch als ein fleckenloser, heiliger, durchaus vollkommener Mensch umherging. Er
kam in Liebe zu den Menschen; Er kam in diese Welt als der
Ausdruck vollkommener Liebe gegenüber solchen, die gegen
Gott gesündigt und wegen ihrer Sünden nichts als die ewige
Verdammnis verdient hatten. Er kam nicht, um zu verderben, sondern um zu heilen — nicht, um zu richten, sondern
um zu erretten und zu segnen.
Wie aber ist dieser Hochgelobte von der Welt empfangen
worden? Sie hat Ihn verworfen. Sie wollte nichts von Ihm; sie
zog diesem heiligen, gnadenreichen, vollkommenen Menschen
einen Räuber und Mörder vor. Die Welt hatte zu wählen.
Jesus und ein Mörder wurden ihr zur Wahl gestellt, und die
Frage hieß: „Wen begehrt ihr?" Und wie lautete die Antwort? „Nicht diesen Menschen, sondern den Barabbas". „Die
Hohenpriester aber und die Ältesten überredeten die Volksmengen, daß sie um den Barabbas bäten, Jesum aber umbrächten. Der Landpfleger aber antwortete und sprach zu
ihnen: Welchen von den beiden wollt ihr, daß ich euch losgebe? Sie aber sprachen: den Barabbas" (Matth 27, 20. 21).
Die religiösen Häupter und Führer des Volkes, die die Menschen auf den rechten Weg hätten leiten sollen, überredeten
die unwissende Menge, den Sohn Gottes zu verwerfen und
statt Seiner einen Räuber und Mörder aufzunehmen.
Lieber Leser! Bedenke, daß du dich in einer Welt befindest, die sich dieser entsetzlichen Handlung schuldig gemacht
114
hat. Wenn du nicht wirklich Buße getan und an den Herrn
Jesus gläubig geworden bist, gehörst du zu dieser Welt und
bist der vollen Strafbarkeit dieser Handlung unterworfen.
Wie schrecklich ernst ist das! Die ganze Welt ist der wohlüberlegten Verwerfung und Tötung des Sohnes Gottes angeklagt. Nicht weniger als vier inspirierte Zeugen bekunden
diese Tat. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes bezeugen,
daß die ganze Welt, der Jude wie der Heide — König und
Landpfleger, Priester und Volk — kurz alle Klassen, Sekten
und Parteien übereinstimmend in die Kreuzigung des Sohnes
Gottes eingewilligt und die Hinrichtung des allein vollkommenen Menschen, Der je diese Erde betrat, vollzogen haben.
Man muß entweder die Evangelisten als vier falsche Zeugen
betrachten oder zugeben, daß die ganze Welt mit dem Verbrechen der Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit befleckt
ist.
Das ist der wahre Maßstab, nach welchem die Welt, sowie
der Zustand jedes einzelnen, unbekehrten Menschen in der
Welt zu messen ist. Wenn ich wissen will, was die Welt ist,
so habe ich nur zu bedenken, daß sie vor Gott unter der
Anklage der absichtlichen Tötung Seines Sohnes steht. Welch
eine furchtbare Wirklichkeit! — eine Wirklichkeit, welche die
Welt in äußerst ernster Weise kennzeichnet und sie in der
erschreckendsten Schwärze vor unsere Augen stellt. Gott hat
eine Rechtssache mit dieser Welt zu führen. Er hat eine entsetzlich schwerwiegende Schuldfrage mit ihr ins Reine zu
bringen, eine Frage, deren bloße Erwähnung die Ohren der
Menschen gellen und ihr Herz zittern machen sollte. Ein gerechter Gott hat den Tod Seines Sohnes zu rächen. Und die
Welt hat — was schon an und für sich eine verabscheuungswürdige Handlung gewesen wäre — nicht nur einen elenden
Mörder aufgenommen und einen unschuldigen Menschen zu
Tode gebracht, sondern dieser unschuldige Mensch war kein
anderer, als der Sohn Gottes, der Eingeborene vom Vater.
Welch ein Gedanke! Die Welt wird Gott wegen des Todes
Seines Sohnes Rechenschaft geben müssen, den sie zwischen
zwei Räubern an das Kreuz geheftet hat. Welch eine Abrechnung wird dort stattfinden! Wie blutig rot wird der Tag
des Zornes sein! Wie schrecklich zerstörend der Augenblick,
in dem Gott das Schwert des Gerichts ergreift, um den Tod
Seines Sohnes zu rächen! Wie gänzlich eitel ist der Gedanke
an die Veredelung der Welt, während sie mit dem Blute Jesu
befleckt ist und dieser Tat wegen unter dem Gericht Gottes
115
steht/
belastet mit der Verpflichtung, einem gerechten Gott
Rechenschaft zu geben über die Art und Weise, wie sie den
Geliebten Seiner Seele behandelte, Den Er zu segnen und zu
erretten in Liebe gesandt hatte. Welch eine Blindheit! Welch
eine Torheit! Ach nein, mein teurer Leser, eine Weltverbesserung ist unmöglich, solange nicht die Flut der Zerstörung
und das Schwert des Gerichts ihr furchtbares Werk vollbracht und den Tod, die wohlüberlegte und vollzogene Ermordung, des hochgepriesenen Sohnes Gottes gerächt haben. Es gibt keinen verhängnisvolleren Irrtum als die Einbildung, eine Veredelung der Welt sei möglich, während sie unter dem schrecklichen Fluche der Tötung Jesu liegt. Diese
Welt, die einen Mörder dem Herrn Jesus vorgezogen hat, ist
der Veredlung unfähig. Ihr bleibt nur ein überwältigendes
Gericht Gottes.
Soviel über die schwerwiegende Tatsache der Abwesenheit
Jesu in ihrer Bedeutung für den gegenwärtigen Zustand und
das zukünftige Schicksal dieser Welt. Doch diese Tatsache
hat noch eine andere Tragweite. Sie erstreckt sich auf die
Kirche oder Versammlung im ganzen und auf jeden einzelnen Gläubigen insonderheit. Wenn die Welt Christum ausgestoßen hat, so haben die Himmel Ihn aufgenommen. Wenn
der Mensch Ihn verworfen hat, so hat Gott Ihn erhöht. Wenn
der Mensch Ihn gekreuzigt hat, so hat Gott Ihn gekrönt.
Diese Gegensätze müssen wir sorgfältig unterscheiden. Der
Tod Christi, als Werk der Welt, als Werk der Menschen
betrachtet, schließt nichts als den unvermischten Zorn und
das Gericht in sich, während andererseits dieser Tod, als das
Werk Gottes betrachtet, für jeden Bußfertigen und Glaubenden nur eine vollkommene und ewige Segnung enthält. Zum
Beweise dafür seien einige wenige Stellen angeführt.
Der 69. Psalm stellt uns so lebendig vor Augen, wie unser gesegneter und anbetungswürdiger Herr unter der Hand
der Menschen litt und zu Gott um Rache schrie. „Erhöre
mich, Jehova! denn gut ist deine Güte; wende dich zu mir
nach der Größe deiner Erbarmungen! Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte! denn ich bin bedrängt;
eilends erhöre mich! Nahe meiner Seele, erlöse sie; erlöse
mich um meiner Feinde willen! Du, du kennst meinen Hohn
und meine Schmach und meine Schande; vo r di r sin d
all e mein e Bedränger . Der Hohn hat mein Herz
gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mit116
leiden gewartet, und da war keines, und auf Tröster, und ich
habe keine gefunden. Und sie gaben in meine Speise Galle,
und in meinem Durst tränkten sie mich mit Essig. Es werde
zur Schlinge vor ihnen ihr Tisch, und ihnen, den Sorglosen,
zu einem Fallstrick! Laß dunkel werden ihre Augen, daß sie
nicht sehen, und laß beständig wanken ihre Lenden! Schütte
über sie deinen Grimm, und deines Zornes Glut erreiche sie!
Verwüstet sei ihre Wohnung; in ihren Zelten sei kein Bewohner! usw."
Wie ernst und feierlich ist diese Anklage! Jedes Wort
wird seine Antwort finden. Nicht eine Silbe wird zur Erde
fallen. Gott wird sicher den Tod Seines Sohnes rächen. Fr
wird die Welt zur Rechenschaft ziehen wegen der Behandlung, die Sein Eingeborner unter ihren Händen erfahren hat.
Wir erachten es als eine Notwendigkeit, dies auf das Herz
und das Gewissen unserer Leser zu legen. Wie schrecklich
ist der Gedanke, daß Christus wider die Menschen Anklage
erhebt! Wie entsetzlich, Ihn um Rache über Seine Feinde zu
Gott rufen zu hören! Wie furchtbar wird die göttliche Antwort auf den Schrei des geschmähten Sohnes sein!
Im Gegensatz hierzu zeigt hingegen der 22. Psalm, wie
der Herr unter der Hand Gottes leidet. Hier ist das Resultat
ganz anders. Statt des Gerichts und der Rache finden wir
hier eine allgemeine Segnung und Herrlichkeit. „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der
Versammlung will ich dich loben. Ihr, die ihr Jehova fürchtet, lobet ihn; aller Same Jakobs verherrlichet Ihn, und scheuet euch vor ihm aller Same Israels! . . . Von dir kommt
mein Lobgesang in der großen Versammlung; bezahlen will
ich mein Gelübde vor denen, die ihn fürchten. Die Sanftmütigen werden essen und satt werden; es werden Jehova loben, die ihn suchen; euer Herz lebe immerdar! Es werden
eingedenk werden und zu Jehova umkehren alle Enden der
Erde; und vor dir werden niederfallen alle Geschlechter der
Nationen. Denn Jehovas ist das Reich, und unter den Nationen herrscht er . . . Ein Same wird ihm dienen; er wird
dem Herrn als ein Geschlecht zugerechnet werden. Sie werden kommen und verkünden seine Gerechtigkeit einem Volke, welches geboren wird, daß er es getan hat".
Diese beiden hier angeführten Schriftabschnitte zeigen uns
in großer Klarheit die beiden Seiten des Todes Christi. Er
starb um der Gerechtigkeit willen als Märtyrer unter der
Hand des Menschen und hierfür werden die Menschen Gott
117
Rechenschaft abzulegen haben. Aber Er starb auch um der
Sünde willen als Opfer unter der Hand Gottes. Das ist die
Grundlage aller Segnungen für die, welche an Seinen Namen
glauben. Sein Märtyrertod bringt Rache und Gericht über
eine gottlose Welt; Sein Opfertod öffnet die ewig sprudelnde Quelle des Lebens und der Errettung für die Kirche oder
Versammlung, für Israel und für die ganze Schöpfung. Der
Tod Jesu macht das Maß der Schuld dieser Welt voll; aber
derselbe Tod macht auch die Annahme der Versammlung sicher. Durch das Blut des Kreuzes ist die Welt befleck t
und die Versammlung gereinigt .
Das ist die doppelte Wirkung der ersten dieser drei großen
Tatsachen des Neuen Testaments. Jesusistgekomme n
u n d wiede r hingegange n — gekommen, weil Gott
die Welt liebte, und gegangen, weil die Welt Gott haßte.
Wenn — was einmal geschehen wird — Gott die Frage erheben wird: „Was habt ihr mit meinem Sohne gemacht?", so
wird die Antwort heißen: „Wir haben Ihn gehaßt, verworfen und getötet; wir zogen Ihm einen Mörder vor". Aber
— gepriesen sei der Gott aller Gnade! — der Christ, der wahre Gläubige, kann zum Himmel emporschauen und sagen:
„Mein abwesender Herr ist droben und zwar für mich. Er
hat diese elende Welt verlassen; und Seine Abwesenheit
macht den ganzen Schauplatz um mich her zu einer moralischen Wüste, zu einer traurigen Einöde".
Er is t nich t hier . Das drückt der Welt im Urteil
jedes wahren Herzens den Stempel eines unverkennbaren
Charakters auf. Die Welt wollte nichts von Jesu. Das ist
bezeichnend. Die scheußlichste Tat kann uns jetzt nicht mehr
befremden. Polizeiberichte über die in unseren Städten und
Dörfern begangenen scheußlichsten Verbrechen können uns
nicht mehr überraschen. Die Welt, welche die göttliche Personifikation aller menschlichen Güte verwerfen und statt ihrer einen Räuber und Mörder annehmen konnte, hat ihre
moralische Schändlichkeit in einem Grade erwiesen, der nicht
überschritten werden kann. Können wir uns noch wundern,
wenn wir die Falschheit und Herzlosigkeit der Welt entdekken? Sind wir erstaunt über die Beobachtung, daß ihr nicht
zu trauen ist? Wäre es der Fall, so hätten wir die Abwesenheit unseres Herrn nicht richtig begriffen. Was beweist das
Kreuz Christi? Daß Gott die Liebe ist? Ohne Zweifel. Daß
Christus Sein kostbares Leben dahingegeben hat, um uns von
den ewigen Flammen der Hölle zu retten? Lob und Preis
118
Seinem unvergleichlichen Namen für diese köstliche Wahrheit! — Aber was beweist das Kreuz im Blick auf die Welt?
Daß das Maß ihrer Sünde voll und ihr Gericht besiegelt ist.
Die Welt hat dadurch, daß sie Ihn, Der vollkommen gut war,
an das Kreuz heftete, den unwiderlegbaren Beweis von
ihrer völligen Schlechtigkeit erbracht. „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine
Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde. Wer mich haßt, haßt auch meinen Vater. Wenn ich nicht
die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan
hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen
und gehaßt, sowohl mich als auch meinen Vater. Aber auf
daß das Wort erfüllt würde, das in ihrem Gesetz geschrieben
steht: Sie haben mich ohne Ursache gehaßt" (Joh 15, 22-25).
Richten wir jetzt unsere Blicke auf die oben angedeutete
zweit e wichtig e Tatsache . Gott, der Heilige Geist,
ist auf diese Erde gekommen. Schon mehr als achtzehn Jahrhunderte sind verflossen, seit Er vom Himmel herabkam und
von dieser Zeit an hienieden weilt. Welch eine wunderbare
Tatsache! Eine göttliche Person weilt auf dieser Erde, und
wie die Abwesenheit Jesu, so ist auch die Gegenwart des
Heiligen Geistes von doppelter Tragweite in bezug auf die
Welt und auf die Kirche oder Versammlung, und zwar sowohl auf die Welt insgesamt und jeden einzelnen Menschen
insonderheit, als auch auf die Versammlung im Ganzen und
auf jedes einzelne Glied insbesondere. Was die Welt betrifft,
so ist dieser erhabene Zeuge vom Himmel gekommen, um
sie des Verbrechens zu überführen, den Sohn Gottes verworfen und gekreuzigt zu haben, während Er für die Versammlung als der Sachwalter erschienen ist, Der den Platz des
abwesenden Herrn Jesus ausfüllt und durch Seine Gegenwart
und durch Seinen Dienst die Herzen Seines Volkes tröstet.
So ist der Heilige Geist also ein mächtiger Überführe r
für die Welt aber ein göttlicher Sachwalte r für die Versammlung.
Einige wenige Stellen der Heiligen Schrift werden hierzu
Herz und Verständnis des gottesfürchtigen Lesers befestigen,
der sich in demütiger Anbetung der Autorität des göttlichen
Wortes unterwirft. „Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich
gesandt hat, und niemand von euch fragt mich: Wo gehst
du hin? — sondern weil ich dieses zu euch geredet habe, hat
Traurigkeit euer Herz erfüllt. Doch ich sage euch die Wahr119
heit: Es ist euch nützlich, daß ich weggehe; denn wenn ich
nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen;
wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden. Und
wenn er gekommen ist, so wird er die Welt überführe n
von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht. Von
Sünde, weil sie nicht an mich glauben, von Gerechtigkeit
aber, weil ich zu meinem Vater gehe und ihr mich nicht mehr
sehet; von Gericht aber, weil der Fürst dieser Welt gerichtet
ist" (Joh 16, 5).
„Wenn ihr mich liebet, so haltet meine Gebote, und ich
werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen
Sachwalter geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist
der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie
ihn nicht sieht, noch ihn kennt. Ihr aber kennet ihn; denn er
bleibt bei euch und wird in euch sein" (Joh 14, 15).
Diese Stellen werden genügen, um die doppelte Tragweite
der Gegenwart des Heiligen Geistes festzustellen. Wir begnügen uns mit diesen kurzen Hinweisen in der Erwartung,
daß sie ein Ansporn zur vertiefenden persönlichen Betrachtung im Licht der Heiligen Schrift sein mögen, weil wir
überzeugt sind, daß, je mehr der Gläubige in diese Wahrheit
eindringt, er desto mehr ihren Nutzen und ihre praktische
Wichtigkeit fühlen wird. Wie betrübend ist es, daß so wenig
verstanden wird, was die persönliche Gegenwart des Heiligen
Geistes auf dieser Erde in sich schließt und welches die ernsten Folgen für die Welt und jeden unbekehrten Menschen,
aber auch die unschätzbaren Resultate für die Versammlung
und deren einzelne Glieder sind!
O möchten doch die Gläubigen überall zu einem tiefen
Verständnis dieser Zusammenhänge geleitet werden! Möchten sie doch erwägen, was Dieser in und bei ihnen wohnenden göttlichen Person gebührt, und aufrichtige Sorge tragen,
den Heiligen Geist weder in ihrem persönlichen Wandel z u
betrüben , noch in ihren öffentlichen Versammlungen
auszulösche n !
Wir wollen uns nun mit dem eigentlichen Gegenstand unserer Betrachtung, der eben angedeuteten dritten Tatsache
befassen, der Ankunft unseres Herrn und Heilandes Jesus
Christus. Möge der Heilige Geist diese herrliche Wahrheit
in lebendiger Kraft und Frische unseren Seelen offenbaren,
damit wir in Wirklichkeit den Sohn Gottes aus dem Himmel
erwarten.
120
1. Die Tatsache selbst
Diese überaus herrliche Tatsache bezeugt die Heilige
Schrift sehr bestimmt, indem sie klarstellt, daß unser Herr
Jesus Christus zurückkehren, daß Er den Platz, den Er jetzt
auf des Vaters Thron einnimmt, wieder verlassen und in den
Wolken kommen wird, um die Seinen zu Sich zu nehmen;
dann wird Er das Gericht über die Gottlosen ausüben und
Sein eigenes Königreich aufrichten.
Diese Tatsache ist im Neuen Testament ebenso klar und
vollständig dargestellt, wie die bereits angeführten beiden
ersten Ereignisse. Es ist ebenso sicher, daß der Sohn Gottes
vom Himmel wiederkommen wird, wie es wahr ist, daß Er
gen Himmel aufgefahren oder daß der Heilige Geist noch
auf der Erde ist. Wer ein e dieser Wahrheiten annimmt,
muß auch die anderen annehmen, und wer eine verwirft, muß
alle verwerfen, weil sie genau eine und dieselbe Autorität
zur Quelle haben. Sie stehen und fallen miteinander. Ist es
wahr, daß der Sohn Gottes verworfen, ausgestoßen und gekreuzigt worden, daß Er gen Himmel gefahren ist und jetzt,
gekrönt mit Ehre und Herrlichkeit, zur Rechten Gottes sitzt?
Ist es wahr, daß der Heilige Geist, fünfzig Tage nach der
Auferstehung des Herrn, auf diese Erde gekommen ist und
noch hier wohnt? Ist dieses alles wahr? Sicher, so wahr wie
Gottes Wort die Wahrheit ist. Dann ist es auch wahr, daß
der Herr Jesus wiederkommen und Sein Königreich auf dieser Erde aufrichten, daß Er tatsächlich und persönlich vom
Himmel herniederkommen und von einem Ende der Erde bis
zum anderen herrschen wird.
Es mag befremden, daß wir uns mit einer einfachen, bekannten Wahrheit so elementar befassen; wir gehen aber bewußt davon aus, daß dem Leser diese Wahrheit von der
Wiederkunft des Herrn noch ganz unbekannt, oder doch
zweifelhaft sei und beweisen sie deshalb an Hand der Schrift.
Als unser anbetungswürdiger Herr im Begriff war, Seine
Jünger zu verlassen, suchte Er in Seiner unendlichen Gnade
ihre bekümmerten Herzen mit Worten zärtlicher Liebe zu
trösten. „Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubet an Gott,
glaubet auch an mich. In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, würde ich es euch
gesagt haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so
121
komm e ic h wiede r und werde euch zu mir nehmen,
auf daß, wo ich bin, auch ihr seid" (Joh 14, 1-3).
Hier ist etwas ganz Bestimmtes, ebenso bestimmt, wie erfreuend und tröstlich. „Ich komme wieder". Er sagt nicht:
„Ich werde zu euch senden", auch nicht: „Ihr werdet, wenn
ihr sterbet, zu mir kommen". Nichts von alledem. Die Sendung eines Engels oder einer Legion von Engeln und Seine
eigene persönliche Wiederkunft sind zwei ganz verschiedene
Handlungen. Ohne Zweifel wäre es gnädig von Ihm und
sehr herrlich für uns, wenn wir von himmlischen Heerscharen
auf feurigen Wagen und Rossen gen Himmel entrückt würden; aber das wäre nicht die Erfüllung Seiner eigenen köstlichen Verheißung. Sicher aber wird Er erfüllen, was Er verheißen hat. Seine Worte und Seine Handlungen werden stets
in Obereinstimmung sein. Er kann nicht lügen oder Sein
Wort verändern. Zudem würde es auch der Liebe Seines
Herzens nicht genügen, einen Engel oder Scharen von Engeln
zu senden, um uns Ihm zuzuführen. Er wil l Selbs t
kommen .
Welche Gnade erblicken wir darin! Wenn ich einen teuren,
hochgeschätzten Freund mit der Eisenbahn erwarte, so wird
es mir nicht genügen, ihm einen Diener oder einen leeren
Wagen entgegenzuschicken, sondern ich werde ihm selbst
entgegengehen. Und das ist es, was der Herr Jesus zu tun
beabsichtigt. Er ist in die Himmel eingegangen, und Sein
Eingang bereitet und sichert dort den Platz der Seinen. In
den vielen Wohnungen im Hause Seines Vaters würde für
uns keine Stätte zu finden sein, wenn Jesus nicht vorher eingegangen wäre. Um nun bei dem Gedanken an den Eingang
zu dieser erhabenen Stätte kein Gefühl von Schüchternheit
in unseren Herzen aufkommen zu lassen, sagt Er in zarter
Liebe: „Ich komme wieder und will euch zu mir nehmen, auf
daß, wo ich bin, auch ihr seid". Nur so wird Er diese herrliche Verheißung erfüllen und Sein liebendes Herz befriedigen.
Diese Verheißung aber steht durchaus nicht in Beziehung
zu dem Tode des Gläubigen. Es ist unvorstellbar, daß unser
Herr mit den Worten: „Ich komme wieder!" gemeint haben
könnte, wir sollten durch den Tod zu Ihm gelangen. Zu dem
Räuber am Kreuz sagt z. B. unser Herr nicht, daß Er ihn holen werde, sondern Er verheißt: „Heute wirst du mit mir im
Paradiese sein". Wir müssen uns erinnern, daß die Heilige
Schrift ebenso göttlich bestimmt, wie göttlich eingegeben ist.
122
Seine eindeutige köstliche Aussage läßt eine solche Auslegung nicht zu. Das Kommen des Herrn und der Heimgang
der Gläubigen werden in der Schrift sehr klar unterschieden.
Im übrigen finden sich im ganzen Neuen Testament nur
vier Stellen, welche auf den Heimgang der Gläubigen durch
den Tod anspielen. Es sind dies 1.) die bereits angeführten
Worte: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein" (Luk
23, 43); 2.) „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!" Apg 7,
59); 3.) „Ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei
dem Herrn" (2. Kor 5, 8); und 4.) „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser" (Phil
1, 23).
Diese vier Stellen schließen das ganze Zeugnis der Heiligen
Schrift zu der wichtigen Frage über den Zustand außer dem
Leibe in sich. Es gibt in der Offenbarung noch ein Stelle, die
jedoch nicht selten falsch angewandt wird. „Glückselig die
Toten, die im Herrn sterben, von nu n an! Ja, spricht der
Geist, auf daß sie ruhen von ihren Arbeiten, denn ihre Werke folgen ihnen nach". Aber diese Stelle kann nicht auf die
Gläubigen unserer Tage angewandt werden, obwohl ohne
Zweifel alle, die im Herrn sterben, glückselig sein und ihre
Werke ihnen nachfolgen werden. Sie bezieht sich vielmehr
auf eine zukünftige Zeit, wenn die Versammlung diese Erde
verlassen haben wird und andere Zeugen erschienen sind;
das muß wohl beachtet werden, wenn man eine Verwirrung
vermeiden will.
Setzen wir nun unsere Beweisführung mit einer Schriftstelle fort, die sich auf die Himmelfahrt des Herrn angesichts
Seiner heiligen Apostel bezieht: „Und wie sie unverwandt
gen Himmel schauten, als er auffuhr, siehe, da standen zwei
Männer in weißem Kleide bei ihnen, welche auch sprachen:
Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet hinauf gen
Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel
aufgenommen worden ist, wird als o kommen, wi e ihr ihn
habt hingehen sehen in den Himmel".
Das ist äußerst wichtig und liefert den schlagendsten Beweis für unsere Behauptung. Es ist unmöglich, der Kraft
dieses Beweises auszuweichen. In diesem Zeugnis der himmlischen Boten erblicken wir eine liebliche Fülle, eine göttliche
Vollkommenheit. Es besagt, daß derselbe Jesus, Der diese
Erde verlassen hat und in Gegenwart einer großen Zahl von
Zeugen gen Himmel gefahren ist, in derselbe n Weise ,
wie sie Ihn haben auffahren sehen, wiederkommen wird.
123
Wie ist Er aufgefahren? — In buchstäblichem Sinne, tatsächlich, persönlich. Derselbe, Der soeben noch so vertraulich mit
ihnen verkehrt hatte, Den sie mit ihren Augen gesehen, mit
ihren Ohren gehört, mit ihren Händen betastet hatten, Der
in ihrer Gegenwart gegessen und „sich auch nach seinem
Leiden in vielen sicheren Kennzeichen dargestellt hatte"
(Apg 1, 3) - Derselbe „wird also kommen, wie ihr ihn habt
hingehen sehen".
Und hier — obwohl wir in einem späteren Abschnitt darauf zurückzukommen gedenken — möchten wir fragen: Wer
sah den Herrn bei Seiner Himmelfahrt? Sah Ihn die Welt?
— Nein. Von dem Augenblick an, wo Er ins Grab gelegt
worden war, vermochte Ihn das Auge eines unbekehrten,
ungläubigen Menschen nicht mehr zu erblicken. Der letzte
Anblick, den die Welt von Jesus hatte, war, als Er am Kreuze hing — ein Schauspiel den Menschen, den Engeln und den
Teufeln. Der nächste Anblick, den sie von Ihm haben wird,
wird dann sein, wenn Er gleich dem Blitzstrahl erscheint, um
Gericht auszuüben und in furchtbarer Rache die Kelter des
Zornes des allmächtigen Gottes zu treten. Welch ein furchtbarer Gedanke!
Niemand außer den Seinen sah den Erlöser zum Himmel
auffahren, sowie auch nur sie es waren, die Ihn nach Seiner
Auferstehung gesehen hatten. Er zeigte Sich — gepriesen sei
Sein Name! — denen, die Seinem Herzen teuer waren. Er vergewisserte und befestigte, stärkte und ermutigte ihre Herzen
durch jene „vielen sicheren Kennzeichen", wie sich der inspirierte Schreiber ausdrückt. Er führte sie bis an die Grenzen
der unsichtbaren Welt, und zwar so weit, als Menschen in
diesem Leib zu gehen vermögen, und hier erlaubte Er ihnen,
Ihn zum Himmel auffahren zu sehen. Und während sie noch
voll Staunen emporschauen, sendet Er ihren Herzen das
köstliche Zeugnis: „Dieser Jesus" — kein anderer, kein Fremder, sondern derselbe liebende, gütige, unveränderliche Freund
— „dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird also kommen, wie ihr ihn habt
hingehen sehen in den Himmel".
Ist ein bestimmteres und befriedigenderes Zeugnis möglich? Könnte ein Beweis klarer und eindeutiger sein? Wie
könnte ein Gegenbeweis erhoben oder eine Einwendung gemacht werden? Entweder waren diese beiden Männer in weissen Kleidern falsche Zeugen oder Jesus wird in derselben
Weise wiederkommen, wie Er hingegangen ist. Es gibt kei124
nen Mittelweg zwischen diesen Folgerungen. Wir lesen in der
Schrift, daß „aus dem Munde zweier oder dreier Zeugen
jede Sache bestätigt sei" und darum haben zwei himmlische
Boten, zwei Herolde aus der Region des Lichts und der Wahrheit, die Tatsache bestätigt, daß unser Herr Jesus Christus
in wirklicher, leiblicher Gestalt zuerst von den Seinen geschaut werden wird, und zwar in der heiligen Vertrautheit
und Zurückgezogenheit, welche Seinen Weggang aus dieser
Welt kennzeichnete. Alles das ist in den Worten zusammengefaßt: „Er wird als o kommen, w i e er aufgefahren ist".
Wir können in diesem Rahmen nicht alle einschlägigen
Beweise anführen, die sich in den Schriften des Neuen Testaments vorfinden. Wir haben einen dieser Beweise aus den
Evangelien, einen anderen aus der Apostelgeschichte geschöpft, und wir fügen einen dritten aus den Episteln hinzu,
und zwar aus dem ersten Brief an die Thessalonicher. Wir
wählen diesen Brief, weil er als das erste Schreiben des Apostels Paulus anerkannt und weil er an eine Versammlung von
Neubekehrten geschrieben ist. Damit wird zugleich die Behauptung widerlegt, es sei nicht angebracht, jungen Gläubigen die Lehre von der Ankunft des Herrn vorzustellen. Es
ist sehr bezeichnend, daß kein Schreiben des Apostels Paulus
so viel von der Ankunft des Herrn enthält, wie gerade dieser
an die kurz zuvor erst bekehrten Thessalonicher gerichtete
Brief. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wenn eine Seele
bekehrt und in das Licht und die Freiheit des Evangeliums
von Christo gebracht worden ist, es ihrer göttlichen Natur
entspricht, den Herrn aus dem Himmel zu erwarten. Diese
höchst kostbare Wahrheit ist ein unantastbares Kernstück des
Evangeliums. Das erste Hiersein Christi und Sein Wiederkommen sind in der gesegnetsten Weise durch das Band des
Heiligen Geistes in der Versammlung miteinander verbunden.
Wo jedoch die Seele nicht in der Gnade befestigt ist, wo
Friede und Freiheit nicht genossen werden, wo nur ein unvollkommenes Evangelium gepredigt worden ist, dort wird
in der Regel auch die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn
nicht genährt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die
Seele notwendigerweise mit ihrem eigenen Zustand und
ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt ist. Wenn ich meiner
Errettung nicht gewiß, wenn ich des Besitzes des ewigen Lebens nicht versichert bin und mir das Bewußtsein fehlt, ein
Kind Gottes zu sein, dann kann ich unmöglich die Ankunft
des Herrn eiwarten. Nur weT klar erfaßt hat, was Jesus für
125
ihn getan hat, als Er auf dieser Erde war, kann mit freudigem
und heiligem Verständnis dem Herrn entgegensehen.
Paulus schreibt in diesem Brief: „Denn unser Evangelium
war nicht bei euch im Worte allein, sondern auch in Kraft
und im Heiligen Geiste und in großer Gewißheit, so daß ihr
allen Gläubigen in Macedonien und in Achaja zu Vorbildern
geworden seid. Denn von euch aus ist das Wort des Herrn
erschollen, nicht allein in Macedonien und in Achaja, sondern
an jedem Orte ist euer Glaube an Gott ausgebreitet worden
so daß wir nicht nötig haben, etwas zu sagen. Denn sie
selbst verkünden von uns, welchen Eingang wir bei euch hatten, und wie ihr euch von den Götzenbildern zu Gott bekehrt habt, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen, und
seine n Soh n au s de n Himmel n z u erwarten ,
den er aus den Toten auferweckt hat — Jesum, der uns errettet von dem kommenden Zorn" (Kap. 1. 5-8).
Das ist ein schönes Gemälde von der Wirkung eines völligen, klaren Evangeliums, aufgenommen mit einfachem, ernstem Glauben. Die Thessalonicher hatten sich von den Götzenbildern abgewandt, um dem lebendigen und wahren Gott
zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten.
Ihre Herzen waren in der Tat auf die herrliche Hoffnung
der Ankunft Christi gerichtet. Sie bildete keinen getrennten
Teil von dem Evangelium, das Paulus predigte, und mithin
auch keinen getrennten Teil ihres Glaubens. Hatten sie sich
in Wirklichkeit von den Götzen abgewandt? Gewiß. Trachteten sie in Wahrheit danach, dem Herrn zu dienen? Ohne
Zweifel. Nun, dann war ihr Warten auf den Sohn Gottes
aus den Himmeln ebenso bestimmt, ebenso einfach. Wenn
wir die Wirklichkeit in dieser Beziehung in Frage stellen, so
ist sie auch in jeder anderen Beziehung fragwürdig, weil alles
miteinander verbunden ist und, sozusagen, einen herrlichen
Strauß der praktischen christlichen Wahrheit bildet. Wer
einen Christen aus Thessalonisch nach seinen Erwartungen
gefragt hätte, würde er wohl zur Antwort erhalten haben:
„Ich erwarte eine Veredelung der Welt durch die Predigt des
Evangeliums, das ich empfangen habe". Oder: „Ich erwarte
die Stunde meines Todes, um bei dem Herrn Jesu zu sein".
O nein; es hätte nur eine Antwort gegeben: „Ich erwarte den
Sohn Gottes aus den Himmeln".
Das und nichts anderes ist die wahre Hoffnung des Christen und der Versammlung. Die Verbesserung oder Veredelung der Welt zu erwarten, ist ebensowenig eine christliche
126
Hoffnung, wie mit der Vervollkommnung des Fleisches zu
rechnen; denn das eine wie das andere ist gleich aussichtslos.
Und der Tod des Gläubigen wird, obwohl er eintreten kann,
auch nicht ein einziges Mal als die wahre und richtige
Hoffnung des Christen bezeichnet. Wir können mit der
größten Kühnheit behaupten, daß es keine Stelle im Neuen
Testament gibt, die von dem Tode als der Hoffnung des
Gläubigen spricht, während andrerseits die Erwartung der
Ankunft des Herrn mit allen Angelegenheiten und Verhältnissen des Lebens in der engsten Weise verknüpft ist, wie
wir auch aus der in Rede stehenden Epistel ersehen können.
Wenn der Apostel z. B. seine eigene persönliche Verbindung
mit den geliebten Heiligen aus Thessalonich bezeichnen will,
so sagt er: „Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude
oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem Herrn
Jesu be i seine r Ankunft ? Denn ihr seid unsere Herrlichkeit und Freude" (Kap. 2, 19. 20). Und wenn er an ihre
Fortschritte in der Heiligkeit und in der liebe denkt, so sagt
er: „Euch aber mache der Herr völlig und überströmend in
der Liebe gegeneinander und gegen alle (gleichwie auch wir
gegen euch sind), um eure Herzen tadellos in Heiligkeit zu
befestigen vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunf t
unsere s Herr n jesu s mit allen seinen Heiligen" (Kap.
3, 12. 13). Und in welcher Weise endlich tröstet der Apostel
die Herzen der Brüder im Blick auf die, welche schon entschlafen waren? Sagt er ihnen etwa, daß sie den Entschlafenen bald folgen würden? O nein; das würde sie in die alttestamentlichen Zeiten zurückversetzt haben, wo David von
seinem entschlafenen Kinde sagt: „Ich werde zu ihm gehen;
aber es wird nicht zu mir zurückkehren" (2. Sam 12, 23). So
belehrt uns der Heilige Geist in der Epistel an die Thessalonicher nicht; Er sagt im Gegenteil: „Wir wollen aber nicht,
Brüder, daß ihr, was die Entschlafenen betrifft, unkundig
seid, auf daß ihr euch nicht betrübet, wie auch die übrigen,
die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, daß
Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird auch Gott
die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen. Denn dieses
sagen wir euch im Worte des Herrn, daß wir , di e Le -
benden , die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, den
Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der
Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen
vom Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst aufer127
stehen; danach werden wir , di e Lebenden , die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken
dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit
diesen Worten" (Kap. 4, 13-18).
Unmöglich könnte ein Beweis einfacher, eindeutiger und
entscheidender sein. Die Gläubigen in Thessalonich waren,
wie bereits angedeutet, zu der Erwartung der Ankunft des
Herrn geleitet und wurden unterwiesen, Ihn täglich zu erwarten. Ihr Christentum umschloß ebensowohl den Glauben,
daß Er wiederkommen werde , wie die Überzeugung, daß
Er gekommen und wieder hingegangen war . Das war die
Ursache, weshalb sie, als etliche aus ihrer Mitte ganz gegen
ihre Erwartung durch den Tod abberufen wurden, in Verwirrung gerieten, indem sie befürchteten, daß die Entschlafenen der Freude des gesegneten und sehnlichst erwarteten
Augenblicks der Ankunft des Herrn verlustig gehen würden.
Diesem Irrtum nun tritt der Apostel in seinem Briefe entgegen, indem er einen neuen, tiefgreifenden Einblick in die
Zusammenhänge vermittelt und insbesondere klarstellt, daß
die Entschlafenen in Christo — d. h. alle, die entschlafen
sind oder entschlafen werden, und zwar aus der Zeit des
Alten und des Neuen Testaments — zuerst, mithin vor der
Verwandlung der übriggebliebenen Lebenden, auferstehen
und mit diesen gemeinschaftlich auffahren werden, ihrem
Herrn entgegen in die Luft.
Wir werden in anderer Verbindung auf diese beachtenswerte Stelle zurückkommen. Hier ist sie als einer der vielen
Beweise für die Tatsache zitiert, daß unser Herr Jesus persönlich, wirklich und tatsächlich wiederkommen wird und
daß Sein Kommen die währe und richtige Hoffnung der Versammlung insgesamt und jedes einzelnen Gläubigen insonderheit ist.
Wir schließen diesen Abschnitt, indem wir den Leser erinnern, daß er sich nicht an den Tisch des Herrn setzen
kann, ohne an diese herrliche Hoffnung erinnert zu werden,
solange in der Heiligen Schrift die Worte stehen: „Denn so
oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt
ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (1. Kor 11, 26). Es
heißt nicht: ".. . bis ihr sterbet", sondern: „ . . .bis er
kommt". Wie köstlich! Der Tisch des Herrn steht zwischen
diesen beiden bewundernswürdigen Epochen — dem Kreuze
und der Wiederkunft, dem Tode und der Herrlichkeit. Der
128
Gläubige kann von dem Tische emporschauen und sehen, wie
die Strahlen der Herrlichkeit den Horizont vergolden. Wenn
wir am Tische des Herrn zusammenkommen, ist es unser Vorrecht, den Tod des Herrn verkündigen und sagen zu können:
„Vielleicht ist das die letzte Gelegenheit, dieses herrliche Fest
zu feiern; denn bevor der nächste Sonntag oder erste Tag
der Woche anbricht, mag der Herr schon gekommen sein".
Nochmals rufen wir aus: Wie köstlich!
2. Die doppelte Tragweite
dieser Tatsache
Nach der Betrachtung über die Tatsache der Ankunft des
Herrn soll nun die doppelte Tragweite dieser Tatsache —
einerseits für die Kinder Gottes, andererseits für die Kinder
dieser Welt — behandelt werden. Die erste Wiederkunft
Christi geschieht zur Aufnahme der Seinen und darüber berichtet das Neue Testament; die zweite wird mit dem im
Alten Testament oft gebrauchten Ausdruck „der Tag des
Herrn" bezeichnet.
Beide sind, wie wir noch sehen werden, in der Heiligen
Schrift scharf auseinandergehalten. Leider werden sie dennoch
von vielen Christen verwechselt, und daher kommt es, daß
wir unsere herrliche Hoffnung so oft mit schweren Wolken
umhüllt und mit Vorstellungen von Schrecken, Zorn und
Gericht begleitet finden, die doch keineswegs mit der An -
kunf t Christ i zur Aufnahme der Seinen, wohl aber
mit dem Tag e de s Herr n verbunden sind.
Der Gläubige sollte sich, gestützt auf die Autorität der
Heiligen Schrift, ein für alle Mal bewußt und sicher sein,
daß die große, ihm gehörende Hoffnung, die er stets hegen
und pflegen sollte, die Ankunft des Herrn für die Seinen
ist. Wir haben nichts anderes mehr zu erwarten — weder
Ereignisse, die vorher unter den Nationen stattfinden, noch
Begebenheiten, die sich in der Geschichte des Volkes Israel
oder in der Regierung Gottes bezüglich der Welt vollziehen
müßten; nein, es gibt nichts, gar nichts, was in irgendeiner
Form oder Gestalt zwischen das Herz des Gläubigen und
seine himmlische Hoffnung treten darf. Christus kann für
die Seinen noch in dieser Nacht kommen. Es steht Ihm nichts
129
im Wege. Niemand kann sagen, wan n Er kommen wird;
aber wir können freudig feststellen, daß Er jeden Augenblick komme n kann . Und — gepriesen sei Sein Name! —
diese Seine Ankunft wird nicht von Schrecken, Zorn und
Gericht begleitet und nicht in Finsternis und Sturm eingehüllt sein; denn das sind die Begleitumstände des „Tages
des Herrn", wie der Apostel Petrus den Juden in seiner ersten großen Predigt am Pfingsttage mitteilt, indem er die
Worte der feierlichen Prophezeiung Joels anführt: „Und ich
werde Wunder geben in dem Himmel oben, und Zeichen auf
der Erde unten; Blut und Feuer und Rauchdampf. Die Sonne
wird verwandelt werden in Finsternis und der Mond in Blut,
ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt" (Apg 2,
19. 20). Es heißt nicht „ . . . ehe der Herr zur Aufnahme
der seinen", sondern: „ . . . ehe der Tag des Herrn kommt".
Man beachte es wohl!
Wenn der Herr zur Aufnahme der Seinen kommen wird,
so wird Ihn, außer Seinem erlösten und erkauften Volke kein
Auge sehen, und kein Ohr wird Seine Stimme vernehmen.
Erinnern wir uns an die Worte der himmlischen Zeugen im
ersten Kapitel der Apostelgeschichte. Wer sah den Herrn
zum Himmel auffahren? Nur die Seinen. Nun, „Er wird also
kommen, wie ihr ihn habt hingehen sehen". Wie Sein Hingang war, so wird Seine Wiederkunft sein. Eine Vermengung
des „Tages des Herrn" mit der „Ankunft des Herrn" für
Seine Versammlung ist eine Geringschätzung der klaren Lehre der Heiligen Schrift und für den Gläubigen eine Beraubung seiner ihm gehörenden glückseligen Hoffnung.
In diesem Zusammenhang sei auf eine höchst wichtige und
lehrreiche Stelle in der zweiten Epistel des Petrus verwiesen.
„Denn wir haben euch die Macht und Ankunft unseres Herrn
Jesus Christus nicht kundgetan, indem wir künstlich erdichteten Fabeln folgten, sondern als die da Augenzeugen seiner
herrlichen Größe gewesen sind. Denn er empfing von Gott,
dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als von der prachtvollen
Herrlichkeit ein solche Stimme an ihn erging: Dieser ist mein
geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe.
Und diese Stimme hörten wir vom Himmel her erlassen, als
wir mit ihm auf dem heiligen Berge waren. Und so besitzen
wir das prophetische Wort befestigt, auf welches zu achten
ihr wohltut, als auf eine Lampe, welche an einem dunklen
Ort leuchtet bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen" (Kap. 1, 16-19).
130
Diese Stelle zeigt in sehr klarer Weise den Unterschied
zwischen dem prophetischen Worte und dem „Morgenstern",
der eigentlichen Hoffnung des Christen. Wir müssen uns
erinnern, daß sich die Prophezeiung in erster Linie mit der
Regierung Gottes über die Welt in Verbindung mit dem
Samen Abrahams befaßt. „Als der Höchste den Nationen das
Erbteil austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl
der Kinder Israel. Denn Jehovas Teil ist sein Volk, Jakob die
Schnur seines Erbteils" (5. Mo 32, 8. 9).
Da ist der Umfang und der Zweck der Prophezeiung; sie
umfaßt Israel und die Nationen. Ein Kind vermag dies zu
begreifen. Wenn wir die Propheten vom ersten Kapitel des
Jesajas bis zum letzten Kapitel Maleachis durchlesen, so finden wir auch nicht ein einziges Wort über die Kirche oder
Versammlung — über ihre Stellung, ihr Teil, ihre Hoffnung.
Ohne allen Zweifel ist die Prophezeiung von hoher Wichtigkeit und großem Nutzen für den Gläubigen; aber er wird
sie nur in dem Maße verstehen, wie er ihren eigentlichen
Umfang und Zweck erfaßt, und er wird finden, daß sie zu
seiner eigenen speziellen Hoffnung im Widerspruch steht.
Wer hingegen den wahren Platz der Versammlung nicht
kennt, vermag die Prophezeiungen des Alten Testaments unmöglich richtig zu deuten.
Diesen Gedankengang abschließend, ermuntern wir den
Leser, sich selbst von der Richtigkeit unserer Behauptung zu
überzeugen, daß vom ersten bis zum letzten Blatt des Alten
Testamentes hin die Versammlung Gottes, der Leib Christi,
nicht mit einer Silbe erwähnt wird. Zwar sind Vorbilder,
Schatten, Andeutungen darin enthalten, die wir schätzen,
nachdem wir sie im Lichte des Neuen Testaments verstehen
können. Aber für einen Gläubigen des Alten Testaments
war es unmöglich, das große Geheimnis des Christus und
der Versammlung zu erkennen, es war nicht geoffenbart. Der
Apostel Paulus sagt ausdrücklich, daß es „verborgen" war,
und zwar nicht in den Schriften des Alten Testaments, sondern, wie wir im dritten Kapitel des Epheserbriefes lesen,
„in Gott". Paulus war dazu ausersehen, „den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei, das
von den Zeitaltern her verborge n wa r i n Gott , der
alle Dinge geschaffen hat". Auch der Kolosserbrief bezeugt
„das Geheimnis, das von den Zeitaltern und von den Ge131
schlechtem her verborge n war, jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden ist" (Kap. 1, 26).
Diese beiden Stellen bestätigen überzeugend die Wahrheit
unserer Behauptung für jeden, der sich der Autorität des
Wortes Gottes unterwirft; sie belehren uns in der bestimmtesten Weise, daß das Geheimnis — Christus und die Versammlung — im Alten Testament nicht enthalten war. Wo
finden wir im Alten Testament ein Wort über die Tatsache,
daß Juden und Heiden eine n Leib bilden und durch den
Heiligen Geist mit einem lebendigen Haupte verbunden
werden sollten? Wie hätte dies auch geschehen können, solange noch die „Zwischenwand der Umzäunung" (Eph 2, 14.
15) als ein unübersteigbares Hindernis zwischen der Beschneidung und der Vorhaut bestand. Der besondere Zug der
alten Haushaltung war ja gerade die strengste Absonderung
des Juden von dem Heiden, während besonderes Kennzeichen für die Versammlung oder die Christenheit engste
Verbindung des Juden und des Heiden in eine m Leibe ist
(Eph 3, 6). Diese beiden Zustände stehen also im grellsten
Gegensatz zueinander, und es war gänzlich unmöglich, daß
beide zu gleicher Zeit nebeneinander bestehen konnten. So
lange die „Zwischenwand der Umzäunung" bestand, konnte
die Wahrheit der Versammlung nicht geoffenbart werden;
aber der Tod Christi hat diese Zwischenwand abgebrochen,
und der Heilige Geist ist vom Himmel gekommen, um e i -
n e n Leib zu bilden und ihn durch Seine Gegenwart mit dem
auferstandenen und verherrlichten Haupte zu vereinigen. Das
ist das große Geheimnis des Christus und der Versammlung
(Eph 5, 32), für welches es keine andere Grundlage geben
konnte, als das vollbrachte Werk der Erlösung.
Wir sind gut beraten, wenn wir selbst in der Schrift forschen, ob es sich also verhält. Das ist der einzige Weg, die
Wahrheit kennenzulernen. Wir müssen unsere eigenen Gedanken, unsere Vorurteile und die uns so liebgewordenen
Ansichten beiseitelegen und wie ein Kind die Heilige Schrift
betrachten. Auf diese Weise werden wir die Gedanken Gottes über die Versammlung kennenlernen. Wir werden finden,
daß die Versammlung Gottes, der Leib Christi, erst nach der
Auferstehung und Himmelfahrt, sowie nach der notwendig
darauf folgenden Ausgießung des Heiligen Geistes existent
wurde und daß die Lehre in bezug auf die Versammlung
erst in den Tagen des Apostels Paulus geoffenbart worden
ist (vergl. Röm 16, 26; Eph 1-3; Kol 1, 25-29). Wir werden
132
auch erkennen, daß die Verwandlung oder Entrückung der
Heiligen (1. Thess 4, 13-17) die beiden entgegengesetzten
wirklichen und unverkennbaren Endpunkte der irdischen
Geschichte der Versammlung sind.
Auf diese Weise erreichen wir einen Standpunkt, von dem
aus wir eine Aussicht auf die besondere Hoffnung der Versammlung gewinnen und diese Hoffnung ist: „der glänzende
Morgenstern". Die Propheten des Alten Testaments berühren diese Hoffnung mit keiner Silbe. Sie reden klar und ausführlich von dem „Tage des Herrn", von dem Tage des Gerichts über die Welt und ihre Wege (siehe Jes 2, 12-22 und
ähnliche Stellen); aber der „Tag des Herrn" mit all den ihn
begleitenden Umständen des Zorns, des Gerichts und des
Schreckens darf niemals verwechselt werden mit der „Ankunft
des Herrn für die Seinen". Mit dieser Ankunft wird nichts
Erschreckendes verbunden sein. Er wird in der ganzen Köstlichkeit und Anmut Seiner Liebe kommen, um Sein geliebtes,
erkauftes Volk zu Sich aufzunehmen und die herrliche Geschichte Seiner Gnade zur Vollendung zu bringen. Christus
wird zum zweiten Male, ohne Sünde denen erscheinen, die
Ihn erwarten zur Seligkeit*) (Hebr 9, 28). Er wird als Bräutigam kommen, um die Braut zu empfangen, und wenn Er so
kommt, werden nur die Seinen Sein Antlitz sehen und Seine
Stimme hören. Wenn Er — und nichts könnte Ihn daran hindern — noch heute käme, wenn die Stimme des Erzengels
und die Posaune Gottes noch heute vernommen würden,
dann würden die in Christo Entschlafenen, alle die Heiligen
Gottes der alt- und neutestamentlichen Zeiten, von ihrem
Schlafe erwachen, die noch lebenden Heiligen in einem Nu
verwandelt und alle zugleich aufgenommen und ihrem herniederfahrenden Herrn entgegengeführt werden, um mit Ihm
in das Haus Seines Vaters einzutreten (Joh 14, 3; 1. Thess
4, 16. 17; 1. Kor 15, 51. 52).
*) Der Ausspruch: „ . . . denen, die ihn erwarten", bezieht sich auf alle Gläubigen
und nicht etwa nur, auf solche, die die Wahrheit der Wiederkunft des Herrn festhalten.
Sonst würde unser Platz mit Christo von unserer Erkenntnis abhängig sein, anstatt
von unserer Vereinigung durch die Gegenwart und Macbt des heiligen GeiBtes. Der
Geist Gottes setzt in der oben zitierten Stelle voraus, daß das Volk Gottes den Herrn
in irgendeiner Weise erwarte. Und das geschieht in der Tat. Die Gläubigen mögen
nicht alle die Einzelheiten kennen, mögen sich nicht einer gleichen Klarheit erfreuen
und diese Wahrheit nicht in derselben Tiefe und Fülle erfassen; werden sich aber gewiß alle freuen, Ihn zu irgend einer Zeit zu sehen, Der sie liebt und Sich Selbst
für sie hingegen hat.
133
Das ist es, was unter der Aufnahme oder Entrückung der
Heiligen zu verstehen ist; es hat unmittelbar nichts mit den
Juden oder den Nationen zu tun, sondern ist die bestimmte
und einzigartige Hoffnung der Versammlung, eine Hoffnung,
die im Alten Testament mit keiner Silbe erwähnt wird. Mit
der Versammlung, ihrer Stellung und Berufung, ihres Teils
und ihrer Hoffnung, befaßt sich allein das Neue Testament,
vor allem Paulus in seinen Briefen. Eine Vermengung des
prophetischen Wortes mit der Hoffnung der Versammlung
ist eine Beeinträchtigung der Wahrheit Gottes, die dazu gereicht, die Seelen der Seinen irrezuführen. Leider ist es wahr,
daß das dem Feind in der ganzen bekennenden Christenheit
gelungen ist, und darin liegt die Ursache, daß so wenige
Christen wirklich biblische Gedanken über die Ankunft des
Herrn besitzen. Sie suchen in den Propheten nach der Hoffnung der Versammlung, verwechseln die „Sonne der Gerechtigkeit" mit dem „Morgenstern"; sie vermischen die Ankunft
des Herrn fü r die Seinen und m i t den Seinen und stellen
jene Ankunft Seiner „Erscheinung" oder „Offenbarung"
gleich.
Dies alles sind höchst beklagenswerte Irrtümer, vor denen
wir warnen möchten. Wenn Christus m i t den Seinen
kommt, wird jedes Auge Ihn schauen. Wenn Er offenbar
werden wird, dann werden wir mit Ihm offenbar werden in
Herrlichkeit (Kol 3, 4). Wenn Er zur Ausführung des Gerichts erscheint, dann werden Seine Heiligen mit Ihm erscheinen. „Siehe der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen
Tausende, Gericht auszuführen" (Judas V. 14. 15). Deshalb
folgen dem Reiter auf weißem Pferde die Kriegsheere im
Himmel auf weißen Pferden, angetan mit weißer Leinwand
(Offb 19, 11-15). Diese Heere aber sind keine Engel; denn
wir lesen nicht, daß Engel mit „weißer Leinwand", in diesem
Kapitel ausdrücklich als „die Gerechtigkeit der Heiligen"
bezeichnet, bekleidet sind (V. 8).
Die Tatsache nun, daß die Heiligen ihren Herrn auf Seinem
Wege zum Gericht begleiten setzt voraus, daß sie vorher bei
Ihm sein müssen. Ihr Hingang zu Ihm wird in dem Buche
der Offenbarung nicht dargestellt, es sei denn, daß sie —
woran wir nicht zweifeln — in der Entrückung des männlichen Kindes (Kap. 12) miteinbegriffen ist. Das „männliche
Kind" ist ohne Zweifel Christus und da Christus und die
Seinigen unzertrennlich in eins vereinigt sind, so sind sie
auch — gepriesen sei Sein heiliger Name! — mit Ihm voll134
ständig identifiziert. Es ist jedoch nicht der Zweck der Offenbarung, uns über die Ankunft Christi für die Seine n
oder über ihre Entrückung zu Ihm und ihre Einkehr in das
Haus des Vaters Mitteilungen zu machen. Diese gesegneten
Ereignisse finden sich z. B. in Joh 14, 3; 1. Kor 15, 23. 51.
52; 1. Thess 4, 14-17. Man betrachte diese drei Stellen und
nehme diese kostbaren Wahrheiten in sich auf. Es finden sich
darin weder Schwierigkeiten noch Unsicherheiten, weder Nebel noch Dunkelheiten. Ein Kind in Christo kann sie verstehen. Sie stellen uns in klarer und einfacher Weise die wahre
christliche Hoffnung vor Augen und diese Hoffnung ist —
wir wiederholen es mit Nachdruck und stellen es als die unmittelbare und bestimmte Lehre der Heiligen Schrift heraus —
die Ankunft Christi, um die Seinen, alle die Seinen zu Sich
aufzunehmen und sie mit Sich in das Haus Seines Vaters
zu führen, wo sie mit Ihm weilen werden, während Gott in
Seiner Regierung mit Israel und den Nationen handelt und
durch Sein Gericht den Weg bereitet, um Seinen Erstgeborenen in die Welt einzuführen.
Wenn jemand fragt, warum die Ankunft des Herrn für die
Seinen in der Offenbarung nicht enthalten sei, so antworten
wir: Darum, weil dieses Buch — wenigstens vom ersten bis
zum zwanzigsten Kapitel — in hervorragender Weise ein der
Regierung Gottes entsprechendes, gerichtliches Buch, also ein
Buch des Gerichts ist. Denn selbst die Versammlung wird
nicht, wie wir im zweiten und dritten Kapitel sehen, als der
Leib oder als die Braut Christi, sondern vielmehr als der
verantwortliche Zeuge auf der Erde betrachtet, dessen Zustand von Christo, der zwischen den Leuchtern wandelt,
sorgfältig geprüft und streng gerichtet wird. Die Entrückung
der Heiligen auch nur zu erwähnen, würde daher dem Zwekke und dem Charakter dieses Buches keineswegs entsprechen.
Es zeigt uns die Versammlung im zweiten und dritten Kapitel unter dem, „was ist", in der Stellung der Verantwortlichkeit. Aber von da an bis zum 19. Kapitel ist die Versammlung auf der Erde mit keiner Silbe mehr erwähnt, weil sie
während dieser ernsten Periode nicht mehr auf der Erde,
sondern mit ihrem Haupte im Hause des Vaters sein wird.
Die Erlösten werden (Kap. 4 und 5) in den vierundzwanzig
gekrönten Ältesten im Himmel gesehen; dort werden sie
sein, während die Siegel geöffnet, die Posaunen geblasen und
die Schalen des Zornes ausgegossen werden. Wer die Versammlung in den bis zum achtzehnten Kapitel geschilderten
135
Geschehnissen auf der Erde wähnt, wer meint, sie sei unter
die apokalytischen Gerichte gestellt, der „großen Trübsal''
unterworfen und der „Stunde der Versuchung, die über den
ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, die
auf der Erde wohnen — der verfälscht ihre Stellung, beraubt
sie ihrer heiligen Vorrechte und widerspricht den klaren und
unzweideutigen Verheißungen ihres Herrn*).
Nein, mein geliebter Leser, laß dich durch niemanden in
irgendeiner Weise täuschen. Im zweiten und dritten Kapitel
sehen wir die Versammlung auf der Erde; aber im vierten
und fünften Kapitel sehen wir sie mit den Heiligen des Alten Testaments im Himmel vereinigt. Es wird in diesem Buch
nicht gesagt, wie sie dort hingekommen sind; aber wir sehen
sie dort in inniger Gemeinschaft und Anbetung, bis der Reiter auf dem weißen Pferde m i t Seinen Heiligen erscheint
(Kap. 19), um das Gericht über das Tier und den falschen
Propheten auszuführen, um jeden Feind niederzuwerfen,
jedes Übel zu beseitigen und während der gesegneten Periode von tausend Jahren über die Erde zu herrschen.
Das ist die einfache Lehre des Neuen Testaments, und
wenn wir mit allem Nachdruck behaupten, daß die Versammlung nicht in die „große Trübsal" und nicht in die
„Stunde der Versuchung" kommen werde, so geht es nicht
etwa darum, für den Christen einen bequemen Pfad ausfindig machen zu wollen. Das sei ferne. Es ist eine unumstößliche Wahrheit, daß die Trübsa l den wahren und normalen Zustand der Versammlung und mithin auch jedes einzelnen Gläubigen kennzeichnet. „In der Welt habt ihr Drangsal", und: „Wir rühmen uns auch der Trübsale" (Joh 16, 33;
Röm 5, 3). Aber das ist nicht die in der Offenbarung bezeichnete, gerichtliche „große Trübsal". Es soll also keineswegs in Abrede gestellt werden, was, wenn wir dem Herrn
treu sind, unser bestimmtes Teil in dieser Welt sein wird;
es darf aber ebensowenig durch ein falsche Aussage die ganze Wahrheit der Stellung und Hoffnung der Versammlung
in Frage gestellt werden. Aus diesem Grunde fordern wir
jeden Leser dringend zu einer ernsten, mit Gebet begleiteten
Prüfung und Forschung auf, der noch nicht zu dieser Klarheit gelangt ist.
*) Wir werden später Gelegenheit finden, zu zeigen, dafi der Geist Gottes, nachdem
die Versammlung aufgenommen ist, unter den Juden und Nationen wirken wird (siehe
Offb 7).
136
Es ist die unverkennbare Absicht des Feindes, die Versammlung Gottes auf den minderen Standpunkt der Erde
herabzuziehen, die Gläubigen in ihrer göttlich festgestellten
Hoffnung irrezuführen, die Unterschiedlichkeit der göttlichen
Verheißungen zu verwischen, und das Irdische hervorzuheben, daß sie schließlich die Ankunf t des Herrn für die
Seinen mit Seiner Erscheinun g zum Gericht verwechseln und dadurch ihrer himmlischen Sehnsucht und Zuneigung, wie sie den Gliedern Seines Leibes geziemen, beraubt
werden. Ja, es ist sein stetes Bestreben, ihre Blicke auf die
kommenden irdischen Ereignisse zu lenken, um diese zwischen ihre Herzen und ihre herrliche Hoffnung zu schieben,
damit sie nicht, wie Gott es wünscht, auf hohem Wartturm
stehen und mit sehnsuchtsvollem Herzen der Erscheinung
des „glänzenden Morgenstern" entgegenharren möchten.
Der Feind weiß wohl, was er tut; aber auch wir sollten
seine List kennen und uns der ernsten Erforschung des Wortes Gottes hingeben, um auf diesem Wege die „doppelte
Tragweite der herrlichen Tatsache des Kommens unseres
Herrn" kennenzulernen.
137
3. Die „Ankunft" und der „Tag"
Die Thessalonicher wußten also um die gesegnete Hoffnung der Wiederkunft des Herrn. Sie wurden belehrt, Ihn
von Tag zu Tag zu erwarten. Sie hatten diese Erwartung
nicht nur als Lehre aufgenommen, sondern sie schauten, weil
sie den Herrn liebten, beständig nach Seiner Ankunft aus.
Dennoch hatten sie die Zusammenhänge nicht voll erfaßt.
Manches war ihnen noch unklar. Der Apostel weilte nicht
mehr unter ihnen — „dem Angesicht, nicht dem Herzen nach"
(1. Thess 2, 17). Es war ihm vergönnt gewesen, lange genug
bei ihnen zu bleiben und sie mit allen Einzelheiten des Gegenstandes ihrer Hoffnung bekanntzumachen. Sie wußten,
daß Jesus aus den Himmeln zurückkehren werde, um sie von
dem kommenden Zorn zu erretten; aber der Unterschied
zwischen Seiner Ankunft fü r die Seinen und Sein Kommen m i t den Seinen — zwischen Seiner Ankunft und Seinem Tage — waren ihnen anfänglich noch unbekannt. Das
war die Ursache, daß sie, wie man nicht anders erwarten
konnte, in verschiedene Irrtümer und Mißverständnisse verfielen. Es ist beachtlich, wie schnell der menschliche Geist
zur seltsamsten und größten Verwirrung und Verirrung
fortgerissen werden kann. Wie sehr bedürfen wir in jeder
Beziehung der Bewahrung durch die reine, unerschütterliche
und alles entscheidende Wahrheit Gottes! Wir müssen unsere
Seelen durch die göttliche Offenbarung beständig im Gleichgewicht erhalten; sonst fallen wir sicher in alle Spielarten
falscher und törichter Meinungen. So hatte ein Teil der Thessalonicher der Idee Raum gegeben, es sei angebracht, die
berufliche Tätigkeit aufzugeben. Sie hörten auf, mit ihren
Händen zu arbeiten und liefen müßig umher.
Das war ein großer Irrtum. Selbst wenn wir völlig gewiß
wären, daß der Herr in der nächsten Nacht kommen werde,
so würde das sicher kein Grund sein, unsere tagtäglichen
Pflichten nicht treu und fleißig zu erfüllen und etwas zu unterlassen, was uns in der besonderen Sphäre zu tun obliegt,
in welche Seine gütige Hand uns gestellt hat. Im Gegenteil
sollte gerade die Tatsache der Erwartung des Herrn den
Wunsch in uns verstärken, bis zu dem Augenblick Seiner
Ankunft alles, wie es sein sollte, getan zu haben, damit auch
nicht eine einzige an uns gestellte gerechte Forderung ver138
nachlässigt worden sei. Die Hoffnung der baldigen Wiederkehr des Herrn übt, wenn die Seele sie in Kraft besitzt, einen heiligenden, reinigenden und alles ordnenden Einfluß
auf unser christliches Leben und Betragen und auf unseren
Charakter aus. Ach! wir wissen wohl, daß die herrlichste
Wahrheit mit dem Verstand erfaßt und geläufig mit der
Zunge bekannt werden kann, während das Herz und das
Leben, die Gewohnheiten, das Betragen und der Charakter
dabei gänzlich unberührt bleiben. Der Apostel Johannes gibt
uns mit Nachdruck die Belehrung: „Jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist"
(1. Joh 3, 3), und sicher schließt dieses „Reinigen" alles in
sich, was sich auf unser praktisches, tagtägliches Leben bezieht.
Es gab aber noch eine andere Verirrung, in die die Thessalonicher verfielen und aus der sie der gesegnete Apostel,
gleich einem wahren und treuen Hirten, zu befreien suchte.
Sie stellten sich vor, daß die entschlafenen Gläubigen an der
Freude der Wiederkunft des Herrn keinen Anteil haben würden. Sie fürchteten, daß diese den Genuß dieses herrlichen
und so lange ersehnten Augenblicks entbehren müßten. Dieser Irrtum liefert zwar den Beweis, wie lebhaft diese Gläubigen ihre gesegnete Hoffnung verwirklichten, aber er mußte — eben weil es ein Irrtum war — berichtigt werden. Betrachten wir sorgfältig, wie dies geschah. „Wir wollen aber
nicht, Brüder, daß ihr, was die Entschlafenen betrifft, unkundig seid, auf daß ihr euch nicht betrübet, wie auch die
übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird
auch Gott die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen"
(1. Thess 4, 13. 14).
Wir sehen hier, daß der Apostel die trauernden Freunde
nicht mit der Versicherung zu trösten sucht, daß sie bald
den Heimgegangenen folgen würden; im Gegenteil versichert er sie, daß der Herr Jesus die Entschlafenen mit Sich
bringen werde. Das ist klar, bestimmt und auf die große
Tatsache gegründet, daß „Jesus für uns gestorben und auferstanden ist". Doch der Apostel bleibt dabei nicht stehen,
sondern belehrt seine Kinder im Glauben durch neue zusätzliche Erkenntnisse. „Denn dieses sagen wir euch im Worte
des Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur
Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird mit gebieten139
dem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der
Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die
Toten in Christo werden zuerst auferstehen; danach werden
wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft;
und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen Worten" (1. Thess 4, 15-18).
Das also ist jenes große Ereignis, welches wir die Entrükkung der Heiligen zu nennen pflegen — in der Tat ein herrlicher, ermunternder und erfreulicher Vorgang — die glänzendste Hoffnung der Versammlung Gottes und mithin jedes
einzelnen Gläubigen. Der Herr Selbst wird vom Himmel herniederkommen mit einem machtvollen Zuspruch, der nur
für die Ohren und Herzen der Seinen bestimmt ist. Kein
unbeschnittenes Ohr wird diese himmlische Stimme vernehmen, kein nicht wiedergeborenes Herz durch diesen göttlichen Posaunenschall bewegt werden. Die Toten in Christo —
die Heiligen des Alten und des Neuen Testaments, die im
Glauben an Christum dahingeschieden sind — werden die
mächtige Stimme hören und aus ihren Gräbern hervorkommen, und auch die lebenden Heiligen werden sie vernehmen und in einem Nu verwandelt werden. Und welch eine
Veränderung! Der arme Leib der Niedrigkeit wird umgestaltet werden zur Gleichförmigkeit Seines Leibes der Herrlichkeit.
Schaut dort jene gebeugte und abgezehrte Gestalt, jenen
durch Schmerzen und jahrelange Leiden erschöpften Leib!
Es ist der Leib eines Heiligen. Wie demütigend! Doch gedulde dich eine kleine Weile! Wenn die Posaune erschallt,
wird alsbald die gebeugte und hinwelkende Gestalt verwandelt und dem verherrlichten Leibe unseres herniedersteigenden Herrn gleichförmig sein. Und schau dort, ein armer
Geisteskranker, der seit Jahren in jenem Asyl umherschleicht! Er ist ein Heiliger Gottes. Wunderbar! Unmöglich
können wir es erfassen; es übersteigt unser Verständnis.
Dennoch ist dieser Geisteskranke ein Erbe der Herrlichkeit.
Auch er wird die Stimme des Erzengels, die Posaune Gottes
vernehmen und die Störungen seines Geistes für immer zurücklassen, während er in einem verherrlichten Leibe mit
seinem Herrn dem Vaterhause entgegeneilt.
Welch ein glanzvoller Augenblick! Wie herrlich ist der
Gedanke an jene Tausende und aber Tausende, die dem
Herrn entgegengerückt werden! Welch eine. Freude, in ih140
rer Mitte zu sein. Wie selig ist die Hoffnung, Ihn zu schauen, „der uns geliebt und sich selbst für uns dahingegeben
hat!" Das ist die Hoffnung des Christen — eine Hoffnung,
von der sich im Alten Testament auch nicht eine Spur finden läßt. Das prophetische Wort ist von großer Wichtigkeit,
und wir tun wohl, darauf zu achten. Es ist für die, welche
sich an einem dunklen Ort befinden, eine höchst schätzbare
Wohltat, wenn sie eine hellscheinende Lampe besitzen, die
ihr Licht in die Finsternis hineinstrahlen läßt; aber der
Christ muß den „in seinem Herzen aufgehenden Morgenstern" haben, d. h. sein ganzes Herz muß von der Hoffnung
beherrscht sein, Jesum als den glänzenden Morgenstern zu
sehen. Nur so kann er das ganze Feld der Prophezeiung, wie
Gott es dem Auge gnädiglich geöffnet hat, überschauen und
nutzbringend deuten, wenn er die Versammlung und ihre
Hoffnung in den Prophezeiungen sucht. Er wird darin „Israel" und die „Nationen" finden, nicht aber die Versammlung
Gottes. Diese Wahrheit sollte sich jeder Christ zunutze
machen; denn sie ist höchst bedeutsam.
Nun könnte vielleicht jemand fragen: „Wozu denn das
prophetische Wort? Welchen Nutzen hat es für den Christen, wenn sich nichts über die Versammlung darin findet?
Warum werden wir aufgefordert, darauf zu achten, wenn
uns sein Inhalt nicht unmittelbar berührt?" Wir erwidern:
Hat nur das einen Wert für uns, was uns direkt angeht? Ist
es uns gleichgültig, daß uns Gott einen Einblick in Seine
Ratschlüsse, Absichten und Pläne gewährt? Achten wir das
Vorrecht gering, die Gedanken Gottes in Seinem heiligen
Wort der Prophezeiung aufgezeichnet zu finden? Abraham
betrachtete die göttlichen Offenbarungen (1. Mo 18) sicher
nicht mit Geringschätzung: „Und Jehova sprach: Soll ich vor
Abraham verbergen, was ich tun will?" Und was beabsichtigt Gott zu tun? Etwas, das Abraham unmittelbar betraf?
Keineswegs. Es handelte sich um Sodom und die umliegenden
Städte und Abraham hatte dort nichts zu verlieren oder zu
gewinnen. Aber vermindert dies sein Interesse an der göttlichen Mitteilung? O nein, gewiß wird er diesen Beweis der
besonderen Gunst, mit den Gedanken Gottes betraut zu werden, hoch eingeschätzt haben.
Und sollten nicht auch wir mit dem größten Interesse die
Prophezeiungen untersuchen, die vor unseren Blicken mit
göttlicher Bestimmtheit enthüllen, was Gott auf dieser Erde
mit Israel und den Nationen zu tun beabsichtigt? Die Pro141
phezeiung ist die Geschichte Gottes in der Zukunft, und in
demselben Verhältnis wie wir Gott lieben, wird es uns auch
eine Freude sein, diese Geschichte zu betrachten, und zwar
nicht, wie behauptet worden ist, damit wir deren Wahrheitsgehalt an ihrer Erfüllung messen, sondern damit wir uns
jene völlige, göttliche Gewißheit über die Zukunft aneignen,
die das Wort Gottes allein zu vermitteln vermag. Nach dem
Urteil des Glaubens könnte nichts widersinniger sein, als
die Einstellung, daß man auf die Erfüllung einer Prophezeiung warten müsse, um von deren Wahrheit überzeugt zu
sein. Welch eine — vielleicht unbewußte — Schmähung, gegenüber den unvergleichlichen Offenbarungen unseres Gottes!
Wenden wir uns jetzt „dem Tage des Herrn" zu. Dieser
Ausdruck kommt in den alttestamentlichen Schriften oft vor.
Wir wollen uns darauf beschränken, von den zahlreichen
einschlägigen Stellen nur zwei anzuführen, und es im übrigen dem Leser überlassen, insoweit die Schrift weiter zu erforschen.
„Denn Jehova der Heerscharen hat einen Tag über alles
Hoffärtige und Hohe und über alles Erhabene, und es wird
erniedrigt werden . . . Der Hochmut des Menschen wird
gebeugt und die Hoffart des Mannes erniedrigt werden, und
Jehova wird hocherhaben sein, er allein, a n jene m Tage .
Und die Götzen werden gänzlich verschwinden. Und sie werden sich in Felsenhöhlen und Löcher der Erde verkriechen
vor dem Schrecken Jehovas und vor der Pracht seiner Majestät, wenn er sich aufmacht, die Erde zu schrecken" (Jes 2. 12).
„Stoßet in die Posaune auf Zion, und blaset Lärm auf
meinem heiligen Berge! Beben sollen alle Bewohner des Landes; denn es kommt de r Ta g Jehovas , denn er ist
nahe: ein Tag der Finsternis und der Dunkelheit, ein Tag des
Gewölks und der Wolkennacht. Wie die Morgendämmerung
ist es ausgebreitet über die Berge, ein großes und mächtiges
Volk, desgleichen von Ewigkeit her nicht gewesen ist und
nach ihm nicht mehr sein wird bis in die Jahre der Geschlechter und Geschlechter . . . Vor ihnen erbebt die Erde,
erzittert der Himmel; Sonne und Mond verfinstern sich, und
die Sterne verhalten ihren Glanz . . . denn groß ist de r
T a g Jehova s und sehr furchtbar, und wer kann ihn ertragen?" (Joel 2. 1 . . .)
Aus diesen und. ähnlichen Stellen ist zu ersehen, daß der
„Tag des Herrn" in Verbindung steht mit dem tiefernsten
Gedanken des Gerichts über die Welt, über das abtrünnige
142
Israel, über die Menschen und ihre Wege, ja über alles, was
das menschliche Herz schätzt und sucht. Kurz, der Tag des
Herrn steht in grellstem Gegensatz zu dem Tag des Menschen. Jetzt hat der Mensch die Oberhand; später wird der
Herr die Oberhand haben.
Es dürfen sich nun zwar alle Kinder Gottes auf diesen Tag
freuen, der, obwohl er mit Gericht über diese Erde hereinbricht, dennoch durch eine Regierung in Gerechtigkeit gekennzeichnet wird. Nichtsdestoweniger ist nicht dieser in Gericht, Zorn und Schrecken gehüllte „Tag", sondern die von Frieden, Freude, Liebe und Herrlichkeit begleitete „Ankunft oder
Gegenwart Jesu" die besondere Hoffnung des Christen. Die
Versammlung wird dem Herrn begegnet und mit Ihm in das
Haus des Vaters eingetreten sein, bevor dieser schreckliche
Tag über die Welt hereinbricht. Es wird ihr gesegnetes Teil
sein, während einer unbestimmten Periode, die dem Hereinbrechen des „Tages" vorangeht, die Seligkeit ihrer himmlischen Heimat zu genießen. Ihr Auge wird sich an dem Anblick des „glänzenden Morgensterns" weiden, lange bevor
die „Sonne der Gerechtigkeit" mit ihrer Wiederherstellungskraft über den gottesfürchtigen Überrest des Samens Abrahams aufgehen wird.
Wir wünschen aufrichtig, daß der Christ diesen großen
und wichtigen Unterschied verstehen möge. Wir sind überzeugt, daß das richtige Verständnis dieser Wahrheit einen
mächtigen Einfluß auf seine Gedanken, Anschauungen und
Hoffnungen bezüglich der Zukunft ausüben wird. Es wird
ihn befähigen, den wahren Endpunkt seines Pfades ohne
verhüllende Wolken in der Ferne zu erblicken; es wird ihn
von aller Ungewißheit und Verwirrung, ja von jener Furcht
befreien, mit der leider viele liebe Kinder Gottes in die Zukunft schauen. Es wird ihn auch lehren, seinen Heiland —
Ihn, Der seine Seele von Ewigkeit her geliebt — und nicht
Gerichte, Schrecken, Finsternis, Erdbeben und Umwälzungen
aller Art zu erwarten; ja, es wird seinen Geist ruhig und
glücklich machen in der sicheren und gewissen Hoffnung, daß
er bei dem Herrn sein wird, bevor der große und schreckliche Tag hereinbricht.
Welche Mühe gab sich der treue Apostel, um seinen teuren
Thessalonichern diesen Unterschied zwischen der „Ankunft"
und dem „Tage" klar verständlich zu machen.
„Was aber die Zeit und Zeitpunkte betrifft, Brüder, so
habt ihr nicht nötig, daß euch geschrieben werde. Denn ihr
143
selbst wisset genau, daß der Tag des Herrn also kommt wie
ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! dann kommt ein plötzliches Verderben über sie, gleichwie die Geburtswehen über die Schwangere; und sie werden
nicht entfliehen. Ihr aber, Brüder, seid nicht in Finsternis,
daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife; denn ihr alle seid
Söhne des Lichtes und Söhne des Tages; wir sind nicht von
der Nacht, noch von der Finsternis. Also laßt uns nun nicht
schlafen, wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein.
Denn die da schlafen, schlafen des Nachts, und die da trunken sind, sind des Nachts trunken. Wir aber, die von dem
Tage sind, laßt uns nüchtern sein, angetan mit dem Brustharnisch des Glaubens und der Liebe und als Helm mit der
Hoffnung der Seligkeit. Denn Gott hat uns nicht zum Zorn
gesetzt, sondern zur Erlangung der Seligkeit durch unseren
Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, auf daß
wir, sei es daß wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm
leben. Deshalb ermuntert einander und erbauet einer den
anderen, wie ihr auch tut" (1. Thess 5, 1-11).
Hier finden wir den Unterschied in einer Weise dargestellt, die sicher nicht mißverstanden werden kann. Der Herr
Selbst wird für uns als der Bräutigam kommen; der Tag des
Herrn aber wird über die Welt wie ein Dieb in der Nacht
kommen. Könnte der Kontrast greller sein? Wie kann man
diese beiden Aussprüche miteinander vermengen? Sie könnten in der Tat nicht unterschiedlicher sein. Ein Bräutigam
und ein Dieb unterscheiden sich begrifflich sehr wesentlich
voneinander. Ebenso unterscheidet sich die Ankunft des
Herrn für Sein wartendes Volk höchst sinnfällig von dem
Kommen Seines Tages über eine schlummernde, trunkene
Welt.
Vielleicht findet jemand darin eine Schwierigkeit, daß an
die Versammlung zu Sardes die ernsten Worte geschrieben
sind: „Wenn du nicht wachen wirst, so werde ich über dich
kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, um welche Stunde ich über dich kommen werde" (Offb 3, 3). Diese
Schwierigkeit wird aber schwinden, wenn wir bedenken, daß
Sardes als eine bekennende Körperschaft angesehen wird,
welche den Namen hat, daß sie lebe, aber tot ist. Sie ist auf
die niedrigste Stufe der Welt hinabgestiegen und kann die
Dinge nur von diesem Standpunkt aus betrachten. Die
Kirche oder Versammlung hat gänzlich gefehlt; sie hat ihre
erhabene und heilige Stellung verlassen, befindet sich unter
144
dem Gericht und kann daher nicht mit der der Versammlung
eigentümlichen Hoffnung ermuntert werden. Sie wird vielmehr mit dem schrecklichen Verderben bedroht, das über die
Welt hereinbrechen wird. Wir sehen die Versammlung hier
nicht als den Leib oder die Braut Christi, sondern als den
verantwortlichen Zeugen Gottes auf der Erde, als den goldenen Leuchter, der während der Abwesenheit des Herrn sein
göttliches Licht in dieser finsteren Welt hätte scheinen lassen
sollen. Aber ach! die bekennende Kirche ist tiefer gesunken
und finsterer geworden als die Welt selbst. Daher diese
ernste Drohung. Die Ausnahme bestätigt die Regel.
Kehren wir nun zu der zweiten Epistel an die Thessalonicher zurück. Es ist eine Tatsache voll der reichsten Erquikkung und Ermunterung für das Herz eines wahren Gläubigen, daß uns unser Gott in Seiner wunderbaren Gnade aus
dem Fresser Speise und aus dem Starken Süßigkeit darreicht.
Er bringt Licht aus der Finsternis, Leben aus dem Tode hervor und läßt inmitten der durch des Feindes Hand bewirkten
Verwüstung die Strahlen Seiner Herrlichkeit hervorleuchten.
Diese Wahrheit tritt uns auf jedem Blatt der Heiligen Schrift
entgegen und sollte unser Herz mit Frieden und unseren
Mund mit Lob erfüllen.
So bewirkt Gott es auch, daß die mannigfaltigen Irrlehren
und tatsächlichen Übelstände, in welche die ersten Christen
verfielen, uns zur Belehrung, zur Leitung und zu wirklichem
Nutzen für die Versammlung am Ende ihrer irdischen Geschichte gereichen. Den Irrtum der Thessalonicher hinsichtlich
ihrer schon heimgegangenen Brüder beispielsweise nahm
Gott wahr, um über die Ankunft des Herrn und die Entrückung der Heiligen einen solchen Strom göttlichen Lichts
hervorbrechen zu lassen, daß es für ein einfältiges, der
Schrift unterworfenes Herz zur Unmöglichkeit geworden ist,
je wieder in einen solchen Irrtum zu verfallen. Sie erwarteten
die Ankunft des Herrn, und sie taten recht daran; sie hofften, daß Er Sein Reich auf der Erde errichten werde, und
auch das war nicht abwegig. Ein großer Irrtum aber war es,
daß sie die himmlische Seite dieser herrlichen Hoffnung aus
dem Auge verloren. Ihr Verständnis war noch unvollkommen,
ihr Glaube mangelhaft. Sie sahen nicht die beiden Seiten —
die doppelte Tragweite der Ankunft des Herrn; Sein Herniedersteigen in die Luft, um die Seinen zu Sich aufzunehmen,
und Seine Erscheinung in Herrlichkeit, um Sein Reich in
Macht aufzurichten. Darum fürchteten sie, daß ihre heimge145
gangenen Brüder der Sphäre der Segnung, dem Kreis der
Herrlichkeit notwendigerweise entsagen müßten. Dieser Irrtum wurde, wie wir gesehen haben, im vierten Kapitel des
ersten Briefes göttlich widerlegt. Auch im Blick auf die
schlafenden Heiligen wird die himmlische Seite der Hoffnung
— das eigentliche Teil der Gläubigen — ausgiebig geklärt, um
jenen Irrtum gründlich zu beseitigen. Christus wird alle, und
nicht nur einen Teil der Heiligen, zu sich aufnehmen und
wenn es in dieser Beziehung irgend einen Vorzug gibt, so
wird der auf Seiten derer sein, über welche man trauerte.
„Die Toten in Christo werden zuers t auferstehen".
Aus der zweiten Epistel an die Thessalonicher aber ersehen wir, daß jene jungen Gläubigen zu einem anderen groben Irrtum verleitet worden waren, der nicht die Toten, sondern die Lebenden betraf — zu einem Mißverständnis, das
nicht auf die „Ankunft", sondern auf den „Tag des Herrn"
bezug hatte. In dem einen Falle befürchteten sie, daß die
Heimgegangenen an dem gesegneten Triumph der Ankunft
nicht teilhaben, und in dem anderen, daß die Lebenden im
gleichen Augenblick tatsächlich in die Schrecken des Tages
hineingezogen werden würden. Diesem Irrtum begegnet der
Apostel in seinem zweiten Brief an die Gläubigen zu Thessalonich mit unübertrefflicher Fürsorge, Weisheit und Treue.
Die Gläubigen zu Thessalonich hatten durch große Verfolgung und Trübsale zu gehen, und es ist augenscheinlich, daß
der Feind ihre Gemüter durch falsche Lehrer zu erschüttern
suchte, die behaupteten, der „große und schreckliche Tag des
Herrn" sei schon angebrochen und die Trübsal, durch welche
sie zu gehen hatten, die unabweisbare Begleiterin dieses
Tages. Wenn es sich so verhielt, dann erwies sich selbstredend die ganze Lehre des Apostels als falsch, denn die hervorragende Wahrheit seiner Lehre war die Vereinigung und
das Einssein mit Christo — eine Verbindung, die so eng und
so vollkommen ist, daß es für Christum unmöglich war, ohne
Sein Volk in Herrlichkeit zu erscheinen. „Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet
auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit". Er
muß aber erscheinen, um „den Tag" einzuführen.
Wenn nun der Tag des Herrn wirklich anbricht, so werden
nicht die Seinen, sondern deren Verfolger vom Schrecken erfaßt werden. Der Apostel erinnerte sie daran in einfacher,
aber nachdrücklicher Weise, indem er sagt: „Wir sind schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken, wie es billig
146
ist, weil euer Glaube überaus wächst und die Liebe jedes einzelnen von euch allen gegeneinander überströmend ist, so
daß wir selbst uns euer rühmen in den "Versammlungen Gottes wegen eures Ausharrens und Glaubens in allen euren
Verfolgungen und Drangsalen, die ihr erduldet; ein offenbares Zeichen des gerechten Gerichts Gottes, daß ihr würdig
geachtet werdet des Reiches Gottes, um dessentwillen ihr
auch leidet; wen n e s ander s be i Got t gerech t ist ,
Drangsa l z u vergelte n denen , di e euc h be -
drängen , un d euch , di e ih r bedräng t werdet ,
Ruh e mi t un s be i de r Offenbarun g de s Herr n
Jesu s vo m Himmel , mit den Engeln seiner Macht, in
flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott
nicht kennen — die Heiden — und denen, die dem Evangelium
unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen — die Juden —
welche Strafe leiden werden, ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke, wenn
er kommen wird, um an jenem Tage verherrlicht zu werden
in seinen Heiligen und bewundert in allen denen, die geglaubt haben; denn unser Zeugnis bei euch ist geglaubt worden" (Kap. 1, 3-10).
Hierbei war also nicht nur die Stellung des Christen, sondern die Herrlichkeit Gottes Selbst — Seine tätige Gerechtigkeit — mit einbegriffen. In der Tat, wenn der Tag des Herrn
den Christen Drangsale brachte, dann entbehrte die große
und hervorragende Wahrheit des Apostels, daß Christus und
die Seinen eins seien, der Wahrheit, und überdies würde
auch die Gerechtigkeit Gottes angefochten gewesen sein. Mit
einem Wort, wenn die Christen sich in Trübsal befanden, so
war es moralisch unmöglich, daß der Tag des Herrn angebrochen sein konnte; denn wenn dieser Tag anbricht, wird
er den Gläubigen als ihre öffentliche Vergeltung Ruhe bringen, und zwar im Reiche und nicht bloß im Hause des Vaters, wovon hier nicht die Rede ist. Alles wird dann eine
völlig veränderte Gestalt annehmen. Die Versammlung wird
in Ruhe, ihre Verfolger aber werden in Drangsal sein. Solange der Tag des Menschen dauert, ist die Versammlung
berufen zu leiden; aber am Tage des Herrn wird sich das
Gegenteil zeigen.
Man beachte, daß hier nicht von Leiden die Rede ist, welche die Gläubigen zu erdulden haben. Dazu sind sie gegenwärtig in dieser Welt berufen, solange die Gottlosigkeit die
Oberhand hat. Christus litt, und darum müssen auch sie
147
leiden. Unmöglich aber ist es, daß, wenn Christus kommt,
um Sein Reich aufzurichten, die Seinen in Trübsal sein können. Das sollte sich der Christ in Geist und Herz einprägen.
So erweist sich also die Lehre des Feindes, wodurch er die
Gläubigen zu Thessalonich zu verwirren trachtete, als völlig
falsch. Der Apostel fegt das ganze Gebäude bis auf den
Grund durch die einfache Darlegung der Wahrheit Gottes
hinweg. Das ist die göttliche Weise, den Menschen von falschen Vorstellungen und von unnötiger Furcht zu befreien.
Man sage ihnen die Wahrheit, und der Irrtum muß vor ihr
fliehen; man lasse den Sonnenstrahl des ewigen göttlichen
Wortes hineinfallen, und alle die Nebel und Wolken einer
falschen Lehre müssen verschwinden.
Doch laßt uns noch einen Augenblick die weitere Belehrung des Apostels in diesem beachtenswerten Brief untersuchen, und wir werden sehen, wie bestimmt er den Unterschied zwischen der „Ankunft" und „dem Tage" hervorhebt — einen Unterschied, den zu erwägen der Leser wohl
tun wird. „Wir bitten euch aber, Brüder, um der Ankunft
unseres Herrn Jesus Christus willen und unseres Versammeltwerden zu ihm hin, daß ihr nicht schnell erschüttert
werdet in der Gesinnung, noch erschreckt, weder durch Geist,
noch durch Wort, noch durch Brief als durch uns, als ob der
Tag des Herrn da wäre" (Kap 2, 1-3).
Der Apostel wollte damit sicher nicht sagen, daß der Tag
des Herrn zu jener Zeit nicht nahe gewesen sei. Die Schrift
sagt ausdrücklich: „Der Tag ist nahe" (Röm 13, 12), und sie
kann sich nie widersprechen. Welcher Tag? Selbstredend der
Tag des Herrn, und dieser Ausdruck wird stets in Verbindung mit der persönlichen Verantwortlichkeit in unserem
Dienst und Wandel gebraucht.
Dies ist, im Vorbeigehen bemerkt, ein Gesichtspunkt von
großer, praktischer Bedeutung. Wer sich die Mühe gibt, die
Stellen zu prüfen, welche von dem „Tage,, reden, wird finden, daß sie sich mehr oder weniger auf das Werk, den
Dienst und die Verantwortlichkeit des Gläubigen beziehen.
Als Beispiele führen wir folgende Stellen an: . . . daß ihr
untadelig seid" — nicht bei der Ankunft, sondern — „an dem
Tag e unseres Herrn Jesus Christus" (1. Kor 1, 8). — „So
wird das Werk eines jeden offenbar werden; denn der Ta g
wird es klar machen" (1. Kor 3, 13). „ . . . auf daß ihr
lauter und unanstößig seid auf den Ta g Christi" (Phil 1,10).
— „Fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, die
148
der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben
wird a n jene m Tage " (2. Tim 4, 8).
Aus diesen und vielen anderen Stellen ersehen wir, daß
der „Tag des Herrn" jene Zeit ist, in der mit den Arbeitern
abgerechnet, der Dienst nach göttlichem Maßstab abgeschätzt,
die persönliche Verantwortlichkeit abgewogen, die Belohnung
ausgeteilt und der eine Diener über zehn, der andere über
fünf Städte gesetzt werden wird.
Von welcher Seite wir daher auch die „Ankunft" unseres
Herrn und Seiner „Erscheinung" oder Seinem „Tage" betrachten mögen, immer tritt uns der Unterschied zwischen
beiden deutlich vor Augen. Die „Ankunft" wird dem Herzen
des Gläubigen stets als seine herrliche und gesegnete Hoffnung vorgestellt, die sich in jedem Augenblick verwirklichen
kann, während die „Erscheinung" oder der „Tag Christi" sich
mit tiefem Ernst an das Gewissen wendet und die ganze
praktische Laufbahn derer ins Auge faßt, welche berufen
sind, in dieser Welt für einen abwesenden Herrn zu zeugen
und zu wirken. Die Schrift, wie sehr es unsererseits auch
geschehen mag, vermengt diese Wahrheiten nie miteinander;
auch gibt es keine einzige Schriftstelle, die lehrt, daß die
Gläubigen nicht immer die Ankunft des Herrn erwarten und
nicht stets eingedenk sein sollten, daß „der Tag des Herrn
nahe ist". Nur der böse Knecht sagt in seinem Herzen:
„Mein Herr verzieht zu kommen" (Matth 24. 48) und wir
sehen an seinem Beispiel die traurigen Folgen, die stets daraus hervorgehen müssen, wenn wir solche Gedanken in unseren Herzen nähren.
Wenden wir uns noch auf einen kurzen Augenblick zu
2. Thess 2 zurück und zwar zu einer Stelle, die für die Untersucher der prophetischen Schriften zu vielen Erörterungen
Veranlassung gegeben und große Schwierigkeiten bereitet hat.
Offenbar war es das Bestreben der falschen Lehrer die
Thessalonicher durch die irrige Meinung zu beunruhigen, daß
sie am „Tage des Herrn" von den Schrecken dieses Tages
berührt würden. O nein, versichert der Apostel, das ist unmöglich; denn bevor dieser Tag anbricht, müssen wir alle
versammelt sein, um dem Herrn in der Luft zu begegnen.
Er bittet sie auf Grund Seiner Ankunft und unserer Versammlung zu Ihm hin mit tiefen Ernst, sich nicht irre machen
zu lassen. Er hatte ihnen bereits die himmlische Seite der
Ankunft des Herrn eröffnet; er hatte sie belehrt, daß sie
Söhne des Lichts und Söhne des Tages seien und daß ihre
149
Heimat, ihr Teil, ihre Hoffnung in jener Region sei, von wo
aus der Tag hervorbrechen werde. Es war deshalb unmöglich,
daß der Tag des Herrn für die, welche durch die Gnade Söhne des Tages waren, Schrecken und Trübsale bringen konnte.
Aber auch nach der irdischen Seite betrachtet, befanden
sich diese falschen Lehrer im Irrtum. „Laßt euch von niemand
auf irgend eine Weise verführen; denn dieser Tag kommt
nicht, es sei denn, daß zuerst der Abfall komme und geoffenbart worden sei der Mensch der Sünde, der Sohn des
Verderbens, welcher widersteht und sich selbst erhöht über
alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung
ist, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst
darstellt, daß er Gott sei. Erinnert ihr euch nicht, daß ich
dies zu euch sagte, da ich noch bei euch war? Und jetzt wisset ihr, was zurückhält, daß er zu seiner Zeit geoffenbart
werde. Denn schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit
wirksam; nur ist jetzt der, welcher zurückhält, bis er aus dem
Wege ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden,
den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch seines
Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der Wirksamkeit des Satans
ist, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge
und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren
gehen, darum, daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden" (2. Thess 2, 3-10).
Hier wird uns also gesagt, daß, bevor der Tag des Herrn
kommt, der Gesetzlose, der Mensch der Sünde, der Sohn des
Verderbens geoffenbart werden muß. Das Geheimnis der
Gesetzlosigkeit muß den höchsten Gipfel erreichen. Der
Mensch wird sich zu offenem Widerstand gegen Gott erheben, ja sich selbst den Namen Gottes aneignen und sich
anbeten lassen. Alles das muß auf der Erde in Erscheinung
treten, bevor der große und schreckliche Tag des Herrn im
Gericht über das Irdische hereinbrechen wird. Für den gegenwärtigen Augenblick steht der Offenbarung jener schrecklichen Persönlichkeit noch eine Schranke, ein Hindernis im
Wege*); aber wir ersehen aus dem Buch der Offenbarung,
*) Manche sehen in dem Hindernden oder dem Hindernis das römische Rfich, andere
der in der Kirche oder Versammlung wohnende Heilige Geist. Dieser Deutung neigen
auch wir zu, obwohl auch jene ein gewisses Maß an Wahrheit enthält. Aus anderen
Teilen der Heiligen Schrift erkennen wir klar, daß, bevor der Gesetzlose den Schauplatz betritt, die Versammlung sicher und gesegnet in ihre eigene, ewige Heimat
droben, in die für sie bereitete Stätte eingeführt sein wird. Welch ein köstlicher Gedanke !
150
daß, bevor das Geheimnis der Gesetzlosigkeit in der Person
des Menschen der Sünde den höchsten Gipfel erreicht hat,
die Versammlung der Erde entrückt sein wird. Das vierte
und fünfte Kapitel der Offenbarung zeigt, daß die Versammlung in dem innersten Kreis himmlischer Herrlichkeit
sein wird, ehe ein einziges Siegel geöffnet, ein einziger Ton
der Posaune hervorgebracht, eine einzige Schale des Zorns
ausgegossen worden ist.
Wir werden später auf diesen höchst interessanten Punkt
noch ausführlicher eingehen und finden, daß in den vierundzwanzig gekrönten Ältesten die himmlischen Heiligen dargestellt sind, die in der Herrlichkeit um das Lamm versammelt sein werden, ehe noch eine einzige Zeile des prophetischen Buches ihre Erfüllung gefunden hat.
Bevor wir jedoch diesen Abschnitt schließen, wollen wir
noch ein paar Fragen an den Leser richten, die nur in der
Gegenwart Gottes richtig beantwortet werden können. Was
erwartest du? Was ist deine Hoffnung? Erwartest du gewisse Begebenheiten, die sich auf dieser Erde zutragen müssen?
Erwartest du z. B. die Wiederaufrichtung des römischen
Reiches, die Entwicklung der zehn Königreiche, die Rückkehr
der Juden nach Palästina, den Wiederaufbau Jerusalems, die
Erscheinung des Antichristen, die große Drangsal und endlich die furchtbaren Gerichte, welche dem Tage des Herrn
vorangehen werden? Wer diese Geschehnisse erwartet, ist
sicher nicht von der wahren Hoffnung der Versammlung beherrscht. Ohne Zweifel werden sie alle zu ihrer Zeit in Erfüllung gehen, aber nichts von alledem darf sich zwischen
dich und deine Hoffnung drängen. Sie sind sämtlich in den
Schriften der Propheten verzeichnet; sie finden alle in der
Zukunftsgeschichte Gottes statt; aber es ist nicht ihre Bestimmung, auch nur einen Schatten auf die herrliche und
gesegnete Hoffnung des Christen zu werfen. Diese Hoffnung
bildet eine herrliche, erhabene Schrift im Hintergrunde der
Prophezeiung: der glänzende Morgenstern — die Ankunft
Jesu — der hochgepriesene Bräutigam der Versammlung.
Das und nichts anderes ist die wahre und besondere Hoffnung der Versammlung Gottes. „Ich will ihm den Morgenstern geben" (Offb 2, 28) — „Siehe, der Bräutigam kommt!"
(Matth 25, 6). Wann aber erscheint der Morgenstern am
sichtbaren Himmel? Gerade vor dem Anbruch des Tages.
Wer sieht ihn? Nur der, welcher um diese Zeit wach ist.
151
Wie klar, wie anschaulich, wie selbstverständlich ist die Anwendung! Es wird vorausgesetzt, daß die Versammlung
wacht, daß sie dem Herrn entgegenharrt und mit sehnsüchtigen Blicken ausschauend, die Frage erhebt: „Warum zaudert sein Wagen zu kommen" (Richt 5, 28)? Ach, die Versammlung hat in dieser Hinsicht sehr gefehlt. Aber das ist
für den einzelnen Gläubigen kein Grund, sich auch persönlich der vollen Kraft dieser gesegneten Hoffnung zu versagen. „Und wer es hört, spreche: Komm!" Das ist persönlich.
Ach! möchten doch Schreiber und Leser dieser Zeilen die
reinigende und erhebende Kraft dieser gesegneten Hoffnung
immer mehr verwirklichen! Möchten wir doch die Worte des
Apostels Johannes in ihrer praktischen Kraft immer mehr
verstehen und realisieren: „Jeder, der diese Hoffnung zu
ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist" (1. Joh 3, 3).
152
4. Die beiden Auferstehungen
Vielleicht überrascht die Überschrift dieses Abschnitts
manchen Leser, weil ihm nach der Lehre und den Glaubensbekenntnissen der bekennenden Kirche niemals der Gedanke
an zwei Auferstehungen in den Sinn gekommen ist. Aber
die Heilige Schrift spricht in sehr bestimmten und unzweideutigen Ausdrücken von einer „Auferstehung des Lebens"
und von einer „Auferstehung des Gerichts" — von zwei
Auferstehungen also, die sich ihrer Zeit und nach ihrem
Charakter wesentlich voneinander unterscheiden.
Zwischen diesen beiden Ereignissen liegt ein Zeitraum von
wenigstens tausend Jahren. Wenn die Menschen es anders
lehren, wenn sie Systeme errichten und Glaubensbekenntnisse aufstellen, die mit der klaren Lehre der Heiligen
Schrift im Widerspruch stehen, so werden sie sich, wie alle,
die ihrer eigenen Erkenntnis vertrauen, vor ihrem Herrn zu
verantworten haben. Unsere Pflicht ist es, auf die Autorität
des Wortes Gottes zu achten und uns in Demut der heiligen
Belehrung dieses Wortes zu unterwerfen. Untersuchen wir
daher mit aller Ehrfurcht, was die Heilige Schrift über die
Auferstehung sagt. Möge der Heilige Geist uns leiten und
belehren!
Wir zitieren zunächst eine bemerkenswerte Stelle aus dem
Evangelium nach Johannes: „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht,
sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß die Stunde kommt
und jetzt ist, da die Toten die Stimme des Sohnes Gottes
hören werden, und die sie gehört haben, werden leben. Denn
gleichwie der Vater Leben in sich selbst hat, also hat er auch
dem Sohne gegeben, Leben zu haben in sich selbst; und er
hat ihm Gewalt gegeben, auch Gericht zu halten, weil er des
Menschen Sohn ist. Wundert euch darüber nicht; denn es
kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind,
seine Stimme hören und hervorkommen werden: die das
Gute getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber
das Böse verübt haben, zur Auferstehung des Gerichts"
(Joh 5, 24-29).
In einer nicht mißzuverstehenden Weise ist hier von zwei
Auferstehungen die Rede, die sich in dieser Stelle zwar nicht
153
der Zeit, wohl aber ihrem Charakter nach unterscheiden: eine
Auferstehun g de s Leben s und eine Auferste -
hun g de s Gerichts . Damit wird der Theorie einer gemeinsamen Auferstehung radikal der Boden entzogen. Die
Auferstehung der Gläubigen wird auf demselben Grunde geschehen und denselben Charakter tragen wie die Auferstehung unseres hochgelobten, anbetungswürdigen Herrn. Sie
wird eine Auferstehung au s den Toten sein — eine Handlung göttlicher Macht, gegründet auf das vollbrachte Erlösungswerk, wodurch Gott zugunsten Seiner entschlafenen
Heiligen einschreiten und sie aus den Toten auferwecken
wird, während die übrigen Toten noch tausend Jahre lang
in ihren Gräbern bleiben (Offb 20, 5).
Das 9. Kapitel des Markusevangeliums enthält eine beachtenswerte, klärende Aussage hierzu. Nachdem der Evangelist
in den ersten Versen über die Verklärung des Herrn berichtet hat, fährt er fort: „Als sie aber von dem Berge herabstiegen, gebot er ihnen, daß sie niemand erzählen sollten,
was sie gesehen hatten, außer wenn der Sohn des Menschen
aus den Toten auferstanden wäre. Und sie behielten das
Wort, indem sie sich untereinander befragten: Was ist das:
a u s den Toten auferstehen?" (V. 9. 10). — Die Jünger fühlten, daß der Herr hier etwas Besonderes zum Ausdruck gebracht hatte, etwas, das außerhalb der gewöhnlichen, orthodoxen Vorstellung von der Auferstehung der Toten lag. Und
so war es in der Tat, wiewohl das, was sie gehört hatten,
zu jener Zeit noch ihr Verständnis überschritt.
Wenden wir uns nun den Worten eines Mannes zu, der
diese erhabene und christliche Lehre völlig erfaßt hatte und
sich dieser herrlichen und himmlischen Hoffnung hoch erfreute: „ . . . ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tode gleichgestaltet werde, ob ich auf irgend eine Weise
hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten" (Phil 3,
10. 11). — Ein Augenblick ruhigen Nachdenkens wird genügen, um den Leser davon zu überzeugen, daß hier der Apostel nicht von der allgemeinen „Auferstehung der Toten",
an welcher ein jeder teilhat, redet, sondern daß dieser treue
Diener Christi etwas ganz Besonderes vor Augen hat, nämlich eine „Auferstehung au s den Toten" — eine Auferstehung, die derjenigen von Christo gleichförmig ist. Nach einer
solchen sehnte er sich unaufhörlich. Sie war die herrliche und
gesegnete Hoffnung, die ihre Strahlen in seine Seele warf
154
und die ihn inmitten der Sorgen und Trübsale, der Entbehrungen, Schwierigkeiten und Kämpfe auf seiner außergewöhnlichen Laufbahn tröstete.
Bedient sich der Apostel auch stets der unterscheidenden
Bezeichnung „a u s den Toten", wenn er von der Auferstehung redet? Nicht immer. So sagt er z. B. an anderer Stelle:
„ . . .und die Hoffnung zu Gott habe, welche auch selbst
diese annehmen, daß eine Auferstehung sein wird, sowohl
der Gerechten als der Ungerechten" (Apg 24, 15). Hier
berührt er mit keiner Silbe die christliche oder himmlische
Seite der Auferstehung, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er zu solchen redet, die unfähig waren, die besondere Hoffnung der Gläubigen zu begreifen. Wie hätte er
diese Wahrheit vor einem Ananias, einem Tertullus oder
einem Felix entwickeln können? Konnte er zu solchen Männern von dieser trostreichen Hoffnung reden? keineswegs.
Er konnte nur die große, allgemeine Tatsache aussprechen,
welche alle orthodoxen Juden gemein hatten. Hätte er hingegen von einer Auferstehung au s de n Tote n gesprochen,
so hätte er nicht die Worte: „Welche auch selbst diese annehmen", hinzufügen können: denn sie nahmen nichts dergleichen an.
Aber wie unterschiedlich ist die Art und Weise, wenn sich
der Apostel vor seinen Anklägern verteidigt (Apstg 21) oder
wenn er vor seinen geliebten Brüdern sein Herz ausschüttet
(Phil 3)! Zu den letzteren kann er von der wahren christlichen
Hoffnung reden, und zwar in dem vollen Lichte, welches die
Herrlichkeit Christi darüber ausstrahlt. Er kann seinen innersten Gedanken und Gefühlen sowie dem brennenden Verlangen seines liebenden Herzens Ausdruck geben, um seine
Sehnsucht nach der Auferstehung des Leibes darzutun, wo
er, erwachend in dem Bilde seines vielgeliebten Herrn, volle Befriedigung finden wird.
Doch kommen wir noch einmal auf Joh 5 zurück, und zwar
deswegen, weil der Herr Jesus, wenn Er von den beiden
Klassen redet, sich des Wortes „Stunde" bedient. „Wie" —
könnte man einwerfen — „kann ein Zeitraum von tausend
Jahren zwischen diesen beiden Auferstehungen liegen, wenn
unser Herr ausdrücklich sagt, daß alles im Verlauf einer
Stunde stattfinden soll?" Auf diese Frage gibt es eine zwiefache Antwort. Zunächst ist festzustellen, daß der Herr dasselbe Wort gebraucht, wenn Er von dem großen Werk des
Lebendigmachens toter Seelen redet. „Wahrlich, wahrlich, ich
155
sage euch, daß die Stunde kommt und ist jetzt, da die Toten
die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie
gehört haben, werden leben". — Dieses Werk, in dem die
Stimme Jesu, des Sohnes Gottes, kostbare Seelen aus dem
Tode zum Leben;ruft, dauert nun bereits fast neunzehn Jahrhunderte an und wird doch hier eine „Stunde" genannt. Wenn
nun unser Herr in derselben Rede im Blick auf einen Zeitraum, der sich fast bis zu zweitausend Jahren ausgedehnt
hat, sich des Wortes „Stunde" bedient, welche Schwierigkeit
bereitet es dann, dieses Wort auf einen Zeitraum von eintausend Jahren anzuwenden? Nach unserem Dafürhalten sicherlich keine. Wer aber dennoch einen Zweifel haben sollte,
sei auf das Zeugnis des Heiligen Geistes in Offb 20 verwiesen, das besagt: „Die übrigen der Toten wurden nicht
lebendig, bis die tausend Jahre vollendet waren. Die s is t
d i e erst e Auferstehung . Glückselig und heilig, wer
teilhat an der ersten Auferstehung! Über diese hat der zweite
Tod keine Gewalt, sondern sie werden Priester Gottes und
des Christus sein und mit ihm herrschen tausend Jahre"
(V. 5. 6).
Damit wird die Frage vollkommen und endgültig für
einen jeden beantwortet, der, was jeder wahre Christ tun
sollte, sich von der Heiligen Schrift belehren lassen will. Es
werden zwei Auferstehungen stattfinden, und zwischen beiden wird ein Zeitraum von tausend Jahren liegen. An der
ersten Auferstehung nehmen teil: alle Gläubigen des Alten
Testaments, die in Hebr 12 als die „Geister der vollendeten
Gerechten" bezeichnet werden, dann die Versammlung der
Erstgeborenen (die Kirche oder Versammlung) und endlich
alle, die während der großen Drangsal und während der
Zeit zwischen der Entrückung der Heiligen und der Erscheinung Christi zum Gericht über das Tier und seine Anhänger
(Offb 19) den Tod erleiden werden. Die letzte Auferstehung
aber umfaßt alle, die von den Tagen Kains an (1. Mo 4)) in
ihren Sünden gestorben sind, bis hin zu den letzten Abtrünnigen der tausendjährigen Herrlichkeit (Offb 20).
Wie ernst, wie erschütternd ist das! Wenn unser Herr
noch in dieser Nacht käme, welche Szenen würden sich dann
auf unseren Friedhöfen und Totenäckern abspielen! Könnte
eine Zunge, könnte eine Feder die ganze Wirklichkeit eines
solchen Augenblicks schildern oder beschreiben? Vermöchte
ein Herz sie zu erfassen? In unzähligen Gräbern liegen die
Gebeine der Toten i n Christo und der Toten auße r Chri156
sto beieinander. Selbst in mancher Familiengruft mögen die
Überreste beider Klassen gefunden werden. Wenn aber die
Stimme des Erzengels erschallen wird, dann werden alle entschlafenen Heiligen auferstehen, während alle anderen, die
in ihren Sünden gestorben sind, zurückbleiben müssen, um
noch tausend Jahre in der Finsternis und in der öden Stille
des Grabes zu verharren.
Das ist das bestimmte Zeugnis des Wortes Gottes. Es
berichtet freilich nicht von seltsamen Einzelheiten und bietet
der krankhaften Einbildungskraft und der müßigen Neugierde keine Nahrung; aber es eröffnet die ernste und wichtige
Tatsache einer ersten und zweiten Auferstehung — einer Auferstehung des Lebens zu ewiger Herrlichkeit und einer Auferstehung des Gerichts zu ewiger Verdammnis. Die Heilige
Schrift kennt keine gemeinsame Auferstehung oder ein Auferstehen aller zu gleicher Zeit. Wir müssen diesen wie so
manchen anderen mit uns groß gewordenen Gedanken aufgeben, wenn wir in Wahrheit wünschen, in der Erkenntnis
göttlicher Offenbarungen zu wachsen; denn nichts hindert
unser Verstehen der Gedanken Gottes mehr, als das Erfülltsein mit unserem eigenen Denken oder den Gedanken anderer.
So ist es auch töricht, von einer Auferstehung der Geister
zu reden; denn der Geist stirbt nicht und kann mithin auch
nicht auferstehen. Ebenso töricht wäre die Annahme einer
Prinzipienauferstehung; nichts dergleichen ist in der Heiligen
Schrift zu finden. Diese sagt so einfach wie möglich: „Die
übrigen der Toten wurden nicht lebendig, bis die tausend
Jahre vollendet waren. Dies ist die erste Auferstehung".
Wer möchte es wagen, eine so klare Lehre abzuweisen? Sollten wir nicht vielmehr unsere alten, uns lieb gewordenen
Ansichten und Meinungen aufgeben un-d das fundierte eingewurzelte Wort aufnehmen?
Es ist offenbar, daß, wenn die Heilige Schrift von einer
erste n Auferstehung spricht, unmöglich alle zu derselben
Zeit auferstehen können. Wie könnte die Schrift sagen:
„Glückselig und heilig, wer teilhat an der ersten Auferstehung!", wenn alle gleichzeitig auferstehen würden? Niemand
kann das Neue Testament vorurteilsfrei lesen und dennoch
an der Theorie einer gemeinsamen Auferstehung festhalten.
Es gehört zur Verherrlichung Christi, des Hauptes, daß Seinen Gliedern eine ihnen eigentümliche Auferstehung zuteil
wird — eine Auferstehung, gleich der Seinen, au s den To157
ten, und sicher wird eine solche stattfinden. „Siehe, ich sage
euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen,
wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in
einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen
wird es, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dieses
Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen, und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber dieses Verwesliche
Unverweslichkeit anziehen und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: „Verschlungen ist der Tod in Sieg". „Wo ist,
o Tod, dein Stachel? wo ist, o Tod, dein Sieg?" Der Stachel
des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das
Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch
unseren Herrn Jesus Christus" (1. Kor 15, 51-58).
158
5. Das Gericht
Es ist äußerst peinlich, immer und immer wieder mit den
allgemein herrschenden Meinungen und Ansichten der bekennenden Kirche in Widerspruch zu kommen und nach so
vielen Seiten hin allen Regeln und Glaubensbekenntnissen
entgegentreten zu müssen. Aber was anfangen? Handelte es
sich nur um eine bloße menschliche Meinung, so würde es
eine kecke, nicht zu rechtfertigende Vermessenheit sein, sich
mit dem festgestellten Glauben der ganzen bekennenden
Kirche in direkten Widerspruch zu setzen — einem Glauben,
zu welchem sich Jahrhunderte hindurch Millionen von Menschen bekannt haben. Aber es geht nicht um irgendeine
menschliche Anschauung oder um eine Verschiedenheit des
Urteils unter den Besten der Menschen, sondern es handelt
sich um die Lehre und die Autorität der Heiligen Schrift.
Wie zu allen Zeiten, so gibt es auch in unseren Tagen und
sicher auch in der Zukunft theologische Schulen, Meinungsunterschiede und Schattierungen in den Anschauungen und
Gedanken; aber es ist die unabweisbare Pflicht eines jeden
Kindes Gottes und Dieners Christi, in heiliger Ehrfurcht auf
die Stimme Gottes in der Heiligen Schrift zu horchen. Wäre
sie Ausfluß menschlicher Autorität, so sollte man sie als
wertlos beiseite setzen; da sie aber göttlicher Autorität entspringt, ist jeder Wortstreit ausgeschlossen, und es ist unsere vornehmste Pflicht, daß wir uns beugen und glauben.
Nachdem wir festgestellt haben, daß der Heiligen Schrift
eine allgemeine Auferstehung, d. h. eine Auferstehung aller
zu derselben Zeit, fremd ist, wollen wir prüfen, was das
Wort Gottes über das Gericht aussagt. Lehrt die Heilige
Schrift — wie die bekennende Kirche meint — ein allgemeines Gericht?
Zunächst finden wir im Neuen Testament die köstliche
Wahrheit, daß es für den Gläubigen persönlich oder die
Versammlung Gottes insgesamt durchaus kein Gericht mehr
gibt. An dem Gläubigen ist das Gericht vorübergegangen
und für immer beendigt. Die finstere Wolke des Gerichts
ergoß sich über das Haupt unseres göttlichen Sündenträgers.
Er hat für uns den Kelch des Zorns und des Gerichts bis
auf den letzten Tropfen geleert und unsere Füße auf den
159
neuen Grund der Auferstehung gestellt, den das Gericht niemals erreichen kann. Ein Glied des Leibes Christi kann ebensowenig wie das göttliche Haupt Selbst je ins Gericht kommen. Das scheint eine kühne Behauptung zu sein. Ist sie
wahr, so ist ihre Kraft das Teil ihres moralischen Wertes
und ihrer Herrlichkeit.
Für wen wurde Christus auf dem Kreuz gerichtet? — Für
Sein Volk. Für uns wurde Er zur Sünde gemacht. Er war
dort unser Stellvertreter, nahm unseren Platz ein. Er trug
alles, was wir verdient hatten. Unser ganzer Zustand mit
allem, was damit verbunden war, fand im Tode Christi einen
so völligen Abschluß, daß davon nie mehr die Rede sein
kann. Hat Gott mit Christo, dem Haupte, noch irgendeine
Frage zu ordnen? Keineswegs. Nun, ebenso verhält es sich
auch mit den Gliedern Christi. Jede Frage ist göttlich und für
immer bereinigt, und der Beweis dafür ist, daß das Haupt,
mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, zur Rechten der Majestät in den Himmeln sitzt. Mithin ist die Voraussetzung, daß
die Gläubigen zu irgendeiner Zeit, aus irgendeinem Grund
oder wegen irgendeiner Sache ins Gericht kommen, eine Verleugnung der Grundwahrheit des Christentums und widerspricht den klaren Worten unseres Herrn und Heilands, Der
ausdrücklich erklärt hat, daß alle, die an Ihn glauben, „nicht
ins Gericht kommen werden" (Joh 5, 24).
In Wahrheit ist die Vorstellung, daß die Gläubigen vor
die Schranken des Gerichts geführt werden, um über ihr
Anrecht und ihre Fähigkeit für den Himmel geprüft zu werden, ebenso töricht als schriftwidrig. Wie kann man z. B. annehmen, daß Paulus oder der Räuber am Kreuz noch in bezug auf ihr Anrecht für den Himmel beurteilt werden sollten, nachdem sie sich schon fast zweitausend Jahre dort
befinden? Das aber müßte der Fall sein, wenn die Theorie
eines allgemeinen Gerichts richtig wäre. Wenn die große
Frage unserer Eignung für den Himmel erst am Tage des
Gerichts entschieden werden muß, dann ist sie selbstredend
nicht auf dem Kreuze geordnet worden. Wenn dies aber
nicht geschehen ist, so müssen wir sicher verlorengehen;
denn wenn wir gerichtet werden, so geschieht es nach unseren
Werken, und die einzige mögliche Folge eines solchen Gerichts ist der Feuersee. Und wenn andrerseits behauptet wird,
die Gläubigen würden nur aus dem Grund vor Gericht gestellt, damit offenbar werde, daß sie durch den Tod Christi
von jeder Schuld befreit seien, so hieße das den Tag des
160
Gerichts in eine leere Form verwandeln — ein Gedanke, der
jedes fromme Gemüt empören muß.
Es bedarf nun keines Streites über diesen Punkt. Eine einzige Stelle aus der Heiligen Schrift ist weit beweiskräftiger
als zehntausend Beweise der Menschen. Unser Herr Jesus
hat in der klarsten und feierlichsten Weise erklärt, daß die
Gläubigen „nicht ins Gericht" kommen werden. Das ist genug. Der Gläubige ist schon vor mehr als achtzehnhundert
Jahren in der Person Christi, seines Hauptes, gerichtet worden, und ihn noch einmal in das Gericht bringen zu wollen,
wäre eine vollständige Verkennung des Kreuzes Christi in
seiner versöhnenden Kraft. Ganz sicher kann und wird Gott
dies niemals zugeben. Selbst der schwächste Gläubige kann
mit Dank und Triumph ausrufen: „Alles was in bezug auf
mich gerichtet werden muß, ist bereits gerichtet. Jede Frage,
die geordnet werden muß, ist schon geordnet. Das Gericht
ist vollzogen und für immer beendigt. Ich weiß, daß mein
Werk geprüft, mein Dienst abgeschätzt werden muß; aber
im Blick auf meine Person, meine Stellung und mein Anrecht ist alles göttlich geordnet. Er, Der am Kreuze für mich
starb, ist jetzt auf dem Throne gekrönt und die Krone, die
Er trägt, ist der Beweis dafür, daß es für mich kein Gericht
mehr gibt. Ich warte nur noch auf die „Erlösung des Leibes".
Das ist die Sprache, die dem Gläubigen geziemt. Nur dem
Erlösungswerk am Kreuze verdankt er es, daß er so denken
und sich so ausdrücken darf. Für sich den Tag des Gerichts
zur Entscheidung über die Frage seiner ewigen Bestimmung
zu erwarten, würde nur eine Verunehrung seines Herrn und
eine Verleugnung der Kraft des Versöhnungsopfers sein.
Eine solche Unsicherheit mag den Schein der Demut und
Frömmigkeit an sich tragen; aber wir können überzeugt sein,
daß alle, die solchen Zweifeln Raum geben, alle, die im Zustand der Ungewißheit leben und den Tag des Gerichts für
die schließliche Bereinigung ihrer Sache erwarten, mehr mit
sich selbst, als mit Christo beschäftigt sind. Sie haben den
Wert des Kreuzes bezüglich ihrer Sünden und ihrer Natur
noch nicht verstanden. Sie zweifeln an dem Worte Gottes
und an dem Werke Christi, und das ist nicht das wahre
Christentum. Unmöglich kann es noch ein Gericht für die
geben, welche, geschirmt durch das Kreuz, auf dem neuen
und ewigen Grunde der Auferstehung festen Fuß gefaßt haben. Für solche ist das Gericht für immer vorbei, und übriggeblieben ist nur die Erwartung einer wolkenlosen Herrlich161
keit und ewigen Glückseligkeit in der Gegenwart Gottes und
des Lammes.
Wenn nun zur Bestätigung der Theorie eines allgemeinen
Gerichts auf Matth 25, 31-46 verwiesen werden sollte, so ist
hierzu zunächst festzustellen, daß unmöglich eine Stelle der
Schrift mit einer anderen im Widerspruch stehen kann und
daß mithin, wenn nach Joh 5, 24 die Gläubigen nicht ins Gericht kommen werden, nach Matth 25 nicht das Gegenteil
der Fall sein kann. Das ist ein fester, unschätzbarer Grundsatz, eine allgemeine Regel, die keine Ausnahme gestattet.
Betrachten wir daher die betreffende Stelle in Matth 25.
„Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf
seinem Throne der Herrlichkeit sitzen; und vor ihm werden
versammelt werden alle Nationen, und er wird sie voneinander scheiden, gleichwie der Hirt die Schafe von den Böcken
scheidet".
Voraussetzung zum Verständnis dieser Stelle ist eine genaue Betrachtung der Ausdrücke, die hier gebraucht werden.
Wir müssen jede Oberflächlichkeit, Übereilung, Geringschätzung und Ungenauigkeit, wodurch diese wichtige Schriftstelle so vielfach fehlgedeutet und unter den Kindern Gottes soviel Verwirrung gestiftet wurde, nach Kräften zu vermeiden
suchen.
Wer ist denn hier vor Gericht gestellt? „Vor ihm werden
versammelt werden all e Nationen" . Das ist sehr entscheidend. Es ist hier nicht von einzelnen Personen, sondern
von Nationen, von allen Völkern die Rede, die zu jener
Zeit leben werden. Es geht nicht um Israel. Für dieses Volk
gilt: „Abgesondert wird es wohnen und unter die Völker
nicht gerechnet werden" (4. Mo 23, 9). Wenn das Volk Israel in dieses Gericht einbegriffen wäre, so würden beide
Schriftstellen in offenem Widerspruch zueinander stehen.
Das aber ist unmöglich. Israel wird nie zu den Nationen gerechnet. Vom göttlichen Standpunkt aus betrachtet steht
Israel allein. Das Volk mag um seiner Sünden willen und
nach der Regierung Gottes unter die Nationen zerstreut sein,
dennoch erklärt das Wort Gottes, daß es nicht unter sie gerechnet werden soll, und das sollte uns genügen.
Ist aber das Volk Israel an dem in Matth 25 geschilderten
Gericht nicht beteiligt, so ist die Idee von einem allgemeinen
Gericht widerlegt. Das Gericht kann kein allgemeines sein,
wenn nicht alle darin eingeschlossen sind, und Israel ist nie
162
in den Ausdruck „Nationen" (Völker, Heiden) mit einbegriffen gewesen. Die Schrift spricht von drei verschiedenen
Klassen: von den „Juden", den „Nationen" oder Völkern
und von der „Kirche oder Versammlung Gottes", und diese
drei Klassen werden streng unterschieden. Nicht nur Israel,
sondern auch die Versammlung Gottes ist nicht in jenes Gericht nach Matth 25 einbezogen, und zwar nicht deshalb,
weil sie vom Gericht befreit ist, sondern auch, weil sie wie
Petrus auf dem Konzil zu Jerusalem erklärte, au s den Nationen genommen ist (Apg 15, 14). Wenn nun die Versammlung au s den Nationen genommen ist, so kann sie
nicht mehr zu ihnen gerechnet werden, womit ein weiterer
Beweis gegen die Annahme eines allgemeinen Gerichts geführt ist. Die Idee eines allgemeinen Gerichts ist danach
unhaltbar.
„Vor ihm werden versammelt werden alle Nationen". Es
ist das Gericht über die Nationen, welche auf der Erde leben.
Nicht einer, von denen hier die Rede ist, wird durch den
Tod gegangen sein, ganz im Gegensatz zu dem Gericht nach
Offb 20, 11-15, wo sich nicht einer findet, der nicht zuvor
gestorben ist. Kurz, in Matth 25 ist vom Gericht über die
„Lebendigen" und in Offb 20 vom Gericht über die „Toten"
die Rede. Auf beide Ereignisse wird in 2. Tim 4 hingewiesen:
„Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christo Jesu, der da
richten wird Lebendige und Tote, und bei seiner Erscheinung
und seinem Reiche" (V. 1). Unser Herr Jesus Christus wird
die lebenden Nationen bei Seiner Ankunft und die „Toten, Kleine und Große" am Schluß Seiner tausendjährigen
Herrschaft richten.
Befassen wir uns nun kurz mit den Beteiligten am Gericht
nach Matth 25: „Er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zur Linken". Die fast allgemeine Annahme der bekennenden Kirche ist, daß die „Schafe" alle Kinder
Gottes von Beginn bis zum Ende der Zeiten und die „Böcke"
alle Gottlosen vom ersten bis zum letzten umfassen. Wenn
es so wäre, was hätten wir dann unter jener dritten Abteilung zu
verstehen, die uns unter der Bezeichnung „diese meine Brüder" vorgestellt wird? Der König wendet Sich im Blick auf
diese dritte Abteilung an die Schafe und Böcke; denn in der
Tat ist die Behandlung der Brüder des Königs der Grund
des Gerichts. Die Behauptung, unter den „Schafen" und
„Brüdern" sei ein und dieselbe Gruppe zu verstehen, ist abwegig, sonst würde der König nicht sagen: „ . . . insofern
ihr es einer dem anderen" oder „untereinander" getan habt.
163
Allein diese Überlegung würde genügen, die Theorie eines
allgemeinen Gerichts zu widerlegen. Es ist nicht abzustreiten, daß hier drei Gruppen unterschieden werden, nämlich
die „Schafe", die „Böcke" und „diese meine Brüder". Da
„diese meine Brüder" weder bei den „Schafen" noch bei den
„Böcken" einbegriffen sind, kann es ein allgemeines Gericht
nicht geben.
Nein, was hier beschrieben wird, ist kein allgemeines, sondern ein auf eine bestimmte Klasse sich beziehendes Gericht.
Es ist das dem Tausendjährigen Reich vorangehende Gericht
über die lebenden Nationen. Die Heilige Schrift lehrt uns,
daß, nachdem die Versammlung dieser Erde entrückt ist, den
Nationen noch ein Zeugnis bleiben wird. Das Evangelium
v o m Reich e wird von israelitischen Boten weit und breit,
über die ganze Erde, bis zu jenen Regionen getragen werden,
die bis dahin in heidnische Finsternis gehüllt waren. Die
Nationen, welche diese Boten willig aufnehmen, werden zur
Rechten des Königs, die andern aber, welche sie verwerfen
und gar unfreundlich behandeln, zu Seiner Linken gefunden
werden. „Diese meine Brüder" sind Juden — die Brüder des
Messias.
Die Behandlung der jüdischen Boten wird alsdann der
Grund sein, dessentwegen die Nationen gerichtet werden
und das ist ein weiterer Beweis gegen ein allgemeines Gericht. Wir wissen sehr wohl, daß alle, die auf dieser Erde
gelebt und bis zu ihrem Tode das Evangelium verworfen
haben, sich noch wegen anderer Verschuldungen zu verantworten haben werden als nur wegen der Lieblosigkeit gegen
die Brüder des Königs und andererseits werden auch alle, die
das Lamm in himmlischer Herrlichkeit umgeben werden, dieses Vorrecht einem Verdienst zuzuschreiben haben, das ihre
eigenen Werke ihnen nicht verschaffen können.
Kurz, es gibt nicht einen einzigen Zug in diesem Gericht,
keinen einzigen Hinweis in dieser Mitteilung, die auf ein
allgemeines Gericht hindeuten; alles spricht dagegen. Davon
werden wir umsomehr überzeugt, jemehr wir die Heilige
Schrift betrachten und die Wege Gottes, Sein Wesen, Seinen
Charakter, Seine Vorsätze, Seine Ratschlüsse, Seine Gedanken begreifen, jemehr wir Christum, Seine Person, Sein
Werk, Seine Herrlichkeit erfassen, jemehr wir die Versammlung in ihrer Stellung vor Gott in Christo, ihre Vollkommenheit und ihre völlige Annahme in Christo erkennen.
164
Wie könnte jemand, der Gott in etwa kennt, annehmen,
daß Gott heute die Seinen rechtfertigen und sie morgen vor
Gericht stellen, daß Er heute ihre Sünden auslöschen und
sie morgen nach ihren Werken richten werde? Welcher wahre Christ könnte von unserem anbetungswürdigen Herrn
und Heiland annehmen, daß Er Seine Versammlung, Seinen
Leib, Seine Braut gemeinsam mit allen, die in ihren Sünden
gestorben sind, vor den Richterstuhl bringen werde? Wie
könnte Er die Seinigen vor die Schranken des Gerichts stellen, und zwar wegen ihrer Sünden und Übertretungen, von
denen Er gesagt hat: „Ich will ihrer nie mehr gedenken?"
Doch genug. Wir hoffen, überzeugend klargestellt zu haben, daß es weder eine gemischte Auferstehung, noch ein
allgemeines Gericht gibt, noch geben kann. Zu dem Gericht
nach Offb 20, 11-15 ist nur angedeutet, daß es nach dem
Tausendjährigen Reiche stattfinden und daß es alle Gottlosen von Kain an bis zu dem letzten Abtrünnigen in sich
schließen wird. Dort wird keiner sein, der nicht durch den
Tod gegangen ist, keiner, dessen Name im Buche des Lebens
geschrieben steht, keiner, der nicht nach seinen eigenen Werken gerichtet, keiner, der nicht von der furchtbaren Wirklichkeit des weißen Thrones hinweg in die ewige Pein und
in die unaussprechlichen Qualen des Feuer- und Schwefelsees
geworfen werden wird. Wie furchtbar! Wie schrecklich! Wie
entsetzlich!
Geliebter Leser! Was sagst du zu alledem? Glaubst du in
Wahrheit an den Herrn Jesus? Bist du in Seinem Blute gewaschen und in Ihm vor dem kommenden Gericht geborgen?
Wenn nicht, so richte ich in aller Liebe und mit allem Ernst
die Bitte an dich, du möchtest doch noch heute dem kommenden Zorn entrinnen. Fliehe zu Jesu! Er ist bereit, dich
mit erbarmender Liebe zu empfangen und dich in der Kraft
Seines Versöhnungswerkes und in dem Wert Seines unvergleichlichen Namens zu Gott zu führen.
165
6. Der jüdische Überrest
Matth 24 enthält in den Versen 1-44 eins der tiefsten und
umfassendsten Gespräche die es gibt — ein Gespräch, das in
seinem wunderbaren Verlauf das Schicksal des jüdischen
Überrestes, die Geschichte der Christenheit und das Gericht
über die Nationen entwickelt. Da wir den letzten Gesichtspunkt bereits betrachtet haben, so wollen wir uns nun mit
dem Überrest Israels und der Geschichte der bekennenden
Kirche in ihrer wahren oder falschen Stellung näher befassen.
Um diesen Abschnitt zu verstehen, muß man sich in die
Stellung jener Personen versetzen, an die unser Herr in jener
Zeit Seine Worte richtete. Der Versuch, diese Gespräche etwa
im Licht des Epheserbriefes zu begreifen, könnte nur Verwirrung bringen und die Stelle ihrer ernsten Belehrung berauben. Es findet sich hier nichts von der Versammlung Gottes, dem Leibe Christi. Die Belehrung unseres Herrn ist
göttlich vollkommen; sie enthält auch keine Offenbarungen,
die nicht zeitgemäß wären. Die Einführung der Versammlung Gottes, die noch in Gott verborgen war, würde aber
durchaus nicht zeitgemäß gewesen sein. Die köstliche Wahrheit konnte nicht geoffenbart werden, bevor Christus nicht
als Messias verworfen, Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen und den Heiligen Geist herniedergesandt hatte,
um durch Dessen Gegenwart aus Juden und Heiden eine n
Leib zu bilden.
Davon finden wir in Matth 24 nichts. Wir stehen hier
auf jüdischem Boden und sind von jüdischen Verhältnissen
und Einflüssen umgeben. Die Darstellung des Geschehens
sowie die Redewendungen sind rein jüdisch. Wollten wir diese Stelle auf die Versammlung anwenden, so würden wir das,
worum es dem Herrn ging, gänzlich verkennen und die wahre Stellung der Versammlung verfälschen. Je eingehender wir
die Schrift untersuchen, desto klarer werden wir erkennen,
daß die hier in Rede stehenden Personen einen jüdischen
Standpunkt einnehmen, mögen wir an die denken, welche
später auf demselben Boden stehen werden, wenn die Versammlung die Erde verlassen haben wird.
Prüfen wir jetzt diese Stelle näher. Am Schluß des vorigen
Kapitels wendet sich der Herr an die Führer des Volkes Israel mit den schwerwiegenden Worten: „Machet voll das
Maß eurer Väter! Schlangen, Otternbrut! wie solltet ihr dem
166
Gericht der Hölle entfliehen? Deswegen siehe, ich sende zu
euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und etliche
von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und etliche von
ihnen werdet ihr in euren Synagogen geißeln und werdet
sie verfolgen von Stadt zu Stadt; damit über euch komme
alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wird, von dem
Blute Abels, des Gerechten, bis zu dem Blute Zacharias, des
Sohnes Barachias, den ihr zwischen dem Tempel und dem
Altar ermordet habt. Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird
über dieses Geschlecht kommen. Jerusalem, Jerusalem, die da
tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind!
Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine
Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr
habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen;
denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen,
bis ihr sprechet: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen
des Herrn!" (Mtth 23, 32-39).
So schließt das Zeugnis des Messias gegenüber dem abtrünnigen Volke Israel. Keine Bemühung der Liebe, ja der
göttlichen Liebe ist unversucht geblieben — vergebens. Propheten wurden gesandt, und man hat sie gesteinigt. Boten
auf Boten sind gekommen und haben ermahnt, gebeten, gewarnt; alles blieb ohne Erfolg. Die gewaltigen Worte dieser
Boten trafen auf taube Ohren und verhärtete Herzen und
die einzige Antwort der Empfänger waren Mißhandlung,
Steinigung und Tod. Schließlich wurde der Sohn Selbst gesandt mit den ergreifenden Worten des Vaters: „Ich will
meinen geliebten Sohn senden; vielleicht, wenn sie diesen
sehen, werden sie sich scheuen" (Luk 20, 13). Und scheuten
sie sich vor Ihm? Ach, nein. Sie sahen Ihn an, und Er hatte
kein Ansehen, daß sie Seiner begehrt hätten (]es 53, 2). Die
Tochter Zion hatte kein Herz für ihren König. Der Weinberg befand sich in den Händen untreuer Weingärtner, die
ihn für sich selbst behalten wollten. „Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser
ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbe in
Besitz nehmen" (Mtth 21, 38)!
Das war der moralische Zustand Israels, angesichts dessen
unser Herr die oben angeführten, ungewöhnlich harten Worte sprach, und dann „trat Jesus hinaus und ging von dem
Tempel hinweg" (Kap. 24, 1). Wie zögernd Er ging, wissen
wir; denn — gepriesen sei Sein Name! — so oft Er einen Platz
der Gnade verläßt oder einen Platz des Gerichts betritt, ist Sein
167
Schritt stets langsam und gemessen, wie es uns der Prophet
Hesekiel bezeugt. „Und die Herrlichkeit Jehovas begab sich
von der Schwelle des Hauses hinweg und stellte sich über
die Cherubim. Und die Cherubim erhoben ihre Flügel und
hoben sich vor meinen Augen von der Erde empor, als sie
sich hinwegbegaben; und die Räder waren neben ihnen. Und
sie stellten sich an den Eingang des östlichen Tores des Hauses Jehovas und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben
über ihnen" (Hes 10, 18. 19). — „Und die Cherubim erhoben
ihre Flügel, und die Räder waren neben ihnen; und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen. Und die
Herrlichkeit Jehovas erhob sich aus der Mitte der Stadt und
stellte sich auf den Berg, der gegen Osten der Stadt ist"
(Hes 11, 22. 23).
So verließ die Herrlichkeit des Gottes Israels mit langsamen, zögernden Schritten das Haus Gottes in Jerusalem. Jehova verweilte lange in der Nähe dieser Stätte; nur mit
Widerstreben schied Er.*) Er war in liebender Eile gekommen, um mit ganzem Herzen und ganzer Seele in der Mitte
Seines Volkes zu weilen und im Schöße Seiner Versammlung
Seinen Wohnsitz aufzuschlagen; doch ihre Sünden und Übertretungen zwangen Ihn wieder hinwegzugehen. Er wäre gern
geblieben, aber es war unmöglich; jedoch durch die Art und
Weise Seines Scheidens zeigte Er Selbst, mit welchem Widerstreben Er hinwegging.
War es nicht ebenso mit dem Jehova-Messias in Mtth 23?
Seine rührenden Worte bezeugen es. „Wie oft habe ich deine
Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein
versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!"
Hier liegt das tiefe Geheimnis. „Ich wollte " — das ist das
Herz Gottes. „Ih r wollte t nicht " — das ist das Herz
Israels. Gleich der Herrlichkeit Gottes in den Tagen des Hesekiels, so mußte auch Er Sich von Seinem Volke trennen,
jedoch nicht — gepriesen sei Sein Name! — ohne ein Wort zu
*)Welch einen Kontrast bildet dieses zögernde Scheiden zu dem bereitwilligen Eintreten in das Zelt der Zusammenkunft (2. Mo 40), sowie in den Tempel (2. Chr 7). Kaum
war das Haus fertig, so kam Er hernieder, um es mit Seiner Herrlichkeit zu erfüllen. So
schnell Er zum Eintreten bereit war, so sehr zögerte Er, das Haus zu verlassen. Und
nicht allein das, sondern ehe noch das Buch Hesekiel schiieüt, sehen wir die Herrlichkeit
Gottes zurückkehren und „Jehova Schammah" d. h. Jehova daselbst steht mit unlöschIicher Schrift in die Tore der Stadt eingegraben. Nichts vermag die Liebe Gottes zu
ändern. Wenn Er liebt und wie Er liebt — Er liebt bis ans Ende. „Er ist derselbe,
gestern und heute und in Ewigkeit."
168
sagen, das den kostbaren Grund zur Hoffnung auf eine herrliche Zukunft bildet, daß nämlich die Herrlichkeit Gottes zurückkehren und die Tochter Zion ihren König mit dem Jubelruf empfangen wird: „Gepriesen sei, der da kommt im
Namen des Herrn!"
Aber vor dem Anbruch dieses herrlichen Tages wird die
Geschichte Israels nur von Finsternis, Verfall und Verwüstung zu berichten haben. Das, was die Führer des Volkes
durch die Verwerfung Christi zu hintertreiben suchten, kam
in furchtbarer Wirklichkeit über sie. „Die Römer werden
kommen" — sagten sie — „und sowohl unseren Ort als auch
unsere Nation wegnehmen". Ach! ihr Ort und ihre Nation
waren bereits den Römern unterworfen, und der bedeutungsvolle Weggang Jesu nach Mtth 24, 1 war nur der Urteilsspruch der Verwüstung über das ganze jüdische System. „Und
Jesu trat hinaus und ging von dem Tempel hinweg". Ihr
Zustand war hoffnungslos. Alles war verloren. Eine lange
Periode voll Finsternis und Kummer mußte über diese betörte
Nation hereinbrechen — eine Periode, die in der „großen
Drangsal", die der Stunde der schließlichen Erlösung vorangehen muß, ihren Gipfelpunkt erreichen wird.
Aber wie es in den Tagen Hesekiels ein kleine Anzahl von
Menschen gab, die über die Sünden und Drangsale des Volkes seufzten und Leid trugen, so fand sich auch in den Tagen, da der Herr auf der Erde war, ein Überrest gottesfurchtiger Seelen, die sich dem verworfenen Messias anschlössen
und die Hoffnung einer Erlösung und Wiederherstellung
Israels nährten. Freilich waren ihre Vorstellungen sehr unklar und ihre Gedanken voll von Verwirrungen; aber nichtsdestoweniger schlugen ihre von der Gnade berührten Herzen
treu für den Messias und sie waren erfüllt mit der Hoffnung
über eine segensreiche Zukunft Israels.
Es ist nun höchst bedeutsam, die Stellung dieses Überrestes zu beachten und sich darüber klar zu werden, daß
unser Herr in Seiner wunderbaren Unterhaltung auf dem
Oelberg nur mit dem Überrest aus Israel beschäftigt ist. Die
Annahme, daß die Personen, zu denen hier geredet wird, auf
christlichem Boden stehen, würde die wahren Gedanken über
das Christentum preisgeben und zugleich jenes Häuflein verleugnen, dessen Existenz in den Psalmen, in den Propheten
und selbst im Neuen Testament ganz bestimmt anerkannt
wird. Er bestand und es besteht immer noch ein „Überrest
nach der Wahl der Gnade". Wir verzichten darauf, die Stel169
len zu zitieren und zu erläutern, welche die Geschichte, die
Trübsale, die Erfahrungen und die Übungen dieses Überrestes in sich enthalten, weil wir damit einen ganzen Band
ausfüllen müßten; aber wir wünschen aufrichtig, daß der Leser in dem Häuflein von Jüngern, die einst auf dem ölberg
um den Herrn versammelt waren, jenen gottesfürchtigen
Überrest erkenne; denn wir sind überzeugt, daß, wenn diese
Erkenntnis fehlt, der wahre Zweck, die wahre Tragweite und
Anwendung dieser beachtenswerten Unterredung verlorengeht.
„Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel hinweg;
und seine Jünger traten herzu, um ihm die Gebäude des
Tempels zu zeigen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen:
Sehet ihr nicht alles dieses? Wahrlich ich sage euch: Hier wird
nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht
abgebrochen werden wird. Als er aber auf dem ölberge saß,
traten seine Jünger zu ihm besonders und sprachen: Sage
uns, wann wird dieses sein, und was ist das Zeichen deiner
Ankunft und der Vollendung des Zeitalters" (Mtth 24, 1-3)?
Selbstredend waren die Jünger mit irdischen Dingen und
Erwartungen beschäftigt — mit dem Tempel und seiner Umgebung. Wir dürfen dies nicht aus den Augen verlieren, wenn
wir ihre Fragen und die Antwort des Herrn verstehen wollen. Bis dahin gingen ihre Gedanken nicht über die irdischen
Dinge hinaus. Sie erwarteten die Wiederherstellung des Reiches, die Herrlichkeit des Messias, die Erfüllung der den Vätern gegebenen Verheißungen. Sie hatten die ernste und in
ihren Folgen wichtige Tatsache noch nicht erfaßt, daß der
Messias „weggetan werden und nichts haben" sollte (Dan
9, 26). Freilich hatte ihr Herr und Lehrer von Zeit zu Zeit
ihren Geist auf diese wichtigen Ereignisse vorzubereiten gesucht. Er hatte sie im Blick auf die finsteren Schatten, die
Seinen Pfad umgeben würden, treulich gewarnt, hatte ihnen
gesagt, daß der Sohn des Menschen den Nationen überliefert
werden würde, um verspottet, gegeißelt und gekreuzigt zu
werden; aber sie hatten Ihn nicht verstanden. Solche Unterredungen blieben ihnen dunkel, hart und unverständlich, und
ihre Herzen klammerten sich stets fest an die Hoffnung, einer nationalen Wiederherstellung und Segnung. Sie sehnten
sich, den Stern Jakobs in seinem Aufgang zu erblicken; und
ihre Gemüter waren erfüllt mit der Wiederaufrichtung des
Reiches Israel. Sie verstanden nichts von dem, was aus der
Verwerfung und dem Tod des Messias hervorgehen sollte,
170
und wie hätten sie es auch verstehen können? Freilich hatte
der Herr von dem Aufbauen einer Versammlung gesprochen;
aber das Wesen und die Vorrechte dieser Versammlung, ihrer
Berufung, ihre Stellung und ihre Hoffnungen begriffen sie
nicht. Die Idee eines Leibes, gebildet aus Juden und Heiden,
und vereinigt durch den Heiligen Geist mit einem lebendigen
und verherrlichten Haupte im Himmel, war ihnen nie in den
Sinn gekommen, und wie wäre das auch möglich gewesen?
Die Zwischenwand der Umzäunung bestand noch, und einer
von ihnen, sogar der erste unter ihnen, hatte lange nachher
große Schwierigkeiten zu lernen, daß auch die Heiden in das
Reich aufgenommen werden sollten.
Diesem allen muß Rechnung getragen werden, wenn wir
die Antwort des Herrn auf die Frage bezüglich Seiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters richtig verstehen
wollen. In dieser ganzen Antwort ist auch nicht eine Silbe
von der Versammlung als solcher zu finden. Bis zu Vers 14,
wo Er vom Ende redet, gibt Er einen kurzen Überblick über
die Ereignisse, die sich unter den Nationen zutragen würden.
„Sehet zu", sagt Er, „daß euch niemand verführe! denn
viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich
bin der Christus! und sie werden viele verführen. Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Sehet zu,
erschrecket nicht; denn dies alles muß geschehen; aber es ist
noch nicht das Ende. Denn es wird sich Nation wider Nation
erheben und Königreich wider Königreich, und es werden
Hungersnöte und Seuchen sein und Erdbeben an verschiedenen Orten. Alles dies aber ist der Anfang der Wehen.
Dann werden sie euch in Drangsal überliefern und euch töten; und ihr werdet von allen Nationen gehaßt werden um
meines Namens willen. Und dann werden viele geärgert
werden und werden einander überliefern und einander hassen; und viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen; und wegen des Überhandnehmens der
Gesetzlosigkeit wird die Liebe der Vielen erkalten; wer aber
ausharret bis ans Ende, dieser wird errettet werden. Und
dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf
dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und
dann wird das Ende kommen".
Das ist die umfassende Schilderung des ganzen Zeitraumes
von dem Augenblick an, wo unser Herr redete, bis zur Zeit
des Endes. Aber es darf nicht übersehen werden, daß in dieser Periode eine nicht zu bezeichnende Zwischenzeit vorhan171
den ist, während welcher sich das große Geheimnis bezüglich der Versammlung Christi entfaltet. Diese Zwischenzeit
oder Unterbrechung ist, da die Zeit ihrer Entwicklung noch
nicht gekommen war, in dieser Unterredung gänzlich übergangen. Das Geheimnis war noch „verborgen in Gott" und
konnte nicht eher geoffenbart werden bis der Messias verworfen, von der Erde hinweggetan und in die Herrlichkeit
aufgenommen war. Diese Unterredung würde völlig und
vollkommen in Erfüllung gegangen sein, wenn nie etwas von
der Versammlung gesagt worden wäre; denn — vergessen
wir es nicht! — die Versammlung bildet keinen Teil der Wege
Gottes mit Israel und der Erde. Und was die Anspielung auf
die Predigt des Evangeliums betrifft (V. 14), so dürfen wir
dieses Evangelium durchaus nicht mit dem „herrlichen Evangelium der Gnade Gottes" auf eine Stufe stellen, das durch
Paulus gepredigt wurde. Es wird das Evangelium des Reiches
genannt und wird nicht gepredigt werden, um die Versammlung oder Kirche zu sammeln, sondern „zu einem Zeugnis
allen Nationen". Wir dürfen nicht miteinander vermengen,
was Gott in Seiner unendlichen Weisheit klar erkennbar unterschieden hat. Die Versammlung darf nicht mit dem Reich
und ebensowenig das Evangelium der Gnade mit dem Evangelium des Reiches verwechselt werden. Beachten wir das
nicht, so werden wir weder das eine, noch das andere verstehen. Mtth 24 ist zudem nur dem zugänglich, der daneben
auch die Zwischenzeit oder nichtbezeichnete Unterbrechung,
in welche das große Geheimnis über die Versammlung eingeschoben ist, ins Auge faßt.
Doch fahren wir mit der Betrachtung der Rede des Herrn
fort.
In V. 15 knüpft Er an eine Anspielung des Propheten
Daniel an, mit der ein gläubiger Jude vertraut sein konnte.
„Wenn ihr nun den Greuel der Verwüstung, von welchem
durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen sehet an
heiligem Orte, (wer es liest, der beachte es) daß alsdann
die in Judäa sind, auf die Berge fliehen; wer auf dem Dache
ist, nicht hinabsteige, um die Sachen aus seinem Hause zu
holen; und wer auf dem Felde ist, nicht zurückkehre, um sein
Kleid zu holen . . . Betet aber, daß eure Flucht nicht im
Winter geschehe, noch am Sabbath; denn alsdann wird große
Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin
nicht gewesen ist, noch je sein wird".
172
Das alles ist sehr beziehungsreich. Die Anführung von
Dan 11 stellt die Anwendung über jede Frage hinaus fest.
Sie beweist, daß sich diese Stelle nicht auf die Belagerung
Jerusalems unter Titus bezieht; denn wir lesen in Dan 12:
„In jener Zeit wird dein Volk errettet werden". Wir wissen
aber, daß das Volk in den Tagen des Titus nicht errettet
worden ist und mithin kann jene Stelle nur auf das Ende
der Zeiten angewandt werden. Der Schauplatz ist Jerusalem.
Die hier in Rede stehenden Personen sind gläubige Juden —
der gottesfürchtige Überrest in der großen Drangsal, nachdem
die Versammlung die Erde verlassen hat. Wer könnte der
Meinung Raum geben, daß die hier unterwiesenen Personen
auf kirchlichem Boden stehen? Welche Bedeutung würde
dann in der Anspielung auf den Winter und auf den Sabbath
liegen?
Und weiter: „Wenn jemand zu euch sagt: Siehe, hier ist
der Christus, oder hier! so glaubet nicht . . . Wenn sie nun
zu euch sagen: Siehe, er ist in der Wüste! so gehet nicht
hinaus; siehe, in den Gemächern! so glaubet nicht" (V. 23.
26). Wie könnten diese Worte auf Personen angewandt werden, die belehrt sind, den Sohn Gottes vom Himmel zu erwarten, und die wissen, daß, bevor Er auf die Erde zurückkehrt, sie Ihm in Wolken entgegengerückt und mit Ihm in
das Haus des Vaters eingeführt sein werden? Könnte ein
Christ, der seine wahre Hoffnung kennt, durch die Worte
getäuscht werden: „Siehe, hier ist der Christus oder hier;
siehe, er ist in der Wüste, oder in den Gemächern?" Unmöglich. Ein solcher wird den Bräutigam vom Himmel her erwarten und er weiß wohl, daß Christus unmöglich auf dieser
Erde erscheinen kann, ohne die Seinen mit Sich zu bringen.
So ordnet also die einfache Wahrheit alles; an uns ist es,
sie einfach anzunehmen. Der schwächste Gläubige weiß sehr
wohl, daß Sein Herr ihm nicht als ein Blitzstrahl erscheinen
wird, sondern als der glänzende Morgenstern, und daher begreift er, daß Mtth 24 nicht auf die Versammlung anwendbar
ist, obwohl er die darin enthaltenen Worte, wie alle anderen
prophetischen Schriften, mit Nutzen und Interesse betrachten
kann, ja daß dieses Interesse und dieser Nutzen sich in dem
Maße steigern werden, als er es versteht, solche Schriftstellen richtig anzuwenden.
Wir müssen es uns leider versagen, noch weiter in dieses
bewundernswürdige Gespräch einzudringen. Aber je gründlicher jeder Satz untersucht und je genauer jeder Umstand
173
geprüft wird, desto mehr muß es uns einleuchten, daß die
hier in Frage stehenden Personen nicht auf dem eigentlich
christlichen Boden stehen. Alles ist irdisch und jüdisch, nicht
himmlisch und christlich, und die Unterweisung gilt solchen,
die sich später in dieser Stellung befinden werden. Eindeutig
bezieht sich die ganze Stelle von V. 15-42 auf jenen Zeitraum, der zwischen der Entrückung der Heiligen und der
Erscheinung des Sohnes des Menschen liegt.
Vielleicht erblickt jemand eine Schwierigkeit in den Worten: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles dieses
geschehen ist" (V. 34). Hierzu ist bemerkenswert, daß das
Wort „Geschlecht" (Generation) in der Heiligen Schrift stets
in einem moralischen Sinne gebraucht wird. Es beschränkt
sich nicht auf eine gewisse Zahl von Personen, die zu jener
Zeit lebten, sondern es umfaßt das ganze Geschlecht .
Hier ist das Wort auf das jüdische Geschlecht angewandt;
aber die Wortstellung ist so, daß die Zeitfrage gänzlich offen bleibt, damit das Herz sich stets für die Ankunft des
Herrn bereithalten möge. Die Heilige Schrift enthält nichts,
was sich zwischen das beständige Erwarten dieses großen
Ereignisses eindrängen könnte. Im Gegenteil ist jedes Gleichnis, jedes Bild, jede Anspielung so gefaßt, daß jeder Gläubige berechtigt ist, die Ankunft des Herrn während seines
Lebens hier zu erwarten, während zugleich Raum genug für
eine Verlängerung der Zeit nach der großen Langmut und
Gnade unseres Heilandes und Gottes gelassen ist.
174
7. Die Christenheit
Wie verschiedenartige Gedanken und Gefühle werden
durch das Wort „Christenheit" in der Seele wachgerufen! Es
stellt mit einem Male jene ungeheure Masse von Getauften
vor unsere Augen, die sich die Kirche Gottes nennt, aber,
außer ihrer Verantwortlichkeit, alles eingebüßt hat, was ein
Recht auf diesen Namen gibt. Sie ist nicht das wahre Christentum; ihre Stellung ist unklar und unbestimmt; es ist
weder die Stellung des Judentums oder des Heidentums, noch
die Stellung der wahren Kirche Gottes. Sie ist eine verdorbene, verworrene Mischung, Fälschung des Besten und gerade
darum besonders verwerflich. Das hat der Feind aus der bekennenden Christenheit gemacht. Sie ist weit schlechter als
das Judentum, ja selbst weit schlechter als das finstere Heidentum, weil sie ein helleres Licht und größere "Vorrechte
genießt, und weil sie das höchste Bekenntnis ablegt und den
erhabensten Standpunkt einnimmt. Sie ist das Bild des
schrecklichsten Abfalls, für den das schwerste Gericht, der
bitterste Tropfen in der Schale des gerechten Zornes Gottes
aufbewahrt ist.
Doch — Gott sei gepriesen! — es gibt in der Christenheit
noch solche, die ihre Kleider nicht besudelt haben. Sie sind
wie glänzende Funken in der glimmenden Asche, wie köstliche Steine unter schrecklichem Schutt. Was aber die Masse
betrifft, die man mit dem Ausdruck „Christenheit" bezeichnet, so kann nichts entmutigender, nichts erschreckender sein
als ihr gegenwärtiger Zustand oder ihr zukünftiges Schicksal. Es muß bezweifelt werden, daß die Christen im allgemeinen ein richtiges Verständnis von ihrem wahren Charakter und dem unvermeidlichen Verhängnis dessen haben, was
ihrer harret. Sonst würden sie wohl ernster sein und die Notwendigkeit erkennen, sich von den schlechten Wegen der
Christenheit zu trennen und gegen deren Geist und Grundsätze mit aller Entschiedenheit Zeugnis abzulegen.
In der ersten Unterredung beschäftigt Sich der Herr, auf
dem ölberg, wie bereits bemerkt, mit der bekennenden Christenheit und zwar in dreifacher Weise: in den Gleichnissen
vom untreuen Knecht, von den zehn Jungfrauen und den
Talenten. Jedes dieser Gleichnisse unterscheidet zwischen
dem, was echt und unecht, was wahr und falsch, was hell
und dunkel ist, was dem Licht und was der Finsternis ange175
hört. In gedrängter Kürze zeigt sich hier ein reicher Schatz
ernstester und höchst praktischer Lehren.
„Wer ist nun der treue und kluge Knecht, den sein Herr
über sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit? Glückselig jener Knecht, den sein Herr,
wenn er kommt, also tuend finden wird! Wahrlich, ich sage
euch, er wird ihn über seine ganze Habe setzen" (Mtth 24
45-47). Hier finden wir zugleich die Quelle und den Zweck
jedes Dienstes im Hause Gottes. „ . . . den sein Herr gesetzt hat über sein Gesinde" — das ist die Quelle, und:
„ . . . um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit" — das
ist der Zweck.
Diese Gesichtspunkte sind höchst bedeutsam und erfordern
die ganze Aufmerksamkeit. Jeder Dienst im Hause Gottes
beruht in den alt- als auch in den neutestamentlichen Zeiten
auf göttlicher Anordnung. Ein durch menschliche Autorität
bestimmter Dienst findet in der Heiligen Schrift keine Anerkennung. Gott allein kann jemanden zum Diener in Seinem
Hause einsetzen. In den alttestamentlichen Zeiten wurden
Aaron und seine Söhne von Jehova für das Priestertum bestimmt, und wenn ein Fremder es wagte, in die Verrichtung
des heiligen Dienstes einzugreifen, so mußte er es mit dem
Leben büßen. Selbst dem König war es nicht gestattet, das
goldene Rauchfaß anzurühren. Von Ussija, dem König von
Juda, steht geschrieben: „Und als er stark geworden war,
erhob sich sein Herz, bis er verderbt handelte; und er handelte treulos gegen Jehova, seinen Gott, und trat in den
Tempel Jehovas, um auf dem Rauchaltar zu räuchern. Da
kam Asarja, der Priester, hinter ihm her, und mit ihm achtzig Priester Jehovas, wackere Männer; und sie widerstanden
dem König Ussija und sprachen zu ihm: Nicht dir, Ussija,
geziemt es, Jehova zu räuchern, sondern den Priestern, den
Söhnen Aarons, die geheiligt sind zum Räuchern. Geh aus
dem Heiligtum hinaus; denn du hast treulos gehandelt, und
es wird dir nicht zur Ehre gereichen von Jehova Gott. Aber
Ussija wurde zornig und er hatte in seiner Hand ein Räucherfaß zum Räuchern; und als er über die Priester zürnte,
da brach der Aussatz aus an seiner Stirn . . . Und der König
Ussija war aussätzig bis zum Tage seines Todes" (2. Chron
26, 16-21).
Das waren die ernsten und schrecklichen Folgen des unberufenen Eingreifens des Menschen in göttliche Anordnungen.
Liegt hierin nicht eine Warnung der Christenheit? Ohne
176
Zweifel. Die bekennende Kirche wird in Ausdrüdcen, die
nicht mißverstanden werden können, gewarnt, sich vor einem
menschlichen Eingriff in jenes Gebiet zu hüten, über das
Gott allein zu bestimmen hat. „Denn jeder aus Menschen
genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in
den Sachen mit Gott, auf daß er sowohl Gaben als auch
Schlachtopfer für Sünden darbringe .. . Un d nie -
man d nimm t sic h selbs t di e Ehre , sonder n
alsvonGottberufen,gleichwieauchAaron "
(Hebr 5, 1-4).
Dieser Grundsatz göttlicher Anordnung war nicht nur auf
den heiligen Dienst in der Stiftshütte beschränkt. Niemand
durfte es wagen, seine Hand auch nur an den unbedeutendsten Teil des heiligen Gebäudes zu legen, ohne von Jehova
direkt dazu autorisiert zu sein. „Und Jehova redete zu Mose
und sprach: Siehe, ic h hab e Bezalee l , den Sohn Uris,
des Sohnes Hurs, vom Stamme Juda, mi t Name n beru -
fen" . — Und wie Bezaleel sich selbst nicht zu diesem Werke
verordnen konnte, so durfte er sich auch nicht selbst seinen
Mitarbeiter wählen oder bestimmen. Auch das geschah von
Seiten Gottes: „Un d ich , siehe , ic h hab e ih m
Oholia b beigegeben " (2. Mo 31). Beide, Bezaleel
und Oholiab, erhielten ihren Auftrag von Jehova Selbst, Der
allein wahren Quelle jeder amtlichen Autorität.
Ebenso verhielt es sich mit dem prophetischen Amt oder
Dienst. Gott allein konnte einen Propheten ausrüsten und
aussenden. Leider gab es auch solche, von denen Jehova sagen mußte: „Ich habe die Propheten nicht gesandt, und doch
sind sie gelaufen" (Jer 23, 21). Es waren unheilige Eindringlinge in das Gebiet der Prophezeiung, ebenso wie es solche
gab, die unbefugt in den Dienst des Priestertums eingriffen;
aber alle brachten das gerechte Gericht Gottes über sich.
Ist dieser große Grundsatz in unseren Tagen verändert?
Ist der Dienst seiner ehemaligen Grundlage entzogen, der
lebendige Strom von seiner göttlichen Quelle abgelenkt worden? Ist jene höchst kostbare und herrliche Verordnung ihrer
hohen Würde entkleidet? Kann es möglich sein, daß in den
Zeiten des Neuen Testaments der Dienst seiner göttlichen
Vortrefflichkeit beraubt und zu einer bloß menschlichen Anordnung herabgesunken ist? Kann jemand sich selbst oder
einen andern zu irgendeinem Dienst im Hause Gottes bestimmen?
177
Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: ein bestimmtes,
feierliches Nein . Der Dienst war und ist göttlich; er wird
stets göttlich sein — göttlich in seiner Quelle, göttlich in seiner Natur, göttlich in jedem Zug und Grundsatz. „Es sind
aber Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe
Geist; es sind Verschiedenheiten von Diensten, und derselbe
Herr; und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber
derselbe Gott, der alles in allen wirkt" (1. Kor 12, 4-6). „Nun
aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen
an dem Leibe, wi e e s ih m gefalle n hat " (V. 18).
„Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens
Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, sodann
Wunderkräfte, sodann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Regierungen, Arten von Sprachen" (V. 28). „Jedem einzelnen aber von uns ist die Gnade gegeben worden
nach dem Maße der Gabe des Christus. Darum sagt Er:
Hinaufgestiegen in die Höhe, hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben . . . Und
er hat die einen gegeben als Apostel und andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten
und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des
Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi, bis wir
alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Manne,
zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus"
(Eph 4, 7-13).
Das also ist die Quelle alles Dienstes in der Kirche oder
Versammlung Gottes von Anfang bis zu Ende, von ihrem
in Gnade gelegten Fundament an bis zum Schlußstein in der
Herrlichkeit. Sie ist göttlich und himmlisch und nicht menschlich und irdisch. Sie ist nicht von Menschen oder durch einen
Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den
Vater, Der Ihn auferweckt hat aus den Toten, sowie in der
Macht des Heiligen Geistes (Siehe Gal 1). In der ganzen
Heiligen Schrift findet menschlich autorisierter Dienst in der
Kirche oder Versammlung durchaus keine Anerkennung.
Wenn es sich um eine Gabe handelt, so wird ausdrücklich
gesagt, daß es die „Gabe des Christus" ist; geht es um eine
angewiesene Stellung, so wird mit gleicher Bestimmtheit und
Klarheit betont, daß „Gott die Glieder gesetzt hat", und
wenn es sich um einen lokalen Auftrag, um die Frage eines
Ältesten oder eines Diakon handelt, so lassen sich die Apostel oder deren Bevollmächtigte nur durch göttliche Bestimmung leiten.
178
Das alles drückt die Heilige Schrift so klar, so deutlich, so
bestimmt aus, daß man nur fragen kann: „Wie liesest du?"
Jemehr wir, geleitet durch den Heiligen Geist in die herrlichen Tiefen des inspirierten Wortes eindringen, desto mehr
überzeugen wir uns, daß der Dienst in jeder Beziehung göttlich ist — göttlich in seiner Quelle, in seiner Natur, in seinen
Grundsätzen. Diese Wahrheit strahlt in voller Klarheit aus
allen Episteln; aber den Keim finden wir schon in den Worten unseres Herrn in Mtth 24, 45 wenn Er sagt: „ . . . den
sein Herr gesetzt hat über sein Gesinde". Das Gesinde gehört dem Herrn; Er allein kann Diener einsetzen, und Er tut
es nach Seinem eigenen, unumschränkten Willen.
Ebenso klar ist auch der in diesem Gleichnis angedeutete
und in den Episteln sorgfältig entwickelte Zweck dieses Dienstes: „ . . . um ihnen die Speise zu geben zur rechten
Zeit" — für die Auferbauung des Leibes Christi". Wie sehr
wünscht das liebende Herz Jesu die Auferbauung Seiner
Versammlung! Er wünscht, daß Seine Glieder wachsen, daß
seine Versammlung erbaut, Sein Leib genährt und gepflegt
werde. Aus diesem Grund reicht Er Gaben dar, unterhält
sie in der Versammlung und wird sie unterhalten, bis die
Versammlung ihrer nicht mehr bedarf.
Aber ach! es gibt eine dunkle Seite des Bildes — eine
Seite, auf deren Anblick wir vorbereitet sein müssen, so
lange wir das Bild der Christenheit vor uns haben. Es ist
nicht nur von einem „getreuen und klugen Knecht" die Rede, sondern auch von einem „bösen Knecht", der „in seinem
Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen". In seine m
Herze n entspringt dieser Gedanke an den Verzug des
Kommens seines Herrn. Er hört auf, Ihn zu erwarten; er
stellt Seine Ankunft in weite Ferne. Und was ist die Folge?
„Er fängt an, seine Mitknechte zu schlagen und ißt und
trinkt mit den Trunkenen". Welch traurige Beispiele die Geschichte des Christentums in dieser Beziehung aufzuweisen
hat, braucht nicht näher dargetan zu werden. Anstatt des
wahren Dienstes, der in dem auferstandenen und verherrlichten Haupte seine Quelle hat, anstatt der Auferbauung des
Leibes, der Segnung der Seelen und der Speisung des Gesindes, sehen wir eine falsche klerikale Autorität, eine eigenmächtige Ordnung, ein Herrschen über die Erbgüter Gottes,
ein Haschen nach dem Wohlstand und der Gewalt der Welt,
eine fleischliche Gemächlichkeit, Selbstbefriedigung, persönliche Erhebung und priesterliche Tyrannei mit ihren vielfachen
Formen und praktischen Folgen.
179
Der Unterschied zwischen dem klerikalen System und dem
wahren Dienst ist höchst beachtlich. Jenes ist eine rein
menschliche Anmaßung und hat seine Quelle in dem Herzen
des Menschen; dieser beruht auf einem auferstandenen und
verherrlichten Erretter, Der, auferweckt aus den Toten, Gaben empfangen hat, um sie zu geben, welchem Er will. Das
ist sehr ernst und sollte einen entscheidenden Einfluß auf
unsere Seelen ausüben; denn es kommt ein Tag, wo der
Herr zu Gericht sitzen wird über alles, was der Mensch in
Seinem Hause aufzubauen gewagt hat. Es geht hierbei nicht
um Personen — wiewohl es sehr verantwortungsvoll für einen
jeden ist, die Hand an das zu legen, worüber ein so schreckliches Gericht ergehen wird — sondern um ein bestimmtes
System in all seinen Formen und Verzweigungen.
Vor diesem Übel warnen wir eindringlich. Keine menschliche Sprache vermag es zu schildern, wie auch keine menschliche Sprache instande ist, die tiefen Segnungen jedes wahren
Dienstes in der Kirche oder Versammlung Gottes angemessen
darzustellen. Der Herr Jesus allein verleiht dem Menschen
Gaben zum Dienst, und in Seiner wundervollen Gnade will
Er die treue und sorgfältige Ausübung dieser Gaben reichlich
belohnen, während Er das, was der Mensch aufgerichtet hat,
mit den ernsten Worten beurteilt: „Der Herr jenes Knechtes wird kommen an einem Tage, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß, und wird ihn
entzweischneiden und ihm sein Teil setzen mit den Heuchlern: da wird sein das Weinen und das Zähneknirschen".
Möge der gnadenreiche Herr Seine Diener und Sein Volk
vor jeder Teilnahme an diesem großen Übel, das leider bis
in den Schoß der Versammlung Gottes eingedrungen ist, bewahren und sie zugleich leiten, jenen wahren, kostbaren und
göttlichen Dienst, der von Ihm ausgeht und in Seiner unendlichen Liebe zum wahren Segen und Gedeihen der Seinem
Herzen so teuren Kirche bestimmt ist, zu verstehen, zu
schätzen und auszuüben! Wir sollten allerdings auch nicht
der großen Gefahr erliegen und in das entgegengesetzte Extrem verfallen, nämlich den Dienst geringschätzen. Immer
wieder müssen wir auf der Hut sein und uns stets erinnern,
daß der Dienst in der Versammlung von Gott ist, daß seine
Quelle göttlich, seine Natur himmlisch und geistlich, sein
Zweck die Berufung und Auferbauung der Versammlung
Gottes ist. Der Herr Jesus teilt die Gaben an die Evangelisten, Hirten und Lehrer aus. Er verfügt über die geistlichen
180
Gaben, und Er hat diese Verfügungsgewalt niemals preisgegeben und wird sie niemals preisgeben. Trotz allem, was
Satan in der bekennenden Kirche abträglich gewirkt hat,
trotz aller Handlungen jenes „bösen Knechts", trotz aller
Anmaßungen einer Autorität, die dem Menschen nicht gebührt, hält unser auferstandener und verherrlichter Herr die
„sieben Sterne in seiner Hand". Er besitzt jede Gabe, jede
Macht und Autorität für den Dienst. Nur Er kann jemanden
zu einem Diener machen. Wenn Er nicht eine Gabe mitgeteilt hat, so kann kein wahrer, göttlicher Dienst geübt werden. Es bleibt dann bei hohler Anmaßung, strafbarem Eingriff, eitler Ziererei und unnützem Geschwätz. Wo aber der
Herr eine Gabe verleiht, muß diese „angefacht" und sorgfältig gepflegt werden, damit die „Fortschritte allen offenbar
seien". Die Gabe muß in der Kraft des Heiligen Geistes geübt werden; sonst wird sie nicht dem göttlich bestimmten
Zweck entsprechen.
Abschließend hierzu und zu dem kurz berührten Gleichnis
von den Talenten, sei noch einmal daran erinnert, daß jeder
wahre Dienst in unmittelbarer Beziehung zu der Ankunft
des Herrn im Blick auf jenes große und herrliche Ereignis
ausgeübt wird, sowie anderseits auch daran, daß alles, was
nachgebildet, falsch, verderbt und böse ist, gerichtlich behandelt werden wird, wenn der Herr Jesus in Seiner Herrlichkeit erscheint.
181
8. Die zehn Jungfrauen
Wir kommen jetzt zu jenem Teil des Gesprächs, in dem
unser Herr das Reich des Himmels unter dem Gleichnis von
zehn Jungfrauen darstellt. Die in diesem wichtigen und interessanten Gleichnis enthaltene Lehre ist von umfassenderer
Anwendung als diejenige im Gleichnis vom „bösen Knecht",
weil hier die ganze Masse der bekennenden Christenheit und
nicht nur der Dienst in und außer dem Hause angesprochen
wird. Das Gleichnis zielt unmittelbar und bestimmt auf ein
christliches Bekenntnis, mag dieses wahr oder falsch sein.
„Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden sein
zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und ausgingen,
dem Bräutigam entgegen" (Mtth 25, 1). Die Meinung, daß
dieses Gleichnis auf den Überrest Israels Bezug habe, findet
weder in dem Zusammenhang, noch in den Ausdrücken, in
die es gekleidet ist, eine Stütze.
Je gründlicher wir den ganzen Inhalt prüfen, desto klarer
erkennen wir, daß der jüdisch bestimmte Teil des Gesprächs
mit Kap. 24, 44 ein Ende nimmt. Der christlich bestimmte
Teil reicht von Kap. 24, 44 bis Kap. 25, 30, und von Kap.
25, 31 bis ans Ende handelt es sich um die Nationen als
solche. Die Ordnung und Fülle dieser wunderbaren Unterhaltung muß jedem nachdenkenden Leser in die Augen springen. Sie stellt einen jeden auf seinen eigenen bestimmten
Boden, und zwar nach seinen eigenen unterscheidenden
Grundsätzen. Hier gibt es keine Vermengung grundsätzlicher
Verschiedenheiten. Mit einem Wort, die Ordnung, die Fülle
und die Unterscheidung dieser inhaltsvollen Unterredung ist
göttlich und erfüllt die Seele mit Bewunderung, Lob und Anbetung, so daß wir bei ihrer Betrachtung die Worte des Apostels ausrufen möchten: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der
Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege!"
Bei näherer Prüfung der Ausdrücke, deren Sich der Herr
in dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen bedient, stellen
wir fest, daß dieses Gleichnis sich weder auf die Juden, noch
auf die Versammlung, sondern auf die persönliche Verantwortlichkeit während der Abwesenheit Christi bezieht, Ja,
es redet zu uns in ernster Unterweisung und verdient daher
unsere ganze Aufmerksamkeit.
182
„Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden
sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen". Das ursprüngliche Christentum war durch die hier bezeichnete Tatsache charakterisiert,
nämlich durch ein Ausgehen, um einem wiederkehrenden, erwarteten Bräutigam zu begegnen. Die ersten Christen waren
dahin geleitet worden, sich von den gegenwärtigen Dingen
zu trennen und in ihrer Gesinnung und in der Liebe ihres
Herzens dem Heiland entgegenzugehen., den sie liebten und
erwarteten. Es war dies selbstredend kein Ausgehen von
einem Ort zum andern; es war ein moralisches, geistiges
Ausgehen, ein Verlangen des Herzens nach ihrem Heiland,
Dessen Wiederkehr sie von Tag zu Tag sehnlichst erwarteten.
Die Epistel an die einzelnen Versammlungen beweisen, daß
die Hoffnung der gewissen und baldigen Ankunft des Herrn
die Herzen des Volkes Gottes in jenen ersten Tagen beherrschte.
Sie „erwarteten den Sohn Gottes aus den Himmeln".
Sie wußten, daß Er kommen werde, um sie für immer zu
sich zu nehmen, und diese Erkenntnis und die Kraft dieser
Hoffnung lösten ihre Herzen von den irdischen Dingen. Sie
schauten aus nach ihrem Erretter; sie glaubten, daß Er jeden
Augenblick zurückkehren könne, und deshalb beschäftigten
sie sich mit den Angelegenheiten dieses Lebens nur insoweit
— wenn auch so, wie es sich gebührt — als es der Augenblick
erheischte, aber gleichsam in der beharrlichsten Erwartung.
Diese Haltung ergibt sich kurz und deutlich aus den Worten: „Sie gingen aus, dem Bräutigam entgegen". Das kann
unmöglich auf den Überrest der Juden angewandt werden,
da diese dem Messias nicht entgegengehen, sondern im Gegenteil in ihrer Stellung und inmitten ihrer Umstände bleiben werden, bis Er kommt und Seine Füße auf den ölberg
stellt. Sie erwarten nicht, daß Er kommen und sie von der
Erde zu Sich in den Himmel nehmen werde; aber Er wird
kommen, um ihnen in ihrem eigenen Lande Frieden zu bringen und sie unter Seiner friedensreichen und gesegneten
Regierung während des tausendjährigen Reiches glücklich zu
machen. — Die Christen aber sind berufen „auszugehen". Es
wird vorausgesetzt, daß sie stets in Bewegung sind und sich
nicht als Bleibende auf dieser Erde niederlassen, sondern daß
sie ausgehen in ernstem, heiligem Verlangen nach der himmlischen Herrlichkeit, zu welcher sie berufen sind, dem Bräutigam entgegen, Dessen Ankunft sie stündlich zu erwarten
haben.
183
Das ist die wahre und naturgemäße Stellung des Gläubigen — eine Stellung, die in wunderbarer Weise von den
ersten Christen verwirklicht und praktisch geübt wurde. Aber
leider werden wir nur zu oft an die Tatsache erinnert, daß
uns im Christentum sowohl Falsches als auch Wahres begegnet. Es gibt ebenso „Unkraut" wie auch „Weizen" im Reiche
der Himmel; so wird auch von den zehn Jungfrauen gesagt:
„Fünf aber von ihnen waren klug und fünf töricht". Die
bekennende Kirche umfaßt ebenso echtes und unechtes, wirkliches und nachgemachtes Christentum. So wird es fortdauern bis der Bräutigam kommt. Das Unkraut wird sich nicht
in Weizen und die törichten Jungfrauen werden sich nicht in
kluge Jungfrauen verwandeln. Nein, nimmermehr. Das
Unkraut wird verbrannt, und die törichten Jungfrauen werden
ausgeschlossen werden. Statt einer allmählichen Veredelung
durch die Predigt des Evangeliums und durch die vielen in
Wirksamkeit gesetzten religiösen tätigen Mittel, zeigt dieses
Gleichnis sowie das ganze Neue Testament, daß das Reich
der Himmel eine beklagenswerte Mischung von Gutem und
Bösem ist, wo der Feind in das Werk Gottes eingreift, und
wo das Böse im Prinzip, im Bekenntnis und in der Praxis
unaufhaltsam fortschreitet.
Und so wird es fortdauern bis ans Ende. Wenn der Bräutigam kommt, wird es törichte Jungfrauen geben. Woher
aber könnten sie kommen, wenn alle vor der Ankunft des
Herrn bekehrt werden würden? Wenn jeder zur Erkenntnis
der Wahrheit gebracht würde, wie könnten dann bei der
Erscheinung des Bräutigams ebenso viele törichte wie kluge
Jungfrauen gefunden werden? Man könnte einwenden, daß
man es hier nur mit einem Gleichnis, einem Bilde, zu tun
habe. Wir räumen dies ein. Es ist ein Gleichnis, aber wovon?
Gewiß nicht von einer bekehrten Welt. Das zu behaupten
wäre eine Geringschätzung der Heiligen Schrift, der Lehre
unseres Herrn in einer Weise, wie man es kaum wagen würde, die Lehre eines Menschen abzuweisen.
Nein, geliebter Leser, das Gleichnis von den zehn Jungfrauen belehrt uns, daß, wenn der Bräutigam kommt, auch
törichte Jungfrauen vorhanden sein werden, und ist dies der
Fall, so könnten sie unmöglich vorher bekehrt gewesen sein.
Ein Kind kann dies begreifen. Wir können nicht verstehen,
wie man, angesichts dieses Gleichnisses, die Theorie aufrechthalten kann, daß vor der Ankunft des Bräutigams die ganze
Welt bekehrt sei.
184
Die Geschichte von den törichten Jungfrauen enthält vielmehr für jeden christlichen Bekenner eine ernste Warnung.
Sie ist kurz aber verständlich. „Die, welche töricht waren,
nahmen ihre Lampen und nahmen kein ö l mit sich". Hier
ist äußeres Bekenntnis, aber keine innere Wirklichkeit —
kein geistliches Leben, keine Salbung, keine Verbindung mit
der Quelle des ewigen Lebens, keine Vereinigung mit Christo. Es findet sich nichts als die Lampe des Bekenntnisses,
der trockene Docht des nur den Namen tragenden, eingebildeten Kopfglaubens.
Das ist sehr ernst und lastet schwer auf der ungeheuren
Masse getaufter Bekenner um uns her, wo so viel äußerer
Schein, aber so wenig innere Wirklichkeit vorhanden ist. Alle
bekennen, Christen zu sein. Die Lampe des Bekenntnisses
mag in jeder Hand gesehen werden; aber ach! wie wenige
haben ö l in ihren Gefäßen, den Geist des Lebens in Christo
Jesu, den Heiligen Geist in ihren Herzen! Ohne dies aber
ist alles wertlos und eitel. Es kann das schönste, durchaus der
Wahrheit entsprechende Bekenntnis vorhanden sein; man
kann getauft, zum Abendmahl zugelassen und als Glied einer
Gemeinschaft anerkannt worden sein, man kann in religiöser
Weise wirksam oder gar zum Prediger ordiniert sein; dies
alles ist möglich, ohne daß man einen Funken göttlichen Lebens, einen Strahl himmlischen Lichts in sich hat, ohne daß
man in Verbindung mit Christo steht.
Es ist in der Tat ein höchst trauriger Gedanke, daß man
soviel Religion besitzen kann, um sich selbst zu betrügen,
das Gewissen zu betäuben und die Seele zugrunde zu richten — genug, um den Namen zu haben, daß man lebe, während man tot ist, genug, um ohne Christum, ohne Gott,
ohne Hoffnung in dieser Welt zu sein, um die Seele mit
falschem Vertrauen zu nähren und mit falschem Frieden zu
füllen, bis der Bräutigam kommt und das Auge — leider zu
spät — geöffnet wird.
So verhält es sich mit den törichten Jungfrauen. Zwischen
ihnen und den klugen Jungfrauen bemerkt man zunächst
kaum eine Unterscheidung. Sie gehen miteinander aus. Alle
haben Lampen; alle — sowohl die törichten wie die klugen —
werden schläfrig und schlafen ein; alle stehen bei dem Geschrei um Mitternacht auf und schmücken ihre Lampen. Bis
dahin zeigt sich kein augenscheinlicher Unterschied. Die törichten Jungfrauen zünden ihre Lampen an — jene Lampen
des Bekenntnisses, versehen mit dem trockenen Docht eines
185
leblosen, eingebildeten Glaubens. Welch eine nutzlose, ja
mehr als nutzlose Sache! Welch eine verhängnisvolle, seelenzerstörende Täuschung!
Dann aber zeigt sich der große Unterschied in erschreckender Klarheit. „Die Törichten aber sprachen zu den Klugen:
Gebet uns von eurem öl ; denn unsere Lampen erlö -
schen" . Daraus ergibt sich, daß ihre Lampen angezündet
worden waren, sonst hätten sie nicht erlöschen können. Aber
es war nur ein falsches, flackerndes, unstetes Licht; es war
nicht von einer göttlichen Quelle genährt. Es war das Licht
eines bloßen Lippenbekenntnisses, angefacht durch einen
Kopfglauben — ein Licht, das gerade lange genug brannte,
um sich und andere betrügen zu können und das just in dem
Augenblick erlosch, wo sie seiner mitten in der trostlosen
Finsternis so sehr bedurften.
„Unsere Lampen erlöschen". Schreckliche Entdeckung! Der
Bräutigam kommt, und unsere Lampen erlöschen. Unser leeres Bekenntnis wird offenbar durch das Licht Seiner Erscheinung. Wir glaubten auf dem rechten Wege zu sein, wir bekannten denselben Glauben, hatten dieselben Lampen, dieselben Dochte — aber ach! zu unserem unaussprechlichen
Schrecken finden wir nun, daß wir uns selbst betrogen haben, daß uns das eine fehlt, was not tut, nämlich, der Geist
des Lebens in Christo, die Salbung des Heiligen Geistes, die
lebendige Verbindung mit dem Bräutigam. Was jetzt anfangen? O ihr klugen Jungfrauen, habt Mitleid mit uns und
„gebt uns von eurem öl! " O tut es aus Barmherzigkeit!
gebt uns ein wenig, nur einen Tropfen, damit wir nicht auf
ewig umkommen.
Ach! alles ist vergebens. Niemand kann von seinem ö l
dem andern geben. Ein jeder hat nur genug für sich selbst,
und überdies kann Gott allein es darreichen. Der Mensch
kann Lich t geben, aber kein ö 1 . Es ist eine Gabe Gottes.
„Die Klugen antworteten und sagten: Damit es nicht etwa
für uns und euch nicht ausreiche; gehet lieber hin zu den
Verkäufern und kaufet für euch selbst. Als sie aber hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren,
gingen mit ihm ein zur Hochzeit, und di e Tü r war d
verschlöss e n". Es ist nutzlos, sich auf christliche Freunde zu stützen oder bei ihnen Hilfe zu suchen. Es ist nutzlos,
dahin und dorthin zu rennen, sich an diesen heiligen Mann
oder an jenen vorzüglichen Lehrer zu lehnen, auf unsere
186
Kirche, auf unser Bekenntnis, auf unsere Sakramente zu vertrauen. Wir müssen ö l haben. Wir können nicht ohne ö l
sein. Wo können wir es erlangen? Nicht von den Menschen,
nicht von der Kirche, nicht von den Heiligen, nicht von den
Vätern. Wir müssen es von Gott empfangen, und Er — gepriesen sei Sein Name! — gibt es umsonst. „Die Gabe Gottes
ist das ewige Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn".
Aber man bedenke wohl, daß es eine persönliche Gabe ist.
Ein jeder muß es für sich selbst und in sich selbst besitzen.
Kein Mensch kann für einen anderen glauben oder für einen
anderen das ewige Leben empfangen. Ein jeder hat es für
sich selbst mit Gott zu tun. Das Band, das die Seele mit
Christo verbindet, ist rein persönlich. Es gibt keinen erborgten Glauben. Ein Mensch kann uns in religiösen Dingen unterweisen und uns gewisse Stellen der Schrift erklären; aber
er kann uns weder öl, noch Glauben, noch das Leben geben.
Das alles ist die Gab e Gottes . Wie kostbar ist diese
„Gabe"! Sie ist wie Gott. Sie ist frei wie die Luft, die wir
einatmen, frei wie das Licht der Sonne, frei wie die erfrischenden Tautropfen. Aber, wir wiederholen es mit allem
Nachdruck, ein jeder muß sie für sich und in sich selbst haben. „Keineswegs vermag jemand seinen Bruder zu erlösen,
nicht kann er Gott sein Lösegeld geben (denn kostbar ist die
Erlösung ihrer Seele, und er muß davon abstehen auf ewig),
daß er fortlebe immerdar, die Grube nicht sehe" (Ps. 49,7-9).
Was sagst du zu diesen ernsten Wirklichkeiten, lieber
Leser? Gehörst du zu den törichten oder den klugen Jungfrauen? Hast du das Leben eines auferstandenen und verherrlichten Erlösers empfangen? Oder bist du nur ein religiöser Bekenner und zufrieden mit deinem gewohnheitsmässigen, toten Kirchenbesuch? Gehörst du zu denen, die gerade
genug Religion besitzen, um mit Ehren durch die Welt zu
gehen, aber nicht genug, um in den Himmel eintreten zu
können? Wir bitten dich sehr, mit Ernst über diese Dinge
nachzudenken. Wie unaussprechlich schrecklich würde es sein,
wenn du einmal erkennen müßtest, daß die Lampe deines
Bekenntnisses erlöschte und du zurückbliebest in der schauerlichen Finsternis einer ewigen Nacht. Wie entsetzlich, wenn
dann die Tür sich vor deinen Augen hinter dem glänzenden
Zug derer schlösse, die mit dem Bräutigam zur Hochzeit eingehen! Wie schmerzlich der Ruf: „Herr, Herr, tu uns auf!"
Und wie vernichtend die Antwort: „Wahrlich ich sage euch,
ich kenne euch nicht!"
187
O geliebter Freund! erwäge diese ernsten Dinge in deinem
Herzen, solange die Tür noch offensteht und der Tag der
Gnade durch die Langmut Gottes verlängert ist. Der Augenblick, wo die Gnadentür auf immer geschlossen, wo alle
Hoffnung verloren sein und die Seele in düstere und ewige
Verzweiflung hinabgestoßen werden wird, rückt schnell heran. Möge der Geist Gottes dich doch aus deinem verhängnisvollen Schlummer aufrütteln und dir keine Ruhe gestatten,
bis du sie in dem vollbrachten Werk unseres Herrn Jesus
Christus und zu Seinen gesegneten Füßen in Preis und Anbetung gefunden haben wirst!
Wir wollen abschließend noch einen flüchtigen Blick auf
die klugen Jungfrauen werfen. Sie unterscheiden sich von den
törichten Jungfrauen in unserem Gleichnis darin, daß sie, als
sie dem Bräutigam entgegengingen, „ö l nahmen in ihren
Gefäßen mit ihren Lampen". Mit einem Wort, das, was die
wahren Gläubigen von den bloßen Bekennern unterscheidet,
ist, daß sie die Gnade des Geistes Gottes in ihrem Herzen
haben; sie haben den Geist des Lebens in Christo in sich.
Der Heilige Geist wohnt in ihnen. Er ist das Siegel, das
Pfand, die Salbung und der Zeuge in ihrem Herzen. Diese
große und herrliche Tatsache charakterisiert alle wahren
Gläubigen; es ist eine mächtige und wundervolle Tatsache,
ein unermeßliches, unaussprechliches Vorrecht, das unsere
Seelen stets zu heiliger Anbetung vor Gott und vor unseren
Herrn Jesus Christus bringen sollte, Dessen vollbrachtes
Erlösungswerk uns diese große Segnung verschafft hat.
Doch wie beschämend ist der Gedanke, daß wir trotz dieser
hohen und heiligen Vorrechte in unserem Gleichnis die Worte lesen müssen: „Als aber der Bräutigam verzog, wurden
sie alle schläfrig und schliefen ein". Ja alle, die klugen wie
die törichten Jungfrauen, sind eingeschlafen. Der Bräutigam
verzog, und alle, ohne Ausnahme, verloren die Frische, den
Eifer und die Kraft der Hoffnung Seiner Ankunft und schliefen ein.
Das ist die Sachlage des Gleichnisses, das ist die ernste
Tatsache der Geschichte. Die ganze bekennende Körperschaft
ist in Schlaf gefallen. Die „glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus", jene Hoffnung, die in den ersten Tagen der Christen so hell am Horizont leuchtete, verlor bald
ihren Schein und schwand schließlich gänzlich. Wenn wir die
Geschichte der Kirche während der folgenden 1800 Jahre einer
188
näheren Prüfung unterziehen und ihren Lauf von den Tagen
der Apostel bis zu den späteren Zeiten verfolgen, so finden
wir bald nicht mehr die geringste Spur von dieser besonderen Hoffnung der Kirche oder Versammlung, der persönlichen Wiederkehr des gesegneten Bräutigams. In der Tat ist
diese Hoffnung, wenigstens der Kraft nach, der Kirche verlorengegangen, so daß es sogar als Ketzerei betrachtet wurde, sie zu lehren. Und selbst jetzt in diesen letzten Tagen
gibt es eine Menge von Predigern und Dienern, die es nicht
wagen, die Ankunft des Herrn zu verkündigen und so zu
lehren, wie die Schrift davon redet.
Wir bemerken — und der Herr sei dafür gepriesen! — seit
etwa fünfzig Jahren in dieser Beziehung eine mächtige
Wandlung. Ein geistliches Erwachen hat stattgefunden. Gott
hat begonnen, Sein Volk durch Seinen Heiligen Geist wieder
zu längst vergessenen Wahrheiten zurückzuführen, wie namentlich auch zu der herrlichen Wahrheit von der Ankunft
des Bräutigams. Viele erkennen, daß die Ursache, die das
Zögern des Bräutigams bewirkt hat, in der Langmut Gottes
gegen uns zu suchen ist, da Er nicht will, daß jemand verloren gehe, sondern daß alle zur Buße kommen. Welch eine
kostbare Ursache!
Nichtsdestoweniger aber erkennen wir, daß ungeachtet der
Langmut Gottes, unser Herr nahe ist. Er kommt bald. Das
Geschrei um Mitternacht ist erschollen: „Siehe, der Bräutigam! gehet aus, ihm entgegen!" O möchten doch all die Seinen dieses Geschrei wie ein Echo aufnehmen, bis es in seiner
moralischen Kraft von einem Ende der Erde bis zum anderen
erschollen und die ganze Versammlung aufgewacht ist, um
auf die herrliche und glückselige Erscheinung des Bräutigams
zu warten.
Geliebte Brüder im Herrn! Wacht auf! Jeder erhebe sich
vom Schlafe! Laßt uns die Trägheit und den Schlummer
weltlicher Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit abschütteln! Reißen wir uns los von dem verderbenbringenden Einfluß einer religiösen Form und trägen Gewohnheit; werfen
wir die Lehren einer falschen Theologie von uns und gehen
wir im Geiste unseres Gemüts und in den Neigungen unseres Herzens aus, um dem Bräutigam zu begegnen, indem
Seine eigenen feierlichen Worte mit frischer Kraft in unsere
Seele dringen: „Wachet also; denn ihr wisset nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt!" O möchte doch die Sprache
unserer Lippen und unserer Herzen sein: „Amen, komm
Herr Jesu!"
189
9. Die Talente
Es bleibt noch übrig, jenen Teil des Gesprächs unseres
Herrn zu betrachten, in dem Er den ernsten Gedanken der
Verantwortlichkeit des Diener während seiner Abwesenheit
wieder aufnimmt. Diese Verantwortlichkeit steht in enger
Verbindung mit der Hoffnung Seiner Ankunft. Das geht
klar aus dem Umstand hervor, daß das Gleichnis von den
zehn Jungfrauen mit den Worten schließt: „So wachet nun,
denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunde". Dann
setzt Er das Gespräch fort mit den Worten: „Denn gleichwie
ein Mensch, der außer Landes reiste, seine eigenen Knechte
rief und ihnen seine Habe übergab" (Mtth 25, 13. 14).
Es besteht ein großer Unterschied zwischen diesem Gleichnis von den Talenten und dem Gleichnis vom untreuen
Knecht (Kap. 24, 45-51). Das letztere befaßt sich mit dem
Dienst im Hause; das erstere hingegen mit dem Dienst
draußen in der Welt. Aber in jedem dieser beiden Gleichnisse finden wir die Grundlage jeglichen Dienstes, nämlich die
Gabe und die Autorität Christi. Er rief Sein e eigene n
Knechte und übergab ihnen Sein e Habe. Die Knechte und
die Habe sind Sein. Nur der Herr kann jemanden in einen
Dienst berufen, und niemand außer Ihm kann geistliche
Gaben mitteilen. Es ist keinem Menschen möglich, ein Diener
Christi zu sein, wenn Christus ihn nicht berufen und für das
Werk befähigt hat. Das steht außer allem Zweifel. Es kann
jemand ein Religionsdiener sein; er kann das Evangelium
predigen und Theologie lehren; aber er kann nur ein Diener
Christi sein, wenn Christus ihn dazu berufen und für das
Werk begabt hat. Handelt es sich um den Dienst i m Hau -
s e , so heißt es : . . . den sein Herr gesetzt hat über sein
Gesinde", und handelt es sich um den Dienst i n de r
Welt , so gilt: „Er rief seine eigenen Knechte und übergab
ihnen seine Habe".
Diese große Grundwahrheit tritt in den Worten eines der
größten Diener, die je gelebt haben, klar hervor. Paulus sagt:
„Ich danke Christo Jesu, unserem Herrn, der mir Kraft verliehen, daß er mich treu erachtet und in de n Diens t ge -
stell t hat " (1. Tim 1, 12).
So muß es — was auch das Maß, der Charakter und die
Sphäre des Dienstes ist — in jedem Fall sein. Der Herr al190
lein kann jemanden in den Dienst stellen und ihn befähigen,
diesen zu erfüllen. Hat sich der Mensch selbst einen Dienst
angemaßt oder haben ihn andere angestellt, so widerspricht
das dem Willen Gottes und den Grundsätzen der Heiligen
Schrift. Lassen wir uns durch das Wort Gottes leiten, so
muß es uns klar werden, daß jeder Dienst in und außer dem
Hause göttlicher Berufung und göttlicher Befähigung bedarf;
wo diese fehlen, ist der Dienst wertlos. Wer sich selbst zu
einem Diener verordnet, oder durch andere dazu verordnet
wird, folgt einer Berufung, die nicht vom Himmel, nicht von
Gott, nicht durch Jesum ist. Sie wird sich daher als die
traurigste und kühnste Anmaßung erweisen und Gericht nach
sich ziehen.
Dieser große Grundsatz ist so einfach wie ernst. Er ruht
auf göttlicher Basis und kann unmöglich von jemandem, der
— was jeder Christ tun sollte — sich unter der Autorität des
Wortes Gottes beugt, irgendwie in Frage gestellt werden. Der
Leser sollte sich durch sorgfältigen Schriftvergleich persönlich
davon überzeugen, daß in dem Gleichnis von dem Haushalter ausdrücklich gesagt wird: „ . . . den sei n Her r gesetzt hat über sein Gesinde". Er hat sich diesen Platz nicht
selbst gewählt, noch ist er von anderen dazu eingesetzt worden. Die Berufung ist göttlich. Ebenso ergibt sich aus dem
Gleichnis von den Talenten, daß der Herr sein e eige -
n e n Knechte beruft und ihnen sein e Habe übergibt. Die
Berufung und die Befähigung sind göttlich.
In Luk 19 tritt uns dieselbe Wahrheit vor Augen. „Ein
gewisser hochgeborener Mann zog in ein fernes Land, um
ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukom -
men . Er berief aber seine zehn Knechte und gab ihnen
zehn Pfunde und sprach zu ihnen: Handel t bi s ic h
komme" . Der Unterschied zwischen Matthäus und Lukas
scheint darin zu liegen, daß dieser mehr die menschliche
Verantwortlichkeit, jener mehr die göttliche Unumschränktheit in den Vordergrund stellt; aber beide halten unwiderlegbar den Grundsatz fest, daß jeder wahre Dienst göttlicher
Anordnung entspringt.
Diese Wahrheit begegnet uns auch in der Apostelgeschichte. Als ein anderer anstelle des Judas Iskariot bestimmt werden sollte, wandten sich die Elfe an den Herrn mit den Worten: „Du, Herr, Herzenskündiger aller, zeige von diesen beiden den einen an, de n d u auserwähl t hast , um das
191
Los dieses Dienstes und Apostelamtes zu empfangen" (Kap.
1, 24).
Und selbst wenn es sich um einen lokalen Dienst, wie
z. B. um den der Diakonen (Kap. 6) oder der Ältesten (Kap.
15), handelt, so geschah die Einführung in diesen Dienst
durch direkte apostolische Anordnung. Mit einem Wort, alles
war göttlich. Niemand konnte sich selbst zu einem Diakonen
und noch weniger zu einem Ältesten machen. Da die Diakonen zu Verwaltern über das Besitztum der Versammlung
gesetzt waren, war es der Versammlung wohl gestattet,
Männer zu wählen, denen sie vertrauen konnte; aber die
Bestimmung, sowohl in bezug auf die Diakonen, als auch in
bezug auf die Ältesten, war göttlich. Kurz alles, mochte es
sich um eine Gabe oder um einen lokalen Dienst handeln,
stand auf göttlicher Grundlage, und das ist höchst bedeutsam.
Dieselbe Wahrheit tritt uns in den Episteln in vollem,
ungetrübtem Licht entgegen, so z. B. in Röm 12: „Denn ich
sage durch die Gnade, die mir gegeben worden, jedem, der
unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken, daß er besonnen
sei, wie Gott einem jeden das Ma ß de s Glauben s zu -
geteil t hat . Denn gleichwie wir in einem Leibe viele
Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Verrichtung haben, also sind wir, die Vielen, ein Leib in Christo,
einzeln aber Glieder voneinander. Da wir aber verschiedene
Gnadengaben haben nac h de r un s verliehene n
Gnade..." . So steht auch in 1. Kor 12 geschrieben:
„Nu n abe r ha t Got t di e Gliede r gesetzt , ei n
jede s einzeln e vo n ihne n a n de m Leibe , wi e
e s ih m gefalle n hat" . „ . . . Und Gott ha t etli -
c h e i n de r Versammlun g gesetzt : erstens Apostel ... " (V. 18. 28). In Eph 4 aber finden sich die Worte: „. . . Jedem einzelnen aber von uns ist die Gnade gegeben worden nac h de m Maß e de r Gab e de s
Christus" .
Alle diese und viele andere Schriftstellen, die wir noch anführen könnten, bestätigen die Wahrheit, die wir hier so
sorgfältig behandelt haben, nämlich, daß jeder wahre Dienst
ohne Ausnahme göttlich, von Gott, vom Himmel, durch Jesum Christum ist. Wir finden im Neuen Testament nichts
von einer menschlichen Autorität zum Dienst in der Kirche
Gottes; es kennt nur die gesegnete Lehre, die in den kurzen
Worten unseres Gleichnisses enthalten ist: „Er rief seine
192
eigenen Knechte und übergab ihnen seine Habe". In diesen
Worten ist die ganze neutestamentliche Lehre zu diesem
Gesichtspunkt zusammengefaßt, und wir bitten den Leser
ernstlich, diese Wahrheit in seine Seele aufzunehmen und
ihr die volle Macht einzuräumen, die sie auf sein Leben, auf
seinen Wandel und auf seinen Charakter ausüben sollte.*)
Wer nun fragt, ob denn das Gefäß den ihm anvertrauten
Gaben nicht angepaßt ist, findet die Antwort in den Worten
des Gleichnisses: „Und einem gab er fünf Talente, einem
aber zwei, einem aber eins, einem jeden nac h seine r
eigene n Fähigkeit" .
Das ist höchst wichtig und darf nicht außer acht gelassen
werden. Der Herr weiß, welchen Gebrauch Er von einem
Menschen machen kann. Er kennt die Gabe, welche Er dem
Gefäß anvertrauen will; Er formt das Gefäß und bildet demgemäß den Menschen. Wir zweifeln nicht, daß Paulus für die
Aufgabe, die er erfüllen sollte und für das Werk, welches
ihm anvertraut war, ein von Gott besonders zubereitetes
Gefäß war. Und so ist es in jedem Falle. Wenn Gott jemanden berufen hat, öffentlich zu reden, so gibt Er ihm das
Talent; er verleiht ihm auch die körperlichen Kräfte, die
dazu erforderlich sind. Die Gabe ist von Gott; aber sie entspricht der Fähigkeit des Menschen.
Wer dies aus dem Auge verliert, wird dem wahren Charakter des Dienstes nur ein höchst mangelhaftes Verständnis
entgegenbringen. Es gilt auf zwei Dinge zu achten, nämlich
auf die göttliche Gabe und auf das menschliche Gefäß, dem
die Gabe anvertraut ist. Hier zeigen sich die Souveränität Gottes und die Verantwortlichkeit des Menschen. Wie vollkommen und wie wunderbar sind all die Wege Gottes! Aber
ach! der Mensch verdirbt alles; schon die Berührung der
Arbeit Gottes durch einen menschlichen Finger trübt deren
Glanz. Dennoch ist der Dienst in seiner Quelle, in seiner
Natur, in seiner Kraft und in seinem Ziele göttlich. „Was
aber" — so könnte man fragen — „hat das alles mit der Ankunft des Herrn zu tun?" — Viel, sehr viel in jeder Beziehung. Kommt unser Herr während Seines Gesprächs auf dem
*) Es ist keineswegs unsere Absicht, die Anwendung der „Talente" auf die besonderen geistlichen Gaben zu beschränken. Wir glauben vielmehr, daß dieses Gleichnis
von den „zehn Jungfrauen alles in sich schließt, was auf das christliche Bekenntnis
Bezng hat.
193
ölberg nicht immer wieder auf diesen Zusammenhang zurück? Ist die ganze Unterhaltung nicht eine Antwort auf die
Frage der Jünger: „Welches ist das Zeichen deiner Ankunft
und der Vollendung des Zeitalters?" (Kap 24, 3). Steht nicht
Sein Kommen als das zentrale Anliegen im Mittelpunkt
sowohl des ganzen Gesprächs als auch in jedem seiner Teilbereiche besonders? Wer könnte es leugnen!
Welches Anliegen aber tritt daneben in besonderer Weise
hervor? Ist es nicht der Dienst? Werfen wir einen Blick
auf das Gleichnis von dem Knecht, der über das Gesinde
gesetzt ist. Unter welchem Gesichtspunkt hat er zu dienen?
Im Blick auf die Wiederkunft des Herrn. Der Dienst verbindet sich gleichsam mit dem Scheiden und dem Wiederkommen des Herrn; er steht dazwischen und ist durch diese
beiden großen Ereignisse charakterisiert. Und wodurch wird
vielen dieser Dienst unmöglich gemacht? Die Ursache ist, daß
man das Kommen des Herrn aus den Augen verloren hat.
Der böse Knecht sagt in seinem Herzen: „Mein Herr verzieht zu kommen"; und die Folge davon ist, daß er anfängt,
„seine Mitknechte zu schlagen", und daß er ißt und trinkt
mit den Trunkenen".
Das besagt auch das Gleichnis von den Talenten. Das ernste, ergreifende Wort heißt: „Handelt bis ich komme!" Kurz,
wir erkennen, daß der Dienst, ob im Hause Gottes oder
draußen in der Welt, im Blick auf das Kommen des Herrn
ausgeübt werden soll. „Nach langer Zeit aber kommt der
Herr jener Knechte und hält Rechnung mit ihnen". Alle
Diener haben sich der ernsten Tatsache bewußt zu sein, daß
eine Zeit der Abrechnung kommt. Dieses Bewußtsein wird
ihre Gedanken und Gefühle in jedem Bereich ihres Dienstes
in Zucht halten. Hören wir die wichtigen Worte, mit denen
ein Diener den anderen zu ermuntern sucht: „Ich bezeuge
ernstlich vor Gott und Christo Jesu, der da richten wird Lebendige und Tote, und bei seiner Erscheinung und seinem
Reiche: Predige das Wort, halte darauf in gelegener und ungelegener Zeit; überführe, strafe, ermahne mit aller Langmut und Lehre. Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen
Lüsten sich selbst Lehrer aufhäufen werden, indem es ihnen
in den Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der
Wahrheit abkehren und zu den Fabeln sich hinwenden. Du
aber sei nüchtern in allem, leide Trübsal, tue das Werk eines
Evangelisten, vollführe deinen Dienst. Denn ich werde schon
194
als Trankopfer gesprengt, und die Zeit meines Abscheidens
ist vorhanden. Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich
habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt;
fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche
der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben
wird an jene m Tage ; nicht allein aber mir, sondern
auc h allen , di e sein e Erscheinun g lieben "
(2. Tim 4, 1-8).
Diese rührende und wichtige Stelle zeigt uns, wie eng der
Dienst mit dem Kommen des Herrn verbunden ist. Der gesegnete Apostel — wohl der ergebenste, begabteste und
wirksamste Arbeiter im Weinberg Christi und der geschickteste Haushalter in der Verwaltung der Geheimnisse Gotttes,
der große Diener der Kirche und der Prediger des Evangeliums, der weise Baumeister, der unvergleichliche Diener —
dieses seltene und kostbare Gefäß übt sein Werk aus, erfüllt seinen Dienst und entledigt sich seiner heiligen Verantwortlichkeit im Blick auf „jene n Tag" . Er schaute und
schaut noch immer aus nach der feierlichen und herrlichen
Gelegenheit, wo der gerechte Richter die „Krone der Gerechtigkeit" auf Sein Haupt setzen wird, und mit rührender
Liebe fügt er hinzu: „Nicht allein aber mir, sondern allen,
die seine Erscheinung lieben".
Das ist sehr köstlich. Nicht nur für den begabten, wirksamen und ergebenen Paulus wird an „jenem Tage" eine
Krone der Gerechtigkeit bereitliegen, sondern auch für jeden, der die Erscheinung unseres Herrn und Heilandes liebt.
Ohne Zweifel werden sich in seiner Krone Edelsteine von
besonderem Glanz finden; aber damit niemand denken solle,
daß die Krone der Gerechtigkeit nur für ihn da sei, fügt er
die lieblichen Worte hinzu: „ . . . sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben". Dank und Preis dem Herrn für solche Worte! Sie sollten in unserem Herzen bewirken, daß
wir nicht nur die Erscheinung des Herrn lieben, sondern
daß wir im Blick auf jenen herrlichen Tag mit einer innigen
und herzlichen Liebe dienen! Daß beide eng miteinander
verbunden sind, sehen wir aus dem Verlauf der Gleichnisse
von den Talenten. Nachdem die Knechte die Talente empfangen hatten, wird gesagt:
„Der die fünf Talente empfangen hatte, ging aber hin und
handelte mit denselben und gewann andere fünf Talente. Desgleichen auch, der die zwei empfangen hatte, auch er gewann
andere zwei. Der aber das eine empfangen hatte, ging hin,
1?5
grub in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. Nach
langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte und hält
Rechnung mit ihnen. Und es trat herzu, der die fünf Talente
empfangen hatte, und brachte andere fünf Talente und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir übergeben, siehe, fünf andere Talente habe ich zu denselben gewonnen. Sein Herr
sprach zu ihm: Wohl du guter und treuer Knecht! über weniges
warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh ein
in die Freude deines Herrn. Es trat aber auch herzu, der die
zwei Talente empfangen hatte, und sprach: Herr, zwei Talente hast du mir übergeben; siehe, andere zwei Talente habe ich zu denselben gewonnen. Sein Herr sprach zu ihm:
Wohl, du guter und treuer Knecht! über weniges warst du
treu, über vieles werde ich dich setzen; geh ein in die Freude deines Herrn" (V. 16-23).
Es ist wichtig und lehrreich, den Unterschied zwischen dem
Gleichnis von den Talenten in Mtth 25 und dem Gleichnis
von den zehn Knechten in Luk 19 zu beachten, In ersterem
handelt es sich um die Souveränität Gottes, in letzerem um
die Verantwortlichkeit des Menschen. Nach Lukas erhält jeder dieselbe Summe, während nach Matthäus der eine fünf,
der andere zwei, und der Dritte ein Talent empfängt, wie es
dem Herrn auszuteilen gefällt. Zur Zeit der Abrechnung finden wir in Lukas eine bestimmte Belohnung, die der Arbeit
entspricht, während es in Matthäus heißt: „Geh ein in die
Freude deines Herrn". Es wird hier nicht gesagt, was der
treue Knecht empfängt und über wie vieles er gesetzt wird.
Der Herr ist unumschränkt in Seinen Handlungen, sowohl
was die Gaben, als auch was die Belohnung angeht; der
Zielpunkt aller aber ist: „Geh ein in die Freude deines Herrn".
Für ein Herz, das den Herrn wirklich liebt, gibt es nichts
höheres. In der Tat wird der eine über zehn, der andere über
fünf Städte gesetzt werden. Es wird eine der Treue, der geleisteten Dienste und der vollbrachten Arbeit angemessene
Belohnung geben; aber darüber hinaus leuchtet das köstliche Wort: „Geh ein in die Freude deines Herrn". Keine Belohnung kann die Höhe dieses Glücks erreichen. Das Gefühl
der Liebe, die diesen Worten entströmt, wird jeden antreiben, seine „Krone der Gerechtigkeit" zu den Füßen seines
Herrn niederzulegen. Ja, wir werden mit Freuden selbst diese Krone, welche der gerechte Richter geben wird, zu den
Füßen unseres liebenden Herrn und Heilandes niederlegen.
Ein freundlicher Blick Seines Antlitzes wird das Herz tiefer
196
und mächtiger berühren als die glänzendste Krone, die uns
je aufgesetzt werden könnte.
Aber noch ein abschließendes Wort: Wer weigerte sich zu
bewirken, wer verbarg das Geld seines Herrn? Wer zeigte
sich als ein „böser und fauler Knecht?" — Es war jener
Mensch, der das Herz, den Charakter, die Liebe seines Herrn
nicht kannte. „Es trat aber auch herzu, der das eine Talent
empfangen hatte, und sprach: Herr, ich kannte dich, daß du
ein harter Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät, und
sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; und ich fürchtete mich
und ging hin und verbarg dein Talent in der Erde; siehe,
da hast du das Deine. Sein Herr aber antwortete und sprach
zu ihm: Böser und fauler Knecht! du wußtest, daß ich ernte,
wo ich nicht gesät, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe? So solltest du nun mein Geld den Wechslern gegeben haben, und wenn ich kam, hätte ich das meine mit Zinsen erhalten. Nehmet nun das Talent von ihm und gebet es dem,
der die zehn Talente hat; denn jedem, der da hat, wird
gegeben werden, und er wird Überfluß haben; von dem
aber, der nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, weggenommen werden. Und den unnützen Knecht werfet hinaus
in die äußere Finsternis; da wird sein das Weinen und das
Zähneknirschen".
Wie furchtbar ernst ist dies alles! Wie stark ist der Kontrast zwischen diesen beiden Knechten. Der eine kennt,
liebt, vertraut und dient seinem Herrn; der andere kennt
und fürchtet ihn, vertraut ihm nicht und bleibt untätig. Der
eine geht ein in die Freude seines Herrn; der andere wird
in die äußere Finsternis geworfen — dorthin, wo nur Weinen,
Heulen und Zähneknirschen sein wird. Wie ernst! Wie zermalmend! Und wann wird es stattfinden? — Wenn der Herr
kommt.
Anmerkung : Es kann den vorhergehenden Bemerkungen über den Dienst hinzugefügt werden, daß jeder Gläubige seine besondere Aufgabe zu erfüllen und seine
besondere Arbeit zu tun hat. Alle sind dem Herrn verantwortlich, ihren Platz zu
verstehen und auszufüllen, wie auch ihre Arbeit zu kennen und zu tun. Das ist eine
einfache, praktische Wahrheit, die ihre volle Bestätigung in dem bereits angeführten
Grundsatz findet, daß jeder Dienst und jede Arbeit aus der Hand des Herrn empfangen und unter Seinen Augen, in der Erwartung Seines Kommens ausgeführt
werden muß. Das darf nie vergessen werden.
197
10. Schlußbemerkungen
Bevor wir unsere Betrachtung über diese kostbaren Wahrheiten schließen, wollen wir kurz noch auf das eine oder
andere zurückkommen, was wir bisher nur flüchtig angedeutet haben.
Zunächst sei an das erinnert, was wir als „eine Zwischenzeit, eine Unterbrechung in den Führungen Gottes bezüglich
des Volkes Israel und der Erde" bezeichnet haben. Es geht
dabei nicht um Neugierde, um ein dunkles Geheimnis oder
um die Lieblingsidee eines Auslegers der Prophezeiung. O
nein, es geht hier um die Klärung bedeutsamer Zusammenhänge; wer nämlich jene Zwischenzeit oder Unterbrechung
nicht sieht, kann die Prophezeiung, aber auch seine eigene
Stellung, unmöglich richtig verstehen.
Gehen wir wiederum vom Wort Gottes selbst aus, und
zwar vom 9. Kapitel des Propheten Daniel.
Die ersten Verse dieses höchst beachtenswerten Teiles der
Heiligen Schrift zeigen uns diesen geliebten Diener Gottes
in tiefstem Seelenschmerz wegen des traurigen Zustandes
seines vielgeliebten Volkes — eines Zustandes, in welchen er,
geleitet durch den Geist Christi, völlig einzutreten vermochte. Obwohl er an den Handlungen, die den Ruin über sein
Volk gebracht hatten, nicht persönlich teilgenommen hatte,
machte er sich mit diesem Volke doch völlig eins und im
Bekenntnis und im Selbstgericht dessen Sünden zu seinen
eigenen vor seinem Gott.
Wir versagen es uns, das bemerkenswerte Gebet und Bekenntnis Daniels anzuführen, weil die hier interessierenden
Aussagen erst mit Vers 20 beginnen: „Während ich noch
redete und betete und meine Sünde und die Sünde meines
Volkes Israel bekannte und mein Flehen vor Jehova, meinem
Gott, für den heiligen Berg meines Gottes niederlegte, während ich noch redete im Gebet, da kam der Mann Gabriel,
den ich im Anfang im Gesicht, als ich ganz ermattet war,
gesehen hatte, zu mir her zur Zeit des Abendopfers. Und er
gab mir Verständnis und redete mit mir und sprach: Daniel,
jetzt bin ich ausgegangen, um dich Verständnis zu lehren.
Im Anfang deines Flehens ist ein Wort ausgegangen, und ich
bin gekommen, um es dir kundzutun; denn du bist ein Vielgeliebter. So merke auf das Wort und verstehe das Gesicht:
198
Siebenzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Abschluß zu
bringen und den Sünden ein Ende zu machen, und die Ungerechtigkeit zu sühnen, und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen, und Gesicht und Propheten zu versiegeln, und ein
Allerheiligstes zu salben. So wisse denn und verstehe: Vom
Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu
bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen".
Wir können uns wegen der uns auferlegten Beschränkung
nicht auf weitläufige Beweise einlassen, um klarzustellen, daß
die „siebenzig Wochen" in der soeben angeführten Stelle
gerade vierhundertundneunzig Jahre ausmachen. Wir nehmen es vielmehr als Tatsache und glauben, daß Gabriel den
Auftrag hatte, den geliebten Propheten zu unterweisen, daß
von dem Augenblick an, wo das königliche Dekret, Jerusalem wiederaufzubauen, erlassen war, ein Zeitraum von vierhundertundneunzig Jahren verfließen muß, bevor das Volk
Israel wieder in die Segnungen eintreten kann.
Für den Glauben ist dies so einfach und bestimmt. Sicherer als die Gewißheit, daß am kommenden Morgen die Sonne
zu ihrer bestimmten Zeit wieder aufgehen wird, ist es, daß
am Schluß dieses von dem himmlischen Boten bezeichneten
Zeitraumes das Volk Daniels wieder in seine Segnungen
zurückgebracht werden wird. Das steht so unerschütterlich
fest wie der Thron Gottes Selbst. Keine Macht der Erde oder
der Hölle wird die vollkommene Erfüllung des durch den
Mund Gabriels gesprochenen Gotteswortes zu verhindern
vermögen. Wenn das letzte Körnchen aus der vierhundertundneunzigjährigen Sanduhr abgelaufen ist, wird Israel wieder in den Besitz aller seiner Vorrechte und seiner Herrlichkeit eingesetzt sein.
Vielleicht fragt jemand: „Wie, sind denn diese vierhundertundneunzig Jahre noch nicht verflossen?" Unsere Antwort
ist; „Nein, sicher nicht". Wenn sie verflossen wären, so
würde Israel in seinem eigenen Lande unter der Regierung
seines eigenen geliebten Messias sein. Die Schrift kann nicht
gebrochen werden; wir können und dürfen sie nicht antasten.
Das Wort ist fest und eindeutig: „Siebenzig Wochen sind
über dein Volk bestimmt", nicht mehr und nicht weniger.
Wollten wir dies im buchstäblichen Sinn auffassen, so würde
die Stelle gar keinen Sinn haben. Deshalb sind wir fest
überzeugt, daß Gabriel von siebenzig Jahr-Wochen redet
199
und damit einen Zeitraum bestimmt, der von dem Augenblick an beginnt , w o Cyru s da s Dekre t zu r
Wiederherstellun g Jerusalem s erließ , un d
d e r mi t de r Wiederherstellun g de s Volke s
u n d diese r Stad t endigt .
„Aber" — könnte man einwenden — „wie könnte das
sein? Sind denn nicht schon vier mal vierhundertundneunzig
Jahre verflossen, seit der König von Persien jenes Dekret
erlassen hat? Und dennoch sieht man nirgendwo ein Zeichen
von der Wiederherstellung Israels. Darum müssen diese
siebenzig Wochen doch noch eine andere Bedeutung haben".
Dennoch bleiben wir bei unserer Behauptung, daß die
vierhundertundneunzig Jahre noch nicht zu Ende sind. Die
Geschicht e Israel s is t nämlic h unterbro -
che n worde n un d wir d ers t späte r ihre n
Lau f fortsetzen ; ei n lange r Zeitrau m is t
dazwischengetreten . Aufschluß darüber geben die
Worte: „So wisse denn und verstehe: Vo m Ausgehe n
d e s Wortes , Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind siebe n Wochen" — 4 9 Jahre — „und zweiundsechzi g Wochen"
— 43 4 Jahre. „Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in Drangsal der Zeiten"
— d. h. in dem Zeitraum von 49 Jahren. „Und nach den
zweiundsechzig Wochen" — 434 Jahre nach der Wiederaufbauung Jerusalems — „wird der Messias weggetan werden
und nichts haben" (Dan 9, 25. 26).
Hie r is t de r bezeichnende , ernst e un d be -
merkenswert e Zeitpunk t erreicht , w o de r
Messia s anstat t angenomme n z u werden ,
verworfe n worde n ist . Anstatt den Thron Davids
zu besteigen, wurde das Kreuz Sein Teil; anstatt in den Besitz aller Verheißungen einzutreten, empfing Er nichts. Sein
Teil war, insoweit es Israel und die Erde anbetrifft, das
Kreuz , der Essig , der Speer , das geborgt e
Grab . Der Messias war verworfen, weggetan und hatte
nichts. Was nun? Gott bezeichnete Sein Mißfallen an dieser
Tat dadurch, daß Er Israel für eine Zeitlang Seine Führung
versagte. Der Lauf der Geschichte dieses Volkes ist unterbrochen; es zeigt sich eine große Lücke. Neunundsechzig
Wochen oder vierhundertdreiundachtzig Jahre sind vollendet;
es bleibt nur noch eine Woche (oder sieben Jahre) übrig.
Diese Woche aber ist zurückgestellt worden, und die ganze
200
Zeit vom Tode des Messias an bis zum Beginn jener Woche
bildet den bereits erwähnten Zwischenraum, jene Unterbrechung, während welcher Christus in den Himmeln verborgen und der Heilige Geist auf der Erde wirksam ist, um den
Leib Christi, die Versammlung, die himmlische Braut zu bilden. Wenn das letzte Glied diesem Leibe einverleibt sein
wird, dann wird der Herr Selbst kommen, die Seinen zu Sich
zu nehmen und in das Haus Seines Vaters zu führen, wo
sie mit Ihm in der unaussprechlichen Gemeinschaft dieser gesegneten Heimat sein werden, während Gott durch Seine
Heimsuchungen Israel und die Erde für die Einführung Seines Erstgeborenen in die Welt zubereiten wird.
Ober das, was sich während dieser Zwischenzeit ereignen
soll, schweigt Gabriel. Offensichtlich hatte er keinen Auftrag, davon zu reden, da die Zeit hierzu noch nicht gekommen war. Er schreitet mit einer wunderbaren und geheimnisvollen Eile über Zeitalter und Generationen hinweg, geht
von einer Landspitze auf der prophetischen Karte zur anderen und überspringt mit einem oder zwei kurzen Sätzen
einen Zeitraum, der nun schon fas t zweitausen d
Jahr e umfaßt. Die Belagerung von Jerusalem durch die
Römer ist kurz angedeutet in den Worten: „Das Volk des
kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören". Dann hören wir über einen Zeitraum, der jetzt bereits über achtzehn Jahrhunderte gedauert hat, nur die Worte: „Und das Ende davon wird durch die überströmende
Flut sein, und bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von
Verwüstungen ".
Wir werden dann unvermittelt in die Zeit des Endes geführt, wo die letzte der siebenzig Wochen — die an den
vierhundertundneunzig Jahren noch fehlenden sieben Jahre —
ihre Erfüllung finden wird. „Und er wird einen festen Bund
mit den Vielen schließen für eine Woche; und zur Hälfte der
Woche wird er Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen. Und wegen der Beschirmung der Greuel wird ein Verwüster kommen und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden".
Damit ist das Ende der 490 Jahre erreicht, die über das
Volk Daniels beschlossen und verhängt wurden. Ein Versuch, diesen Zeitraum erklären zu wollen, ohne jene Zwischenzeit in Betracht zu ziehen, würde nur Verwirrung stiften; könnte er zu einem einschüchternden Ergebnis führen.
Ungezählte Thesen sind entwickelt, endlose Berechnungen
201
und Spekulationen versucht worden; es war alles vergebens.
Die vierhundertundneunzig Jahre sind noch nicht vollendet,
und sie werden ihre Erfüllung auch nicht finden, bevor die
Versammlung diesen irdischen Schauplatz ganz verlassen haben wird und mit ihrem Herrn in ihre herrliche, himmlische
Heimat eingegangen sein wird. In Offb 4-5 wird der Platz
gezeigt, den die himmlischen Heiligen während der letzten
der siebenzig Wochen Daniels einnehmen werden, während
sich die Kapitel 6 bis 18 mit den verschiedenen Handlungen
Gottes in Seiner Regierung befassen, wodurch Er Israel und
die Erde zubereitet, um Seinen Erstgeborenen in die Welt
einzuführen.*)
Wir legen großen Wert darauf, diese Zusammenhänge klar
hervorzukehren, weil diese Klarheit uns selbst zum Verständnis der Prophezeiung verholfen und manche Schwierigkeit beseitigt hat. Wir sind fest überzeugt, daß niemand das
Buch Daniel oder den allgemeinen Zweck der Prophezeiung
verstehen kann, der nicht beachtet, daß die letzte der siebenzig Wochen erst noch erfüllt werden muß. Nicht ein Jota,
nicht ein Buchstabe des göttlichen Wortes kann vergehen,
und wenn es erklärt, daß „siebenzig Wochen über das Volk
Daniels bestimmt sind" und daß Israel am Schluß dieser
Periode wieder in die Segnung eingeführt sein wird, so ist es
klar, daß diese Periode noch nicht abgelaufen ist. Wen n
w i r abe r jen e Unterbrechun g i n de r Ge -
schicht e Israel s als di e Folg e de r Verwer -
fun g de s Messia s nich t sehen , s o könne n
w i r un s di e Erfüllun g de r siebenzi g Woche n
Daniel s ode r de r vierhundertundneunzi g
Jahr e nich t erklären .
Im Auge behalten muß man zudem die andere wichtige
Tatsache, daß die Versammlung an den Wegen Gottes mit
Israel und der Erde nicht teilhat. Sie gehört nicht der Zeit,
sondern der Ewigkeit an; sie ist nicht irdisch, sondern himm-
*) Wir wissen wohl, daß es unter den Auslegern der Offenbarung noch eine offene
Frage ist, ob die einzelnen Ereignisse nach Offb 6 bis 18 eine halbe Woche einnehmen
werden. Manche meinen hierzu, daß das öffentliche Auftreten Johannes des Täufers und
unseres Herrn den Zeitraum von einer Woche oder sieben Jahre ausgefüllt habe und daß
infolge der Verwerfung beider durch Israel diese Woche als aufgehoben zu betrachten
sei und darum noch erfüllt werden müsse. Wir wollen uns hierzu einer Stellungnahme
enthalten. Aber so interessant diese Frage auch ist, sie entkräftet in keiner Weise die
großen Grundsätze, die uns hier dargestellt sind, oder die Auslegung des Buches der
Offenbarung. Wir fügen nur noch hinzu, daß die Ausdrücke: „Zweiundvierzig Monate" - „zwölfhundertundsechzig Tage" - „Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit" — den
Zeitraum von einer halben Woche oder von drei und einem halben Jahr bezeichnen.
202
lisch. Sie ist ins Leben gerufen während jener Zwischenzeit,
jener Unterbrechung der Wege Gottes mit Israel, als Folge
der Verwerfung des Messias. Wenn Israel — um nach Menschenweise zu reden — den Messias aufgenommen hätte,
dann würden die siebenzig Wochen oder vierhundertundneunzig Jahre erfüllt sein. Aber Israel hat seinen König verworfen, und Gott hat sich zurückgezogen, bis das Volk seine
Ungerechtigkeit anerkennen wird. Er hat Seine öffentlichen
Handlungen mit Israel und der Erde unterbrochen, wiewohl
Er alles durch Seine Vorsehung beherrscht und stets auf den
um der Väter willen geliebten Samen Abrahams Sein Auge
gerichtet hält.
Inzwischen beruft Er aus Juden und Heiden die Versammlung, bestimmend dazu, die Gefährtin Seines Sohnes in
himmlischer Herrlichkeit zu sein —, hienieden mit Ihm eins
in Seiner gegenwärtigen Verwerfung von Seiten dieser Erde
und in heiliger Erwartung Seiner glorreichen Ankunft.
Dies alles bezeichnet die Stellung des Christen sehr bestimmt. Auch sein Teil und seine Aussichten sind mit derselben Klarheit festgestellt. Es ist nutzlos, die prophetischen
Schriften zu erforschen, um die Stellung, die Berufung und
die Hoffnung der Versammlung darin zu suchen. Der Christ
geht fehl, wenn er sich mit Zeitangaben und historischen
Begebenheiten in der Absicht befaßt, seine Geschichte darin
zu finden. Sicher ist die Einsicht in die Wege Gottes mit
Israel und der Erde wertvoll und interessant. Aber der
Gläubige darf nie die Tatsache aus den Augen verlieren, daß
er dem Himmel angehört, daß er unzertrennlich mit einem
von der Erde verworfenen, in den Himmel aufgenommenen
Christus verbunden, daß sein Leben mit Christo in Gott verborgen und daß es sein heiliges Vorrecht ist, täglich, ja
stündlich die Ankunft seines Herrn zu erwarten. Es gibt
nichts, was die Verwirklichung dieser Hoffnung auch nur
einen Augenblick verhindern könnte. Nur die Langmut unseres Herrn, Der „nicht will, daß irgendwelche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen", ist die Ursache
Seines Verzuges. Köstliche Worte für eine schuldige und
verlorene Welt! die Errettung ist bereit , um geoffenbart
zu werden, und Gott ist b e r e i t zu richten. Wir haben nur
noch auf die Hinzufügung des letzten der Auserwählten zu
warten, und — o gesegneter Gedanke! — dann wird unser
teurer und geliebter Heiland kommen, um uns zu Sich zu
nehmen, damit wir für immer da seien, wo Er ist.
203
Sobald aber die Versammlung mit ihrem Haupt in ihre
himmliche Heimat eingegangen ist, wird Gott den abgebrochenen Geschichtsfaden wieder anknüpfen und Sein öffentliches Handeln mit Israel erneut aufnehmen. Israel wird, wie
bereits angedeutet, während der letzten Woche in große
Drangsal geführt werden. Am Ende dieser Periode beispielloser Angst und Not wird aber der so lange verworfene Messias zu ihrer Hilfe und Befreiung erscheinen. Er wird auf
den Schauplatz treten, sitzend auf weißem Pferde und in
Begleitung Seiner himmlischen Heiligen. Er wird schreckliche
Rache an Seinen Feinden üben und Sein Reich mit großer
Macht in Besitz nehmen. Die Reiche der Welt werden dann
die Reiche unseres Herrn und Seines Christus sein. Satan
wird tausend Jahre hindurch gebunden sein, und die ganze
Schöpfung wird ausruhen unter der gesegneten und milden
Herrschaft des Friedefürsten.
Am Ende der tausend Jahre aber wird Satan wieder losgelassen werden, und es wird ihm. gestattet sein, noch eine
verzweifelte Anstrengung zu machen — eine Anstrengung,
die mit ewiger Vernichtung und mit der Überlieferung in den
Feuersee endet, wo er mit dem Tier und mit dem falschen
Propheten gepeinigt werden wird Ta g un d Nach t vo n
Ewigkei t z u Ewigkeit .
Dann folgt die Auferweckung und das Gericht der gottlosen Toten und ihre Verwerfung in den Feuersee, der mit
Schwefel brennt. Schrecklicher Gedanke! Ach! die Qual des
Feuersees — kein Herz vermag sie zu ergründen, keine Zunge vermag sie auszudrücken.
Doch nur einen kurzen Moment läßt uns der heilige Seher
in Offb 20 bei diesem dunklen und schrecklichen Bild verweilen. Im nächsten Augenblick stellt er die unaussprechliche Herrlichkeit des neuen Himmels und der neuen Erde vor
unsere Augen. Die heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel von Gott, tritt vor unsere
Blicke, und wir vernehmen die himmlischen Töne: „Siehe,
die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen
wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst
wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und er wird jede Träne von
ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Throne saß,
sprach: Siehe, ich mache alles neu!"
204
O geliebter christlicher Leser, welche Ausblicke sind das!
Welch erhabene Wirklichkeiten! Welch glänzende Herrlichkeiten! Möchten wir doch in ihrem Licht und ihrer Macht
leben und uns der herrlichen Hoffnung stets erfreuen, Ihn zu
sehen, Der uns geliebt und Sich Selbst für uns dahingegeben
hat — Der diese Herrlichkeit nicht allein für Sich genießen
wollte, sondern Der den Zorn Gottes trug, damit Er uns mit
Sich vereinigen und alle Seine Liebe, Seine ganze Herrlichkeit auf ewig mit uns teilen konnte! O möchten wir doch
für Christum leben und Seiner Erscheinung mit Sehnsucht
entgegenharren!
205
Gedanken
Gesammelt aus Vorträgen von G. V. Wigram
Christus hat genau gesehen, wo ich in der Herrlichkeit
sein werde; das Kleinod, welches Er für Seine Krone
bestimmt hat, wird nicht verloren sein. Der Gläubige kann
in dieser Welt mit Christo wandeln — wie jemand, der von
Christo für die Herrlichkeit ergriffen ist. Wenn unsere Herzen mit Ihm in der Herrlichkeit beschäftigt sind, so wird
dieses sein wie ein himmlischer Strom, der inmitten aller
Trübsale unser dürres Herz befeuchtet. Unser Wandel ist
dann praktischerweise im Himmel. Wenn ich ein Bewußtsein
von meiner Verbindung mit Ihm im Leben droben habe, so
wird mein Herz vor Freude klopfen; und diese Freude ist
der Ausfluß der lebendigen Gemeinschaft mit Christo im
Himmel und wird ihre Ströme ununterbrochen ergießen.
Wenn ich Gott liebe, so wünsche ich, heilig zu sein, wie
Er heilig ist. Es ist wunderbar, daß die Erkenntnis der Absicht Gottes, nach welcher ich dereinst mit Ihm verbunden
sein soll, den Wunsch in mir weckt, schon jetzt mit Ihm
vereint zu sein. Oder wünschest du nicht, daß die Neigung
deines Herzens in Übereinstimmung seien mit Ihm, Der
Sich mit dir verbunden hat?
Das Lamm ist die Leuchte der himmlischen Stadt. Alle
Herrlichkeiten, welche sich an diesem Orte entfalten werden,
vereinigen sich in Ihm. Diese Herrlichkeiten sind jetzt prophetisch vor unsere Augen gestellt, damit sie unsere Gedanken auf Christum lenken. Ist Christus der Mittelpunkt deiner Gedanken? Hat die Hoffnung Seiner Wiederkunft einen
Einfluß auf deine Pläne und Handlungen?
Es gibt Dinge auf der Erde, welche viel Anziehendes für
ein Menschenherz haben können; aber wenn ich meine Blicke
aufwärts richte, so sehe ich Christum; und ich erkenne, daß,
solange Er nicht vom Himmel herniedergestiegen ist, es keine Segnung für die Erde gibt. Ohne Ihn ist diese Erde nur
eine Wüste; hier gibt es keine Ruhe. Jede Segnung, selbst die
der Erde, ist in Christo eingeschlossen. Nichts kann uns die
Erde während Seiner Abwesenheit als Erquickung bieten.
206
Christus ist der glänzende Morgenstern, die Hoffnung der
Gläubigen während der Nacht dieser Welt. Dieser Titel findet
sich nicht im Alten Testament; dort finden wir die Sonne
der Gerechtigkeit. Aber der glänzende Morgenstern ist der
Vorbote des Morgens ohne Wolken. Der Herr weiß, daß
unsere Herzen Seiner eigenen Person bedürfen. Daher ist uns
nicht die Herrlichkeit, sondern Er Selbst vor Augen gestellt.
Was würde auch die Herrlichkeit ohne Ihn sein? O wie süß
ist es, inmitten alles Bösen dieser verderbten Welt die Hoffnung Seiner Ankunft mit den Worten: „Ich bin der glänzende Morgenstern!" (Offb 22, 16-17) in Verbindung zu bringen! Und der Geist und die Braut rufen: „Komm!"
Die Worte in 2. Kor 11, 2: „Ich habe euch einem Manne verlobt, um euch als eine keusche Jungfrau dem Christus darzustellen", geben uns eine klare Vorstellung von dem Charakter
der Braut. Wie sehr verrät schon dieser Name, den der Herr
Seiner Versammlung verleiht, Seine Liebe zu ihr! Wenn Er
Seine Blicke herabsenkt, so erblickt Er armselige, hin und her
zerstreute Wesen; und dennoch hat Er sie zu Gliedern Seines
Leibes gemacht. Er hat sie gewaschen durch Sein Blut, hat
ihnen den Heiligen Geist gegeben und sie mit Sich vereinigt.
Seine Braut wird zur Wohnung Gottes zubereitet sein. Gott
hat nicht nur eine Rippe Adams weggenommen, sondern Er
machte aus dieser Rippe das Weib Adams. Es genügte Ihm
nicht, arme verlorene Söhne zu berufen und sie zu reinigen,
sondern Er bildet aus ihnen eine Versammlung, welche Er
Seinem Sohne zur Braut gibt, indem Er sie Glieder Christi
werden läßt, Fleisch von Seinem Fleisch, Gebein von Seinen
Gebeinen. Es wird einen Teil Seiner Herrlichkeit ausmachen,
daß Er aus Wesen, wie wir sind, Seinem Sohne eine Braut
gebildet hat. Die Braut mag die kostbarsten Dinge besitzen;
aber sie selbst ist für den Herrn.
Wie? So ein armseliges Wesen wie ich, ein in der Wüste
hin und her gejagtes Blatt kann sagen: „Komm, Herr Jesu!"
Aber Gott hat mir Seinen Geist gegeben und mich mit
Christo eins gemacht; und darum ist es mein Vorrecht, mich
mit dieser Freimütigkeit an den Herrn zu wenden. Wenn Er
mir nur die Herrlichkeit gezeigt hätte, so würde dieses bei
mir ohne Wirkung geblieben sein; aber da der Heilige Geist
diese Wahrheit in mein Herz gesenkt hat, genieße ich die
Liebe Christi stets aus frischer Quelle.
207
Wenn nur ein einziger Gläubiger in der Welt wäre, so
würde er dennoch durch den Geist sagen können: „Komm,
Herr Jesu!" Nicht nur die Braut, sondern auch der Geist ist
es, welcher ruft: „Komm!" Christus liebt es, uns sagen zu
hören: „Komm!" Es ist eine anerkennenswerte, liebliche Sache, wenn es das gewöhnliche Gefühl der Seele ist, Ihn zu
erwarten. Habt ihr in der Stille der Einsamkeit dieses durch
den Heiligen Geist hervorgerufene Gefühl erfahren, so daß
ihr fast unbewußt in die Worte ausbrecht: „Komm, Herr
Jesu, komm!" Wünschet ihr nicht, noch heute zu Ihm aufgenommen zu werden? Bist du nicht ein Gläubiger, welcher
sagen kann: „Komm!"? — Wenn es uns scheint, als verzöge
Er Sein Kommen, so blickt Er auf uns und ruft uns zu:
„Siehe, ich komme bald!"
„Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte,
liebte er sie bis ans Ende" (Joh 13, 1). Das ist reine Wahrheit, die von allen Gläubigen nicht nur durch den Glauben,
sondern auch durch die Erfahrung, welche alle von dieser
Liebe gemacht haben, erkannt wird. Wie süß ist die Erfahrung der Liebe Christi in einer so kalten eisigen Welt —
einer Liebe, die schon vor Grundlegung der Welt aus dem
Herzen Gottes für uns hervorsprudelte, als Er uns in Christo
auserwählte! Richtet der Herr Jesus jetzt einen Blick auf
mich, so sieht Er einen von denen, welche der Vater vor
den Zeiten der Zeitalter auserwählt hat, um „begnadigt zu
sein in dem Geliebten" — einen von denen, in welchen es
Ihm gefiel, die Herrlichkeit Seiner Gnade zu offenbaren. Er
erblickte, indem der Vater mich dem Sohne vor Grundlegung
der Welt verbunden hat, in mir einen Auserwählten des
Vaters. Kann Gott, Der solche Ratschlüsse in betreff auf uns
gefaßt hat, wider uns sein? Muß nicht der Sohn, indem Er
unsere Vereinigung mit dem Vater in Ihm sieht, uns lieben?
Hat Christus nicht zur Erfüllung dieser verborgenen Ratschlüsse Gottes und in Seiner eigenen Liebe alles verlassen?
Hat Er Sich nicht für uns dahingegeben und uns durch Sein
Blut der Vergebung der Vergehungen bewirkt? Hat Gott Ihn
nicht um unserer Rechtfertigung willen auferweckt und Ihn
zu Seiner Rechten gesetzt? Sind wir in Ihm nicht gestorben,
mit Ihm begraben durch die Taufe auf den Tod und wieder
auferweckt? Können wir unsere Blicke zum Himmel erheben,
ohne die unvergleichlichen Reichtümer der Gnade Gottes zu
208
sehen, welcher uns mit Christo auferweckt und in Ihm in die
himmlischen örter versetzt hat?
Während wir uns in der Wüste befinden, ist es sehr süß
die Tröstungen zu empfangen, welche von Gott uns, Seinen
Kindern, zufließen; aber es ist für uns eine noch lieblichere
Gnade, sagen zu können: „Ich habe Gemeinschaft mit den
Gedanken und Gefühlen des Vaters in Bezug auf Seinen eingeborenen Sohn". Ja, es gibt nichts köstlicheres, als auf
diese Weise einzudringen in die Offenbarung Gottes, in die
Gefühle des Vaters für den Sohn Seiner Liebe.
Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum
Jesum" (Gal 3, 26). — „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott
den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da
ruft: Abba, Vater (Gal 4, 6)! Die Ruhe der Seele in der Kindesannahme von Seiten des Vaters ist das Teil derer, welche
an Jesum Christum glauben. Aus diesem den Juden unbekannten, aber den Christen offenbarten wunderbaren und
neuen Namen: „Abba, Vater", fließt für uns der reiche Segen. Gott hat mich als Sohn in Seine Gegenwart gestellt, um
als solcher eine glückselige und heilige Freiheit zu genießen;
ich kann die Augen erheben und das Wohlgefallen Gottes in
dem Sohne anschauen und habe Teil an der Gemeinschaft
des Vaters und des Sohnes; und dieses verleiht der Kirche
oder der Versammlung der Kinder Gottes die erhabensten
Vorrechte.
Es ist eine Wahrheit von unendlichem Wert, daß der Herr
Jesus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, und daß Er für
immerdar Mensch bleibt, während wir, die erkauften Menschen, stets bei Ihm sein werden. Gott kann von dem gesalbten Manne sagen: „Ich habe ihn zu meiner Rechten erhöht".
Also ist ein Mensch zur Rechten Gottes. Wir dringen mit
dem Auge des Glaubens in den Himmel und finden dort Ihn,
welcher gesagt hat: „Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr
euch freuen, daß ich zum Vater gehe" (Joh 14, 28). Unser
Herz fügt das Amen hinzu, und wir gehen in Seine Freude
ein.
Die Versammlung wird von der Welt geoffenbart werden,
so daß diese die Herrlichkeit, welche Christus ihr gegeben
hat, sehen wird. Der Vater hat diese Herrlichkeit dem Sohne
gegeben; der Sohn hat sie mit denen geteilt, welche Er liebt.
209
Die Welt wird gezwungen sein, die Kirche in ihrer Herrlichkeit zu bewundern; und dieses muß geschehen, denn des
Vaters Wohlgefallen ist in dem Sohne, welcher Seine Braut,
die Kirche oder Versammlung, mit Seinem eigenen Blute
erkauft hat. Für die Braut, die also in Herrlichkeit dargestellt
sein wird, wird das Bewußtsein, daß sie vom Vater in demselben Maße wie der Sohn geliebt wird, jede Vernunft übersteigen. Er, in Welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig
wohnt, ist es, Dem wir die Liebe des Vaters verdanken; und
das Bewußtsein dieser Liebe wird unsere Herzen in der
Herrlichkeit mit großer Freude erfüllen. Er fordert die ganze
Herrlichkeit und gibt sie Seiner Braut, aber dennoch ist dieses nicht meine größte Freude. Weit köstlicher als alles ist
der Gedanke, daß ich das Lamm Gottes noch unter einem
anderen Titel kenne. Seine gesegnete Person hat einen Platz
in meinem Herzen. Ich kann sagen: „Ich kenne Dich als den
Sohn, Welcher mir den Vater geoffenbart hat. Alles würde
wertlos für mich sein, wenn ich Dich nicht unter dem Namen
des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit kennen würde". — Dieser Name hat mich in die Nähe
des Vaters gebracht; diesen Namen hat Er hier getragen, und
Er trägt ihn dort oben. Wir sinken anbetend zu den Füßen
des im Fleische gekommenen Sohnes Gottes, Der vor aller
Schöpfung — im Anfang — im Schöße des Vaters war.
Im Hause des Vaters, im Schöße des Vaters, dort ist der
Ruheort der Versammlung; nur die Einführung Seiner Versammlung in jene Wohnung, in welcher der Sohn Selbst ist,
konnte Sein Herz befriedigen. Schon jetzt ist uns diese Stätte
gegeben, wiewohl wir uns, so lange wir auf der Erde pilgern,
ihrer nur in geistlicher Weise erfreuen. Wir sind Söhne Gottes; wir können keine nähere Verwandtschaft erreichen als
diejenige, in welche wir bereits heute eingetreten sind. Schon
jetzt ist mir das beste Teil zugefallen; Er hat mich zu einem
Sohne gemacht und hat mich eintreten lassen in die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne, um tagtäglich meine
Seele die Wonne des Vaters an Seinem Sohne genießen zu
lassen. Wenn ich mich in Trübsal befinde, so weiß ich, daß
der Vater droben in vollkommener Ruhe ist; und meine Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit Seinem Sohne.
In der Heiligen Schrift wird wenig über das Haus des Vaters gesagt. Doch man versäume nicht, das zu lesen, was wir
über diesen Gegenstand in Joh 14 finden, — jene kostbaren
210
Worte, welche uns die Liebe Jesu aufschließen, die Liebe
Dessen, Der die Seinigen dort haben will, wo Er ist. Welch
eine wunderbare Entfaltung der Gnade Gottes wird uns hier
gezeigt! Diese Gnade eröffnet die Aussicht des Vaters vor
den Blicken der Jünger, welche Jesus dort mit Sich einführen
will. Und dieses sind dieselben Jünger, welche in der Stunde
der Prüfung alle ihren Herrn verließen. Welch ein Kontrast
zwischen Ihm und uns! Und dennoch ruht das Auge Gottes
stets mit Wohlgefallen auf uns. Warum? Weil dieses Auge
stets denen begegnet, welche in Christo verborgen sind.
Nachdem der gute Hirte Sein verlorenes Schaf erreicht hatte, mag es sich vielleicht gesträubt haben. So ist es wenigstens von seiten des Menschen Gott gegenüber. Allein der
Widerstand ist nutzlos; Gott trägt den Sieg davon. Hier ist,
sozusagen, die Liebe Gottes der angreifende Teil. Ich weiß
sehr wohl, daß ich Gott nicht wollte; allein Er sagte: „Ich
will und ich werde dich haben. Es gibt für dich einen Platz
im Himmel, und dahin wirst du kommen und für immer bei
mir in der Herrlichkeit sein".
Gott erlangt das Herz. Alles, was Er tun konnte, um das
Herz des Sünders zu Sich zu ziehen, das hat Er im Kreuze
Christi getan. Seine Liebe wird jedoch nicht immer verstanden. Er öffnet Seine Arme, um euch in die Freude und Glückseligkeit einzuführen; die Tür ist weit geöffnet, um euch zu
empfangen.
Wenn ich in der Wüste, inmitten aller Art von Prüfungen,
noch länger zurückbleiben muß, kann mich dieses beunruhigen? Denn ich kann ja in allem die Liebe Jesu erkennen.
Ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn
zu sein wäre allerdings weit lieblicher; aber wenn Seine
Liebe es will, daß ich bleibe, so genügt mir das glückselige
Bewußtsein, diesen Willen zu erfüllen.
Seid ihr völlig befriedigt bei dem Gedanken, daß ihr den
Herrn sehen und bei Ihm bleiben werdet? Ist das der Zustand eurer Seelen? Warum könnt ihr euch denn nicht in
dieser Hoffnung freuen? Warum seid ihr so niedergeschlagen, warum richtet ihr eure tränenbenetzten Augen gen
Himmel, anstatt voll Freude dem Ziele entgegenzueilen?
Liegt nicht der Grund darin, daß die Welt eure Gedanken
211
beherrscht und darum eure Herzen mit Unruhe und Sorge
erfüllt sind?
Der Augenblick naht, in welchem der Sohn Sich auf die
Stimme des Vaters hin vom Throne erheben und wiederkommen wird. Strömt euer Herz nicht über vor Freude bei
diesem Gedanken? Wenn Er heute Abend käme, würde Er
viele Herzen finden, die Ihn erwarten? Jawohl, manche; Gott
sei gepriesen! Es ist offenbar, daß Gott in diesen Tagen
wirkt. Gott ist früher niemals gekommen, ohne vorher ein
Zeugnis zu erwecken.
Inmitten aller Herrlichkeit Gottes hat der Herr Jesus auch
für mich einen Platz in Seinem Herzen. Er kann sagen: „Es
gibt auf der Erde ein armes Geschöpf, das seine Pflicht strauchelnd erfüllt, und welches oft nicht richtig wandelt; ich werde es holen und ihm einen Anteil an allem geben, was ich
besitze". Die Liebe Jesu ist in Tätigkeit und nicht die meinige. Jesus hat uns geliebt vor Grundlegung der Welt. Seine
Liebe verändert sich nicht durch das, was wir sind. Er ist derselbe, gestern, heute und in alle Zeitalter.
Wir sind Sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten
Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß wir in ihnen
wandeln sollen" (Eph 2, 10). Haben diese Werke für Gott
einen Wert? Ganz gewiß; denn Er Selbst hat sie bereitet.
Sind sie nur für die Wüste bestimmt? Keineswegs; sie werden ihren Platz in der Herrlichkeit haben. Diese im Verborgenen des Herzens vollbrachten Dinge — ein unterwürfiger
Wille, sowie die gereinigten Neigungen finden ihre Resultate in der Zukunft. Zwar beschäftigt sich Gott in diesem
Augenblick mit uns; Er will, daß wir unseren Weg mit Ihm
fortsetzen. Allein dieses ist nur der Anfang der Segnung; es
ist nicht das, was wir sein werden, wenn wir den Herrn
Jesus sehen, und Er unsere Leiber umgestalten wird zur
Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit.
Ist es ein Kleines, daß Gott jetzt in uns tätig ist, und daß
Er in uns wirkt beides, das Wollen und das Wirken nach
Seinem Wohlgefallen? Er will, daß sich das Leben Christi
hier auf Erden uns offenbare, und daß wir die Gemeinschaft
der Leiden Christi kennen. Was aber wird es erst sein, wenn
212
das Leben Christi auch unsere Leiber belebt und wir jene
Stätte betreten, wo in allem völlige Harmonie herrscht?
Die der Seele mitgeteilte Kraft Gottes befähigt uns, in
Werken zu wandeln, welche der Ausdruck dieser Kraft und
unserer lebendigen Gemeinschaft mit Christo sind. Gott stellt
jedes Seiner Kinder auf den für es passenden Weg; es gibt
eine besondere Vorsehung für jeden Einzelnen. Gott ist groß
genug, alle Haare unseres Hauptes zu zählen; wir sind dazu
zu klein. Gott ist so groß, daß Er jeden Becher kalten Wassers zählen kann, während wir zu klein, zu gering sind, um
in solche Einzelheiten eingehen zu können; wir vermögen nur
allgemeine Züge ins Auge zu fassen. Ich muß heilig sein, das
ist völlig wahr; aber wer bezeichnete den Weg für einen
Daniel, für einen Paulus in ihren Tagen, oder für die ersten
Christen in ihren Tagen? Wer stellte den Tag unserer Geburt, den Pfad unseres Lebens fest? War es nicht Gott, der
lebendige Gott? Ja, in allen Dingen ist Gott gegenwärtig.
Er nimmt Kenntnis von jedem Gedanken, von jedem Schritt,
von jeder Handlung unseres Lebens, ja von jedem Wort, das
wir im Vorbeigehen oder auf der Straße sagen.
Der Gedanke, daß es Werke gibt, die Gott zuvor bereitet
hat, daß wir darin wandeln sollen, verleiht manchem an und
für ich unbedeutenden Ding einen Wert, erleichtert manches schwere Kreuz und bewahrt vor vielen Handlungen des
Eigenwillens. Wenn wir zurückschauen, so bemerken wir
viele Fehltritte und viele eigenwillige Handlungen; aber wir
sehen auch, daß Gott ihnen ein Ende machte, und unsere
Schritte immer wieder auf den Pfad zurückführte, den Er
für uns bereitet hatte.
Wie groß ist der Unterschied, wenn wir uns nur als Einzelwesen betrachten oder als solche, die einen Teil jenes
Tempels bilden, der auferbaut wird, um eine Behausung
Gottes im Geiste zu sein! Diesem Tempel angehörend, sind
wir köstliche Steine, das eigene Werk Gottes in Christo; wir
sind als lebendige Steine auf die Grundlage der Apostel und
Propheten gelegt, um hier zu ruhen und in der Schönheit
des Sohnes Gottes, unserem Herrn Jesu, zu glänzen, auf
Dem, als dem Eckstein, der ganze Bau ruht.
Kannst du sagen: „Ich bin ein Berufener" — eins mit Christo? — Und was ist die Hoffnung eines solchen? Nichts we213
niger als die Erlangung des Kampfpreises der Berufung Gottes in Christo Jesu. Es ist eine Wirklichkeit, daß Christus in
all Seiner Schönheit und Herrlichkeit zur Rechten Gottes
sitzt; und unsere Erwartung ist, Ihn zu sehen, wie Er ist
und Ihm gleich zu sein. Der Vater der Herrlichkeit, Der in
all unseren Mängeln und Gebrechen auf uns herniederblickt,
wird nicht aufhören zu wirken, bis die Millionen Seiner Gefäße, eins nach dem anderen, dem Bilde Seines Sohnes
gleichförmig gemacht sind. Er bildet sie alle zur Gleichförmigkeit Dessen, Der zu Seiner Rechten sitzt; und wenn wir
Jesum sehen werden, wie Er ist, dann werden auch unsere
Leiber der Niedrigkeit gleichförmig sein mit Seinem Leibe
der Herrlichkeit. Welch ein Gedanke! Jeder Gläubige wird
ein Gefäß voller Herrlichkeit sein; ja die Herrlichkeit Jesu
wird das Teil von Tausenden und aber Tausenden sein. Und
dieser Zahl wirst du — werde ich angehören. Werden wir
dann finden, daß wir die Liebe Christi, wenn wir Ihm im
Himmel begegnen, hier auf Erden erschöpft haben? Nein,
sie ist unerschöpflich.
Muß ich die Welt in meinem Herzen umhertragen, weil
ich einen Leib der Sünde und des Todes habe? Nein; Gott
sei dafür gepriesen! Der Strom des Lebens fließt von Christo
aus dem Himmel hernieder, ergießt sich in mein Herz auf
Erden und bringt in meiner Seele Früchte hervor zur Verherrlichung Dessen, Der die Quelle des Lebens ist.
Der alte Christ kann zu einem jungen Christen sagen:
„Täusche dich nicht; du wirst nichts in der Welt finden, was
dein Herz befriedigt, denn auch ich habe darin für mein
Herz keine Befriedigung finden können". Andererseits aber
können wir sagen: Mag alles wider uns sein, so wird doch
Gott Seinem Worte treu bleiben und Christus wird uns bei
Seiner Erscheinung ohne Flecken und Runzeln vor Ihm darstellen.
Wenn ich heute als Christ geförderter bin, als damals, wo
ich mit Christo zu wandeln begann, so zeigt sich das darin,
daß ich heute Ihn und die Verderbtheit meiner Natur besser
kenne, wie zu jener Zeit.
Welches war der moralische Zustand jener wenigen Männer, welche den Herrn auf Erden begleiteten? Sie waren
lebendig gemacht; sie hatten den Glauben. Durch das Licht
214
des Lebens, dessen sie teilhaftig geworden waren, hatten sie
die Kostbarkeit Christi kennengelernt. Der Herr hatte ihre
Herzen gewonnen; und das ist das Geheimnis der Liebe. Die
Hingabe hat es mehr mit der Zuneigung als mit dem Verständnis zu tun. Diese Männer sahen nachher Jesum, Den sie
liebten, gen Himmel auffahren. Wo waren ihre Herzen von
diesem Augenblick an? Der Himmel hatte sich ihnen als eine
neue Stätte geöffnet. Er, an Dem ihre Herzen hingen, war
dort; und ihre Herzen folgten ihm nach. Der Grundzug der
himmlischen Berufung ist die dankbare Anhänglichkeit an
ein göttliche Person, an Den, Der uns geliebt, und Der im
Himmel ist, wo wir Ihn im Gauben aufsuchen. Die geistliche
Dürre so vieler Christen in unseren Tagen erklärt sich durch
den Mangel an Verständnis in dieser Beziehung. Sie sind
nicht himmlisch in ihrem Wesen und Wandel, wie es die
ersten Christen waren; und doch hat Christus das Recht, ein
himmlisches Volk zu besitzen. Als Stephanus gesteinigt wurde, beherrschte Christus in der Herrlichkeit die ganze Szene;
und diese Herrlichkeit drang bis in die Seele eines Menschen. Aus diesen Umständen erkenne ich, wie sehr die
Liebe Christi mich umgibt. Ich lerne daraus, wie Er Sich droben mit mir beschäftigt, nicht nur, um mich zu segnen, sondern auch, um mich Sein ganzes Mitgefühl genießen zu lassen, wie Er dieses bezüglich Seines gesteinigten Dieners tat.
Wenn du dich mit dem verworfenen Christus verbindest,
so wird das Licht deinen Pfad erhellen und die innigen Gefühle Jesu werden dich begleiten. Zeugt dein Wandel davon,
daß du unverwandt gen Himmel schaust und auf Jesum in
der Herrlichkeit hinblickst? Trägst du das Bild Christi hier
zur Schau? Bei Stephanus erwies sich die Kraft, welche der
Anblick der Herrlichkeit Gottes ihm verliehen hatte, durch
alle Umstände hindurch, in die Satan und die Menschen ihn
brachten. Kann ich nicht mit der nämlichen Kraft durch meine
Umstände gehen? Sind meine Gedanken, meine Neigungen
droben? In diesem Falle werde ich, von welcher Art mein
Dienst auch sein mag, stets im Licht wandeln. Ich weiß, daß
ich Widerstand erfahren, daß ich einer großen Menge solcher
begegnen werde, welche fern von Gott ihren Weg gehen
und denen ich entgegentreten muß. Das auf uns vom Himmel herabströmende Licht stellt uns in den Gegensatz mit
allem, was uns umgibt. Der Herr kennt solche Schwachheit,
und wir sollen sie auch kennen. Als Johannes zu den Füßen
215
Jesu niederfiel (Offb 1, 17), geschah es, damit er seine
Schwachheit empfinde und die stützende Kraft der mächtigen
Hand erfahre. Alle, welche Christum kennen, machen diese
Erfahrung in einem um so größeren Maße, jemehr sie voran
gehen. Auf dem ganzen Wege durch die Wüste ist Christus
für uns; und wenn Er uns auch zeigt, daß wir ohne Ihn nicht
einen Schritt zu tun vermögen, so hört Er doch nie auf, uns
zu leiten und zu schirmen. Der Friede, den Er gibt, ist nie
so spürbar, als wenn alles stürmt und braust; denn Er, unser Friede, ist noch näher bei uns, als der Sturm, und erfüllt die Seelen mit Frieden.
Worin besteht die Kraft meines Wandels? Gott hat mich
mit Christo auferweckt und mir Seinen Geist gegeben. Geleitet durch diesen Geist, werde ich alles richten und mich
von allem trennen, was nicht vom Vater ist. Das Bewußtsein,
mit Christo gestorben, begraben, auferstanden und mit meinem himmlischen Bräutigam verlobt zu sein, läßt mich sagen:
„Ich kann das nicht tun, was Ihm mißfällt". Die Natur mag
ihre Wünsche und Neigungen haben; aber ich werde ihnen
nicht gehorchen, wenn sie mit den Wünschen und dem Willen des Herrn in Widerspruch stehen. Wir sind in den Wirkungskreis einer wunderbaren Macht eingetreten — der
Macht Dessen, Der das Leben gibt. Für einen jeden, der im
Besitz dieses Lebens ist, ist eine Kraft vorhanden, die ihn in
das Bild Christi von Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt.
Wenn Gott von allen gesagt hat: „Alles Fleisch ist wie
Gras — das Gras ist verdorrt", so liegt darin sicher ein tiefer
Ernst. Doch es wird dazu dienen, daß wir uns unserer
Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi über uns wohne (2. Kor 12, 9).
Man spricht oft von der himmlischen Berufung, als ob sie
eine Sache oder Lehre wäre, die mit dem Verstände zu erfassen sei. Aber hat Henoch, als er mit Gott wandelte, oder
Moses, als er standhaft aushielt, als sehe er den Unsichtbaren (Hebr 11, 29), die himmlische Berufung in dieser Weise
betrachtet? Ist es denn nicht der Mensch vom Himmel, Der
zur Rechten Gottes sitzt, Der mich bei meinem Namen gerufen hat? Und noch mehr. Trägt Er nicht meinen Namen vor
Gott als den Namen einer Person, für die Er viel getan, und
für die Er noch viel tun wird? Kann ich dabei gleichgültig
sein? Nein, meine Seele erhebt sich zu Ihm und sehnt sich
nach Ihm.
216
Beim Rückblick auf begangene Fehler wirst du in vielen Fällen die Quelle darin gefunden haben, daß du deine Wege nach
den Umstanden einzurichten trachtetest und den Glauben den
Umständen unterordnetest, was nimmer zu etwas Gutem
führen kann. Wenn wir in der Gegenwart des Herrn wandeln, so werden wir Sein Licht haben und werden nach Seinem Wohlgefallen geleitet werden. Es ist unaussprechlich
köstlich, zu wissen, daß wir im Himmel, hoch erhoben, einen
Menschen, den Herrn Jesum Christum, haben, Der stets mit
den Seinigen beschäftigt ist und ihnen immer aushilft. Oder
nimmt Er etwa weniger Anteil an uns, als an Stephanus?
In dem glänzenden Lichte der Verklärung war Jesus und
nicht die Herrlichkeit der Hauptgegenstand, der den Jüngern
dargestellt wurde, Der, Welcher auf dem Berge umgestaltet
wurde, war eine göttliche Person und zugleich ein Mensch,
Der schöner war, als alle Menschensöhne, ausgezeichnet vor
Zehntausenden. Für einen Augenblick hat Er Sich auf Erden
mit Herrlichkeit bekleidet und dann Seinen Jüngern einen
Blick in die Herrlichkeit Seines Reiches gestattet. Doch was
war die Herrlichkeit des Reiches im Vergleich mit der Herrlichkeit Seiner Person?
Zwei Dinge sind bei den Gläubigen eng miteinander verbunden. Das neue Leben und das irdene Gefäß, das dieses
Leben enthält. Daher kommen Schwachheiten von innen, und
Schwierigkeiten von außen. Die Erfahrung des Paulus zeigt
uns beides (2. Kor 12, 7). Der Herr wußte, welchen Schaden
das irdene Gefäß dem darin enthaltenen Schatz des ewigen
Lebens zufügen könne; denn das Fleisch ist schwach; das
Böse ist vorhanden; und um diesem Schaden vorzubeugen,
gab Er, zum Besten Seines Dieners, ihm einen Dorn für das
Fleisch. Paulus sollte durch dieses Mittel vor Überhebung
bewahrt werden. Wie konnte er, ein von Christo aufgelesenes Stück Ton, ein Diener des Herrn werden? Wie konnte
er wissen, was er tun sollte? Nur dadurch, daß er Gehorsam
lernte; und dazu sollte er in der Hand des Herrn gebildet
werden, wie der Ton in der Hand des Töpfers. Erst dann
konnte er unter der Leitung seines Herrn wandeln und ein
Werkzeug in Seinen Händen werden. Erst nachdem er völlige Abhängigkeit gelernt und des Herrn Sinn erkannt hatte,
konnte er Ihm dienen und Seinen Fußstapfen nachfolgen.
Der Herr hatte in Seinem Wandel Seinem-Vater gedient und
217
hatte nie einen anderen Willen als den des Vaters gekannt.
Aber Paulus hatte einen eigenen Willen. Der für sein Fleisch
gegebene Dorn, der ihn innerlich und äußerlich berührte,
mußte dazu dienen, ihn seine stete Schwachheit und Abhängigkeit fühlen zu lassen.
Es liegt etwas ungemein Schönes in dem Gedanken, daß
Christus uns zuerst das Leben in ein irdenes Gefäß legt und
dann für dieses Leben Sorge trägt. Es ist, als ob Er sagte:
„Ihr seid nicht fähig, dieses Leben zu bewahren und richtig
zu behandeln; darum muß ich Sorge dafür tragen". Wir
können nicht einen Tag in der Kraft dieses neuen Lebens
wandeln, ohne unsere Abhängigkeit von Christo zu fühlen,
Der diesem Gefäß das Leben mitgeteilt hat, und Der die
Kraft darreicht, um das Leben nach außen offenbaren zu
können. „Meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht". Wir
offenbaren das Leben nur in dem Maße, als Christus es leitet; und wir entdecken es in uns, weil es unsere Gedanken
und Gefühle auf Ihn richtet, Der es uns gegeben hat.
Wir alle lieben die Wüste nicht. Überall finden wir Schwierigkeiten und Gefahren, überall sengende Sonnenhitze und
tiefen Sand; das Herz will oft ermatten. Aber vergessen wir
nicht, daß wir es mit einem Gott zu tun haben, Der die
Toten auferweckt, und Der uns nur hier zurückläßt, um uns
zur Erkenntnis unseres eigenen Ichs Gelegenheit zu geben.
Richten wir unsere Blicke nicht nach der natürlichen Seite
hin, wo Dornen und Steine unseren Fuß verletzen, sondern
laßt uns nach jener Seite schauen, wo Gott ist, Der während
der Reise durch die Wüste das Herz des Pilgers mit Frieden
und Glückseligkeit erfüllt. Es ist der wohlgefällige Wille des
Herrn, daß wir nicht einen einzigen Tag verleben, ohne sagen zu können: „Ich weiß, daß die Kraft Christi in meiner
Schwachheit vollbracht wird".
Der Braut geziemt es, sich nach dem Kommen Dessen zu
sehnen, Der ihre Liebe besitzt; und der Heilige Geist ist es,
Der diese Liebe, diese Sehnsucht hervorruft. „Der Geist und
die Braut sprechen: „Komm!" Vielleicht hat sie auf ihrem
Weg durch diese dunkle Nacht, in welcher diese Welt liegt,
schmerzliche Augenblicke durchzumachen; aber nicht um das
Ende ihrer Mühsal zu sehen, harrt sie dem Kommen Jesu
entgegen; nein, sie sehnt sich danach um Seiner Selbst wil218
len. Sind eure Gedanken im Einklang mit diesem Verlangen
der Braut? Stimmt ihr ein in den Ruf: „Komm, Herr Jesu?"
Die Herzen der Jünger waren mit Jesu verbunden, während Er auf Erden war; und diese Herzen folgten Ihm in den
Himmel, als Er emporfuhr. Seit diesem Augenblick ist das
Auge der Heiligen nach oben gerichtet, von woher sie Ihn
erwarten. Jesus ist der glänzende Morgenstern, der in ihrem
Herzen aufgegangen ist. Inmitten der Nacht dieser Welt
haben sie den ersten Schimmer Seines Kommens entdeckt.
Das Kind Gottes hat in seiner Seele dieselben Neigungen,
wie Christus; und diese Neigungen offenbaren sich, wenn
wir uns auf Erden mit demjenigen beschäftigen, womit sich
Christus beschäftigt.
Wenn das Licht der Wiederkunft des Herrn in die Seele
dringt, dann erwachen eine Menge Bedürfnisse und Pflichten.
Man macht sich bereit, Ihm zu begegnen; aber man denkt
auch an solche, welche nicht bereit sind. Wenn ihr wüßtet,
daß der Herr morgen käme, würdet ihr dann nicht tätig sein,
die Dürstenden zu jener Quelle zu führen, die in das ewige
Leben quillt? Sicher, ihr würdet einstimmen in den Ruf:
„Wen da dürstet, der komme!" Es kann Augenblicke geben,
in welchen diese Hoffnung, ohne von ihrem Werte etwas
einzubüßen, in der Seele nicht in so mächtiger Weise empfunden wird. Bei dem Herrn aber ist keine Veränderung; Er
wird Seine Verheißung, bald zu kommen, sicher erfüllen. Er
hat gesagt: „Ich komme bald!" Die Aussicht auf Sein Kommen, als auf etwas nahe Bevorstehendes, erfüllt die Seele
mit Kraft.
Als Christus in den Himmel einging, wurde uns der Zugang in den Himmel durch den zerrissenen Vorhang Seines
Fleisches geöffnet; und der Thron, auf dem Er sitzt, ist ein
Gnadenthron, welchem wir mit Freimütigkeit nahen können.
Das Blut Christi ist dort vor den Augen Gottes.
Aus den Zeugnissen vieler Stellen des Neuen Testaments
sehen wir, daß die Seele des Apostels Paulus in dem Genüsse großer Freude war — eine Folge Seiner Gemeinschaft mit
dem Herrn und eine Folge seines Glaubens, der stets alles
von dem Standpunkte Gottes aus betrachtete. Welch einen
219
himmlischen Einfluß übte er auf andere aus! O glückliche
Seelen, die Ihm gleichen! Keine Wolke vermag vor ihren
Blicken Christum zu verhüllen. Wer könnte aber auch das
Angesicht des Herrn Jesu anschauen, ohne in der Seele eine
Wirkung davon zu verspüren! „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu
Herrlichkeit" (2. Kor 3, 18). „Er ist für alle gestorben, auf
daß die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern
dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden"
(2. Kor 5, 15). Welch eine Stellung wird uns angewiesen!
Wir sind nicht nur aus der Finsternis in Sein wunderbares
Licht berufen worden, sondern wir haben auch das ewige
Leben empfangen und sind in Gemeinschaft mit den Gedanken Christi gebracht. Paulus war sich dessen bewußt; und er
war beflissen, ein Zeugnis davon abzulegen, wie Christus
hier die Offenbarung der Liebe des Vaters war. Leider denken wir nicht genug an das, was wir in Christo besitzen, in
Ihm, Der jede Spur der Sünde ausgetilgt hat, und Der uns
bald in das Haus des Vaters einführen wird. Und diese
überschwengliche Gnade ist Wirklichkeit.
Die Macht, welche Christus auf die Seele ausübt, ist wunderbar. Paulus fand in Christo den Mittelpunkt seines ganzen Wirkens. Trotz seiner Bande war es überall, wo er sich
befand, sein einziger Gedanke, den Herrn zu verherrlichen.
Die Liebe Christi erfüllte seine Seele. Er hatte die Unerschütterlichkeit dieser Liebe am Tage der Gefahr erfahren,
und es war eine Freude für ihn, um Christi willen sich selbst
zu vergessen (2. Tim 4, 7; Phil 1, 12-25).
Welch ein köstlicher Gedanke, zu wissen, daß alles, was
ich habe, in Christo ist! Der Vater ist es, Der mir alles geschenkt und es den Händen Christi anvertraut hat; und der
Heilige Geist, den Er gesandt hat, versiegelt es in meinem
Herzen.
Wie auch der Schein sein mag, so wird doch jedes Werk
nur dann bestehen, wenn es die Verherrlichung Christi zum
Zwecke hat und das Leben Christi sich darin offenbart. Die
Umstände mögen verschieden sein; aber die Grundlage des
Werkes muß gleich sein. Der eine Christ mag krank sein
und auf einem Schmerzenslager sich befinden; der andere
220
mag von Ort zu Ort reisen, um die Botschaft des Heils zu
verkündigen; der dritte mag um des Evangeliums willen in
Ketten und Banden liegen, — doch ein jeder von ihnen befindet sich gerade dort, wo Christum am besten Sein Leben
in ihm entfalten kann.
Es ist nicht viel, wenn man sagt, daß das Ich aus dem
Hause des Vaters ausgeschlossen sein wird. Christus wird
dort alles ausfüllen. Wir werden so sehr von dem Licht Seiner Gegenwart umstrahlt sein, daß unsere Gedanken nur für
Ihn und nur in Ihm Raum finden.
Bei zwei Gelegenheiten wird uns eine Willensäußerung
Christi mitgeteilt; und jedesmal entspricht sie der Vollkommenheit, die in Ihm war. Das eine Mal bat der Herr Jesus,
als Er in der Voraussicht des Kreuzes in Seiner Seele mit
Bangigkeit den Augenblick durchlebte, wo Er, für uns zur
Sünde gemacht, unter dem Zorn Gottes stehen werde — daß,
wenn möglich, dieser Kelch an Ihm vorübergehen möge. Zugleich aber entsagte Er Seinem Willen und unterwarf Sich
dem Willen des Vaters; ja, Er nahm den Kelch in dem Bewußtsein, daß er aus der Hand des Vaters komme. Das
zweite Mal sah Jesus die kommende Herrlichkeit vor Sich
(Joh. 17), und wir hören Ihn zum Vater sagen: „Vater, ich
will, daß die, die du mir gegeben hast, auch bei mir seien,
wo ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit schauen'" (Joh 17,
24). Er vergaß Seine Jünger nicht; und als der Augenblick
herannahte, in welchem die Herrlichkeit auf die Leiden folgte, da wollte Er ihnen einen Platz in dieser Herrlichkeit sichern. Es war dieses das Recht Seiner Gnade, wie es auch die
Absicht der Liebe des Vaters war. Wie ganz anders steht es
bei uns. Wir haben einen Willen, der zum Schweigen gebracht werden muß, einen Willen, den uns unsere Selbstsucht einflößt und der, wenn er nicht zurückgehalten wird,
immer zu handeln bereit ist. Möchten doch unsere Herzen
in das Bild Dessen verwandelt werden, Der, in die Welt
kommend, sagte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o
Gott, zu tun!" (Hebr 10, 9).
Was wird es sein, wenn Christus Sich Selbst die Versammlung verherrlicht darstellt und sie in Seine Herrlichkeit
einführen wird, damit sie diese auf ewig mit Ihm teile!
221
„Dies tut zu meinem Gedächtnis!" Von wem kommt diese
Aufforderung? Wer ist es, der sie an uns richtet? Darauf hat
das Geschöpf keine Antwort; denn Er ist es, das ewige Leben, der eingeborene Sohn im Schöße des Vaters, ehe die
Welt war; Er ist es, Der herniedergekommen und die reiche
Quelle der unerschöpflichen Gnade und der Liebe Gottes geworden ist. Ja, Er, der Herr Jesus ist es, Der, bevor Er in die
Tiefe Seiner Leiden hineinging, Sich noch mit Sehnsucht
sehnte, das Passah mit Seinen Jüngern zu essen, und Der,
indem Er uns für die Zeit Seiner Abwesenheit das Gedächtnis Seines Todes und Seiner Liebe zurückließ, die Worte
sagte: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!" Seine Liebe setzt
einen Wert auf unsere Liebe. Inmitten der Herrlichkeit in der
Er nun über neunzehn Jahrhunderte thront, denkt Er an
schwache Geschöpfe, wie wir es sind; Er will, daß wir Seiner
gedenken, denn selbst in der Freude, die Er zur Rechten
Gottes genießt, hört Er nicht auf, von uns Liebe zu erwarten.
Wenn wir das Werk Christi schauen, so erkennen wir, daß
die Person Dessen, Der es vollbrachte und in Dem die Fülle
der Gottheit leibhaftig wohnt, dem Werk seinen Wert ver -
leiht. Jetzt sitzt Er zur Rechten Gottes und ist die Ruhe unserer Herzen. O möchten wir doch stets mit dem Apostel
begehren, daß „Christus hoch erhoben werde an unserem
Leibe, sei es durch Leben oder durch Tod!" (Phil 1, 20). Möchte doch jeder Tag Zeugnis davon ablegen, daß es unser
Wunsch ist, Ihm wohlzugefallen! Möge Er durch Seinen
Geist bewirken, daß wir, wie schwach das Licht unserer Erkenntnis auch sein mag, stets fÜT Ihn sind und auf Seiner
Seite stehen!