Inhaltsverzeichnis 1879 | |
Die Allgenugsamkeit Christi . . | 3 |
Die Bündnisse im Alten Testament . . | 33 |
Gedanken | 38 |
Betrachtungen über den Brief des Jakobus .... .. | 39 |
Die 70 Wochen ;in Daniel 9 | 94 |
Verschiedenheit und Einheit | 95 |
„Das Wort ward Fleisch" | 100 |
„Christus hat die Versammlung geliebt" | 104 |
Gedanke . . | 110 |
Der einzige Zufluchtsort | 111 |
Der Ölbaum, der Feigenbaum und der Weinstock . | 112 |
Ev. Johannes 1,17 . . . . . | 118 |
Gilgal . . | 118 |
Die Rotte Korah | 148 |
Die Wiederherstellung Israels oder der zwölf Stämme | 151 |
„Ein Mensch in Christo" . | 153 |
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" .. | 161 |
Das Wort Gottes | 162 |
Der Abfall und der Antichrist . | 195 |
Gideon und seine Gefährten | 198 |
Gedanke . . | 227 |
Die beiden kleinen Hörner in Daniel 7 und 8... | 228 |
Inhaltsverzeichni s
Die Allgenugsamkeit Christi 3
Die Bündnisse im Alten Testament 33
Gedanken 38
Betrachtungen über den Brief des Jakobus 39
Die 70 Wochen in Daniel 9 94
Verschiedenheit und Einheit 95
„Das Wort ward Fleisch" 100
„Christus hat die Versammlung geliebt" 104
Gedanke 110
Der einzige Zufluchtsort 111
Der Ölbaum, der Feigenbaum und der Weinstock . . . 112
Ev. Johannes 1, 17 118
Gilgal 118
Die Rotte Korah 148
Die Wiederherstellung Israels oder der zwölf Stämme 151
„Ein Mensch in Christo" 153
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" ... . 161
Das Wort Gottes 162
Der Abfall und der Antichrist 195
Gideon und seine Gefährten 198
Gedanke 227
Die beiden kleinen Hörner in Daniel 7 und 8 228
Die Allgenugsamkeit Christi
Wenn die Seele einmal dahin gebracht ist, ihre wirkliche
Stellung vor Gott, die Größe ihrer Schuld und ihres Elends, ihre
völlige und hoffnungslose Verderbtheit zu erkennen, so kann
sie nicht eher Ruhe finden, bis der Heilige Geist dem Herzen
einen vollkommenen und allgenugsamen Christus offenbart.
Die einzig mögliche Antwort auf unser gänzliches Verderben
ist das vollkommene Heilmittel Gottes.
Dies ist eine sehr einfache, aber auch sehr wichtige Wahrheit;
und wir dürfen mit aller Gewißheit sagen: je tiefer und völliger
der Leser diese Wahrheit kennenlernt, um so besser ist es. Das
wahre Geheimnis des Friedens ist, mit unserem schuldigen,
hilflosen und wertlosen Ich zu Ende zu gelangen und da einen
allgenugsamen Christus zu finden, den Gott für unser tiefstes
Bedürfnis vorgesehen hat. Dies ist die wahre Ruhe — eine Ruhe,
die nimmer gestört werden kann. Da mögen sich Schmerz,
Trübsale, Seelenübungen, mannigfache Versuchungen, Prüfungen und Schwierigkeiten finden, aber wir können überzeugt
sein, daß eine Seele, die wirklich durch den Geist Gottes dahin
gebracht ist, mit ihrem eigenen Ich ein Ende zu machen und
allein in einem völlig, genügenden Christus zu ruhen, einen
Frieden genießt, der nie unterbrochen werden kann.
Der unruhige und schwankende Zustand eines so großen
Teils des Volkes Gottes hat seinen Grund darin, daß sie in ihren
Herzen nicht einen von Gott selbst für sde vorgesehenen und in
allem genügenden Christus aufgenommen haben. Ohne Zweifel
mögen verschiedene Ursachen dazu beitragen; ich nenne unter
diesen nur einen gesetzlichen Geist, ein krankes Gewissen, ein
mit sich selbst beschäftigtes Herz, eine schlechte Belehrung, ein
gewisses Verlangen nach den weltlichen Dingen oder ein, wenn
auch geringer Vorbehalt in dem Herzen bezüglich der Anforde^
rungen Gottes, Christi und der Ewigkeit. Doch was auch die
Ursachen sein mögen, so glaube ich doch, daß in den meisten
Fällen der unter dem Volke Gottes so viel gefundene Mangel
eines festen Friedens daraus entspringt, daß man nicht versteht
3
oder nicht glaubt, wozu Gott Seinen Christus, und zwar für alle
Ewigkeit, gemacht hat.
Es ist nun meine Absicht, dem forschenden Leser aus dem
untrüglichen Worte Gottes zu zeigen, daß für ihn in Christo
alle Schätze aufgespeichert sind, die er je nötig hat, sei es, um
den Ansprüchen seines Gewissens und dem Verlangen seines
Herzens zu begegnen, sei es, um die Bedürfnisse auf seinem
Pfade zu befriedigen. Ich werde versuchen, durch die Gnade
Gottes zu beweisen, daß das Werk Christi der einzige wahre
Ruheplatz für das Gewissen ist, daß die Person Christi den
einzigen wahren Gegenstand für das Herz bildet, und daß das
Wort Christi der einzige wahre Leiter auf unserem Pfade ist.
Laßt uns zuerst ein wenig das Werk Christi als den einzigen
wahren Ruheplatz für das Gewissen betrachten. Bei der Betrachtung dieses großen Gegenstandes nehmen zwei Dinge
unsere Aufmerksamkeit in Anspruch; zuerst, was Christus für
uns getan hat, und dann, was Er jetzt für uns tut. In dem
ersten haben wir die Versöhnung, in dem zweiten die Sach=
walterschaft. Er starb für uns am Kreuz; Er lebt für uns auf
dem Thron. Durch Seinen herrlichen Versöhnungstod ist Er
unserem ganzen Zustand als Sünder begegnet. Er hat unsere
Sünden getragen und sie für immer hinweggetan. Er wurde
mit allen unseren Sünden beladen, mit den Sünden von allen,
die an Seinen Namen glauben. „Jehova hat ihn treffen lassen
unser aller Ungerechtigkeit" (Jes 53, 6). Und wiederum: „Denn
es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für
die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (1. Petr 3,18).
Dies ist eine große und äußerst wichtige Wahrheit für die
geängstete Seele, eine Wahrheit, welche die wahre Grundlage
der ganzen christlichen Stellung bildet. Eine aufrichtige er=
wachte Seele und ein durch den Heüigen Geist erleuchtetes Ge=
wissen können sich des auf eine göttliche Weise gemachten
Friedens nicht erfreuen, bevor diese kostbarste aller Wahr=
heiten in einfältigem Glauben erfaßt worden ist. Ich muß auf
Grund einer göttlichen Autorität wissen, daß alle meine Sünden
für immer aus der Gegenwart Gottes entfernt sind, daß Ex
Selbst in bezug auf sie alles so geordnet hat, daß allen Ansprüchen Seines Thrones und den Eigenschaften Seiner Natur
völlig Genüge geschehen ist, daß Er Sich durch das Hinwegtun
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meiner Sünden in einer weit erhabeneren und wunderbareren
Weise verherrlicht hat, als wenn Er mich wegen ihrer zu einer
ewigen Verdammnis verurteilt hätte.
Ja, Er Selbst hat es getan. Das ist die große wichtige Sache,
um die es sich handelt. Gott hat unsere Sünden auf Jesum
gelegt, und Er sagt es uns in Seinem heiligen Wort, so daß wir
es wissen können auf Grund einer göttlichen Autorität, einer
Autorität, die nicht lügen kann. Gott hat diesen Ratschluß gefaßt, Er hat ihn ausgeführt, und Er sagt uns, daß Er es getan
hat. Alles ist von Anfang bis zu Ende von Gott, und wir haben
einfach wie ein kleines Kind darin zu ruhen. Wie weiß ich, daß
Jesus meine Sünden an Seinem eigenen Leibe auf dem Holze
trug? Durch dieselbe Autorität, die mir sagt, daß ich Sünden
hatte, die getragen werden mußten. Gott in Seiner wunder=
baren und unvergleichlichen Liebe versichert mir, einem armen,
schuldigen, verdammungswürdigen Sünder, daß Er die ganze
Angelegenheit in betreff meiner Sünden übernommen und so
geordnet hat, daß Seinem ewigen Namen in dem weiten Welt=
all und in Gegenwart aller Kreatur Ehre und Herrlichkeit zuteil
werden wird. Der lebendige Glaube hieran muß das Gewissen
beruhigen. Wenn Gott Sich Selbst in betreff meiner Sünden
Genüge getan hat, dann kann ich sicher auch zufrieden sein.
Ich weiß, daß ich ein Sünder, ein großer Sünder bin. Ich weiß,
daß meine Sünden zahlreicher sind als die Haare meines Haup=
tes. Ich weiß, daß ich durch sie die ewige Verdammnis verdient
habe. Ich weiß, denn das Wort Gottes sagt es mir, daß kein
einziger Flecken von Sünde jemals in Seine heilige Gegenwart
eintreten kann, und daß daher, so weit es mich betraf, kein
ariderer Ausweg möglich war, als eine ewige Trennung von
Gott. Dies alles weiß ich auf Grund der klaren unÜ unzwei=
feihaften Autoritär jenes Wortes, das für immer in den Himmeln befestigt ist.
Doch jetzt tritt das tiefe Geheimnis des Kreuzes vor meine
Augen, das herrliche Geheimnis der erlösenden Liebe. Ich sehe
Gott Selbst alle meine Sünden wegnehmen, die ganze schwarze
und schreckliche Liste meiner Sünden, wie Er sie kannte und
schätzte. Ich sehe, wie Er sie alle auf das Haupt meines ge=
priesenen Stellvertreters legt und mit Ihm bezüglich ihrer han=
delt. Ich sehe alle die Wogen und Wellen des gerechten Zornes
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Gottes, Seines Zorns wider meine Sünden, des Zorns, der mich
unfehlbar getroffen haben würde, ich sehe sie alle über dem
Haupte Dessen zusammenschlagen, Der meinen Platz einnahm,
Der mich vor Gott repräsentierte, Der die ganze Strafe auf Sich
nahm, die ich verdient hatte, mit Dem ein heiliger Gott handelte,
wie Er mit mir gehandelt haben würde. Ich sehe, wie eine unverletzliche Gerechtigkeit, Heiligkeit und Wahrheit mit meinen
Sünden handelt und sie völlig und für ewig hinwegtut. Keine
einzige von ihnen wird vergessen; da gibt es keine Nachsicht,
keine Beschönigung, kein Übersehen, keine Gleichgültigkeit. Es
konnte unmöglich anders sein, denn Gott Selbst hatte die Sache
in die Hand genommen. Seine Herrlichkeit, Seine unbefleckte
Heiligkeit, Seine ewige Majestät, und die erhabenen Anforde^
rangen Seiner Regierung standen in Frage.
Diesem allem mußte in einer solchen Weise Rechnung ge=
tragen werden, daß Er Sich Selbst angesichts der Engel, der
Menschen und der Teufel verherrlichte. Gott hätte mich gerech=
terweise zur Hölle senden können wegen meiner Sünden; ich
verdiente nichts anderes. Mein ganzes moralisches Sein erkennt
dies völlig an, ja es muß dies anerkennen. Ich kann nicht ein
Wort der Entschuldigung hervorbringen im Blick auf einen
einzigen sündlichen Gedanken, ich kann nichts sagen im Blick
auf ein von Anfang bis zu Ende mit Sünde beflecktes Leben.
Andere mögen, wenn sie wollen, über die Ungerechtigkeit einer
ewigen Strafe für ein sündiges Leben rechten, sie mögen sagen,
daß endlose Zeitalter der Qualen inmitten des Feuersees durch=
aus nicht im Verhältnis stehen mit den wenigen Jahren, in
denen man Böses getan hat, aber ich glaube völlig und bekenne
es ohne Rückhalt, daß ich für meine Sünden gegen den Gott,
Den ich am Kreuze sehe, eine ewige Strafe in dem schrecklichen
Abgrund der Hölle verdient habe. Es würde sehr leicht sein,
eine Menge von klaren und unumstößlichen Schriftstellen an=
zuführen, welche die feierliche Wahrheit einer ewigen Ver=
dammnis deutlich beweisen. Doch dies ist nicht mein Zweck;
ich schreibe nur als einer, der über den wahren Sold der Sünde
göttlich belehrt worden ist, und ich erkläre mit aller Bestimmt=
heit und allem Ernst, daß dieser Sold nichts geringeres ist und
sein kann, als ein ewiger Ausschluß von der Gegenwart Gottes
und des Lammes, eine ewige Qual in dem See, der mit Feuer
und Schwefel brennt.
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Doch, gepriesen sei der Gott aller Gnade von Ewigkeit zu
Ewigkeit! Anstatt uns wegen unserer Sünden zur Hölle zu sen=
den, sandte Er Seinen Sohn als die Versöhnung für die^se
Sünden. Und in der Entfaltung des wunderbaren Planes der
Erlösung sehen wir einen heiligen Gott Sich beschäftigen mit
der Frage unserer Sünden; wir sehen Ihn, wie Er über sie
Gericht ausübt in der Person Seines geliebten, ewigen und
göttlichen Sohnes, und zwar um den ganzen Strom Seiner Liebe
in unsere Herzen ausgießen zu können. „Hierin ist die Liebe:
nicht, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt
und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für untere
Sünden" (1. Joh 4, 10).
Dies muß dem Gewissen Frieden geben, wenn es nur in der
Einfalt des Glaubens angenommen wird. Wenn ich glaube, daß
Gott Sich Selbst in bezug auf meine Sünden befriedigt hat, ist
es unmöglich, dennoch keinen Frieden zu haben. Wenn Gott
zu mir sagt: „Deiner Sünden und deiner Ungerechtigkeiten
werde ich nie mehr gedenken", was könnte ich dann noch mehr
als Grundlage des Friedens für mein Gewissen verlangen? Wenn
Gott mir versichert, daß alle meine Sünden ausgelöscht, daß
sie hinter Seinen Rücken geworfen sind und nie mehr vor
Sein Angesicht kommen werden, sollte ich dann keinen Frieden
haben? Wenn Er mir den Menschen zeigt, Der an meiner Statt
meine Sünden auf dem Kreuze getragen hat und jetzt zur
Rechten der Majestät in den Himmeln gekrönt ist, sollte dann
nicht meine Seele in vollkommener Ruhe sein in betreff der
Frage meiner Sünden? Sicher und gewiß.
Doch wie erreichte Christus den Platz, den Er jetzt auf dem
Thron Gottes ausfüllt? War es „als Gott über alles, gepriesen
in Ewigkeit?" Nein, denn das ist Er immer gewesen. War es als
der ewige Sohn des Vaters? Nein, denn das war Er von Ewig=
keit her; Er war von jeher in dem Schoß des Vaters, der Gegen=
stand Seiner ewigen und unaussprechlichen Wonne. Ging Er
dorthin als ein fleckenloser, heiliger und vollkommener Mensch,
als der Eine, Dessen Natur vollkommen rein und vollkommen
frei von Sünde war? Nein, denn in diesem Charakter und auf
diesem Grunde konnte Er in jedem Augenblick, von der Krippe
bis zum Kreuz, einen Platz zur rechten Hand Gottes bean=
spruchen. Wie erreichte Er denn diesen Platz? Dem Gott aller
7
Gnade sei ewig Preis und Dank! Christus ging hin als der
Eine, Der durch Seinen Tod das glorreiche Werk der Erlösung
vollbracht hatte, als der Eine, der mit dem ganzen Gewicht
unserer Sünden beladen gewesen war, als der Eine, Der in vollkommener Weise alle gerechten Ansprüche jenes Thrones, auf
dem Er jetzt sitzt, erfüllt hatte.
Dies ist die große und wichtige Wahrheit für jede ängstliche
Seele. Sie muß das Herz von allem Druck befreien und das
Gewissen beruhigen. Wir können nicht im Glauben auf Den
schauen, Der an das Kreuz genagelt war und jetzt auf dem
Thron gekrönt ist, ohne daß wir Frieden mit Gott haben. Der
Herr Jesus Christus könnte nicht, nachdem Er unsere Sünden
auf Sich genommen und das gerechte Gericht für sie getragen
hat, dort sein, wo Er ist, wenn eine einzige Sünde ungesühnt
zurückgeblieben wäre. Der Anblick des mit Herrlichkeit ge=
krönten Sündenträgers sagt uns, daß unsere Sünden für immer
aus der Gegenwart Gottes weggetan sind. Wo 9ind sie geblieben?
Sie sind alle ausgelöscht. Woher wissen wir das? Der Eine, Der
sie alle auf Sich genommen hat, ist durch die Himmel gegangen
zu dem Platze hin, von wo die höchste Herrlichkeit ausstrahlt.
Eine ewige Gerechtigkeit hat Sein Haupt mit einer Krone der
Herrlichkeit geschmückt, das Haupt Dessen, Der der Erfüller
unseres Erlösungswerkes, der Träger unserer Sünden war. Er
hat dadurch den unumstößlichen Beweis geliefert, daß alle
unsere Sünden für ewig aus den Augen Gottes entfernt sind.
Ein gekrönter Christus und ein gereinigtes Gewissen sind in
der gesegneten Haushaltung der Gnade unzertrennlich mitein=
ander verbunden. Wunderbare Tatsache! Mögen wir aus aller
Kraft das Lob der erlösenden Liebe besingen!
Doch laßt uns jetzt untersuchen, in welcher Weise uns diese
trostreiche Wahrheit in der Heiligen Schrift vorgestellt wird.
In Röm 3, V. 21—26 lesen wir: „Jetzt aber ist, ohne Gesetz,
Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden, bezeugt durch das
Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glaubea.
Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und
erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst
gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in
Christo Jesu ist; welchen Gott dargestellt hat zu einem Gnaden8
stuhl durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung, seiner
Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehe=
nen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung seiner
Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, daß er gerecht sei und den
rechtfertige, der des Glaubens an Jesum Christum ist". Wenn
der Apostel im folgenden Kapitel davon spricht, daß dem
Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet wurde, so
fügt er hinzu: „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben,
daß es ihm zugerechnet worden, sondern auch unseretwegen,
denen es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der
Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat, welcher
unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auf erweckt worden ist" (Röm 4, 23—25). Hier
wird Gott eingeführt als Der, Welcher den Träger unserer Sünden aus den Toten auferweckte. Warum tat Er es? Weil Er, Der
um unserer Übertretungen willen überliefert worden war, be=
züglich ihrer Gott völlig verherrlicht und sie für immer hin=
weggetan hat. Gott sandte nicht allein Seinen eingeborenen
Sohn in die Welt, sondern nachdem Er Ihn um unserer Über=
tretungen willen verwundet und um unserer Ungerechtigkeiten
willen zerschlagen hatte, weckte Er Ihn auf aus den Toten, da=
mit wir glauben und wissen könnten, daß alle unsere Sünden
in einer Weise hinweggetan sind, die Ihn für alle Ewigkeit
unendlich verherrlichen wird. Preis und Dank sei Seinem
Namen!
Doch wir haben noch weitere Zeugnisse über diese große
Fundamental=Wahrheit. In Hebr 1 finden wir Worte, die in
Wahrheit geeignet sind, die Seele aufzurichten. Wir lesen dort:
„Nachdem Gott vielfältig und auf mancherlei Weise ehemals
zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat Er am Ende
dieser Tage zu uns geredet im Sohne, den er gesetzt hat zum
Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat;
welcher, der Abglanz seiner Herrlichkeit und der Abdruck
seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort seiner
Macht tragend, nachdem er durch sich selbst die Reinigung der
Sünden bewirkt, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in
der Höhe" (V. 1—3). Unser Herr Jesus, gepriesen sei Sein
Name! wollte nicht eher Seinen Platz auf dem Thron Gottes
einnehmen, als bis Er durch das Opfer Seiner Selbst auf dem
Kreuze uns von unseren Sünden gereinigt hatte. Daher ist ein
9
auferstandener Christus, Der Sich zur Rechten der Majestät in
der Höhe gesetzt hat, der glorreiche und unumstößliche Beweis
für die Hinwegnahme aller unserer Sünden. Gott erweckte den=
selben Menschen aus den Toten, auf den Er Selbst die ganze
Last unserer Sünden gelegt hatte. Alles ist daher auf eine gött=
liehe Weise und für immerdar in Ordnung gebracht. Es ist
ebenso unmöglich, daß auf dem schwächsten Gläubigen eine
einzige Sünde gefunden werden kann, wie auf Jesu Selbst. Es
ist eine wunderbare Sache, so sprechen zu können, aber es ist
die bestimmte, durch viele Stellen der Heiligen Schrift bestätigte
Wahrheit Gottes; und die Seele, die sie im Glauben annimmt,
muß einen Frieden besitzen, den die Welt weder geben, noch
nehmen kann.
2.
Wir haben uns bis jetzt mit dem Werk Christi in bezug auf
die Frage der Vergebung unserer Sünden beschäftigt, und ich
hoffe zuversichtlich, daß der Leser über diesen Hauptpunkt
völlig klar und beruhigt ist. Es ist sicher sein glückliches Vor=
recht, dies zu sein, wenn Er nur Gott bei Seinem Worte neh=
men will. „Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Ge=
rechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe"
(1. Petr 3, 18). Wenn nun Christus für unsere Sünden gelitten
hat, sollten wir denn nicht die hohe Segnung verstehen, für
ewig von der Bürde dieser Sünden befreit zu sein? Kann es den
Gedanken und dem Herzen Gottes entsprechen, daß jemand,
für den Christus gelitten hat, wegen seiner Sünden in fortwähren|der Furcht bleibt, und daß er von Woche zu Woche, von
Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr über die unerträgliche Bürde
der Sünden seufzt?
Wenn solche Seufzer und Ausrufe richtig und der Stellung
des Christen angemessen wären, was hätte dann Christus für
uns getan? Kann es wahr sein, daß Christus alle unsere Sünden
getragen hat, und daß wir dennoch mit ihren Ketten gebunden
sind? Ist es möglich, daß wir, nachdem Er die schwere Bürde
unserer Sünden getragen hat, noch unter ihrem unerträglichen
Gewicht erdrückt werden können? Vielleicht möchte uns mancher gerne überzeugen, daß es unmöglich ist, über die Ver=
gebung unserer Sünden gewiß zu sein, und daß wir bis zum
10
Ende unseres Lebens in völliger Ungewißheit in betreff dieser
höchst wichtigen Frage dahingehen müssen. Aber wenn dies so
wäre, was würde denn aus dem herrlichen Evangelium von
ckr Gnade Gottes, von der frohen Botschaft der Errettung,
geworden sein? Welche Bedeutung hätten jene Worte, die der
Apostel Paulus in der Synagoge zu Antiochien aussprach? „So
sei es euch nun kund, Brüder, daß durch diesen (Jesus Christus,
der gestorben und auferstanden ist) euch die Vergebung der
Sünden verkündigt wird (nicht verheißen als eine zukünftige
Sache, sondern jetzt verkündigt); und von allem, wovon ihr in
dem Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, ist
(nicht: „wird sein" oder „hofft es, zu sein") in diesem jeglicher
Glaubende gerechtfertigt" (Apg 13, 38. 39).
Wenn wir auf dem Gesetz Moses, auf dem Halten der Ge=
böte, auf unserer Pflichterfüllung und auf unseren Gefühlen
ruhten, wenn wir uns darauf stützten, daß wir Christum so
wertschätzten, und Gott so liebten, wie wir es sollten, dann
würde das Resultat sein, daß wir uns im Zweifel und in völliger
Ungewißheit befänden, da wir keinen irgendwie möglichen
Grund für unsere Sicherheit entdecken könnten. Wenn wir in
der Sache nur so viel, wie das Zucken einer Augenwimper ist, zu
tun hätten, dann würde es wahrlich vermessen von uns sein,
an eine völlige Gewißheit zu denken. Wenn wir aber auf der
anderen Seite die Stimme des lebendigen Gottes hören, der
nicht lügen kann, wenn die frohe Botschaft in unsere Ohren
dringt, daß durch Seinen eigenen geliebten Sohn, Der am Kreuze
starb und ins Grab gelegt wurde, Der aber wieder aus den
Toten auferstanden ist und Sich in der Herrlichkeit auf den
Thron Gottes gesetzt hat, daß durch Ihn allein, durch Ihn, ohne
irgendein Zutun von unserer Seite — durch das ein für allemal
geschehene Opfer Seiner Selbst, eine vollkommene und ewige
Vergebung verkündigt wird, und zwar als eine gegenwärtige
Wirklichkeit, deren sich jede Seele erfreuen kann, die einfach
an das kostbare Zeugnis Gottes glaubt, wie ist es dann möglich,
daß noch irgend jemand in Zweifel und Ungewißheit verharren
kann? Ist das Werk Christi vollbracht? Er rief auf dem Kreuze:
„Es ist vollbracht!" Was hat er getan? Er hat unsere Sünden
hinweggenommen. Sind sie nun wirklich weggetan, oder sind
sie noch auf einem von uns, der an Seinen Namen glaubt?
11
Welches von beiden ist der Fall, mein lieber Leser? Wo sind
deine Sünden? Sind sie im Grabe Christi für immer zurück=
geblieben, oder liegen sie noch als eine schwere Schuldenlast
auf deinem Gewissen? Wenn sie nicht durch den Versöhnungs=
tod Christi hinweggetan sind, so können sie niemals weggetan
werden. Wenn Er sie nicht auf dem Kreuze getragen hat, so
mußt du sie in dem nie verlöschenden Feuer der Hölle von
Ewigkeit zu Ewigkeit tragen. Du kannst versichert sein, daß es
keinen anderen Weg gibt, um diese so außerordentlich wichtige
und folgenschwere Frage zu lösen. Wenn Christus deine Sache
nicht auf dem Kreuze geordnet hat, so bist du unrettbar verloren. Es muß also sein, wenn anders das Wort Gottes die
Wahrheit ist.
Aber, Gott sei gepriesen! Sein eigenes Zeugnis versichert
uns, daß „Christus einmal für Sünden gelitten hat, der Ge=
rechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe"; es
heißt nicht: „auf daß er uns in den Himmel bringe, wenn wir
sterben", sondern „auf daß Er uns jetzt zu Gott führe". Wie
führt Er uns zu Gott? Beladen mit unseren Sünden? Mit einer
unerträglichen Schuldenlast auf unserem Gewissen? Nein,
wahrlich nicht. Er führt uns flecken= und makellos zu Gott,
befreit von jeder Last. Er führt uns zu Gott in der ganzen An=
nehmlichkeit Seiner eigenen Person. Gibt es irgendeine Schuld
auf Ihm? Nein; Er war einst, gepriesen sei Sein Name! mit
Schuld beladen, als Er an unserer Statt gerichtet wurde, aber
diese Schuld ist verschwunden, verschwunden für immer, sie
ist wie ein Stück Blei in das unergründliche Meer der göttlichen
Vergessenheit geworfen. Er war auf dem Kreuz mit unseren
Sünden beladen. Gott legte alle unsere Ungerechtigkeiten auf
Ihn und rechnete mit Ihm darüber ab. Die ganze Frage unserer
Sünden wurde völlig und endgültig zwischen Gott und Christo
entschieden. Ja, auf Golgatha ist alles ein für allemal in Ord=
nung gebracht, und wir wissen dies durch die Autorität des
allein wahren Gottes. Sein Wort versichert uns, daß wir die
Versöhnung haben durch das Blut Christi, die Vergebung der
Vergehungen, nach dem Reichrum Seiner Gnade. Er erklärt uns
in Worten der reichsten und tiefsten Gnade, daß Er unserer
Sünden und unserer Gesetzlosigkeiten nie mehr gedenken will.
Ist das nicht genug? Sollen wir noch fortfahren zu klagen, daß
wir mit unseren Sünden beladen sind? Sollen wir einen solchen
12
Flecken auf das vollkommene Werk Christi werfen? Sollen
wir so das glänzende Licht göttlicher Gnade trüben und das
Zeugnis des Heiligen Geistes in den Schriften der Wahrheit
Lügen strafen? Fern sei uns ein solcher Gedanke! Laßt uns
lieber mit Danksagung die gesegnete, uns so frei durch die
göttliche Liebe dargebotene Gabe annehmen. Es ist die Freude
des Herzens Gottes, uns unsere Sünden zu vergeben. Ja, Gott
hat Seine Wonne am Vergeben der Ungerechtigkeiten und
Übertretungen. Es befriedigt und verherrlicht Ihn, auf das gebrochene und zerschlagene Herz den Balsam Seiner eigenen
versöhnenden Liebe und Gnade zu legen. Er verschonte Seinen
eigenen Sohn nicht, sondern gab Ihn hin und richtete Ihn auf
dem Fluchholze, damit Er imstande sei, in vollkommener Gerechtigkeit die reichen Ströme der Gnade über den armen, schul=
digen, zu Grunde gerichteten Sünder ausgießen zu können.
Sollte der Leser sich immer noch versucht fühlen, zu fragen,
wie er die Gewißheit haben könne, daß diese gesegnete Tilgung
der Sünden, diese Frucht des Versöhnungswerkes Christi auch
auf ihn Anwendung finde, so möge er auf jene herrlichen Worte
lauschen, die dem Munde des auferstandenen Heilandes ent=
strömten, als Er den ersten Boten Seiner Gnade ihren Auftrag
gab: „Und er sprach zu ihnen: Also steht geschrieben, und also
mußte der Christus leiden und am dritten Tage auferstehen
aus den Toten und in seinem Namen Buße und Vergebung der
Sünden verkündigt werden allen Nationen, anfangend von
Jerusalem" (Lk 24, 46. 47). Hier haben wir den großen und
herrlichen Auftrag, seine Grundlage, seine Autorität und seine
Sphäre. Christus hat gelitten. Dies ist der Grund der Vergebung
der Sünden. Ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung. Aber
durch das Vergießen des Blutes Christi, und durch dieses allein,
gibt es Vergebung der Sünden, eine Vergebung, die so völlig
und umfassend ist, wie sie das kostbare Blut Christi zu bewir=
ken vermochte. Doch wo ist die Autorität hierfür? „Es steht
geschrieben". Gesegnete, unantastbare Autorität! Nichts ist
imstande, sie zu erschüttern. Ich weiß auf Grund der festen
Autorität des Wortes Gottes, daß meine Sünden alle vergeben
und für immer hinweggetan sind, so daß sie nie eine Anklage
wider mich erheben können. Was nun die Sphäre des Evan=
geliums betrifft, sie umfaßt „alle Nationen". Darin bin auch
ich ohne Frage eingeschlossen. Hier gibt es keinerlei Ausnahme,
13
noch sind besondere Zustände und Eigenschaften nötig. Die
gesegnete Botschaft sollte zu allen Nationen, zu der ganzen
Welt, zu jeder Kreatur unter dem Himmel gebracht werden.
Wie könnte ich mich von diesem die ganze Welt umfassenden
Auftrag ausschließen? Bin ich einen Augenblick darüber im
Zweifel, ob die Strahlen der Sonne Gottes für mich bestimmt
sind? Sicher nicht. Und warum sollte ich die kostbare Tatsache
in Frage ziehen, daß diese Botschaft der Vergebung der Sünden
auch an mich gerichtet ist? Nicht für einen Augenblick sollte
ich daran zweifeln. Sie ist so gewiß an mich gerichtet, als wenn
ich der einzige Sünder auf der ganzen Erde wäre. Die Allge=
meinheit des Auftrags des Herrn schließt jede Frage, ob er auch
für mich bestimmt sei, von vornherein aus.
Wenn noch eine weitere Ermutigung nötig wäre, so finden
wir sie in der Tatsache, daß die gesegneten Boten des Herrn
„zu Jerusalem anfangen" sollten, einer Stadt, die sich mehr als
jede andere der schrecklichsten Sünden schuldig gemacht hatte.
Sie hatten gerade zuerst den Mördern des Sohnes Gottes Gnade
und Versöhnung anzubieten, und der Apostel Petrus tat dies
in jenen Worten voll der wunderbaren und überströmenden
Gnade: „Euch zuerst hat Gott, als er seinen Knecht erweckte,
ihn gesandt, euch zu segnen, indem er einen jeden von euren
Bosheiten abwendet" (Apg 3, 26). Könnte noch etwas Über=
schwenglicheres und Herrlicheres gefunden werden? Die Gnade,
welche die Mörder des Sohnes Gottes erreichen konnte, kann
einen jeden erreichen. Das Blut, das von der Schuld eines solchen Verbrechens reinigen kann, ist auch imstande, den schreck=
lichsten Sünder, der sich noch außerhalb der Pforten der Hölle
befindet, zu reinigen.
Mein lieber Leser, kannst du, wenn du an Seinen Namen
glaubst, noch länger Bedenken tragen in betreff der Vergebung
deiner Sünden? Christus hat für Sünden gelitten. Gott läßt uns
die Vergebung der Sünden verkündigen. Er setzt Sein eigenes
Wort zum Pfände: „Diesem geben alle Propheten Zeugnis, daß
jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch
seinen Namen" (Apg 10, 43). Was willst du mehr verlangen?
Wie kannst du noch länger zweifeln oder zögern? Worauf
wartest du? Du hast das vollbrachte Werk Christi und das
treue, nie lügende Wort Gottes. Diese beiden Dinge sollten
14
wahrlich deinem Herzen genügen und dein Gewissen beruhi=
gen. Laß dich daher nicht länger bitten, die völlige und ewige
Vergebung deiner Sünden anzunehmen. Nimm in deinem Her=
zen die süße Botschaft von der göttljchen Liebe und dem göttlichen Erbarmen auf und setze deinen Weg fort mit Freuden
(Apg &, 39). Lausche auf die Stimme eines auferstandenen Hei=
landes, Der von dem Thron der Majestät in den Himmeln redet
und dir versichert, daß alle deine Sünden vergeben sind. Laß
jene gnadenreichen Worte aus dem Munde Gottes Selbst mit
all ihrer erfrischenden Kraft auf deine beunruhigte Seele fallen:
„Deiner Sünden und deiner Gesetzlosigkeiten will ich nie mehr
gedenken". Wenn Gott so spricht, wenn Er mir versichert, daß
Er meiner Sünden nie mehr gedenken will, sollte ich denn nicht
völlig und für immerdar befriedigt sein? Warum sollte ich noch
länger in meinen Zweifeln und Überlegungen beharren, nach=
dem Gott gesprochen hat? Was kann Sicherheit geben, wenn
nicht das Wort Gottes, das nie vergehen wird? Es ist der einzige
Grund der Gewißheit; und keine Macht der Erde oder der Hölle
kein Mensch oder Teufel kann es jemals erschüttern. Das voll=
brachte Werk Christi und das getreue Wort Gottes bilden die
Grundlage und die Autorität einer völligen Vergebung der
Sünden.
Doch, ewig gepriesen sei der Gott aller Gnade! es ist nicht
nur Vergebung der Sünden, die uns durch den Versöhnungs tod
Christi verkündigt wird. Diese ist an und für sich eine Gabe
und eine Segnung der höchsten Art, und wir erfreuen uns ihrer,
wie wir gesehen haben, gemäß des Wertes und der Wirkung
des Todes Christi, wie Gott diesen schätzt. Aber außer dieser
vollkommenen Vergebung der Sünden besitzen wir auch eine
gänzliche Befreiung von der gegenwärtigen Macht der Sünde.
Dies ist eine Wahrheit, die für einen jeden, der die Heiligkeit
liebt, von großer Bedeutung ist. Nach der glorreichen Haus=
haltung der Gnade hat dasselbe Werk, das die völlige Verge=
bung der Sünden bewirkte, auch für immer die Macht der Sünde
gebrochen. Nicht nur sind die während unseres ganzen Lebens
begangenen Sünden ausgelöscht, sondern die Sünde im Fleische
ist gerichtet. Der Gläubige hat das Vorrecht, sich der Sünde für
tot zu halten. „Ich bin mit Christo gekreuzigt; und nicht mehr
lebe ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2, 20). Das ist
Christentum. Das alte „Ich" ist gekreuzigt, und Christus lebt
15
in mir. Der Christ ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist ver=
gangen. Der Tod Christi hat für immer die Geschichte des alten
„Ich" geschlossen; und daher ist, obgleich die Sünde noch in
dem Gläubigen wohnt, ihre Kraft gebrochen und für immer
hinweggetan. Ihre schreckliche Herrschaft ist völlig vernichtet.
Der nachdenkende Leser des überaus lehrreichen Briefes an
die Römer wird bemerken, daß wir von Kapitel 3, 21 bis Ka=
pitel 5, i i das Werk Christi auf die Frage der Sünden angewendet finden. Von Kapitel 5, 12 bis zum Ende des 8. Kapitels
wird das Werk Christi von einer anderen Seite betrachtet. Da
wird es angewandt auf die Frage der Sünde — „von unserem
alten Menschen" — „dem Leibe der Sünde" — „der Sünde im
Fleische". Die Schrift spricht niemals von einer Vergebung der
Sünde. Gott hat die Sünde verurteilt oder gerichtet, aber nicht
vergeben. Dieser Unterschied ist unermeßlich wichtig. Gott hat
Seinen ewigen Abscheu vor der Sünde in dem Kreuze Christi
gezeigt. Er hat Sein Gericht über sie ausgesprochen und ausge=
führt, und jetzt kann sich der Gläubige betrachten als vex=
bunden und einsgemacht mit Dem, Der am Kreuze starb und
von den Toten auferstanden ist. Er ist aus dem Bereich der
Herrschaft der Sünde in jene neue und gesegnete Sphäre ver=
setzt, wo die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit. „Gott aber sei
Dank", sagt Jer Apostel, „daß ihr Sklaven der Sünde wäret,
(einst, aber jetzt nicht mehr) aber von Herzen gehorsam ge=
worden seid dem Bilde der Lehre, welchem ihr übergeben seid.
Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden. Ich rede menschlich, wegen der Schwachheit
eures Fleisches. Denn gleichwie ihr eure Glieder dargestellt habt
zur Sklaverei der Unreinigkeit und der Gesetzlosigkeit zur
Gesetzlosigkeit, also stellet jetzt eure Glieder dar zur Sklaverei
der Gerechtigkeit zur Heiligkeit. Denn als ihr Sklaven der
Sünde wäret, da wäret ihr Freie von der Gerechtigkeit. Welche
Frucht hattet ihr denn damals von den Dingen, deren ihr euch
jetzt schämt? denn das Ende derselben ist der Tod. Jetzt aber,
von der Sünde freigemacht und Gottes Sklaven geworden, habt
ihr eure Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben"
(Röm 6, 17-22).
Hierin liegt das kostbare Geheimnis eines heiligen Lebens.
Wir sind der Sünde gestorben, wir leben aber Gott. Die Herr=
16
schaft der Sünde ist vorüber. Was hat die Sünde mit einem
toten Menschen zu tun? Nichts. Nun, der Gläubige ist mit
Christo gestorben, er wurde mit Ihm begraben, und er ist
auferweckt mit Christo, um in Neuheit des Lebens zu wandeln.
Er lebt unter der Regierung der Gnade und er hat seine Frucht
zur Heiligkeit. Der Mensch, der die Fülle der göttlichen Gnade
zu einem Vorwande gebraucht, um in der Sünde zu leben, ver=
leugnet die wahre Grundlage des Christentums. „Wir, die wir
der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in derselben
leben?" Unmöglich. Es würde eine Verleugnung der ganzen
christlichen Stellung sein. Wenn man sagt, daß der Christ von
Tag zu Tage, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat vorangehen müsse, indem er sündige und wieder Buße tue, falle
und wieder aufstehe, so erniedrigt man dadurch das Christen=
tum und verfälscht die ganze christliche Stellung. Wenn man
behauptet, daß der Christ in der Sünde beharren müsse, weil er
das Fleisch in sich habe, so läßt man den Tod Christi in einer
seiner wichtigsten Beziehungen völlig unbeachtet und straft die
ganze Belehrung des Apostels in Röm 6 und 8 Lügen. Gott sei
Dank! es ist durchaus keine Notwendigkeit da, daß der Gläu=
bige sündige. „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß
ihr nicht sündiget" (1. Joh 2, 1). Wir sollten uns in keinem ein=
zigen sündigen Gedanken rechtfertigen. Es ist unser köstliches
Vorrecht, nach dem Lichte zu wandeln und nicht zu sündigen.
Ein sündiger Gedanke ist dem wahren Charakter des Christen=
tums fremd. Wir haben Sünde in uns und werden es haben,
so lange wir in diesem Leibe sind; aber wenn wir in dem Geiste
wandeln, wird sich die Sünde in unserer Natur nicht lebendig
erweisen. Wenn wir sagen: „wir brauchen nicht zu sündigen",
so bezeichnen wir dadurch eins der Vorrechte eines Christen;
die Behauptung aber, daß wir nicht sündigen können, ist ein
Betrug und eine Lüge.
3.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß das große Resul=
tat des auf dem Kreuze vollbrachten Werkes Christi darin be=
steht, uns eine göttlich vollkommene Stellung vor Gott zu
geben. „Denn durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden". Er hat uns in die Gegen=
wart Gottes eingeführt in Seiner eigenen vollkommenen An=
17
nehmlichkeit, im vollen Wert Seines Namens, Seiner Person
und Seines Werkes, so daß, wie der Apostel Johannes erklärt,
„gleichwie er ist, auch wir sind in dieser Welt" (1. Joh 4, 17).
Das ist die Stellung eines jeden, auch des schwächsten Lam=
mes der durch Blut erkauften Herde Christi. Es kann nicht
anders sein. Entweder ist es dieses, oder ewiges Verderben.
Zwischen dieser Stellung einer absoluten Vollkommenheit vor
Gott und einem Zustande der Sünde und des Ruins gibt es nicht
einen Zwischenraum von der Breite eines Haares. Wir sind
entweder in unseren Sünden, oder in einem auferstandenen
Christus. Wir sind entweder mit Schuld bedeckt, oder vollkommen gemacht in Christo. Aber der Heilige Geist erklärt in der
Schrift, daß der Gläubige „vollkommen gemacht sei in Christo",
„dem Gewissen nach vollkommen", „für immerdar vollkommen
gemacht", „gereinigt von aller Sünde", „begnadigt in dem Ge=
liebten", „gemacht (oder geworden) zur Gerechtigkeit Gottes
in Christo."
Dies alles hat das Opfer auf dem Kreuz zuwege gebracht.
Der Versöhnungstod Christi bildet die feste und unerschütter=
liehe Grundlage der Stellung des Christen. Nachdem Er ein für
allemal ein Opfer für Sünden dargebracht hat, hat Er Sich
gesetzt zur Rechten Gottes. Daß Christus an jenem Platz sitzt,
ist der glorreiche Beweis und die vollkommene Erklärung der
Stellung des Gläubigen in der Gegenwart Gottes. Unser Herr
Jesus Christus hat uns, nachdem Er Gott in betreff unserer
Sünden verherrlicht und Sein Gericht über unseren ganzen
Zustand als Sünde getragen hatte, in lebendiger Gemeinschaft
mit Sich in einen Platz eingeführt, der nicht nur Vergebung,
Annahme und Frieden, sondern auch völlige Befreiung von der
Herrschaft der Sünde in sich schließt, — in einen Platz des ge=
wissen Sieges über alles, was möglicherweise gegen uns sein
könnte, sei es nun die in uns wohnende Sünde, oder Satan, oder
das Gesetz, oder der gegenwärtige böse Zeitlauf.
Dies ist, ich wiederhole es, die für den Gläubigen durch das
Werk Christi völlig erworbene Stellung, und ich bitte den
christlichen Leser dieser Zeilen dringend, sich durch nichts
weniger befriedigen zu lassen. Möchte er nicht länger den ver=
wirrten Lehren, die sich in den Glaubensbekenntnissen des
Christentums aussprechen, noch seinen liturgischen Gottesdien=
18
sten anhangen, die nur die Seele zurücktreiben in die Dunkel=
heit, die Entfernung und die Knechtschaft des Judaimus, jenes
Systems, das Gott mangelhaft fand und das Er für immer hin=
weggetan hat, weil es Seinen heiligen Gedanken nicht entsprach,
noch Sein liebendes Herz zufriedenstellte, indem es dem An=
beter weder einen vollkommenen Frieden und vollkommene
Freiheit gab, noch ihn in die nächste Nähe zu Gott brachte.
Ich richte an alle, die dem Herrn angehören, besonders aber
an diejenigen von ihnen, die sich in den verschiedenen Parteien
der bekennenden Kirche befinden, die dringende Bitte, mit allem
Ernst zu untersuchen, wo sie sind, und zu erforschen, inwie=
weit sie die wahre christliche Stellung, wie sie in den oben an=
geführten Schriftstellen, die mit leichter Mühe vervielfacht
werden könnten, dargestellt ist, verstehen und sich ihrer erfreuen. Möchten sie in aller Einfalt und Treue die Lehren der
Christenheit mit dem Worte Gottes vergleichen und sehen, in=
wieweit sie mit dem Worte übereinstimmen! Auf diesem Wege
werden sie entdecken, in welchem schneidenden Kontrast die
bekennende Christenheit der gegenwärtigen Tage mit den bestimmten Lehren des Neuen Testaments steht; sie werden fin=
den, wie infolgedessen die Seelen der köstlichen Vorrechte, die
ihnen als Christen angehören, beraubt und in einer moralischen
Entfernung von Gott gehalten werden, welche die mosaische
Haushaltung charakterisierte.
Dies alles ist höchst beklagenswert. Es betrübt den Heiligen
Geist, verwundet das Herz Christi, entehrt die Gnade Gottes
und widerspricht den klarsten und deutlichsten Belehrungen
der Heiligen Schrift. Ich bin völlig überzeugt, daß der Zustand
von Tausenden von Christen in diesem Augenblick dazu angetan ist, das Herz bluten zu machen, und daß dieser Zustand
zum großen Teil eine Folge der Lehren, der Glaubensbekennt=
nisse und des Formenwesens des Christentums ist. Wie wenige
gibt es unter der großen Masse der bekennenden Christen, die
sich eines vollkommen gereinigten Gewissens, des Friedens mit
Gott und des Geistes der Sohnschaft erfreuen! Werden nicht die
Menschen öffentlich und systematisch belehrt, daß es die
höchste Anmaßung sei, wenn jemand sage, seine Sünden seien
alle vergeben, er habe ewiges Leben, er sei gerechtfertigt von
allem, er sei begnadigt in dem Geliebten, er sei versiegelt mit
19
dem Heiligen Geiste und er könne nicht verlorengehen, weil er
durch den in ihm wohnenden Geist tatsächlich mit Christo ver=
einigt sei? Werden nicht alle diese christlichen Vorrechte in der
Christenheit praktischerweise beinahe verleugnet und mißach=
tet? Werden nicht die Leute belehrt, daß es gefährlich sei, dem
Worte Gottes zuviel Vertrauen zu schenken, daß es moralisch
sicherer sei, in Zweifel und Furcht zu leben, ja, daß das äußerste
was wir erwarten können, die Hoffnung sei, in den Himmel zu
kommen, wenn wir sterben? Wo werden die Seelen über die
herrlichen Wahrheiten belehrt, die mit der neuen Schöpfung
in Verbindung stehen? Wo werden sie gewurzelt und gegründet
in der Erkenntnis ihrer Stellung in einem auferstandenen und
verherrlichten Haupte in den Himmeln? Wo werden sie dahin
geleitet, sich aller der Dinge zu erfreuen, die Gott Seinem Volk
in freier Liebe geschenkt hat?
Ach! man muß mit tiefer Betrübnis an die einzige wahre Ant=
wort denken, die auf solche Fragen gegeben werden kann. Die
Herde Christi ist zerstreut auf düsteren Bergen und öden Moo=
ren. Die Seelen des Volkes Gottes werden in der dunklen Ent=
fernung gehalten, die das jüdische System charakterisierte. Sie
kennen weder die Bedeutung des zerrissenen Vorhangs, noch
sind sie sich der bestimmten Annahme in dem Geliebten be=
wüßt. Die vollbrachte Erlösung, die volle Vergebung der Sün=
den, die vollkommene Rechtfertigung vor Gott, die Annehm=
lichkeit in einem auferstandenen Christus, der Geist der Sohn=
schaft, die herrliche und gesegnete Hoffnung der Ankunft des
Bräutigams, — alle diese großen und köstlichen Wirklichkeiten,
diese der Kirche Gottes verliehenen Vorrechte sind durch die
Lehren und die religiöse Maschinerie der Christenheit praktisch
beiseitegesetzt.
Vielleicht mögen einige meiner Leser denken, ich male mit
zu düsteren Farben. Ich kann nur sagen, und ich sage es mit
allem Ernst: „Wollte Gott, es wäre so!" Ich bin überzeugt,
daß das Gemälde wahr ist, ja, daß die Wirklichkeit noch weit
erschreckender ist. Es ist meine tiefe und schmerzliche Über=
zeugung, daß der Zustand nicht nur der bekennenden Kirche,
sondern auch von Tausenden der wahren Schafe der Herde
Christi ein solcher ist, daß, wenn wir ihn so erkennen könnten,
wie Gott ihn erkennt, unsere Herzen brechen würden.
20
Doch laßt uns jetzt unseren Gegenstand weiter verfolgen.
Wir haben uns mit jenem kostbaren Werk beschäftigt, das
unser Herr Jesus Christus für uns vollbracht hat, indem Er
alle unsere Sünden hinwegnahm und die Sünde verurteilte und
so für uns eine vollkommene Vergebung der Sünden und eine
gänzliche Befreiung von der Sünde, als einer herrschenden
Macht, zuwege brachte. Christus ist für uns gestorben, und wir
sind gestorben mit Ihm. Daher sind wir frei; wir sind aufer=
weckt aus den Toten und leben jetzt Gott durch Jesum Christum,
unseren Herrn. Wir sind eine neue Schöpfung. Wir sind vom
Tode zum Leben hinübergegangen. Tod und Gericht liegen
hinter uns und nichts als Herrlichkeit vor uns. Wir haben einen
unbefleckten Titel und eine unumwölkte Aussicht.
Wenn nun dies alles wirklich Wahr ist von jedem Kinde
Gottes, und die Schrift sagt, daß es so ist, was brauchen wir
dann noch mehr? Nichts, weder in betreff unseres Titels, noch
in betreff unserer Stellung und unserer Hoffnung. Hinsichtlich
aller dieser Dinge besitzen wir eine absolute, göttliche Voll=
kommenheit. Unser Zustand aber ist nicht vollkommen, noch
unser Wandel. Wir sind noch in dem Leibe, von mancherlei
Schwachheiten umgeben und mannigfaltigen Versuchungen aus=
gesetzt; wir sind fähig, zu straucheln, zu fallen und zu irren.
Aus uns selbst sind wir unfähig, auch nur einen guten Gedan=
ken auszudenken, oder uns für einen Augenblick in der ge=
segneten Stellung zu erhalten, in welche die Gnade uns einge=
führt hat. Es ist wahr, daß wir ewiges Leben haben und durch
den auf die Erde herniedergesandten Heiligen Geist mit dem
lebendigen Haupt im Himmel vereinigt und so für alle Ewigkeit
sicher sind. Nichts kann unser Leben antasten, insoweit es „mit
dem Christus verborgen ist in Gott". Dennoch sehen wir, daß
unser Zustand und Wandel unvollkommen ist, und daß unsere
Gemeinschaft unterbrochen werden kann, und deshalb be=
dürfen wir der gegenwärtigen Wirksamkeit Christi für uns.
Christus lebt zur Rechten Gottes für uns. Er ist kraft Seines
vollbrachten Erlösungswerkes durch die Himmel gegangen, und
dort ist Er jetzt allezeit für uns vor Gott als Sachwalter be=
schäftigt. Er ist dort als unsere fortwährende Rechtfertigung,
um uns für immer in der göttlichen Vollkommenheit der Stel=
lung und Beziehung, in die Sein Versöhnungstod uns gebracht
21
hat, zu erhalten. Daher lesen wir in Röm 5, 10: „Denn wenn
wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den
Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind,
durch sein Leben gerettet werden". Und so lesen wir auch in
Hebr 4,14—16: „Da wir nun einen großen Hohenpriester haben,
der durch die Himmel gegangen ist, Jesum, den Sohn Gottes,
so laßt uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht
einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit
unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden
ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. Laßt
uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gna=
de, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden
zur rechtzeitigen Hilfe". Im 7. Kapitel finden wir die Worte:
„Dieser aber, weil er in Ewigkeit bleibt, hat ein unverändert
liches Priestertum. Daher vermag er auch völlig zu erretten, die
durch ihn Gott nahen, indem er immerdar lebt, um sich für sie
zu verwenden" (V. 24. 25). Im 9. Kapitel endlich lesen wir:
„Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen
gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern
in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes
für uns zu erscheinen" (V. 24). Im ersten Johannesbrief wird
uns derselbe große Gegenstand, nur von einem anderen Ge=
Sichtspunkte aus, dargestellt. „Meine Kinder, ich schreibe euch
dieses, auf daß ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt
hat, — wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Chri=
stum, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sün=
den, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die
ganze Welt" (1. Joh 2, 1. 2).
Wie köstlich ist dies alles für den aufrichtigen Christen, der
sich immer seiner Schwachheit, Hilfsbedürftigkeit und Fehler
bewußt, ja, tief und schmerzlich bewußt ist! Es ist unmöglich,
möchte ich wohl sagen, daß jemand, dessen Auge auf solchen
Stellen ruht, wie ich sie eben angeführt habe, das tiefe Bewußt=
sein und die Überzeugung seines unvollkommenen Zustandes
und Wandels verneinen und das Bedürfnis des Christen für
den unaufhörlichen Dienst Christi seinethalben infrage ziehen
könnte. Sollte wohl ein nachdenkender Leser des Briefes an die
Hebräer und ein aufmerksamer Beobachter des Zustandes und
Wandels auch des meistgeförderten Christen gefunden werden
können, der die Anwendung des Priestertums und der Sach=
22
vvalterschaft Christi auf die Christen jetzt leugnete? Für wen,
möchte ich fragen, lebt Christus jetzt zur Rechten Gottes? Für
wen ist Er in diesem Augenblick beschäftigt? Für die
Welt? Sicher nicht, denn Er sagt in Joh 17, 9: „Ich bitte für
sie, nicht bitte ich für die Welt, sondern für die, die du mir
gegeben hast, denn sie sind dein". Und wer sind diese Per=
sonen, für die Christus bittet? Ist es der jüdische Überrest? Nein,
denn dieser wird erst später in die Erscheinung treten. Wer ist
es denn? Es sind Gläubige, Kinder Gottes, Christen, die jetzt
durch diese sündige Welt gehen und geneigt sind, zu fallen und
sich bei jedem Schritt zu beschmutzen. Diese bilden die Gegen=
stände des Dienstes Christi. Er starb, um sie zu reinigen. Er lebt,
um sie rein zu erhalten. Durch Seinen Tod löschte Er unsere
Schuld aus, durch Sein Leben reinigt Er uns durch die Wirksamkeit des Wortes in der Kraft des Heiligen Geistes. „Dieser ist
es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus; nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser
und das Blut". Wir sind versöhnt und gereinigt durch einen gekreuzigten Heiland. Der doppelte Strom ergoß sich aus der
geöffneten Seite des für uns gestorbenen Christus. Seinem
Namen sei aller Dank und alle Anbetung!
Kraft des Todes Christi besitzen wir alles. Handelt es sich um
unsere Schuld, sie ist durch das Blut der Versöhnung völlig
getilgt. Handelt es sich um unsere täglichen Vergehungen, wir
haben einen Sachwalter bei dem Vater. Der Apostel sagt:
„Wenn jemand gesündigt hat usw." und nicht „wenn jemand
Buße tut". Ohne Zweifel wird Buße und Selbstgericht vorhan=
den sein, aber auf welche Weise werden diese hervorgebracht,
und woraus entspringen sie? „Wir haben einen Sachwalter bei
dem Vater". Seine kräftige Fürsprache ist es, die in dem sün=
digenden Gläubigen die Gnade der Buße, des Selbstgerichts und
des Bekenntnisses hervorbringt.
Es ist für den christlichen Leser von hoher Bedeutung, über
diese große Kardinal-Wahrheit von der Sachwialterschaft Christi
völlig klar zu sein. Wir sehen aus der oben angeführten Stelle
(1. Joh 2, 1), daß unser gesegneter Sachwalter schon, bevor
unser Gewissen ein wirkliches Bewußtsein von einem Fehltritt
erhält, deshalb bei dem Vater gewesen ist; Seiner Fürbitte ver=
23
danken wir die Gnade des Bekenntnisses und der Wiederherstellung. „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir", heißt
es: „zu dem Blute zurückzukehren?" nein, sondern „so haben
wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten". Warum nennt der Heilige Geist Christum hier „den
Gerechten?" Warum nicht den Gnädigen, den Barmherzigen
oder den Mitleidigen? Ist Er nicht alles dieses? Ganz gewiß;
doch keine von diesen Eigenschaften würde hier am Platze sein,
insoweit der Apostel uns die trostreiche Wahrheit vorstellen
will, daß wir in allen unseren Irrtümern, unseren Sünden und
Fehltritten einen „gerechten" Vertreter vor dem gerechten Gott
und dem heiligen Vater haben, so daß unsere Angelegenheiten
nie ein schlechtes Ende nehmen können. „Er lebt immerdar, um
sich für uns zu verwenden", und weil Er lebt, so „vermag er
völlig zu erretten, die durch ihn Gott nahen" (Hebr 7, 25).
Welch ein sicherer Trost findet sich hierin für das Volk Got=
tes! Und wie nötig ist es für unsere Seelen, in der Kenntnis und
dem Bewußtsein dieses Trostes befestigt zu werden! Es gibt
Seelen, die ein unvollkommenes Bewußtsein von der wahren
Stellung eines Christen haben, weil sie nicht verstehen, was
Christus für sie getan hat. Andere wieder haben eine so völlig
einseitige Ansicht von dem Zustande des Christen, daß sie
unser Bedürfnis für das, was Christus jetzt für uns tut, nicht
erkennen. Beides ist verkehrt. Die einen sind unwissend über
die Ausdehnung und den Wert des Werkes der Errettung; die
anderen kennen den Platz und die Anwendung der Sachwalter=
schaft nicht. Unsere Stellung ist so vollkommen, daß der Apo=
stel sagen kann: „Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt".
Wenn dies alles wäre, so würden wir gewiß keines Priester^
tums, noch einer Sachwalterschaft bedürfen. Jedoch unser Zu=
stand ist ein solcher, daß der Apostel sagen muß: „Wenn
jemand gesündigt hat". Dies beweist, daß wir fortwährend
einen Sachwalter nötig haben. Und, Gott sei Dank! wir haben
Ihn fortwährend; wir haben Ihn „als immerdar lebend für uns".
Er lebt und dient in der Höhe. Er ist unsere fortwährende Ge=
rechtigkeit vor Gott. Er lebt, um uns allezeit im Himmel pas=
send zu erhalten und uns zurechtzubringen, wenn wir auf der
Erde verkehrt wandeln. Er ist das göttliche und unzertrennliche
Band zwischen unseren Seelen und Gott.
24
Nachdem wir in den vorigen Abschnitten die großen Grund=
Wahrheiten, die mit dem Werk Christi in Verbindung stehen,
Sein Versöhnungswerk und Seine Sachwalterschaft, betrachtet
haben, laßt uns jetzt, unter der gnädigen Leitung des Heiligen
Geistes, untersuchen, was die Schriften uns über den zweiten
Teil unserer Betrachtung, über Christum, als den einzigen Gegegenstand für das Herz, lehren.
Es ist eine herrliche, gesegnete Sache, sagen zu können: „Ich
habe einen Gegenstand gefunden, der mein Herz vollkommen
befriedigt, ich habe Jesum gefunden". Das ist es, was in Wahr=
heit über die Welt erhebt. Es macht uns völlig unabhängig von
den Hilfsquellen, zu denen ein unbekehrtes Herz immer seine
Zuflucht nimmt. Es verleiht einen sicheren Frieden. Es teilt dem
Geiste eine Sanftmut und eine Ruhe mit, welche die Welt nicht
verstehen kann. Der arme Weltmensch hält in der Tat das
Leben eines wahren Christen für eine törichte, unbegreifliche
Sache. Er wundert sich darüber, wie es jemand aushalten kann
ohne das, was er Unterhaltung, Erholung und Vergnügen
nennt, ohne Theater, ohne Bälle und Konzerte, ohne gesellige
Vereinigungen, Klubs usw. In der Tat, wollte man die unbe=
kehrten Menschen aller dieser Dinge berauben, so würde ihnen
das Leben öde und langweilig sein, ja, manche würden zur Ver=
zweiflung getrieben werden. Aber der Christ braucht solche
Dinge nicht, er will sie nicht. Sie würden eine Last für ihn sein
und ihn ermüden. Ich spreche natürlich von einem wahren
Christen, von einem, der nicht nur dem Namen nach, sondern
in Wirklichkeit ein Christ ist. Ach! viele Tausende bekennen,
Christen zu sein, legen sogar hohen Wert auf ihr Bekenntnis,
und doch nehmen sie Teil an all dem eitlen und nichtigen Trei=
ben der Menschen dieser Welt. Am Sonntag kann man sie in
der Kirche sehen, an dem Abendmahl des Herrn teilnehmend,
und am Montag sieht man sie zum Theater oder zu Konzerten
eilen. Heute beeifern sie sich, an dem einen oder anderen christ=
liehen Werk sich zu beteiligen, während sie morgen vielleicht in
einem Ballsaal oder an einem anderen Vergnügungsort anzu=
treffen sind.
Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß solche Per=
sonen von Christo als einem Gegenstand für das Herz nichts
wissen. Ein Mensch aber, in dessen Herz göttliches Leben ist,
25
kann kein Gefallen an dem bösen Treiben einer gottlosen Welt
finden. Der wahre und ernste Christ wendet sich unwillkürlich
von solchen Dingen ab. Er tut dies nicht nur, weil sie positiv
schlecht und böse sind, sondern weil er keinen Geschmack daran
findet, weil er etwas unendlich Höheres gefunden hat, etwas,
das alle Wünsche der neuen Natur vollkommen befriedigt. Der
Christ ist ein himmlischer Mensch; er hat teil an der göttlichen
Natur. Er ist der Welt und der Sünde gestorben und lebt Gott.
Er steht mit der Welt in gar keiner Verbindung; er gehört dem
Himmel an. Er ist ebensowenig von der Welt wie Christus sein
Herr. Könnte Christus an den Vergnügungen, Lustbarkeiten
und Narrheiten der Welt teilnehmen? Der bloße Gedanke wäre
eine Lästerung. Sollte nun der Christ dort gefunden werden,
wo sein Herr nicht sein kann? Kann er an Dingen Gefallen
finden, oder sogar teilnehmen, von denen er weiß, daß sie
Christo zuwider sind? Kann er gehen und Gemeinschaft machen
mit einer Welt, die den Einen haßt, dem er alles verdankt?
Vielleicht möchte es einigen meiner Leser scheinen, daß ich
mich auf einen zu erhabenen Boden stelle. Doch ich frage sie:
Auf welchen Boden sollen wir uns stellen? Wenn wir Christen
sind, doch sicher auf einen christlichen Boden. Wo aber lernen
wir, was dieser Boden in Wirklichkeit ist? Unstreitig in den
Schriften des Neuen Testaments. Und was lernen wir dort?
Geben sie dem Christen irgendein Recht, sich in der einen oder
anderen Form mit den Vergnügungen und dem sonstigen eitlen
Treiben des gegenwärtigen bösen Zeitlaufs zu vermengen? Laßt
uns auf die ernsten Worte unseres Herrn in Joh 17 lauschen. Laßt
uns von Seinen Lippen die Wahrheit in betreff unseres Teils,
unserer Stellung und unseres Pfades in dieser Welt vernehmen.
Er wendet Sich an den Vater mit den Worten: „Ich habe ihnen
dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehaßt, weil sie nicht
von der Welt sind, gleichwie ich nicht von der Welt bin. Ich
bitte nicht, daß du sie von der Welt wegnehmest, sondern daß
du sie bewahrest vor dem Bösen. Sie sind nicht von der Welt,
gleichwie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Gleichwie du mich in die Welt
gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt" (V. 14—18).
Zweimal erklärt unser HeTr in dieser kurzen Stelle, daß wir
nicht von der Welt sind, gleichwie Er es nicht ist. Was hat
26
unser hochgelobter Herr mit der Welt zu tun? Nichts. Die Welt
hat Ihn völlig verworfen und ausgestoßen. Sie nagelte Ihn ans
Kreuz, zwischen zwei Missetätern. Auf ihr lastet das Gewicht
von diesem allem noch ebenso völlig und unvermindert, als
wenn die Kreuzigung erst gestern im Mittelpunkt ihrer Zivi=
lisation und unter allgemeiner Zustimmung stattgefunden hätte.
Zwischen Christo und der Welt gibt es kein einziges morali=
sches Band. Ja, die Welt ist mit Seinem Mord befleckt und wird
sich vor Gott wegen dieses Verbrechens zu verantworten haben.
Wie ernst ist dies! Welch eine feierliche Betrachtung für den
Christen! Wir gehen durch eine Welt, die unseren Herrn und
Meisler gekreuzigt hat, und Er erklärt, daß wir nicht von dieser
Welt sind, gleichwie Er es nicht ist. Hieraus folgt, daß wir in
dem Maße untreu gegen Christum sind, wie wir Gemeinschaft
mit dieser Welt machen.
Vielleicht mag gefragt werden: „Was sollen wir denn tun?
Sollen wir aus der Welt gehen?" Keineswegs. Unser Herr sagt
ausdrücklich: „Ich bitte nicht, daß du sie aus der Welt weg=
nehmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Bösen". Der
Christ in der Welt ist, um ein Bild zu gebrauchen, gleich einem
Taucher. Er befindet sich inmitten eines Elements, das ihn ver=
nichten würde, wenn er nicht vor seiner Gewalt geschützt und
durch, eine ununterbrochene Gemeinschaft mit den Dingen
droben verbunden wäre.
Und was soll der Christ in der Welt tun? Wozu ist er ge=
sandt? Wir finden auf diese Frage eine Antwort in den Worten:
„Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie
in die Welt gesandt", und weiterhin: „Gleichwie mich der Vater
gesandt hat, sende ich auch euch" (Joh 20, 21). Das ist die
Mission des Christen. Er ist nicht berufen, sich in den Mauern
eines Mönchs= oder Nonnenklosters einzuschließen. Das Chri=
sbentum besteht nicht darin, daß man Brüder- und Schwester -
schaften bildet. Wir sind berufen, uns in den verschiedenen
Verhältnissen des Lebens auf und ab zu bewegen und in dem
uns von Gott angewiesenen Wirkungskreis zu Seiner Verherr=
lichung tätig zu sein. Es handelt sich nicht darum, was wir tun,
sondern wie wir es tun. Alles hängt von dem Gegenstand ab,
der unsere Herzen beherrscht. Wenn Christus dieser Gegen=
stand ist und Er allein das Herz leitet und ausfüllt, so wird alles
27
in Ordnung sein. Ist Er es aber nicht, so ist alles in Unordnung.
Zwei Personen setzen sich vielleicht an demselben Tisch nieder,
um zu essen; der eine ißt nur, um seinen Hunger zu stillen, der
andere aber ißt zur Ehre Gottes (1. Kor 10, 31), er ißt, um
seinen Leib, als das Gefäß Gottes, den Tempel des Heiligen
Geistes und das Werkzeug für den Dienst Christi, in dem für
diese Arbeit erforderlichen Zustand zu erhalten.
So ist es in allem. Es ist unser gesegnetes Vorrecht, den
Herrn allezeit vor uns zu stellen. Er ist unser Muster. Wie Er
in diese Welt gesandt war, so sind auch wir es. Zu welchem
Zweck kam Er hernieder? Er kam, um den Willen Gottes zu
tun und Seinen Namen zu verherrlichen. Dies macht alles ein=
fach. Christus ist die Richtschnur und der Prüfstein für alles.
Es ist nicht mehr eine bloße Frage zwischen Recht und Unrecht,
den menschlichen Regeln gemäß; es handelt sich darum, was
Christi würdig ist. Würde Er dieses oder jenes tun? Würde Er
hierhin oder dorthin gehen? Das sollte immer die aufrichtige Frage eines jeden Christen sein. Christus hat. . . „euch ein Beispiel
hinterlassend, auf daß ihr seinen Fußtapfen nachfolget" (1. Petr
2, 21); und wir sollten ganz gewiß nicht dort gefunden werden,
wo Seine gesegneten Fußtapfen nicht zu entdecken sind. Wenn
wir hierhin und dorthin wandeln, um uns Freude und Vergnügen zu machen, dann treten wir nicht in Seine Fußtapfen,
und wir können nicht erwarten, Seine gesegnete Gegenwart zu
genießen.
Hierin liegt das wirkliche Geheimnis der ganzen Sache, mein
gläubiger Leser. Die große Frage ist: Ist Christus mein einziger
Gegenstand? Wofür lebe ich? Kann ich sagen: „Das Leben ist
für mich Christus?" Nichts geringeres als dieses ist eines Chri=
sten würdig. Es ist eine höchst traurige Sache, wenn man damit
zufrieden ist, errettet zu sein, und dann mit der Welt voran=
geht und nur zu seinem Vergnügen und zur Befriedigung
seiner Wünsche lebt, wenn man die Errettung als die Frucht der
Arbeit und des Leidens Christi annimmt und dann in einer
gewissen Entfernung von Ihm seine Tage verbringt. Was wür=
den wir von einem Sohn denken, der nur die guten Dinge,
welche die Hand seines Vaters ihm bereitet, annähme, aber
niemals seine Gesellschaft suchte, ja, die Gesellschaft von Frem=
den vorzöge? Unsere gerechte Verachtung würde ihn treffen.
28
Doch um wieviel verachtenswerter ist der Christ, der alles,
Errettung, Vergebung und ewiges Leben, dem Werk Christi
verdankt und sich dennoch damit begnügt, in einer kühlen Ent=
fernung von Seiner gesegneten Person zu bleiben, indem ihm
weder die Förderung Seines Werks, noch die Verherrlichung
Seines Namens am Herzen liegt. Und ach, wie viele Christen,
wahre Christen gibt es in unseren Tagen, deren Zustand ein so
trauriger ist. Sie sind in einer Hinsicht von der Welt getrennt,
aber diese Trennung ist eher negativer als positiver Natur. Sie
trennen sich mehr, weil sie die völlige Verderbtheit der Welt
und ihre Unfähigkeit erkennen, ihre Herzen zu befriedigen, als
deshalb, weil sie ihren alleinigen Herzensgegenstand in Christo
gefunden haben. Sie haben vielleicht ihren Geschmack für die
Dinge der Welt verloren, aber sie haben nicht ihren Platz und
ihr Teil in dem Sohne Gottes gefunden, dort, wo Er jetzt ist,
zur Rechten Gottes. Weder können die Dinge der Welt ihre
Herzen befriedigen, noch können sie sich der ihnen gehörenden himmlischen Stellung und Hoffnung und ihres himmlischen
Gegenstandes erfreuen; ihr Zustand ist ein durchaus unbe=
stimmter und schwankender. Sie entbehren sowohl die völlige
Gewißheit, als auch die Ruhe und Festigkeit; sie sind unglück=
lieh und zerrissen in ihrem Innern. Steht es so mit dir, lieber
Leser? Möchte es nicht der Fall sein! Möchtest du zu der Zahl
derer gehören, die sagen können, daß sie die Dinge kennen, die
ihnen Gott aus freier Gabe geschenkt hat, welche wissen, daß
sie vom Tode zum Leben hinübergegangen sind, daß
sie ewiges Leben haben, die sich des kostbaren Zeugnisses des
Geistes erfreuen und ihre Vereinigung mit einem auferstan=
denen und verherrlichten Haupt in den Himmeln, mit dem sie
durch den in ihnen wohnenden Heiligen Geist verbunden sind,
verwirklichen! Möchtest du zu denen gehören, die ihren ein=
zigen Herzensgegenstand in der Person jenes gesegneten Men=
sehen gefunden haben, Dessen Werk die göttliche und ewige
Grundlage ihrer Errettung und ihres Friedens ist, und die
ernstlich nach jenem herrlichen Augenblick begehren, wenn
Jesus kommen wird, um sie zu Sich zu nehmen, damit sie da
sind, wo Er ist, um nie mehr diesen Platz zu verlassen!
Das ist Christentum. Nichts anderes verdient diesen Namen.
Es steht in schreiendem Widerspruch mit der falschen Religiosität der Jetztzeit, die weder ein reiner Judaismus auf der einen
29
Seite, noch ein reines Christentum auf der anderen ist, sondern
eine schlechte, aus beiden Elementen zusammengesetzte Mi=
schung zeigt, die der unbekehrte Mensch annehmen und der er
nachkommen kann, weil sie die Lüste des Fleisches zuläßt und
ihm erlaubt, alle Vergnügungen und Torheiten der Welt mit=
zumachen. Dem Erzfeinde Christi und der Seelen ist es geglückt,
ein trauriges Religionssystem aufzurichten, das, halb jüdisch,
halb christlich, in der kunstvollsten Weise die Welt und das
Fleisch miteinander vereinigt, indem es zugleich einen gewissen
Teil der Heiligen Schrift so gebraucht, daß ihre moralische Kraft
zerstört und ihre richtige Anwendung verhindert wird. In die
Netze dieses Systems sind unzählige Seelen hoffnungslos ver=
wickelt. Die Unbekehrten werden zu dem Gedanken verleitet,
daß sie wirklich ganz gute Christen und auf dem richtigen Wege
zum Himmel sind, während die Kinder Gottes ihres Platzes und
ihrer Vorrechte beraubt und durch den finsteren und nieder=
drückenden Einfluß der religiösen Atmosphäre, die sie umgibt
und fast erstickt, zu Boden geschlagen werden. Man kann die
traurigen Folgen dieser Vermischung des Volkes Gottes mit der
Welt in einem gemeinschaftlichen Religionssystem kaum richtig
ausmalen. Die Wirkung dieser Vermengung auf das Volk
Gottes ist, ihre Augen zu blenden, so daß sie die wahren,
moralischen Herrlichkeiten des Christentums, wie sie in den
Schriften des Neuen Testaments uns dargestellt werden, nicht
zu erkennen vermögen; und diese Verblendung ist so groß,
daß, wenn jemand diese Herrlichkeiten vor ihren Augen zu
entfalten sucht, er als ein Schwärmer oder ein gefährlicher Sek=
tierer betrachtet wird. Bei den Unbekehrten jedoch bewirkt sie
eine völlige Selbsttäuschung in bezug auf ihren Zustand, ihren
Charakter und ihr Schicksal. Beide Klassen wiederholen die=
selben Formeln, unterschreiben dieselben Glaubensbekennt=
nisse, sagen dieselben Gebete her, sind Glieder ein und der=
selben Gemeinschaft, nehmen Teil an den gleichen Sakramen=
ten, kurz, sie sind in kirchlicher und religiöser Beziehung eins.
Vielleicht wird man nun auf alles dieses erwidern, daß unser
Herr in Seiner Rede in Mt 13 ausdrücklich lehre, man solle den
Weizen und das Unkraut zusammen wachsen lassen. Ganz
recht, aber ich frage: Wo sollen sie wachsen? In der Kirche?
Nein, sondern „auf dem Acker". Der Herr Selbst aber sagt
30
uns: „der Acker ist die Welt". Vermengt man di<ese Dinge
miteinander, so verfälscht man die ganze christliche Stellung
und räumt alle göttliche Disziplin in der Versammlung hinweg.
Man bringt dadurch die Belehrung unseres Herrn in Mt 13 in
Widerspruch mit der Belehrung des Heiligen Geistes in 1. Kor 5.
Doch ich will diesen Gegenstand hier nicht weiter verfolgen;
er ist viel zu wichtig und zu ausgedehnt, als daß man ihn in
dem vorliegenden Artikel genügend behandeln könnte. Gehen
wir vielmehr zu dem letzten Abschnitt unserer Betrachtung
über, zu dem Worte Gottes als dem allein wahren und dem auf
unserem Pfade allgenugsamen Führer.
Wenn das Werk Christi für das Gewissen und Seine geseg=
nete Person für das Herz genügt, so genügt auch sicher Sein
Wort für unseren Pfad. Wir dürfen völlig überzeugt sein, daß
wir in der Heiligen Schrift einen Schatz besitzen, der jederzeit
für alle unsere Bedürfnisse genügt. Sie begegnet nicht allein
den Erfordernissen unseres persönlichen Pfades, sondern sie
entspricht auch den mannigfaltigen Bedürfnissen der Kirche
Gottes, selbst in den unbedeutendsten Einzelheiten ihrer Ge=
schichte in dieser Welt. Ich weiß sehr wohl, daß ich mich durch
diese Behauptung vielem Spott und Widerspruch von verschie=
denen Seiten aussetzen werde. Einerseits werden mir die An=
hänger der Tradition entgegentreten und andererseits die Strei=
ter für die Unabhängigkeit des menschlichen Verstandes und
Willens. Für mich jedoch sind die Traditionen von Menschen,
seien es nun Väter, Brüder oder Doktoren, wenn sie als eine
Autorität hingestellt werden, dem feinen Staube auf der Waage
gleich; und was den menschlichen Verstand anbetrifft, so kann
ich ihn nur vergleichen mit einer Fledermaus im Sonnenschein,
die, geblendet durch den hellen Glanz des Lichtes, blindlings
gegen jeden Gegenstand anfliegt, der ihr in den Weg tritt.
Es ist die höchste Freude für das Herz des Christen, sich von
den widerstreitenden Traditionen und Lehrsätzen der Menschen
in das klare, ungetrübte Licht der Heiligen Schrift zurückzu=
ziehen, oder, wenn er durch die schamlosen Vernünfteleien des
Ungläubigen, des Rationalisten oder des Zweifelsüchtigen an=
gegriffen wird, sein ganzes moralisches Sein vor der Autorität
und der Kraft der Heiligen Schrift niederzubeugen. Er bekennt
dankbar in dem Worte Gottes das einzig vollkommene Muster
31
für alles an, sei es nun Lehre, sei es Ermahnung oder Unter=
Weisung. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur
Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung
in der Gerechtigkeit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen
sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt" (2. Tim 3, 16. 17).
Was haben wir mehr nötig? Nichts. Wenn die Schrift ein
Kind „weise zur Errettung" und einen Menschen „vollkommen
und zu allem guten Werke geschickt" machen kann, wozu brau=
chen wir dann noch menschliche Traditionen oder menschliche
Vernünfteleien? Hat Gott ein Buch für uns geschrieben, so hat
Er Sich gnädig herabgelassen, uns eine Offenbarung Seiner
Gedanken in bezug auf alles zu geben, was wir wissen, denken,
fühlen und glauben sollen. Sollen wir uns nun zu einem armen,
sterblichen Geschöpf wenden, um Hilfe von ihm zu erlangen?
Fern sei uns ein solcher Gedanke! Wir könnten uns ebensogut
mit der Bitte an unseren Nächsten wenden, dem vollbrachten
Werk Christi noch etwas hinzuzufügen, um es für unser Ge=
wissen genügend zu machen, oder wir könnten ihn ersuchen,
etwas in der Person Christi Fehlendes zu ergänzen, um Ihn
auf diese Weise zu einem genügenden Gegenstand für das Herz
zu machen; ja, wir könnten alles dieses ebensogut tun, wie uns
zu menschlichen Traditionen und zu dem menschlichen Ver=
stand zu wenden, um durch sie etwa eine Lücke in der göttlichen
Offenbarung auszufüllen.
Gott sei Lob und Dank, daß wir es nicht nötig haben! Er hat
uns in Seinem eigenen geliebten Sohn alles gegeben, was wir
für das Gewissen, das Herz und den Pfad brauchen, alles, was
wir für die Zeit mit ihren wechselnden Szenen und für die
Ewigkeit mit ihren endlosen Zeitaltern nötig haben. Wir können
sagen: „Du, o Christus, bist alles, was wir nötig haben, alles
finden wir in Dir". Es gibt keinen Mangel und kann keinen
geben in dem Christus Gottes. Sein Versöhnungswerk und
Seine Sachwalterschaft müssen allen Ansprüchen eines noch
so tief erregten Gewissens genügen. Die moralischen Herrlichkeiten, die mächtige Anziehungskraft Seiner Person müssen die
sehnlichsten Wünsche und das Verlangen des Herzens befriedigen. Und Seine unvergleichliche Offenbarung, jenes unschätzbare Buch enthält in seinen Blättern alles, was wir jemals, vom
Ausgangspunkt bis zum Ziel unserer christlichen Laufbahn,
brauchen.
32
Sind diese Dinge nicht so, mein gläubiger Leser? Stimmst
du ihnen nicht aus dem Innersten deines Herzens bei? Wenn
es so ist, so möchte ich dich fragen: Ruhst du auf dem Werke
Christi? Hast du deine Wonne an Seiner Person? Unterwirfst
du dich in allen Dingen der Autorität Seines Wortes? Gott
wolle geben, daß es sich so mit dir und mit allen, die Seinen
Namen nennen, verhalte! Möchte der „Allgenugsamkeit Chri=
sti" ein völligeres, klareres und entschiedeneres Zeugnis ge=
geben werden, bis „jener Tag" erscheint, da wir Ihn sehen wer=
den, wie Er ist!
Die Bündnisse im Alten Testament
Ein Bund ist unter den Menschen eine Übereinkunft zwi=
sehen zwei oder mehreren Parteien, wobei sich jede zu gewissen
Bedingungen verpflichtet. So wird in Jos 9 ein Bund zwischen
Völkern geschlossen, und in 1. Mo 26, 26—33, und 31, 44—54
zwischen Privatpersonen und Freunden. Solche Bündnisse be=
ruhen immer mehr oder weniger auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit. Bei den Bündnissen Gottes mit den Menschen verhält
es sich jedoch anders. Gott hält dann Seine Souveränität auf=
recht. Gewöhnlich ist es eine Verordnung, zu der sich Gott, mit
oder ohne Bedingung, durch Offenbarung verpflichtet. Es gab
mehrere solche Bündnisse.
Oft wird die bedingte Stellung Adams im Paradiese ein
„Bund der Werke" genannt. Eine einzige Schriftstelle, auf die
auch Paulus in Röm 5, 14 anspielt, scheint zwar diese Bezeich=
nung zu begründen: „Sie haben den Bund übertreten wie
Adam" (Hos 6, 7); jedoch wird in 1. Mo 2 diese Tatsache nicht
mit jenem Ausdruck bezeichnet. In 1. Mo 9, also nach der Sünd=
flut, ist zum ersten Mal von einem Bund die Rede. Die aus
Hosea angeführten Worte bedeuten einfach, daß die Israeliten
den Bund, den sie von Gott empfangen hatten, d. h. ausdrückliche Befehle, übertreten und hierin nach der Gleichheit der
Übertretung Adams gesündigt hatten. Adam konnte durch die
freiwillige Güte Gottes alle Segnungen Edens genießen, jedoch
33
unter der Verpflichtung, sie durch seinen Gehorsam zu bewahr
ren, indem er sich hüten sollte, von der Frucht des Baumes der
Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Dies kennzeichnete
seine Stellung im Paradiese, und darin bestand auch seine Ver=
antwortlichkeit.
Der erste Bund Gottes, den die Schrift erwähnt, ist also der,
den Er, in bezug auf die Schöpfung, nach der Sündflut machte.
Ein zweifacher Fluch ruhte auf der Erde. Verflucht in Adam,
brachte der Erdboden dem Menschen nur infolge seiner müh=
samen Arbeit eine Frucht hervor; verflucht in Kain, versagte
er dem Erdboden seine Kraft (1. Mo 4, 12). Im erfeten Fall
wurde der Erdboden um des Menschen Willen verflucht, im
zweiten der Mensch von dem Erdboden. So unter ein zweifaches Urteil gestellt, schritt der Mensch, anstatt zu Gott um=
zukehren, um so mehr in der Gottlosigkeit voran, und Gott tat
diesem Übel Einhalt durch Gericht. Die Sündflut kam, und die
damalige Welt ging unter. Nur Noah mit den Seinen wurde
verschont, und durch ihn fing Gott dann eine neue Welt an.
Nachdem Noah die Arche verlassen hatte, opferte er Brandopfer, und Jehova roch den lieblichen Geruch und vertraute
dann dem Noah durch unbedingte Verheißung Seinen Bund mit
der Schöpfung an, durch den Er sich verpflichtete, hinfort nicht
mehr alles Lebendige zu schlagen, wie Er es getan hatte, son=
dem so lange die Erde bestände, sollten nicht aufhören Saat und
Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Eines müssen wir hier bemerken. Durch die Sündflut zeigte
Gott, daß Segnungen und Gerichte von da an von Seiner Re=
gierung ausgehen sollten. Satan aber bemächtigte sich dieser
Anordnung und nahm in dem Geiste des Menschen den Platz
Gottes ein als Spender der Segnungen und Strafen, so daß jene,
durch ihn betrogen, ihm dienten, als sei er Gott und Herr
(1. Kor 8, 5. 6; 10, 20). Dies ist der Ursprung des Götzen^
dienstes. Dann erwählte Gott aus der Familie des Götzendieners
Tharah den Abraham, berief ihn aus seines Vaters Hause, in
das Land zu gehen, das Er ihm zeigen würde, und gab ihm
Seinen Bund. Dieser Bund wurde dem Abraham wiederholt be^
stätigt,und zwar jedesmal mit dem bezeichnenden Charakter der
unbedingten Verheißung. (Siehe 1. Mo 12; 15; 17; 22). Im
12. Kapitel wird der Bund mit Abraham in zwei Hauptteilen
34
dargestellt, deren Unterscheidung sehr wichtig ist. 1) „Ich will
dich zu einer großen Nation machen und dich segnen, und
deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein"
„Deinem Samen will ich dieses Land geben" (V. 7). — 2) „In
dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde" (V. 3).
Hier haben wir zweierlei Segnungen: die eine in bezug auf den
fleischlichen Samen, die Juden, die andere in bezug auf den
geistlichen Samen, die Gläubigen, Kinder Abrahams durch den
Glauben, den er hatte (Rom 4, 11) — ein Grundsatz, der die
Nationen zuläßt.
Im 15. Kapitel handelt es sich bloß um die irdischen Seg=
nungen des im 12. Kapitel erwähnten allgemeinen Bundes.
Hier (V. 6) begegnen wir zum ersten Mal der Glaubensgerechtigkeit; in Verbindung damit finden wir den eigentlichen
Bund, den Erben samt seinem Samen nach dem Fleische, der
Miterbe ist, und das Erbe selbst. In bezug auf den Bund selbst
gefiel es dem Herrn, ihn dem Abraham zuzusichern, indem Er
zwischen den Stücken des in zwei Hälften geteilten Opfers hin=
durchfuhr und sich auf diese Weise zu dem unter den Menschen
angenommenen Gebrauch herabließ, ihre gegenseitigen Ver=
pflichtungen zu bestätigen.
Wie man aus Jer 34, 18 ersieht, wurde in einem solchen Fall
ein Opfer geschlachtet und in zwei Stücke zerhauen; dann
gingen die den Vertrag schließenden Parteien zwischen den
beiden einander gegenübergestellten Hälften des Opfers hin=
durch und erklärten dadurch, bis zum Tode ihre gegenseitigen
Verpflichtungen halten zu wollen. Jeremias wirft den Juden vor,
daß sie den auf diese Weise mit Jehova geschlossenen Bund,
bezüglich der Entlassung ihrer hebräischen Sklaven, nicht ge=
halten hätten.
Hier aber, da der Bund Gottes durch Verheißung ist, ver=
pflichtet sich Abraham gar nicht; Gott allein macht sich verbindlich. Deshalb geht auch Gott allein zwischen den Stücken
hindurch (1. Mo 15,12. 17).
Im 17. Kapitel offenbart Sich Gott dem Abraham und macht
ihm Seinen besonderen Namen kund, auf den sich Seine Beziehungen zu ihm von nun an gründen sollten, nämlich: „Gott,
der Allmächtige" (vergl. 2. Mo 6, 3). Dieser Offenbarung ge=
maß soll Abraham vor Ihm wandeln und vollkommen sein; er
35
soll durch seinen Wandel, durch sein gläubiges Vertrauen auf
Gottes mächtigen Schutz, bezeugen, daß Gott der Allmächtige
ist. In einer Zeit, wo sich die Abgötterei auf Erden mehrte, war
diese besondere und bestimmte Bezeichnung des Namens Gottes
für den Zeugen dieses allein wahren Gottes von großer Bedeutung. Die irdischen Segnungen des fleischlichen Samens bilden
den besonderen Gegenstand dieses Kapitels, wie dies beim Kapitel 15 der Fall ist. Indem Gott Seinen Bund wiederholt, gibt
Er dem Abraham das Zeichen der Beschneidung, ein Bild der
Kreuzigung des Fleisches (Röm 2, 29).
Endlich finden wir im 22. Kapitel die beiden Bestandteile, die
wir schon im 12. Kapitel bemerkten. „Dein Same wird besitzen
das Tor seiner Feinde" (V. 17). „In deinem Samen werden
gesegnet werden alle Nationen der Erde" (V. 18). Jedoch ist es
wichtig, zu beachten, daß der Bund, der schon im 12. Kapitel
einen bestimmten Ausdruck fand, hier bestätigt wird, nachdem
Abraham den Isaak im Gleichnis der Auferstehung wieder=
empfangen hat. Bei jener Gelegenheit schwur Gott, wie der
Heilige Geist uns belehrt, da Er bei keinem Größeren zu schwö=
ren hatte, bei Sich Selbst, um Seine Verheißungen, eigentlich
nicht dem Abraham, sondern Christo zu bestätigen (Gal 3, 17).
und zwar, jenem Vorbilde gemäß, dem auferstandenen Chri=
stus, wie die Schrift es anderswo erklärt (Apg 13, 34).
Der Bund, den Gott dem Abraham gab, wurde dem Isaak und
Jakob wiederholt, und zwar dem Isaak unter seinen beiden
Charakteren der irdischen Segnungen für den Samen nach dem
Fleische und der Segnungen in Christo für den geistlichen
Samen (l. Mo 26, 3. 4). Dem Jakob wurde er zweimal wiederholt; zuerst unter den beiden erwähnten Formen (1. Mo 28,13.
14) in Bethel, und später nochmals an demselben Ort, nachdem
er von Laban zurückgekehrt war; diesmal jedoch nur bezüglich
der irdischen Segnungen.
Wir gelangen jetzt zu dem Bunde, der am Berge Sinai ge=
schlössen wurde. Dieser beruhte auf Grundsätzen, die ihn von
allen anderen Bündnissen unterschieden. Gott und das Volk
Israel begegneten sich in dem Bund auf dem Grunde der Gegen=
seitigkeit. Israel, das seine Schwachheit nicht kannte, verpflich=
tete sich seinerseits, die vorgeschlagenen Bedingungen zu er=
füllen, und erkühnte sich zu sagen: „Alles, was Jehova geredet
36
hat, wollen wir tun" (2. Mo 19). Aber kaum waren einige Tage
vergangen, da war der Bund auch schon gebrochen. Die erste
Bedingung, zu der sich das Volk verpflichtet hatte, übertrat es,
machte sich einen anderen Gott und betete das goldene Kalb
an. Sie waren von Ägypten ausgezogen, um in der Wüste
Jehova ein Fest zu feiern, und siehe, sie feierten es einem
fremden Gott!
Da nun der Bund an Bedingungen geknüpft war, so wurden
die Beziehungen zwischen Gott und dem Volke zerstört. Das
Volk hatte das Bewußtsein von Gott schnell verloren. Sie hatten
gesagt: „Dieser Mose, der Mann, der uns herausgeführt hat
aus dem Lande Ägypten, wir wissen nicht, was ihm geschehen
ist", und so hatte Gott auch aufgehört, Seinerseits zu sagen:
„Mein Volk". Er sprach zu Mose: „Gehe, steige hinab, denn
dein Volk hat sich verderbt" (2. Mo 32, 1. 7. 8). Moses aber tat
Fürbitte für das Volk und erinnerte Gott an die unbedingten
Verheißungen, die Er dem Abraham gegeben hatte. Ebenso
erinnert der Mittler, bezüglich der Sünde, immer an die Gnade.
Nun führt Gott einen anderen, auf Seine Souveränität ge=
gründeten Bund ein, vermöge dessen Er begnadigt, wen Er will
(2. Mo 34, 8—11). Da der Bund aber auf freier Gnade beruht,
so verhandelt Er nicht mehr mit dem Volke. Er wendet Sich zu
dem Mittler (Kap. 33, 13—19). Das Volk befindet sich jetzt in
einer besonderen Stellung. Aus Gnade war es aus Ägypten
herausgeführt und bis zum Berge Sinai gebracht worden. Auf
dem Wege dahin fielen sie (ohne daß sie dafür gezüchtigt
wurden) in dieselben Sünden, die ihnen nachher so schmerzliche
Züchtigungen einbrachten, weil sie von Sinai an unter dem
Gesetz standen. Durch den Bund der Vermittlung, der nach
dem Fall am Sinai dem Mose gegeben wurde, befand sich Israel
wieder unter Gnade. Durch sie konnte das Volk vor Gott be--
stehen; jedoch war es nicht eine völlige Gnade, wie vor dem
Gesetz, indem der Bund am Sinai durch die Gnade nicht be=
seitigt wurde. Das Gesetz blieb in den Wegen der Regierung
Gottes mit Seinem Volke bestehen. Übrigens wollte Gott durch
das Gesetz einen Zweck erreichen, der darin bestand, die völlige
Verderbtheit des Menschen ans Licht zu stellen. Um dieses
Zwecks willen, dessen Erreichung schon die Ereignisse des ersten
Tage sicherten, konnte Gott das Gesetz in den Händen des
37
Volkes lassen, da Seine Gnade wieder unumschränkt herrschte
zur Aufrechterhaltung des Bandes zwischen Ihm und Seinem
Volke. Ferner wurde noch ein Bund zwischen Gott und Israel
errichtet, und zwar im Lande Moab, vor dem Übergang über
den Jordan. Der war ebenfalls an Bedingungen geknüpft, und
hatte nicht Segnungen zum Gegenstande, die sie zu erlangen,
sondern durch Gehorsam zu bewahren hatten. Durch Gnade
wollte Gott Sein Volk in das Land der Verheißung einführen,
— durch Treue sollte es das Land in Frieden bewohnen. Dieser
Fall hat einige Ähnlichkeit mit der Stellung Adams in Eden.
Wir haben aber bisher, in bezug auf Israel, drei Bündnisse
betrachtet, die wir in folgender Weise zusammenfassen können:
Der Bund am Sinai — ein Bund mit Bedingungen, nach dem
die Segnungen dem Gehorsam gewährt werden.
Der Bund der Vermittlung nach dem Fall am Sinai, gegründet
auf die freie Souveränität Gottes in Gnade.
Der Bund in Moab, wo die Fortdauer der aus Gnade ge=
schenkten Segnungen von der Treue des Volkes abhängig ist.
Wir lesen deshalb in Röm 9: „Die Bündnisse". Mit den
Nationen hat Gott niemals einen Bund gemacht, nur mit Seinem
Volk. Wenn die Nationen an den Segnungen des neuen Bundes
teilhaben, so ist es nur mittelbar, als der wilde Ölbaum, der in
den guten eingepfropft worden ist. Jedoch heißt es Sach 11, 10,
daß Gott den Bund, den Er mit allen Völkern gemacht hatte,
gebrochen habe, d. h. den Bund, der durch die Ankunft des
Schilo, Welchem sich die Völker anschließen sollten (i. Mo 49,
10), errichtet worden wäre. Dieser Bund war jedoch dadurch
unmöglich gemacht, daß Juden und Nationen Den verwarfen,
Der sie vereinigen sollte (Apg 4, 27).
Gedanken
Wir sollen aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe
und uns einander ermahnen, aber kein Übles voneinander
reden, was immer eine bedenkliche Sache ist, besonders wenn
wir von einem Knecht Gottes, einem Arbeiter im Werke des
Herrn Übles reden. Wir können versichert sein, daß Gott es
38
früher oder später heimsuchen wird, daß es, wie bei Mirjam
in der Wüste, immer zu unserem eigenen Schaden ausschlagen
wird. Es geziemt uns nicht, selbst von dem schwächsten und
geringsten Diener des Herrn Übles zu reden. Hat er einen
Fehler begangen, hat er sich geirrt, hat er irgendwie Unrecht
getan, und wir selbst wissen uns nicht berufen oder haben
keine Gelegenheit, in Liebe mit ihm darüber zu reden, so laßt
uns, statt ihn zu tadeln und über ihn zu richten, dem Thron der
Gnade für ihn nahen, und wir dürfen überzeugt sein, daß Gott
die Sache in die Hand nehmen und aufs beste ordnen wird.
Erblicken wir an einem Gläubigen nichts Anziehendes oder
Liebenswürdiges, so laßt uns ihn von der Gegenwart Gottes
aus betrachten; laßt uns daran denken, welch einen Wert er für
Sein Herz hat, und was er gemäß seiner Stellung in Christo
Jesu ist, so werden wir ihn voll Lieblichkeit und in Vollkom=
menheit erblicken, gleich dem mit reinem Gold überzogenen
Akazienholz des Zeltes in der Wüste.
Es handelt sich nicht um das, was der Feind von den Kindern
Gottes denkt, was ich von mir oder von meinem Bruder halte,
oder was er von sich oder von mir hält, sondern was Gott von
einem jeden der Seinigen denkt.
Betrachtungen über den Brief des Jakobus
Einleitung
Im Briefe des Jakobus ist nicht die Lehre von der Gnade ent=
faltet, obwohl die freie, göttliche Gnade darin deutlich aner=
kannt wird (Kap. 1, 18). Wir finden in dem Brief die Form des
Werkes Gottes in uns, nicht Seines Werkes für uns, der Erlösung durch das kostbare Blut Christi. Es ist ein praktischer
Brief, der heilige Gurt unserer Lenden; er will, daß das praktische, äußere Leben des Christen seinem göttlichen, inneren
Leben entspreche, und daß der Wille Gottes ein Gesetz der Freiheit für ihn sei. In dem Brief wird weder von der Erlösung, noch
39
von dem Glauben als dem Mittel zur Teilnahme an der Frucht
dieser vollbraditen Erlösung gesprochen. Viele bekannten sich
schon zu dem Namen Christi, und deshalb drang Jakobus
darauf, daß die Wahrhaftigkeit dieses Bekenntnisses sich durch
die Werke zeige, weil diese für andere der einzige Beweis der
Wirksamkeit des wahren Glaubens im Herzen sind; denn der
Glaube wirkt durch die Liebe (Gal 5, 6), d. h. „in der neuen
Schöpfung" (Gal 6, 15). Diese neue Schöpfung und ihr Cha=
rakter, sowie die Art und Weise ihrer Kundgebung in dem
gegenwärtigen und sichtbaren Leben vor den Augen der Men=
sehen ist es nun, was Jakobus in seinem Briefe vorstellt.
Jakobus blieb in Jerusalem, um die dortige Herde zu weiden,
und zwar ganz besonders den jüdischen Teil der Kirche. Wir
finden ihn öfters in der Geschichte des Evangeliums, und zwar
als Leiter der jüdischen Herde, bevor sie von der Nation ge=
trennt war. In dem Brief an die Hebräer befiehlt der Geist
Gottes den Christen, auszugehen außerhalb des Lagers, d. h.
sich von den ungläubigen Juden zu trennen (Hebr 13, 10—13).
Aber zu der Zeit, als Jakobus seinen Brief schrieb, waren sie
noch nicht getrennt; die Christen brachten Opfer dar nach dem
Gesetz. Es gab sogar eine große Menge Priester, die dem Glau=
ben gehorsam waren (Apg 6, 7). Es mag uns schwer sein, dies
zu glauben, aber es ist in der Schrift klar bewiesen, auch waren
sie alle Eiferer für das Gesetz.
Verfolgen wir einen Augenblick die Fußtapfen des Jakobus,
wie sie uns in der Apostelgeschichte aufgezeichnet sind. Freilich
hören wir zum ersten Mal im Brief an die Galater von ihm
(Kap. 1, 19), wo uns gerade in bezug auf ihn gesagt wird, daß
Paulus ihn gesehen habe, zu einer Zeit, da Paulus noch mit
keinem anderen Apostel zusammengetroffen war, es sei denn
mit Petrus. Hernach finden wir ihn in Apg 15, wo er in der
Zusammenkunft der Apostel und Ältesten, um zu entscheiden,
ob die Nationen dem Gesetz Moses unterworfen sein sollten,
den Vorsitz hatte, wenn man so sagen darf. Sein Ausspruch
war endgültig, obwohl Petrus und Paulus, und auch alle übri=
gen Apostel, mit Ausnahme des Jakobus, des Bruders des Jo=
haruies, den Herodes getötet hatte, anwesend waren. Wie dem
nun auch sei, jedenfalls waren die durch die Apostel und Älte=
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sten geschehenen Aussprüche ein Zeugnis der jüdischen Ver=
Sammlung. Gott erlaubte nicht, daß die Frage in Antiochien
durch Paulus und Barnabas entschieden wurde. Das würde die
Streitfrage nicht gelöst, sondern vielmehr zwei Versammlungen
hervorgerufen haben. Sobald aber die Christen aus
den Juden und die Versammlung in Jerusalem die Nationen
vom Gesetz freiließen, konnte sich niemand ihrer Freisprechung widersetzen. Es war also nicht ein Punkt,
den die Apostel durch ihre apostolische Autorität entschieden, obwohl diese Entscheidung durch jene bestätigt worden
ist. Anfänglich war viel Wortwechsel in der Zusammenkunft,
dann aber kamen die Apostel, die Ältesten und die ganze Ver=
Sammlung zu einem einstimmigen Beschluß. Das Judentum
sprach die Nationen vom jüdischen Joch frei, und es war Jako=
bus, der die Beratung zu Ende brachte, indem er sagte: „Des=
halb urteile ich, daß man diejenigen, die sich von den Nationen
zu Gott bekehren, nicht beunruhige" (Apg 15, 19). Es ist nicht
gewiß, ob er ein Apostel war; vermutlich war er es nicht. Er
war das Haupt der Versammlung in Jerusalem. Deshalb sagt
Petrus, nachdem ihn der Engel des Herrn aus dem Gefängnis
geführt und befreit hatte, zu denen, die versammelt waren, um
für ihn zu beten: „Verkündet dies Jakobus und den Brüdern"
(Apg 12, 17). Und in Gal 2, 12 sagt Paulus über das Verhalten
des Petrus in Antiochien: „Bevor etliche von Jakobus kamen,
hatte er mit denen aus den Nationen gegessen, als sie aber kamen,
zog er sich zurück". Man sieht, wie sehr Jakobus in den Gedan=
ken der Christen, sogar des Petrus, wiewohl dieser ein Apostel
war, verbunden ist mit den jüdischen Ideen, welche die Herzen
der Christen aus den Juden, besonders derer in Jerusalem, beherrschten. Ferner lesen wir in Apg 21, 18, als Paulus zum
letzten Mal nach Jerusalem hinaufging: „Des folgenden Tages
aber ging Paulus mit uns zu Jakobus, und alle Ältesten kamen
dahin". Er war augenscheinlich das Haupt der Versammlung
zu Jerusalem und vertrat in seiner Person die Kraft des jüdi=
sehen Grundsatzes, der die Versammlung zu Jerusalem noch
beherrschte, und den Gott in Seiner Langmut noch ertrug. Sie
glaubten an Jesum, sie „brachen das Brot zu Hause", aber sie
waren alle Eiferer für das Gesetz. Im Tempel brachten sie
Opfer dar und überredeten auch Paulus, dies zu tun (Apg 21).
Sie waren gar nicht von der Nation getrennt. Obwohl dieses
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alles im Brief an die Hebräer verworfen wurde, hatte es doch
seinen Fortgang bis zu den letzten Tagen des Judentums.
Im Brief des Jakobus finden wir jenen Grundsatz wieder. Er
gibt uns ein treues Bild von dem Zustand der Juden=Christen,
indem Jakobus selbst in seiner Person der Stellvertreter und
die Verkörperung dieses Systems war. So lange Gott es duldete,
konnte Sein Geist darin wirken. Wir lesen in der Weltge=
schichte, daß Jakobus von den Juden, unter denen er den Namen
„der Gerechte" trug, getötet worden ist, und der jüdische Ge=
Schichtsschreiber Josephus sagt, daß dieses Verbrechens wegen
Jerusalem zerstört worden sei. Nach diesem Ereignis ver=
schwand jenes System; doch wir dürfen wohl annehmen, daß
die wahren Christen die Ermahnungen des Briefes an die He=
bräer befolgt haben. Wie dem auch sein mag, es blieben nur
eine oder zwei kleine Sekten übrig, die dem Judentum formell
anhingen und deshalb bald verschwanden. Man nannte sie
Nazarener und Ebioniten. Doch haben wir uns hiermit jetzt
nicht zu beschäftigen,
Diese Stellung des Jakobus und der Zustand der Versamm=
lung in Jerusalem, d. h. der äußerlich mit den ungläubigen
Juden verbundenen Christen, die dennoch das Brot brachen und
für sich Gottesdienst hielten, erleichtert das Verständnis dieses
Briefes. Seine göttliche Eingebung steht nicht in Frage, sondern
es handelt sich um seinen Charakter. Die Güte Gottes hat uns
alle Formen darstellen wollen, die das Christentum angenommen hat; also neben den anderen auch diese erste jüdische
Form, zu einer Zeit, da die Christen noch nicht von dem jüdi=
sehen Volk getrennt waren. Wir haben hier daher weder die
Geheimnisse der Ratschlüsse Gottes, wie in den Schriften des
Paulus, noch die Erlösung, wie wir sie sowohl in den Briefen
des Paulus als auch des Petrus finden, auch nicht das göttliche
Leben des Sohnes Gottes, in Ihm und dann in uns, wie dieses
in den Schriften des Apostels Johannes dargestellt ist. Der Ge=
genstand des Briefes des Jakobus ist das praktiche Leben der
Armen der Herde, die noch die Synagoge, wo es eine solche
gab, besuchten, sowie die Strafreden wider die ungläubigen
Reichen, welche die Armen bedrückten und den Namen des
Herrn lästerten.
42
Kapitel 1
Der Brief ist an die zwölf Stämme gerichtet. Das Volk wird
noch nicht als endgültig von Gott verworfen betrachtet. Jakobus
schreibt an die aus der Zerstreuung, d. h. an die überall unter
den Nationen zerstreuten Israeliten. Der Glaube erkannte das
ganze Volk an, wie Elias (1. Kön 18, 31) und Paulus (Apg 26,
7) es taten; er erkannte es an, bis das Gericht Gottes vollzogen
war. Um Gottes Ratschlüsse, Seinen Willen, Seine Versamm=
lung, die Herrlichkeit Christi, unsere gegenwärtige Stellung in
Christo und unsere spätere mit Ihm kennenzulernen, müssen
wir die Schriften des Paulus lesen. In dem vorliegenden Brief
entfaltet sich die Geduld Gottes Seinem alten Volke gegen=
über, obwohl Jakobus das Volk warnt: „Siehe, der Richter steht
vor der Tür" (Kap. 5, 9). Er unterscheidet ohne Zweifel die
Gläubigen (Kap. 2, 1), wenn diese auch noch nicht von dem
Volke getrennt waren; aber ihre Vorrechte finden wir nicht.
Sie konnten sie nicht in Gemeinschaft mit den ungläubigen
Juden genießen, wohl aber in deren Mitte den Unterschied des
christlichen Lebens zeigen; und hiervon spricht Jakobus. Er
nennt sich nicht Apostel, aber er war praktischerweise, —
nicht als ein eingesetzter Ältester, wohl aber durch seinen per=
sönlichen Einfluß, — das Haupt der vom Judentum nicht ge=
trennten Christen. Er ist stets mit den Christen beschäftigt, und
mit dem Wandel, der ihnen inmitten des Volkes geziemt. Pe=
trus, der an einen Teil der zerstreuten Juden schreibt, spricht
nicht vom Volk; er nennt die Gläubigen das Volk und spricht
von ihnen als solchen, die sich inmitten der Nationen befinden
(1. Petr 2, 10. 11). Der Wandel wird von Jakobus mit Worten
beschrieben, die selten über das hinausgehen, was sich für
einen Gläubigen des alten Bundes geziemte. Man sieht, daß er
an die Christen denkt, jedoch an solche, die auf der untersten
Stufe jener Leiter stehen, die bis an den Himmel reicht. Da
wir uns nun auf der Erde befinden, so ist dieser Brief überaus
nützlich, um uns den Weg und den Geist zu zeigen, der unseren
Wandel charakterisieren soll, wie groß auch unsere himmlischen
Vorrechte sein mögen. Wenn das Licht für unsere Herzen
droben ist, so ist eine Leuchte für unsere Füße nicht zu ver=
schmähen, und dies um so weniger, als wir uns inmitten eines
christlichen Bekenntnisses solcher Leute befinden, die sich
43
Gläubige nennen. Unser Brief stellt die Wahrhaftigkeit dieses
Bekenntnisses auf die Probe.
Welcher Art nun auch die Verbindung der Gläubigen mit
dem Volke sein mochte, so setzt doch der Schreiber des Briefes
das Vorhandensein des Glaubens bei denen voraus, an die er
sich richtet, eines Glaubens, der sich möglicherweise praktisch
in einem Juden vorfinden konnte, ehe dieser an Jesum glaubte,
(obwohl jetzt dieser Glaube an Jesum hinzugefügt war) eines
wahren Glaubens, den die Wirkung Gottes in ihren Herzen
hervorgebracht hatte. Ähnlich sehen wir, wie selbst Paulus,
nachdem er von der Höhe der ihm von Gott gewordenen Offen=
barungen hinabgestiegen ist, den Glauben der Lois und der
Eunike anerkennt und den Glauben des Timotheus dem Glau=
ben dieser Frauen gleichstellt.
Betrachten wir jetzt den Brief selbst. Schon im Anfang finden
wir die „Versuchungen zur Bewährung des Glaubens", die
Züchtigung Gottes zu Nutzen der Gläubigen (V. 2. 3. 12). Ihre
Stellung ist, wie gesagt, mit dem Volke verbunden; und der
Zustand, den der Schreiber vor Augen hat, ist das Bekenntnis
des Glaubens und die Erkenntnis des Herrn Jesu Christi. Er
warnt die Gläubigen vor dem Geiste, in welchem jene, mit
denen sie verbunden waren, wandelten, und diese straft er.
Die Juden=Christen befanden sich in einer Prüfung, sie wurden
verfolgt. Das finden wir auch in dem Brief des Petrus, der die
Gläubigen ermuntert, mit Geduld zu leiden. Jakobus ermahnt
sie, wie es auch Paulus in Römer 5 tut, die Versuchungen für
lauter Freude zu achten, und er gibt hierfür denselben Grund
an wie dieser. Die Bewährung des Glaubens bewirkt Ausharren:
der Wille des Menschen wird gebrochen; er muß warten, bis
Gott wirkt; er fühlt, daß er von Gott abhängig ist und auf
einem Schauplatz lebt, wo Gott allein das vollbringen kann,
was wir begehren, nämlich die Macht Satans zu besiegen und
zurückzuhalten. Wir wünschen oft, und zwar in guter Meinung,
daß das Werk schneller vorangehe, daß die Schwierigkeiten
verschwinden, und wir von der Verfolgung befreit werden,
doch der Wille Gottes ist gut und weise, und er ist nicht der
unsrige. Die Werke, die auf Erden geschehen, tut Er. Das Aus=
harren ist die vollkommene Frucht des Gehorsams. So lesen
wir auch in Kol 1, 11: „Gekräftigt mit aller Kraft nach der
44
Macht seiner Herrlichkeit", (welche großen Werke muß eine
solche Kraft hervorbringen!) „zu allem Ausharren und aller
Langmut mit Freuden". Es bedarf aller Kraft nach der Macht
Seiner Herrlichkeit, um alles ohne Murren, ja mit Freuden
zu ertragen, weil es aus der Hand Gottes kommt. Sein Wille
und nicht der unsrige stärkt unser Herz. Wenn Paulus in 2. Kor
12, 12 die Zeichen eines Apostels aufzählt, so nennt er zuerst
das Ausharren. (Das Wort Ausharren bedeutet in beiden Stel=
len: das Übel mit Ausharren ertragen). In Röm 5 zeigt uns
Paulus den gesegneten Erfolg dieses Ausharrens in den Ver=
suchungen: „Wir rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit
Gottes. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der
Trübsale, da wir wissen, daß die Trübsal Ausharren bewirkt,
das Ausharren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung;
die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist
ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, wel=
eher uns gegeben worden ist" (Röm 5, 2—5).
Wenn die Liebe Gottes gekannt und der eigene Wille gebro=
chen ist, so ist Vertrauen auf Gott vorhanden; wir wissen, daß
alles von Ihm kommt, und daß Er alles zu unserem größten
Segen mitwirken läßt. So bewirkt denn die Bewährung des
Glaubens Ausharren; das Ausharren aber muß ein vollkom=
menes Werk haben, sonst wacht der Wille wieder auf und das
Vertrauen auf uns selbst, statt daß wir uns auf Gott stützen.
Man handelt ohne Gott und fragt nicht nach Seinem Willen;
man wartet nicht auf Ihn, oder wenigstens zeigen sich die
Ungeduld und das Fleisch in uns. Hiob unterwarf sich lange
Zeit, aber sein Ausharren hatte nicht ein vollkommenes Werk.
Saul wartete lange auf Samuel, aber er verhielt sich nicht ruhig
bis dieser kam, und infolgedessen verlor er das Reich. Er war=
tete nicht auf den Herrn in dem Bewußtsein, daß er ohne Gott
und mit seinem eigenen Willen nichts zu tun vermöchte. Sein
Ausharren hatte nicht ein vollkommenes Werk. Die Trübsal ist
die Bewährung des Ausharrens; sie ist das Werk Gottes, der
durch Seine Gnade äußerlich für uns und in uns wirkt; und ist
dieses Werk vollbracht, sind wir Gott vollkommen unterwor=
fen, so daß Sein Wille unser einziger Wunsch ist, dann sind
wir vollkommen und vollendet und haben in nichts Mangel.
Nicht als hätten wir hinsichtlich der Erkenntnis Seines Willens
nichts mehr zu lernen, Vers 5 beweist das Gegenteil, wohl aber
45
ist der Zustand der Seele bezüglich des Willens und unserer
Verbindungen mit Gott vollkommen; Er kann uns Seinen
Willen offenbaren, und das ist das einzige, was wir wünschen
(Siehe 1. Petr 1, 6. 7).
Bei dem Herrn hatte das Ausharren sein vollkommenes
Werk. Das Elend, durch das Er in dieser Welt ging, empfand Er
tief, weit tiefer als wir. Er konnte über Jerusalem weinen
(Lk 19, 41) wie auch beim Anblick der Macht des Todes auf
die Herzen der Menschen (Joh n , 33—36); und die Verwerfung Seiner Liebe war für Ihn eine beständige Ursache des
Schmerzes. Er schilt die Städte, in welchen Seine meisten Wun=
derwerke geschehen waren, aber Er ist vollkommen in Seiner
Geduld und sagt zu jener Zeit: „Ich preise dich, Vater, Herr
des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Ver=
ständigen verborgen hast und hast es Unmündigen geoffen=
bart" (Mt 11, 25). Er dankt zu der gleichen Zeit, da Er schelten
muß. Dasselbe können wir in Joh 12 sehen. In beiden Fällen
ist Seine Seele dem Willen Seines Vaters vollkommen unter=
worfen; sie öffnet sich mit Freuden beim Anblick von allem,
was durch die Unterwürfigkeit bewirkt wurde. Christus fehlte
es nie an der Weisheit Gottes; bei uns mag es wohl an Weisheit
fehlen, selbst wenn unser Wille unterworfen ist und wir den
Willen Gottes zu tun wünschen. Daher folgt die Verheißung:
„Wenn aber jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er
von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft" (V. 5).
Wenn kein eigener Wille da ist, sondern Gehorsam und der
Geist des Vertrauens in der Abhängigkeit, welche auf Gott
blickt, das kennzeichnet das neue Leben. In der Welt gehen wir
durch Trübsale, und dieses neue Leben entwickelt seine Eigen=
schaffen; wenn aber jenes Vertrauen nicht in Tätigkeit ist, so
empfangen wir nichts. Gott mißtrauen, heißt Ihn nicht ehren.
Ein Mensch, der solches tut, ist wankelmütig; er gleicht der
Woge des Meeres, die vom Winde bewegt und hin und her
getrieben wird. Er ist unstet, weil sein Herz nicht in Gemein*
schaft mit Gott ist; er lebt nicht so, daß er Gott kennen kann,
und folglich ist er unstet in allen seinen Wegen. Wenn ein
Gläubiger sich in der Nähe Gottes hält, so kennt er Ihn und
wird Seinen Willen verstehen; er wird keinen eigenen Willen
haben noch haben wollen, und zwar nicht nur aus Gehorsam,
sondern weil er mehr Vertrauen in die Gedanken Gottes in
46
bezug auf sich selbst setzt, als in seinen eigenen Willen. Der
Glaube an die Güte Gottes gibt Mut, nach Seinem Willen zu
forschen und ihn zu tun. Wir haben in Christo Selbst ein vollkommenes und schönes Beispiel von diesen Grundsätzen des
göttlichen Lebens. Als Er von Satan versucht wurde, hatte Er
keinen eigenen Willen; Er handelte nicht, sondern bezeugte,
daß der Mensch von jedem Worte lebt, das aus dem Munde
Gottes hervorgeht. Das war unbedingter und vollkommener
Gehorsam. Für Ihn war der Wille Gottes nicht nur die Regel,
sondern der einzige Beweggrund Seiner Tätigkeit. Und als her=
nach der Versucher Ihn aufforderte, Sich vom Tempel hinabzustürzen, um zu sehen, cb Gott Seinen Verheißungen treu
bleiben würde, wies Er Selbst diesen Versuch zurück. Er war
der Treue Gottes gewiß und erwartete ruhig die Kraft Gottes,
wenn sich die Gelegenheit zu ihrer Kundgebung auf dem Wege
des Gehorsams darbieten würde. Dieser Glaube und dieses
Vertrauen bezeugten, daß Seine Seele nahe bei Gott war und
in inniger Gemeinschaft mit Ihm lebte. In einem solchen Zu=
stände ist jede Seele der Erhörung von Seiten Gottes gewiß,
und das ist es, was sie innerlich durch die Schwierigkeiten und
Prüfungen des jetzigen Lebens zubereitet, um sagen zu können •
„Glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet!"
Die Verse 9—11 bilden gleichsam einen Zwischensatz. Der
neue Mensch gehört der neuen Schöpfung an; er ist ihre Erst=
lingsfrucht, aber er befindet sich hier in einer Welt, deren Herr=
lichkeit wie des Grases Blume vergeht. Der niedrige Bruder ist
also bis zur Gemeinschaft mit Christo, bis zur Teilnahme an
Seiner Herrlichkeit erhoben. Selbst in dieser Welt wird er, so
niedrig er auch sein mag, der Mitgenosse aller Brüder. „Gott
hat die weltlich Armen auserwählt, reich zu sein im Glauben,
und zu Erben des Reiches, welches er verheißen hat denen, die
ihn lieben" (Kap. 2, 5). Die Reichen erkennen sie als Brüder
an und versammeln sich mit ihnen am Tische des Herrn als
Teilhaber derselben Vorrechte. Andererseits kann der Reiche,
wenn er treu ist, nicht in der Größe, dem Stolz und der Eitel=
keit einer Welt wandeln, die den Herrn verworfen hat. Er macht
sich, Christus Selbst hat es sogar getan, zum Bruder des Armen
oder des Niedrigen, der den Herrn liebt, und sie genießen zu=
sammen die Gemeinschaft des Geistes und haben Teil an den
köstlichen und herrlichsten Dingen des Lebens. Sie freuen sich
47
zusammen, der Arme in Seiner Hoheit; Christus schämt Sich
nicht, ihn Bruder zu nennen. Und dieses Titels rühmt sich der
Reiche vielmehr als aller anderen Titel, die ihm in dieser Welt
angehören. In der Welt aber wird dieser Titel mißkannt und
für nichts geachtet. Doch weiß er, daß die Herrlichkeit dieser
Welt vergeht wie des Grases Blume, und er freut sich, der Ge=
nosse derer,zu sein, welche der Herr der Herrlichkeit als die
Seinigen anerkennt. Die Welt wird vergehen, und das Wesen
dieser Welt ist schon jetzt für das Herz des geistlichen Christen
vergangen. Der, welcher für sich selbst den letzten Platz ein=
nimmt, wird groß sein im Reiche Gottes. Dies ist weit entfernt
von dem Geiste des Neides und der Mißgunst, der alles, was
über ihm steht, erniedrigen möchte. Es ist auch nicht Eigenliebe,
sondern der Geist der Liebe, der sich erniedrigt, um mit denen
zu wandeln, die klein sind, jedoch nicht klein in den Augen
Gottes. Er handelt wie Christus, Der gewiß ein Recht hatte, zu
herrschen und der Erste zu sein, der aber Sich Selbst erniedrigte,
um unter uns wohnen zu können, und Der Sich inmitten Seiner
Jünger zum Diener machte. Was uns betrifft, so ist die Herr=
Iichkeit dieser Welt nur Eitelkeit und Lüge. Die Liebe begehrt zu
dienen, die Eigenliebe dagegen, sich bedienen zu lassen.
Der Apostel kehrt jetzt zu dem Charakter des neuen Men=
sehen zurück, für den das Leben hienieden eine Prüfung ist.
Er ist glücklich, wenn er die Versuchungen erduldet und sie
mit Ausharren erträgt. Das ist der normale Zustand des Chri=
sten (1. Petr 4, 12). Sein Pfad ist in der Wüste; hier das Aus=
harren, später die Herrlichkeit, das ist seine Berufung. Hier
geprüft, bleibt er durch die Gnade treu und fest inmitten der
Versuchungen und Prüfungen, und hernach wird er die Krone
des Lebens erben, die Gott denen verheißen hat, die Ihn lieben.
Ein Leben ohne Prüflingen ist kein Leben. Immerhin aber
bleibt es wahr: derjenige, der bewährt ist, ist glückselig. Das
Leben ist nicht hienieden, wir gehen durch die Wüste, wir sind
auf dem Wege, nicht in der Ruhe; es ist nicht das in Christo
verheißene Leben. Zur Entwicklung dieses Lebens ist es nötig,
daß die Zuneigungen an die Krone und an die verheißenen
Segnungen geknüpft sind. Wenn das Leben Christi in uns ist,
müssen wir geübt werden, damit einerseits das Herz von den
Dingen, die uns umgeben und die Aufmerksamkeit des Flei=
sches beständig in Anspruch nehmen, sich losmache und ande=
48
rerseits der Wille diesen nicht nachgebe, und damit unser Herz,
indem es den Lockungen der Eitelkeit widersteht, durch die
Gnade auf dem Weg der Heiligkeit erhalten bleibe und in
der Gemeinschaft mit Gott die himmlischen Dinge genieße. Die
mit Ausharren erduldeten Prüfungen tragen viel zu diesem ge=
segneten Resultat bei. Es ist für die Seele ein unendlicher Ge=
winn, wenn das Herz von der Eitelkeit befreit ist. Ist die Welt
öde und dürre für das Herz, so wendet es sich leichter zu den
Quellen des lebendigen Wassers.
Das Wort „Versuchung" hat jedoch noch einen anderen
Sinn; zwar bedeutet es immer Prüfung, aber es bezieht sich auf
eine andere Art von Prüfung, auf diejenige, die von innen
kommt, die Lust, und das ist etwas ganz anderes. Gott kann
uns äußerlich prüfen, um uns zu segnen, und Er tut es, wie Er
es in bezug auf Abraham getan hat; aber in keiner Weise kann
Er die Lust hervorbringen. Wenn nicht die Sünde in Frage
steht, sondern der Gehorsam und das Ausharren auf die Probe
gestellt werden, dann handelt es sich um den Zustand der Seele,
um sie zurechtzuweisen und weiterzuführen; sobald aber vom
Wecken der Lust gesprochen wird, kann man nicht sagen, daß
Gott versuche, „denn Gott kann nicht versucht werden vom
Bösen, und selbst versucht er niemanden. Ein jeder aber wird
versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und
gelockt wird" (V. 13. 14). Selbst Christus ist während Seines
ganzen Lebens von Gott geprüft worden; aber nichts als Wohl=
geruch hat sich verbreitet. Stets vollkommen im Gehorsam, hat
Er, Der gekommen war, um den Willen Seines Vaters zu tun,
gelernt, was es heißt, gehorsam zu sein in dieser Welt der
Sünde und der Feinde Gottes. Satan hätte gewiß gewünscht,
daß der eigene Wille in Ihm erwache, aber vergebens. Aller=
dings ist der Herr von dem Geiste in. die Wüste geführt worden,
um von dem Teufel versucht zu werden, um ihn für uns zu
besiegen, die wir durch die Sünde unter seiner Macht standen.
In Ihm war keine Lust, aber Er konnte hungrig sein, und Er
war es. Die Stimme des Vaters hatte erklärt, daß Jesus der Sohn
Gottes sei, und deshalb wollte Satan, daß Er die Stellung eines
Dieners, die Er als Mensch eingenommen hatte, verlasse und
Seinen eigenen Willen tue: er forderte Ihn auf, aus Steinen
Brot zu machen. Er wollte sich des Hungers bedienen, der ein
49
sündloses Bedürfnis war und sich bei Christo als Mensch vor=
fand. Der Herr aber verharrte in Seinem vollkommenen Gehor=
sam; Er hatte keinen anderen Beweggrund zum Handeln, als
den Willen Seines Vaters; Er wollte von den Worten leben, die
aus dem Munde Gottes ausgehen. Er wurde von Gott durch
Leiden geprüft, aber keine Lust wurde in Ihm gefunden. Bei
uns gibt es Versuchungen, die aus dem inneren Menschen her=
vorkommen, aus der Lust. Dies ist etwas ganz anderes, als die
Prüfungen, die von außen kommen, die den Zustand des Her=
zens erproben und den eigenen Willen ans Licht stellen, wenn
wir dem Willen Gottes nicht völlig unterworfen sind, wenn
andere Beweggründe als der Wille Gottes allein unsere Herzen
in Tätigkeit setzen.
Jakobus ist immer praktisch, doch geht er nicht bis auf den
Grund von allem, was im Herzen ist, wie Paulus es tut. Er
betrachtet die Lust als die Quelle, welche die Tatsünde hervor=
bringt. Paulus zeigt, daß die Sünde in unserer Natur die Quelle
der Lust ist. Dies ist ein wichtiger Unterschied, der zugleich die
Verschiedenheit der beiden Schreiber und den Zweck des Hei=
ligen Geistes in dem Brief des Jakobus kennzeichnet. Dieser
Brief stellt den äußeren und praktischen Wandel als den Beweis
des Charakters des Lebens hin, das seinen Ursprung im Worte
Gottes hat, das durch den Glauben wirkt. Nach Jakobus gebiert
die Lust, diese erste Regung der sündlichen Natur, die ihren
Charakter aufdeckt, nachdem sie empfangen hat, die Sünde;
und die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Das ist
die Geschichte der Tätigkeit der schlechten Natur. Jakobus be=
schäftigt sich mit ihrer Wirkung, Paulus mit ihrer Quelle, damit
wir uns selbst kennenlernen (Röm 8, 8). Im Gegensatz zu dieser
Lust gibt uns Jakobus zu verstehen, indem er die Tätigkeit
Gottes zur Hervorbringung des Guten, und nicht um uns zu
versuchen, zeigt, daß „jede gute Gabe und jedes vollkommene
Geschenk von oben herabkommt, von dem Vater der Lichter,
bei welchem keine Veränderung ist, noch ein Schatten von
Wechsel. Nach Seinem eigenen Willen hat Er uns (die GIäu=
bigen) durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine
gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien" (V. iy. t8).
Er erkennt, wie schon gesagt, die Gnade als die einzige und
göttliche Quelle des Guten an, das in uns ist, in uns als solchen,
die von Gott geboren sind, und zwar durch den Glauben, weil
50
es durch das Wort der Wahrheit geschehen ist. Durch dieses
Wort sind wir wiedergezeugt; es ist ein neues Leben, hervor=
gebracht durch den Willen Gottes. Wir gehören der neuen
Schöpfung an und sind ihre Erstlingsfrucht. Welch eine unend=
liehe Segnung! Sie hängt nicht nur von einer neuen Stellung
ab, obwohl dies der Fall ist, sondern von einer neuen Natur,
die uns fähig macht, Gott zu genießen.
Jakobus spricht nicht von der Gerechtigkeit durch die Gnade,
wohl aber von einer ganz neuen Natur, die von Gott kommt.
Da nun der eigene Wille gebrochen und das Vertrauen auf
sich selbst zerstört ist, so ermahnt er, daß wir, als solche, die
alles durch die Gnade empfangen, schneller bereit seien, zu
hören als zu reden, und langsam zum Zorn, weil der Zorn nur
die Ungeduld des alten Menschen ist. „Denn eines Mannes
Zorn wirkt nicht Gottes Gerechtigkeit" (V. 20). Der von Gott
unterwiesene Mensch ist Ihm unterworfen. Er trennt sich von
allen Formen des Bösen und allem Übermaß von Schlechtigkeit;
er empfängt mit Sanftmut das eingepflanzte Wort. Beachtens=
werter Ausspruch! Der Wille des Fleisches ist nicht wirksam
in ihm, noch der eigene Wille. Er hört auf das, was Gott sagt,
er empfängt mit Sanftmut Sein Wort und unterwirft sich ihm;
dann pflanzt Gott dieses Wort in sein Herz. Es ist nicht einfach
die Erkenntnis, sondern es ist die Wahrheit Gottes, es ist der
Same und der Bildner des göttlichen Lebens. Das Wort, das
heiligt, ist in ihn eingepflanzt; die Pflanze ist durch Gott her=
vorgebracht, es ist der neue Mensch, der die von Gott gewollte
Frucht bringt. Jedoch ist es nötig, daß sich dies im Praktischen
beweise, daß der Mensch Täter und nicht nur Hörer des Wortes
sei. Sonst ist keine Wirklichkeit mehr vorhanden; er gleicht
einem Menschen, der sich in einem Spiegel betrachtet, und bei
dem alles verschwunden und vergessen ist, sobald er sich wieder
entfernt hat. Wer aber in das vollkommene Gesetz, das der
Freiheit, nahe hineingeschaut hat und darin bleibt, ist nicht ein
vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes und wird
glückselig sein in Seinem Tun (V. 25). Hier finden wir einen
wichtigen Ausdruck: „das Gesetz der Freiheit". Wenn ich mei=
nem Knaben, der gerne irgendwo hingehen möchte, sage, er
solle zu Hause bleiben, so mag er gehorchen. Aber das ist kein
Gesetz der Freiheit; es hält nur seinen Willen im Zügel. Wenn
ich ihm aber sage: „Gehe hin", so gehorcht er; aber dann ist
51
es ein Gesetz der Freiheit, denn sein Wille und das Gesetz sind
miteinander in völliger Übereinstimmung. Für Jesum war der
Wille Gottes ein Gesetz der Freiheit. Er kam, um den Willen
Seines Vaters zu tun, und Er suchte nichts anderes. Glückseliger
Zustand! In Ihm war die Vollkommenheit; Er ist für uns ein
gesegnetes Vorbild. Das Gesetz ist ein Gesetz der Freiheit,
der Wandel zeigt, daß der Wille, daß das Herz und seine
Wünsche vollkommen mit diesem Gesetz übereinstimmen. In
unserem Fall ist es das von Gott auferlegte und in unsere
Herzen geschriebene Gesetz. Es verhält sich mit dem neuen
Menschen ebenso wie mit dem Herzen Christi; er liebt den
Gehorsam, er liebt den Willen Gottes, weil es Sein Wille ist,
und weil seine Natur (denn er ist der göttlichen Natur teil=
haftig) dem entspricht, was Gottes Wille ausdrückt. Er liebt das,
was Gott wirklich will.
Es gibt aber etwas, das mehr als alles andere offenbart, was
in unseren Herzen ist: nämlich die Zunge. Wer seine Zunge zu
zügeln vermag, der ist ein vollkommener Mann und kann auch
seinen ganzen Leib zügeln. Wenn jemand vorgibt, religiös zu
sein, und hält seine Zunge nicht im Zaum, dessen Religion ist
nur ein eitler Schein, er betrügt sein eigenes Herz. Die wahre
Religion zeigt sich durch die Liebe im Herzen, sowie durch die
Reinheit, indem man sich unbefleckt von der Welt erhält. Sie
denkt an andere, an die, welche in Bedrängnis sind, die des
Schutzes, der Pflege und der Stütze der Liebe bedürfen, wie die
Waisen und die Witwen. Das wirklich religiöse und mit der
Liebe Gottes erfüllte Herz denkt wie Gott, denn Er ist es, der
Teilnahme für das Elend, die Schwachheit und die Bedürfnisse
in dem Herzen wirkt. Das ist der wahrhaft christliche Charakter.
Das zweite Kennzeichen, das Jakobus bezüglich des christ=
liehen Lebens anführt, ist, „sich selbst von der Welt unbefleckt
zu erhalten". Die Welt ist verdorben; sie liegt im Bösen, sie hat
den Heiland, d. h. Gott in Gnade gekommen, verworfen. Daß
der Mensch aus dem Garten Eden vertrieben wurde, weil er
gesündigt hatte, ist nicht alles, wiewohl es wahr und für seine
Verdammnis hinreichend ist. Aber es gibt noch mehr. Gort hat
vieles getan, um den Menschen zurückzuführen. Er hat dem
Abraham die Verheißungen gegeben, Er hat Israel gerufen,
Sein Volk zu sein. Er hat die Propheten und zuletzt Seinen
eingeborenen Sohn gesandt. Gott Selbst ist in Gnade gekom52
men, aber der Mensch hat Ihn, Der in Gnade in dieser Welt war,
von sich gestoßen und weggetrieben. Deswegen sagte der Herr:
„Jetzt ist das Gericht dieser Welt". Das letzte, was Gott tun
konnte, war, Seinen Sohn zu senden, und Er hat Ihn gesandt.
„Ich habe noch", sagt Er, „einen Sohn, meinen geliebten;
sie werden sich vor meinem Sohn scheuen; aber sie nahmen
ihn, warfen Ihn aus dem Weinberg hinaus und töteten
ihn". Die Welt ist eine Welt, die den Sohn Gottes schon verworfen hat. Und woran findet sie ihre Freude? An Gott oder
an Christo? Keineswegs, sondern an den Vergnügungen des
Fleisches, an der äußeren Ehre, dem Ansehen und den Reich=
tümern; sie sucht, ohne Gott glücklich zu werden, damit kein
Gedanke an Ihn sie beunruhige. Sie hätte nicht nötig, so sehr
nach dem Glück in den Vergnügungen zu jagen, wenn sie glück=
lieh wäre. Obwohl Gott den Menschen mit einem Odem des
Lebens für Sich gebildet hat, kann der Mensch doch nicht sein
Genüge in Ihm finden. Man lese die Geschichte Kains: „Und
Kain ging weg von dem Angesicht Jehovas und wohnte im
Lande Nod". (Nod ist dasselbe Wort wie flüchtig in i. Mo 4,
16). Weil er an der Gnade verzweifelte und sich nicht demütigen
wollte, so wurde er von dem Angesicht Jehovas vertrieben.
Durch das Gericht Gottes war er flüchtig auf der Erde. Doch
eine solche Stellung gefiel ihm nicht. Da, wo Gott ihn unstet
gemacht hatte, erbaute er eine Stadt und nannte sie nach dem
Namen Seines Sohnes Hanoch, um die Größe seiner Familie zu
verewigen. Jedoch wäre es unerträglich gewesen, wenn seine
Stadt all der Vergnügungen des Lebens entbehrt hätte. Er häufte
deshalb für seinen Sohn Jabal Reichtümer an. Ein Glied seiner
Familie, Jubal, erfand die Musikinstrumente, ein anderes Familienglied, Tubalkain, war ein Hämmerer von allerlei Werkzeug aus Erz und Eisen (1. Mo 4, 17 ff).
Das ist die Welt und ihre ganze Zivilisation. Wenn man Gott
nicht hat, so muß man die Welt lieblich und anziehend machen.
Man wird vielleicht fragen: Was gibt es denn Böses an Lauten
und Pfeifen? Gewiß nichts; das Böse ist im menschlichen Her=
zen, das sich dieser Dinge bedient, um sich ohne Gott zu freuen,
um Ihn zu vergessen, Ihn zu meiden, um Befriedigung in einer
Welt der Sünde zu suchen, um in seiner Stellung der Gottes=
ferne sein Elend nicht zu fühlen, um sich selbst in dem Ver=
derben, das in der Welt herrscht, zu verbergen. Aber der neue,
53
aus Gott geborene Mensch, Teilhaber der göttlichen Natur,
kann seine Befriedigung nicht in der Welt finden; er flieht das,
was ihn von Gott entfernt. Da, wo das Fleisch sich freut und
seine Ergötzung findet, kann das geistliche Leben keine Befrie=
digung finden. Jakobus spricht von dem Verderben selbst, doch
nicht so, als wäre ein Teil der Welt verdorben, der andere aber
rein. Das Verderben ist in der Welt, und der Christ soll sich
unbefleckt von ihr erhalten. Die Welt ist nicht rein; sie ist im
Gegenteil unrein und verdorben, sowohl in ihren Grundsätzen
als auch in jeder anderen Hinsicht. Wer sich ihr gleichstellt,
dessen Weg ist verderbt; die Freundschaft der Welt ist Feindschaft wider Gott, und wer ein Freund der Welt ist, ist ein
Feind Gottes; man soll sich von der Welt unbefleckt erhalten.
Wohl müssen wir durch die Welt gehen; und indem wir dies
tun, sollen wir unter den Menschen ein Brief Christi sein. Wir
sollen rein sein von der Welt, die uns umgibt, gleichwie Chri=
stus rein war inmitten der Welt, die Ihn nicht aufnehmen wollte.
Kapitel 2
In diesem Kapitel werden die, welche an den Herrn Jesum
Christum glauben, deutlich unterschieden. Man soll nicht den
Glauben an Ihn, den Herrn der Herrlichkeit, mit Ansehen der
Person haben. Verachtete man die Armen, so handelte man dem
Gesetz zuwider, das alle Israeliten als Gegenstände der Gunst
Gottes, das Volk als eins vor Ihm und jeden einzelnen als Glied
ein und derselben Familie betrachtete. Es stände zugleich mit
dem Geist des Christentums in völligem Widerspruch; dieser
fordert Demut, preist die Armen glücklich, läßt die wahre Größe
in der himmlischen Herrlichkeit finden und lehrt uns, wie das
Kreuz hienieden der Herrlichkeit droben entspricht. Der Glaube
sah diesen Herrn der Herrlichkeit in der Erniedrigung, Ihn, der
nicht hatte, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Zudem blieben
die Reichen im allgemeinen immer Gegner des Christenrums,
sie lästerten „den guten Namen", der über den Christen ange=
rufen wurde und zogen sie vor die Gerichte. Gott hatte die
Armen der Welt auserwählt, reich zu sein im Glauben und zu
Erben des himmlischen Erbteils. Das bezeugt auch Paulus:
„Nicht viele Weise nach dem Fleische, nicht viele Mächtige, nicht
viele Edle" (1. Kor 1, 26). Diese Dinge, die Weisheit, die Macht
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und der Adel, sind Ketten, welche die Seele an diese Welt
fesseln. Die Gnade vermag wohl diese Ketten zu brechen, aber
es geschieht nicht oft: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein
Nadelöhr eingehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes ein=
gehe" (Mt 19, 24). Jene Bande sind zu stark, wiewohl bei Gott
alle Dinge möglich sind.
Jakobus hebt den Unterschied zwischen der Herrlichkeit des
Herrn und der falschen Herrlichkeit des Menschen in dieser
Welt hervor; „denn die Gestalt dieser Welt vergeht" (1. Kor
7, 31). Er legt, ebenso wie Petrus, großen Nachdruck auf diesen
Punkt. Wenn man in der Versammlung einen Unterschied
zwischen Armen und Reichen macht, so wird man ein Richter
böser Gedanken. Laßt uns Gott danken, daß wir wenigstens
in der Versammlung miteinander für den Himmel und in den
himmlischen Dingen leben können, da, wo der wahre UnteT=
schied in dem Maße der geistlichen Gesinnung und nicht in der
Eitelkeit dieser Welt besteht. Es ist zu beachten, daß die Versammlung hier Synagoge genannt wird; dies läßt uns fühlen,
wie sehr sich die Gedanken des Jakobus in den jüdischen Gewohnheiten bewegten. Der Umstand nun, daß man einen Un=
terschied zwischen Armen und Reichen machte, weshalb sie
von dem Gesetz als Übertreter überführt wurden, veranlaßt den
Jakobus, vom Gesetz zu sprechen. Er führt drei Arten von Ge=
setz an: das Gesetz der Freiheit, von dem wir bereits gesprochen
haben, das königliche Gesetz und das Gesetz in seiner gewöhn=
liehen Bedeutung. Das königliche Gesetz ist: „Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst". Wer es vollführt, tut wohl.
Darm aber fügt er einen höchst wichtigen Grundsatz hinzu;
wenn wir nämlich das ganze Gesetz halten, aber in einem ein=
zigen Punkt straucheln, so sind wir in allem schuldig. Die Ur=
sache hiervon ist ganz einfach. Wenn die Lust uns gereizt hat,
so haben wir das Gesetz übertreten, wir haben die Autorität
dessen mißachtet, der es aufgerichtet hat. Wir können zwar nicht
annehmen, daß wir dadurch jedes einzelne Gebot übertreten
haben; allein Gott hat sowohl das eine, wie alle die übrigen
Gebote gegeben, und wenn das Fleisch und der mit dem Fleisch
verbundene Wille tätig sind, dann haben wir unserem Willen
nachgegeben und den Willen Gottes verachtet. Sein Gesetz ist
gebrochen.
55
Das Christentum will, daß wir reden und handeln als solche,
die von der Macht der Sünde freigemacht sind, um in allem
den Willen Gottes zu tun; nur dieser Wille soll unser Wille
sein. Er hat uns vom Joch befreit; wir sind wirklich freigemacht,
um in den Fußtapfen Jesu zu wandeln. Köstliche und heilige
Freiheit! Es ist die Freiheit einer Natur, die ihre Freude und
Wonne in dem Willen Gottes und im Gehorsam findet. Also ist
der Christ immer frei, den Willen Gottes zu tun; er mag sich
von Gott entfernen und die Kraft und den Wunsch dazu ver=
lieren; dies geschieht aber aus Nachlässigkeit und Untreue.
Alles, was er dann sagt und tut, wird durch dieses Gesetz ge=
richtet werden. Ernste Wahrheit! Man kann wachsen in der
Erkenntnis des Willens Gottes, und man ist unter der Gnade
frei, das zu tun, was man erkennt; die Kraft, es zu vollbringen,
findet sich in Christo. Dieser Gedanke an das Gericht veranlaßt
Jakobus, hinzuzufügen, wie notwendig es sei, der Gnade gemäß
zu wandeln. Wer nicht Barmherzigkeit üben will, für den wird
das Gericht ohne Barmherzigkeit sein. Der Herr hatte schon
den Grundsatz aufgestellt, daß die Sünden dem vergeben wer=
den, der selbst Vergebung übt. Wenn der Geist der Gnade nicht
im Herzen ist, können wir nicht an der Gnade teilhaben, die
Gott dem Menschen gegenüber geoffenbart hat. Selbst in den
Einzelheiten des Lebens und nach der Regierung Gottes mag
der, welcher nicht nach Barmherzigkeit handelt, strenge Züch=
tigung von Seiten Gottes erfahren, weil Gott Seine Freude an
der Güte und Liebe findet.
Weiterhin legt Jakobus Nachdruck auf die Werke. Dies ist
ein wichtiger Abschnitt in seinem Brief. Nicht als hätte er einen
höheren Wert als die übrigen Teile des Briefes, sondern um der
vielen Vernunftschlüsse der Menschen willen. Der soeben er=
wähnte Grundsatz führt die Frage der Werke ein. Die Liebe
muß sich nicht durch Worte, sondern durch die Tat zeigen. Der
Geist des Jakobus ist praktisch; er ist in hohem Grade mit
dem Bösen beschäftigt, das von dem Bekenntnis des Christentums, das jedoch nicht durch ein ihm entsprechendes, prak=
tisches Leben verwirklicht wird, herrührt. Zugleich vereinigt er die beiden Grundsätze in Seinen Unterweisungen: daß
nämlich die Liebe wahrhaftig sein und der Glaube sich in den
durch ihn hervorgebrachten Werken zeigen müsse. Wenn man
zu einem Bruder oder einer Schwester, die der Nahrung und
56
Kleidung entbehren, sagt: „Gehet hin in Frieden, wärmt euch
und sättigt euch, gibt ihnen aber nicht die Notdurft des Leibes,
was nützt es? Also ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke
hat, an sich selbst tot". Das ist sicherlich nicht der wirkliche
christliche Glaube. Der ist vielmehr ein mächtiger Grundsatz
und die Folge der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Herzen,
er ist die Triebfeder jeder Tätigkeit des Herzens — ein Grund=
satz, der uns über die Eigenliebe und alle die niedrigen Beweggründe dieser Welt erhebt und die Zuneigungen an Christum
fesselt- Christus wird der wahre Beweggrund des Herzens, und
indem Er in uns lebt, ist Er die Quelle, aus der unsere Hand=
Jungen hervorgehen, so daß wir wandeln wie Er gewandelt
hat. Ohne Zweifel bleiben wir weit hinter dem zurück, was Er
getan hat, aber der Grundsatz unseres Lebens ist der gleiche,
oder vielmehr, Er Selbst lebt in uns. Sodann ist es klar, daß
der wahre Glaube durch die Liebe wirkt und die guten Werke
hervorbringt. Es kann nicht anders sein.
Es gibt aber noch einen anderen Grundsatz in dieser Stelle,
der in den Worten „zeige mir" seinen Ausdruck findet. Selbst=
redend ist der Glaube ein im Herzen verborgener Grundsat/.
Ich kann den Glauben nicht sehen, ebensowenig wie ich die
Wurzeln sehen kann, welche die Pflanzen zum Wachsen und
Fruchttragen befähigen, indem sie ihre Nahrung aus dem Boden
ziehen, wie der Glaube aus Christo. Gleichwie aber die Pflanze
ohne Wurzel keine Frucht bringen kann, so werden auch ohne
den Glauben keine guten Werke hervorgebracht. Es gibt wohl
äußerliche Werke, aber sie haben keinen Wert. Man kann viel
geben und viel arbeiten, ohne jedoch wahre Liebe und wahren
Glauben zu haben; ein Leben der Liebe aber, das Christo nach=
folgt, Seinen Willen tut und nichts anderes sucht, und zwar
deshalb, weil es Sein Wille ist, kann nicht ohne den Glauben
bestehen. Wer sich des Glaubens rühmt, erkennt an, daß der
Glaube allein gut ist und das hervorbringt, was gut ist. Deshalb
sagt Jakobus: „Zeige mir deinen Glauben ohne Werke". Dies
aber ist unmöglich. Es ist klar, daß der Glaube entweder ein
im Herzen verborgener Grundsatz ist, oder ein einfaches Be=
kenntnis ohne Wirklichkeit. Wir dürfen in dem zuletzt ge=
nannten Fall nicht immer Heuchelei voraussetzen, denn die Er=
ziehung, der Einfluß von dem, was uns umgibt, und die
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äußerlichen Prüfungen können den Glauben des Christentums
und seiner Grundwahrheiten zu einer Gewohnheit der Seele
machen. In einem solchen Glauben gibt es aber kein Band mit
Christo und keine Quelle des ewigen Lebens. Der Mensch
offenbart zwar keinen positiven Unglauben, er ehrt sogar den
Namen Christi; aber dieser Glaube wirkt nichts im Herzen.
Christus kann Sich ihm nicht anvertrauen (vergl. Joh 2, 23—25).
Sobald der wahre Glaube, der Glaube, der die Folge der
Gnade ist durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, im
Herzen hervorgebracht wird, gibt sich ein persönliches Verlangen nach Christo kund, das Bedürfnis, Ihn für sich selbst zu
besitzen und Seine Stimme zu vernehmen. Hiervon ist Niko=
demus ein Beispiel; er suchte Christum und, beachten wir es
wohl, er fühlte alsbald, daß die Welt Ihm entgegen war: er
kam bei der Nacht. Weil nun der Glaube selbst sich nicht zeigen
kann, so kann der, welcher sich des Glaubens rühmt, nichts
erwidern, wenn zu ihm gesagt wird: „Zeige mir deinen GIau=
ben". Wer aber die wahren Werke der Liebe hat, kann sie nicht
ohne den Glauben haben, ohne dieses im Herzen wohnende
göttliche Werkzeug, durch das ein christliches Leben hervor=
gebracht wird: Werke der Geduld, der Reinheit und Liebe,
Trennung von der Welt, obwohl man in ihr wandelt. Man be=
wegt sich nicht ohne eine Triebfeder. Der Glaube, der wirklich
auf Christum blickt und alles in Ihm findet, offenbart sich in
diesem Leben: es ist das Leben des Glaubens. Es handelt sich
darum, den Glauben zu zeigen. Wem? Gott? Gewiß nicht. Es
heißt: „Zeige mir", dem Menschen, der nicht wie Gott in das
Herz sehen kann. Die ganze Beweisführung des Jakobus, ihre
garue Kraft und Bedeutung liegt in den Worten: „Zeige mir".
Er redet also nicht von dem Frieden im Gewissen derer, die
gerechtfertigt sind durch den Glauben, weil der Herr, der teure
und geliebte Heiland, unsere Sünden getragen und sich für
unsere Übertretungen dahingegeben hat. In diesem Fall ruht
der Glaube auf dem Werke Christi, das Gott als vollkommen
genügend für die Sünden der Gläubigen empfangen und an=
genommen hat. Dieses Werk wird nie seinen Wert vor den
Augen Gottes verlieren, im Heiligtum droben, wo Christus ein=
gegangen ist mit Seinem eigenen Blut, um immerdar für uns in
der Gegenwart Gottes zu erscheinen. Er hat Seinen Platz zur
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Rechten Gottes eingenommen, weil am Kreuze hinsichtlich unserer Sünden alles der Herrlichkeit Gottes gemäß vollbracht ist.
Hier aber handelt es sich um den eitlen und leeren Glauben,
um das Bekenntnis des Namens Christi, sich Christ zu nennen,
ohne daß Christus im Herzen ist. Der Glaube zeigt sich durch
die Werke, durch seine Früchte. An den Früchten sieht man,
daß der Baum lebt, daß eine Wurzel da ist, die ihren Saft aus
Christo zieht. Die Rechtfertigung des Bekenntnisses geschieht
vor den Menschen, denen man, mittels der hervorgebrachten
Früchte, den Beweis der Echtheit von dem liefern muß, was
man bekennt. Wenn man die uns hier gegebenen Beispiele ge=
nau ins Auge faßt, sieht man klar, daß es sich um die Beweise
des Glaubens und nicht um die guten Werke im gewöhnlichen
Sinne handelt. Die Werke, durch die auch der Apostel Paulus
den Glauben in denselben Personen, wie hier Jakobus, dartut,
sind die Tatsache, daß Abraham bereit war, seinen einzigen
und geliebten Sohn zu opfern, als Gott es von ihm forderte,
und daß Rahab die Kundschafter verbarg und in Frieden ent=
ließ. Etwas Größeres gibt es nicht; denn nicht nur war Isaak der
einzige Sohn, sondern es ruhten auch alle Verheißungen Gottes
auf ihm, so daß ein unbedingtes Vertrauen auf Gott vorhanden
sein mußte (Hebr n , 17—19). Betrachten wir es als ein menschliches Werk, seinen Sohn zu töten, so ist es gewiß nichts Gutes.
Und gleicherweise war Rahab ihrem Vaterlande untreu und
eine Verräterin, wenn wir ihre Handlung als eine menschliche
Handlung beschauen; jedoch sie verband sich mit dem Volke
Gottes zu einer Zeit, als dessen Feinde noch in der Fülle ihrer
Kraft standen, und Israel weder den Jordan überschritten, noch
einen einzigen Sieg in dem Lande davongetragen hatte.
Das ist der Glaube, der auf Gott vertraut, koste es, was es
wolle, und sich mit Seinem Volke verbindet, wenn alles gegen
es ist. Der Glaube Abrahams war einfach der Glaube an Gott,
an Sein Wort; er wird uns aber als ein unbedingter, nicht
zögernder Glaube dargestellt, indem Abraham seinen geliebten
Sohn opferte, auf dem alle Verheißungen Gottes ruhten. Ebenso
war der Glaube Rahabs ein einfacher Glaube an Gott, der sich,
wie schon bemerkt, darin kundgab, daß sie sich mit der Sache
Gottes einsmachte, zu einer Zeit, als dem Anschein nach alle
Kraft bei dem Gegner war, weil Gott Seine Macht noch nicht
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geoffenbart hatte. Sich gläubig nennen und nicht die dem Glauben entsprechenden Früchte hervorbringen, ist in der Tat kein
wirklicher Glaube. Der Glaube verwirklicht den Gegenstand
des Glaubens, und dieser übt, als Beweggrund im Herzen, seine
Wirkung aus.
Wer das Wort aufnimmt, wird aus unverweslichem Samen
wiedergeboren, er bekommt Teil an der göttlichen Natur, und
der Gehorsam, die Reinheit und die Liebe werden hervorge=
bracht. Gewiß haben wir noch Versuchungen und Hindernisse
zu besiegen und sind nicht, wie wir sein möchten oder sein
könnten; jedoch bringt das Leben in geringerem oder größerem
Maße seine Früchte hervor. Der Christ mag, manchmal aus
Nachlässigkeit, auf seinem Wege untreu sein; doch der Glaube
bringt immer die ihm eigentümlichen Früchte hervor; und der
Christ weiß wohl, daß ein Glaube, der nichts hervorbringt, kein
wahrer Glaube ist. Der Glaube verwirklicht die Gegenwart und
die Liebe Gottes, den er in einer neuen Natur kennt, uitd ge=
nießt beides; er strahlt, wenn auch in Schwachheit, den Charak=
ter Dessen zurück, Den er innerlich genießt. Wir sind durch den
Glauben an Jesum Christum aus Gott geborene Söhne. Durch
den Glauben, selbst wenn es nur der menschliche Glaube und
nicht der des göttlichen Lebens in uns ist, tun wir alles, was
nicht zu dem rein tierischen gehört. Warum sät der Ackerbauer?
Weil er glaubt, ernten zu können. Und so ist es mit allem, das
Essen und Trinken ausgenommen. Es ist nötig, daß der Seele
die göttlichen Dinge durch den göttlichen Glauben geoffenbart
werden; es ist das Werk des Geistes Gottes. Der Glaube an
Gott ist es, der vor Gott wohlgefällig ist; er bringt, da wir jetzt
von Ihm durch Sein Wort lebendig gemacht sind, die Früchte
des göttlichen Lebens hervor. Durch diesen Glauben haben wir
Gemeinschaft mit Gott, mit dem Vater und mit Seinem Sohne
Jesu Christo, unserem Herrn, und Er schämt Sich nicht, uns
Freunde zu nennen (Joh 15, 15), gleichwie Abraham Freund
Gottes genannt wurde. Wenn es sich um weltliche Angelegen=
heiten handelt, so mögen wir das, was wir gerade zu sagen
haben, in der höflichsten Weise ausdrücken; ist dies geschehen,
ist die Sache beendigt. Einem Freunde aber erschließen wir
unser Herz; wir sprechen mit ihm über alles, wovon das Herz
voll ist. Als Abraham Freund Gottes genannt wurde, sprach
Gott nicht mit ihm von den ihm gegebenen Verheißungen, son=
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dem Er teilte ihm das mit, was Er vorhatte zu tun: das Gericht
über Sodom und Gomorra. „Das Geheimnis Jehovas ist für die,
welche ihn fürchten" (Ps 25, 14). Es ist lieblich, kiie Innigkeit
zu sehen, zu der man Gott gegenüber gelangt, wenn man treu
mit Ihm wandelt (siehe 1. Mo 18, 17—20).
Der Gläubige in Sodom wurde gerettet, aber er verlor alles
und lebte in der Ungewißheit und im Elend; er fürchtete den
Berg, auf dem Abraham sich befand, als er das schreckliche
Gericht der gottlosen Städte sah; denn der Unglaube scheut
sich immer vor der Stellung des Glaubens. Schließlich flüchtete
er sich doch noch auf den Berg, vor dem er sich anfangs ge=
fürchtet hatte, und lebte dort im Elend und in der Schande. Wir
haben in Abraham das Bild eines Gläubigen, der durch Glauben lebt; in Lot das Bild eines Gläubigen, der die scheinbar so
schöne Welt für sich erwählt. Er erntete das Gericht, wenn auch
sein Leben verschont wurde, während Abraham, von dem sich
Lot getrennt hatte, von. Gott aufgefordert wurde, seine Augen
aufzuheben, um das Land der Verheißung in seiner ganzen
Ausdehnung zu überschauen und der zugleich von Ihm die
Zusage empfing, daß alles sein Teil sein würde. Der Glaube
verleiht die Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne
Jesu Christo, die Gemeinschaft mit allem, was uns angehört,
und die Verwirklichung dazu; und auf diese Weise werden die
von Gott gewollten Früchte hervorgebracht. Gott gebe, daß wir
in Seiner Nähe leben, damit die Dinge, die man nicht sieht, auf
unsere Herzen einwirken, und wir in der Geduld und in der
Freude verharren, bis der Herr kommt und uns dort einführt,
wo der Glaube nicht mehr nötig ist, in den Genuß von allem,
was der Glaube geglaubt hat, als die Dinge selbst noch nicht
zu sehen waren!
Kapitel 3
In bezug auf das Reden ermahnt Jakobus zur Demut: „Seid
nicht viele Lehrer, meine Brüder" (Vers 1). Wenn man sich
selbst nicht kennt, ist es viel leichter, andere zu belehren, als
sich selbst zu beherrschen. Die Demut im Herzen macht lang=
sam zum Reden; sie ist immer geneigt, zu warten, um belehrt
zu werden und andere ihre Gedanken ausdrücken zu lassen,
wir werden vielmehr lernen als lehren. Mit dieser Ermahnung
61
beginnt Jakobus eine ernste Betrachtung über die Gefahren der
Zunge. Kein Mensch kann sie zähmen. Sie macht aufs deut=
lichste kund, was im Herzen vorgeht: „Aus der Fülle des Her=
zens redet der Mund". Manche richten mit ihrer Zunge, mit
harten Worten, mehr Unheil an, als mit ihrer Hand. Zudem
werden viele leichtfertige und eitle Worte ausgesprochen.
Jakobus besteht darauf, den Willen im Zaume zu halten, kein
Selbstvertrauen zu haben und die Leichtfertigkeit des Fleisches
durch die Furcht Gottes zu unterdrücken. Zunächst warnt er den
Christen, sich nicht leichtfertigerweise voranzustellen, um zu
lehren, weil er ein um so schwereres Urteil empfangen wird.
Die Liebe treibt dazu an, die Brüder zu erbauen, und der Geist
leitet die Demütigen, die ihre Gaben ausüben. Es kann nun aber
sein, daß ein Christ sich gerne hören läßt, daß er nicht demütig
ist, sondern redet, weil er Vertrauen auf sich selbst hat. Das
aber ist nicht Liebe, sondern vielmehr Eigenliebe. Zudem strau=
cheln wir alle in vielen Dingen, und wenn wir andere belehren,
oder uns wenigstens anmaßen, es zu tun, so sind wir selbst=
redend um so verantwortlicher, und unsere Fehltritte sind ge=
wichtiger; wie können wir andere belehren, wenn wir selbst
nicht treu wandeln? Das ist nicht die Furcht Gottes. Wenn das
Gewissen nicht rein ist vor Gott, dann ist es unmöglich, daß wir
Seine Gnade und Wahrheit in Seiner Kraft verkündigen, denn
wir stehen nicht in Seiner Gegenwart, und Er ist nicht mit uns.
Die erste Wirkung Seiner Gegenwart wird sein, unser Gewissen
aufzuwecken. Der, welcher lehrt, muß in wahrer und tiefer De=
mut verharren und wachen, damit er nicht auf seinem Wege
strauchele.
Dieser Geist der Demut ist nicht ein Mangel an Vertrauen
auf Gott, sondern er steht gerade mit diesem Vertrauen in
engster Verbindung. Wer in diesem Geiste wandelt, wird ge-=
wiß nicht zu dem Herrn sagen: „Herr, ich kannte dich, daß du
ein harter Mann bist". Da ist kein Selbstvertrauen mehr; ein
solcher redet, wenn es der Wille Gottes ist, und er tut es in der
Kraft Seines Geistes. Er ist langsam zum Reden, und er harrt auf
Gott, um es in Übereinstimmung mit Ihm zu tun. Noch andere
wichtige Wahrheiten stehen hiermit in Verbindung. Wir strau=
cheln alle in vielen Dingen; wer 9ich vollkommen nennt,
täuscht sich. Jenes Straucheln will selbstredend nicht sagen,
62
daß wir uns schwer vergehen, aber wir tun und reden oft etwas,
das vor Gottes Augen tadelnswert ist. Unser Wort ist nicht
allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt. Es finden sich Mängel bei
uns, und wir können uns nicht entschuldigen, weil der Herr
gesagt hat: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird
in Schwachheit vollbracht" (2. Kor 12, 9). Gleichwohl fehlen
wir, so traurig dies auch ist, und wir sind genötigt, es einzu=
gestehen. Wandeln wir aber mit Gott, so wird Seine Gnade es
uns fühlen und erkennen lassen; wir werden mit mehr Wach=
samkeit und Demut in der Nähe Gottes bleiben und besonders
im Gefühl der Abhängigkeit von Ihm verharren.
Hier begegnet uns jedoch noch eine andere Wahrheit. Jene
Ermahnung wäre nicht nötig, wenn nicht die Freiheit zum
Reden, so oft dies der Wille Gottes ist, das Teil aller Brüder
wäre, je nach ihren Gaben und gemäß der Vorschriften, die wir
im Worte Gottes finden. Würde eine bestimmte Person zum
Reden eingesetzt worden sein, so wäre jene Warnung ganz
überflüssig. Wir finden hier also eine moralische Ermahnung
zur Bescheidenheit, zur Ruhe, zum Mißtrauen gegen sich selbst
und zur Furcht Gottes, weil Gefahr vorhanden ist, zu straucheln,
und weil wir verantwortlich sind. Der alleinige Dienst eines
einzelnen in der Versammlung ist ausgeschlossen. Dies soll
nicht heißen, daß ein einzelner einen Dienst, den Gott ihm anvertraut, nicht ausüben könne; im Gegenteil, dieser Dienst
eines einzelnen ist jedem gestattet, wenn der Herr ihm die
nötige Gabe dazu gegeben hat; aber eben deshalb muß es in
Unterwürfigkeit gegenüber den Ermahnungen des Wortes ge=
schehen. Die Tätigkeit des Fleisches wird verworfen und die
Freiheit des Heiligen Geistes dargestellt. Der Herr bedient Sich
eines jeden, wie Er es für gut und passend findet, sei es hinsichtlich der fortdauernden Gaben des Lehrers, Hirten und Evan=
gelisten, die bis ans Ende bei uns bleiben werden, oder hinsicht=
lieh des Dienstes eines jeden Gliedes an dem Platz, den Gott
ihm angewiesen hat.
Das, was hier vom Straucheln gesagt wird, setzt Jakobus
fort, indem er es auf die Zunge anwendet, die so leicht tätig
wird und jeder Bewegung des Herzens folgt. Alles ist gezähmt
worden, sogar die wilden und die kriechenden Tiere, aber noch
keiner der Menschen hat die Zunge zu zähmen vermocht, sie ist
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voll tödlichen Giftes. Die Worte des Jakobus sind sehr stark,
aber leider wahr. Erinnern wir uns jedoch, daß die Zunge, wenn
wir uns der Sünde für tot halten und durch den Geist wandeln,
der Ausdruck der Gedanken des Geistes sein wird. Vielleicht
verhält sie sich auch still, weil die Gnade nichts mitzuteilen hat.
Mancher Mensch mag in seiner eigenen Kraft fähig sein, sich
von Tätlichkeiten zurückzuhalten, während er nicht imstande
ist, ein leidenschaftliches oder hartes Wort gegen seinen Näch=
sten zu unterdrücken. Kann aber auch keiner der Menschen die
Zunge bändigen, so kann doch die Gnade Christi es tun; denn
der innere Mensch ist unter dem Joch des Herrn und ist deshalb
sanftmütig und von Herzen demütig; Christus erfüllt sein Herz,
und da die Zunge den Bewegungen des Herzens folgt, so drük=
ken die Worte diese Sanftmut und Demut aus. Es ist aber nötig,
daß Christus allein im Herzen wohne und das Fleisch im Zaume
gehalten werde, damit es sich nicht rege, wenn die Versuchung
kommt. Freilich ist es schwierig, nicht zu fehlen, aber es ist
überaus nützlich, zu sehen, daß die Zunge kundgibt, was in uns
wirksam ist, wie die Zeiger einer Uhr die verborgenen Bewegungen des Räderwerkes andeuten.
Es ist gut, den wahren Charakter der Zunge, so wie er hier
beschrieben wird, zu beachten. Wenn Jakobus sagt: „Die Quelle
sprudelt doch nicht aus derselben Öffnung das Süße und das
Bittere?" so will er damit nicht sagen, daß dies mit dem Munde
des Menschen nicht der Fall sei, denn eben darüber beklagt er
sich (V. 9. 10), sondern daß das Böse sich nicht finden sollte;
es ist selbst wider die Natur. Hernach beschreibt er den Charak--
ter des weisen und verständigen Menschen. Er will, daß er aus
einem guten Wandel seine Werke in Sanftmut der Weisheit
zeige. Die Weisheit, oder wenigstens die Erkenntnis, die sich
durch einen Geist des Eifers und der Zanksucht kundgibt, ist
nicht göttliche Weisheit. Die göttliche Weisheit ist nicht ge=
trennt von dem Zustand des Herzens, von der Sanftmut, die
durch die Gnade hervorgebracht wird, durch das Bewußtsein
der Gegenwart Gottes, durch einen gebrochenen Willen und
durch das, was man von Jesu lernt, Der sanftmütig und von
Herzen demütig ist. Eines Mannes Zorn wirkt nicht die Gerech=
tigkeit Gottes. Die Weisheit, die sich rühmt und eifert, ist
irdisch, sinnlich, teuflisch; sie kommt nicht von oben herab, sie
äußert sich durch Eifer und Zanksucht, welche die Quelle von
64
Zerrüttung und jeder schlechten Tat sind. Die Weisheit, die von
oben kommt, verbindet sich mit dem Bewußtsein der Gegen=
wart Gottes und der Gemeinschaft mit Ihm, wobei die natiir=
liehe Energie ausgeschlossen ist und der Geist der Abhängigkeit
von Gott sich kundgibt. Sie weiß, daß sie außer Christo nichts
vermag. Die Verwirklichung der Gegenwart Gottes bewirkt,
daß diese Weisheit vor allem rein ist; sie kann auch nicht anders
sein, wenn wir in Gemeinschaft mit Gott sind. Denn diese Ge=
meinschaft, die zugleich auch Weisheit verleiht, findet notwen=
digerweise in der Reinheit statt. Indem die göttliche Natur in
uns die Gegenwart Gottes verwirklicht und in Ihm bleibt, er=
kennt sie das, was vor Gott wohlgefällig ist, und hat geübte
Sinne zur Unterscheidung des Guten und des Bösen. Sie ver=
langt nicht, Gewalt auszuüben, aber sie kann das Böse, das uns
von Gott entfernt, nicht gestatten.
„Die Weisheit aber von oben ist aufs erste rein, sodann friede
sam": sie wandelt im Frieden vor Gott, der Geist des Friedens
herrscht im Herzen, sie ist gelinde, folgsam, hinsichtlich des
eigenen Willens unterwürfig; sie sucht nicht den eigenen Willen
zu befriedigen, sondern ist vielmehr geneigt, den Willen der
anderen zu tun, falls der dem Willen Gottes nicht entgegen ist.
Sodann entwickelt sich die Wirksamkeit des Guten im Herzen:
die Weisheit von oben ist voll Barmherzigkeit und, weil sie
glücklich in Gott ist, ist sie von der Eigenliebe befreit. Sie fühlt
das Elend der anderen und bringt die guten Früchte hervor, die
aus der Barmherzigkeit fließen. Sie ist nicht geneigt, zu eifern
oder die Fehltritte, die Mängel und Gebrechen der anderen und
ihrer Werke aufzusuchen, sie ist auch nicht geneigt, zu tadeln
oder zu richten, als wäre sie überlegen und hierzu befähigt.
Zudem wandelt sie in der Einfalt und Lauterkeit des Herzens,
indem sie nicht den Beifall der Menschen sucht, noch etwas sein
oder scheinen will, was sie nicht wirklich ist. Indem sie nicht an
sich selbst denkt, tut sie den Willen Gottes in Einfalt des Her=
zens und wünscht, aus Liebe den anderen zu gefallen, als
handle es sich um ihre eigene Freude. Dies ist das liebliche Ge=
mälde der göttlichen Weisheit.
Beachten wir, wie Jakobus stets bemüht ist, den eigenen
Willen zum Schweigen zu bringen, um fähig zu sein, den
Willen Gottes zu tun und, indem man der göttlichen Natur teih
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haftig ist, Gottes Charakter zu offenbaren, den Charakter Christi, der die Offenbarung Gottes im Fleische ist. Er kam nicht in
diese Welt, um Seinen Willen zu tun, sondern den Willen
Dessen, Der Ihn gesandt hatte. Er unterwarf Sich stets dem Unrecht und der Ungerechtigkeit, indem Er das Gute tat und in
Sanftmut und Liebe wandelte. Das Gute tun, leiden und Geduld
haben, das ist, wie Petrus sagt, wohlgefällig vor Gott (1. Petr 2,
20). Wenn das eigene Ich tot ist, dann ist die Liebe frei. Man
wandelt im Frieden, man stiftet den Frieden, und die Früchte
der Gerechtigkeit in Frieden werden denen gesäet, die Frieden
stiften. „Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne
Gottes heißen" (Mt 5, 9). Es ist die Nachahmung des Friedens
und der Liebe Gottes im menschlichen Wandel, wie Christus
diese in Seinem Wandel hier geoffenbart hat.
Kapitel 4
Nachdem Jakobus die Gesinnung des Friedens in den Wegen
des Christen empfohlen hat, fragt er: „Woher kommen Kriege
und woher Streitigkeiten unter euch?" An was für eine Klasse
von Personen denkt er hier? Es müssen nicht notwendiger*
weise die Christen sein. Diesen geziemt die Sanftmut der Weis=
heit, die gelinde und folgsame Weisheit (Kap. 3, 17). Aber, wie
schon bemerkt, befanden sie sich noch inmitten der zwölf
Stämme, und ohne Zweifel meint Jakobus diese, wenn er hier
sagt: „unter euch". Jedoch konnten die Christen in jene Kämpfe
verwickelt sein, so daß die Ermahnung sich auch an sie richtete.
Diese Zwistigkeiten kamen aus den Wollüsten. Der Wille war
nicht gebrochen, die Lust quälte das Herz. Die Streitenden ver=
langten nach dem, was sie nicht besaßen. Weil das durch die
Lust unterdrückte Gewissen schwieg, und der Wille den Wün=
sehen freien Lauf ließ, wurden die Leidenschaften nicht mehr
im Zügel gehalten. Man tötete und eiferte, und doch wurden
die Wünsche nicht befriedigt; man stritt und kämpfte, und doch
erlangte man nichts. Die Abhängigkeit von Gott wurde ver=
gessen, und der eigene Wille wirkte. Man bat Gott nicht, und
wenn man es tat, so geschah es nur mit dem Wunsch, Gott zum
Diener seiner eigenen Lüste zu machen. Auf solche Gebete aber
antwortet Gott nicht. Trauriger Zustand des Menschen! Nicht
nur war Gott vergessen, es stand noch weit schlimmer: das Herz
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war der Sklave der Wollüste und unter dem Joch der Leiden=
schaften, fern vom Frieden und von der Ruhe, Krieg im Innern
und offenbare Sünde nach außen, ohne Gott in der Welt, oder
wenn man Gott gekannt hatte, so war Er doch von einem
widerspenstigen Herzen vergessen worden. Das Volk befand
sich in einer Übergangsperiode, die allerlei Wünsche hervorrief.
Die Freundschaf t der Welt ist wirklich Feindschaft wider Gott.
Ein Christ, der sich der Welt gleichstellt, hat vergessen, daß er
von seinen früheren Sünden gereinigt worden ist. Indem er
Gott vergißt, wandelt er in den Wegen der Ungläubigen, und
das durch die Lust unterdrückte Gewissen schweigt. Wenn man
zu Gott betet, empfängt man nichts, weil man wie ein Welt=
mensch zu Ihm betet, um das Erwünschte in seinen Wollüsten
zu verzehren. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß alle, die
Jakobus hier Ehebrecherinnen nennt, tatsächlich solche waren.
Viele lebten in solchen Sünden in der Welt, und die anderen,
selbst wenn sie Christen waren, wandelten in demselben Geist
der Untreue gegen Gott; und indem sie mit der Welt zusammengingen, ließen sie der Wollust die Zügel schießen. Das ist
gewiß nicht der christliche Wandel. Aber wenn der Christ die
Wege Gottes verläßt und mit den Weltmenschen Gemeinschaft
macht, dann geschieht es nicht selten, daß er sich seines Chri=
stentums schämt; er wagt es nicht, den Namen des Heilandes
zu bekennen. Sein Gewissen verhärtet sich, und er ist den
Weltmenschen gleich oder noch schlimmer als sie, indem ihn
nichts mehr zurückhält. Es ist die Freude Satans, auf diese
Weise den Namen Christi an denen, die ihn tragen, verunehrt
zu sehen.
In dem jetzt folgenden Vers finden wir einen wichtigen
Grundsatz. „Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft wider
Gott; wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich
als Feind Gottes dar". Mächtiges Zeugnis, welches unseren
Wandel richtet und das Herz erforscht! Die Welt ist mit dem
Bösen erfüllt und liegt im Argen; sie hat ihren wahren Cha=
rakter gezeigt, als sie den Sohn Gottes verwarf und kreuzigte.
Der Mensch war schon ohne Gesetz und unter Gesetz geprüft
worden. Als er sich aber ohne Gesetz ganz schlecht erwiesen
und, nachdem er es empfangen hatte, es gebrochen hatte, kam
Gott Selbst in Gnade hernieder. Er wurde Mensch, um die
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Liebe Gottes unmittelbar bis zu dem Herzen des Menschen zu
bringen, indem Er seine Natur annahm. Das war die letzte
Probe für das Herz des Menschen. Der Herr kam nicht, um
den Menschen die Sünde zuzurechnen, sondern um die Welt
mit Gott zu versöhnen. Sie aber wollte Ihn nicht aufnehmen;
es offenbarte sich, daß sie unter der Macht Satans und der Fin=
sternis war; „jetzt aber haben sie gesehen und gehaßt sowohl
mich als auch meinen Vater" (Joh 15, 24). Die Welt bleibt
sich stets gleich, Satan ist ihr Fürst, und „alles, was in ihr ist,
die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut
des Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern ist von der Welt"
(1. Joh 2, 16). Das menschliche Herz, das Fleisch, ist, was es
seit dem Fall des Menschen immer gewesen ist, Feindschaft
wider Gott, und obwohl die Menschen den Namen Christi
tragen, so ist der Widerspruch der Welt gegen die Autorität
doch stets gleich geblieben.
Man fühlt und sieht täglich, wie der Name Christi in Unehre
steht, obwohl die Menschen unterwiesen werden mögen, Ihn
zu ehren. Da, wo der Mensch seine Freude findet, wo sein
Wille frei ist, weist er Christum ab, aus Furcht, in seinen Ver=
gnügungen gestört zu werden. Ist er allein, denkt er nicht an
Ihn; er will auch nicht, daß man vom Heiland redet, er sieht an
Ihm nichts Anziehendes und Begehrenswertes. Der Mensch liebt
es, seinem eigenen Willen zu folgen, und wünscht nicht, daß der
Herr dazwischentritt und ihn daran hindert. Er zieht die Eiteh
keit und die Vergnügungen vor.
So ist der Mensch. Fern von Gott sucht er glücklich zu sein
und sich seine Stellung so angenehm wie möglich zu machen.
Durch die Ankunft Christi ist der Zustand des Herzens offen=
bar geworden; es hat sich gezeigt, daß es nicht nur den Vergnü=
gungen des Fleisches nachjagt, sondern auch in Feindschaft ist
wider Gott. So groß die Güte Gottes auch sein mag, der
Mensch will nicht im Genuß der Vergnügungen der Welt ge=
stört werden, noch sich der Autorität eines anderen unterwer=
fen. Er will die Welt für sich selbst besitzen, er strengt sich an,
sie zu gewinnen, und sucht sie den Händen anderer zu entreißen, die sie inne haben. Der eigene Wille und die Lust, das Ich
regiert die Welt. Dies ist ein deutlicher Beweis, daß die Freund=
68
schaft dieser Welt Feindschaft wider Gott ist. So weit es in der
Macht der Menschen lag, haben sie Gott aus der Welt vertrieben und tun es auch heute noch; der Mensch will groß sein in
der Welt. Wir wissen, daß die Welt den Sohn Gottes kreuzigte
und nichts Anziehendes in Dem fand, an Dem Gott Sein ganzes
Wohlgefallen hatte.
Kehren wir jetzt zu unserer Betrachtung zurück. Wir lesen
in Vers 5: „Oder meinet ihr, daß die Schrift vergeblich rede?
Begehrt der Geist, der in uns wohnt, mit Neid?" Die Natur des
Menschen ist mit Neid erfüllt in bezug auf andere, jedoch fin=
den wir hier das Mittel, sie zu besiegen. „Er (Gott) gibt aber
größere Gnade, deshalb spricht er: Gott widerstehet den
Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade" (V. 6). Das
ist das wahre Geheimnis der Kraft und des Sieges, ja des Frie=
dens im Herzen inmitten aller Schwierigkeiten und Wider=
wärtigkeiten der Welt. Jakobus ermahnt beharrlich zur Demut
und besteht darauf, daß der Wille des Menschen gebrochen,
und der Mensch Gott unterworfen sei. Denn Gott weiß wohl
den zu demütigen, der, obwohl Gott handeln will, seinen
eigenen Willen durchzusetzen sucht. Die wahre Demut besteht
im Gehorsam, wobei ein eigener Wille nicht da ist. Dahin
führen die Güte und die Gnade Gottes den Menschen. Das
Vertrauen auf Gott bewirkt, daß die Seele sich Ihm unterwirft.
Der demütige Mensch ist der allein glückliche, er genießt das
Bewußtsein der Liebe Gottes, die auf ihm ruht. Der Wille
Gottes mag unserem Herzen nicht immer angenehm sein und
unseren Wünschen nicht entsprechen; es geziemt aber dem
Geschöpf, sich ihm allezeit zu unterwerfen, Gott ist weise und
läßt denen, die Ihn lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken.
Zugleich sind Seine Wege immer der Ausfluß Seiner Gnade
gegen uns, so daß unsere Weisheit darin besteht, Seiner Hand
uns zu unterwerfen. Diese Unterwerfung ist zwar Pflicht und
ist nötig, sie geschieht aber mit willigem Herzen, wenn Vertrauen da ist. Und das ist unser wahres Verhältnis zu Gott,
und die Seele ist dabei glücklich. Wenn Gott, Der uns liebt,
in allen Dingen für uns einen Willen hat, so brauchen wir
keinen zu haben. Wir sollen uns Ihm anvertrauen. Welche
Gnade, daß der allmächtige Gott in allen Umständen unseres
Lebens stets an uns denkt!
69
Der Teufel ist ein Feind; er sucht uns zu täuschen; er legt
uns Schlingen und sucht mittels unserer Leidenschaften auf uns
einzuwirken. Er kann sogar Verfolgungen erwecken, um uns
auf dem Wege der Treue aufzuhalten. Im gewöhnlichen Leben
aber täuscht er uns durch die Dinge des Fleisches. Werden wir
verfolgt, so ist es eine Ehre für uns. „Euch", sagt der Apostel,
„ist es in bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein an
ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden" (Phil 1, 29).
Die Gefahr, von Satan getäuscht zu werden, besteht immer; wir
sind stets von seinen Betrügereien umringt. Es ist wichtig für
uns, indem wir dem neuen Menschen gemäß und in der Ge=
meinschaft mit Gott leben, den Betrug Satans zu unterscheiden,
der nie in dem Gehorsam gegen den Willen Gottes besteht. Es
mag wohl sein, daß das Böse nicht in die Augen fällt. Als Satan
dem Herrn vorschlug, aus Steinen Brot zu machen und zu
essen, trat das Böse nicht grell hervor. Zu essen, wenn wir
hungrig sind, scheint nichts Böses zu sein; aber im genannten
Fall wäre es kein Gehorsam gewesen. Die Anstrengungen
Satans blieben ohne allen Erfolg. Bloß des Hungers wegen zu
essen ist eine tierische Handlung; man blickt nicht zu Gott
empor. Wir sollen alles, selbst das Essen, im Namen Christi
tun, indem wir Gott danksagen. Wenn wir so die Gegenwart
Gottes verwirklichen, ist alles heilig für uns. Satan kann sich
nicht verbergen, wenn er sich dem Gehorsam entgegenstellt,
und er geht weg, weil er weiß, daß er Dem begegnet ist, Der ihn
überwunden hat, Christo in uns. Das Wort Gottes genügt uns,
um auf einem Wege zu wandeln, wo Satan machtlos und ge^
zwungen ist, uns gehenzulassen; zudem nehmen wir seine
Tücke wahr und erkennen, daß er der Feind ist. So hat es der
Herr gemacht. Er führte das Wort Gottes an, und der Teufel
schwieg, versuchte aber, Ihn durch ein anderes Mittel zu täuschen. Er offenbarte nicht seinen wahren Charakter; aber der
vollkommene Gehorsam Jesu machte seine List kraftlos. Als
sich jedoch Satan zeigte, wie er war, und Jesu die Herrlichkeit
der Welt anbot, schickte Er ihn weg, und er ging.
Der Pfad des Herrn ist unser Pfad, Seine Kraft ist unsere
Kraft, und wenn wir mit Ihm im Gehorsam wandeln, wird
auch Seine Weisheit unsere Weisheit sein. Er hat schon den
Versucher überwunden; die einzige Schwierigkeit für uns liegt
darin, daß wir uns nahe genug bei Ihm halten, um die Listen
70
Satans unterscheiden zu können. Wir haben nötig, die ganze
Waffenrüstung Gottes anzulegen. Wenn die Gegenwart Gottes
im Herzen verwirklicht wird, wenn der Geist Gottes das Herz
regiert, und das Gefühl der Abhängigkeit in der Seele lebendig
ist, dann wird man erkennen, daß die Vorspiegelungen des
Feindes nicht von Gott sind, und der Wille des neuen Menschen
wird ihnen kein Gehör geben. Ist Satan offenbar, so widersteht
man ihm, und er hat keine Kraft; Jesus hat ihn für uns über=
wunden. Aus unserem Kapitel lernen wir, daß Satan von uns
flieht, wenn war ihm widerstehen (V. 7). Er erkennt, daß er dem
Geiste Christi in uns begegnet ist, und er flieht. Der Fehler bei
uns ist, daß wir ihm nicht immer widerstehen. Wir gehen auf
Seine Versuchungen ein, weil der Wille Gottes nicht alles für
uns ist und wir noch zu gern unserem Willen folgen möchten.
Wenn wir die Gnade kennen, so bewahrt uns der Gehorsam
und die Abhängigkeit vor den Listen des Teufels. Widerstehen
wir ihm im Glauben, so ist er ohne Kraft; er wird als Satan, als
der Widersacher offenbar, wie es bei Jesu der Fall war, als Er
Sich für uns versuchen ließ. Er weiß, daß Der, Dem er in uns
begegnet, Derselbe ist, vor Dessen Widerstand er floh.
Unendlicher Trost! Unaussprechliche Segnung! Wenn wir
uns schwach fühlen und Christus unsere Stütze ist, so besiegen
wir alle unsere Feinde, und Gott gibt uns jede Gnade, die wir
nötig haben. Es ist hier eigentlich nicht der Ort, von der Waffenrüstung Gottes zu sprechen; jedoch mögen einige Worte hier=
über nützlich sein. In Eph 6, 10—18 bezieht sich bis zum
„Schwert des Geistes" in Vers 17 alles auf den Zustand der
Seele. Es handelt sich zunächst um die Wirkung der Wahrheit,
um die Seele in der rechten Ordnung zu erhalten, so daß die
Neigungen geregelt sind und das Gewissen, dem Willen Gottes
gemäß, seine ganze Kraft besitzt. Dann werden wir ermahnt,
zur Bewahrung eines guten Gewissens den Brustharnisch der
praktischen Gerechtigkeit anzulegen und die Füße im Wandel
beschuht zu haben mit der Bereitschaft des Evangeliums des
Friedens, indem wir in unserem Benehmen den Stempel des
Friedens, den wir in Christo genießen, an uns tragen. Weiter
folgt „der Schild des Glaubens", das Vertrauen auf Gott, das
jene Dinge hervorbringt, und verhindert, daß die Einflüsterun=
gen des Bösen uns erreichen. Die feurigen Pfeile des Bösen ver=
mögen uns durchaus nicht zu verwunden. Zweifel und böse
71
Gedanken in bezug auf Gott werden keinen Eingang im Herzen
finden. Wir haben den Helm — die Gewißheit des Heils, die
uns befähigt, im Streit wider den Feind das Haupt zu erheben.
Sodann können wir das Schwert des Geistes, das Wort Gottes,
nehmen und uns seines im Kampf bedienen. Auf diese Weise
durch die Waffenrüstung Gottes vor den Anläufen des Feindes
sichergestellt, sind wir fähig, im Dienst des Herrn tätig zu sein
und das Wort anzuwenden, doch sind wir stets von Seiner Hilfe
abhängig. Diese Abhängigkeit gibt sich in den Gebeten und in
der Fürbitte kund. Laßt uns daher dem Teufel widerstehen, und
er wird von uns fliehen (V. 7). Laßt uns Gott nahen, und Er
wird Sich uns nahen. Hier offenbart sich die Tätigkeit des
Herzens in der Abhängigkeit. Wir können diese Abhängigkeit
von Gott allmählich lernen, jedoch die Gefahr hört nie auf,
unabhängig zu wandeln. Gott will daher, daß wir die Notwen=
digkeit, Ihn zu suchen, empfinden. Er wünscht, daß das Herz
damit beschäftigt sei. Die Abhängigkeit von Gott und das Ver=
trauen auf Ihn zeigen sich darin, daß wir uns Ihm nahen. Sie
bilden das Band zwischen dem Herzen und Gott, und Er ver-^
säumt nie, uns zu antworten. Das Vertrauen wächst, man lernt
immer mehr die Abhängigkeit schätzen, welche die vollkom=
mene Liebe Gottes kennt und die kostbare Wahrheit versteht,
daß Er Seine Augen nicht abzieht von dem Gerechten und in
Seiner unendlichen und herablassenden Güte mit allen Um=
ständen unseres Lebens, mit unserem persönlichen Charakter
und mit unseren Schwierigkeiten beschäftigt ist, und daß Er es
nicht verschmäht, so nichtig wir auch sind, an uns und an alles
das zu denken, was uns betrifft. Er kann auf Sich warten lassen,
um den Glauben zu üben, aber nie wird die Antwort ausblei=
ben. Daniel hat drei Wochen warten müssen; doch die Antwort
kam, und sein Herz wurde befriedigt durch die Mitteilung der
vollkommenen Güte Gottes hinsichtlich seines Volkes und
durch die Verheißung der Ankunft Christi. Gott naht Sich uns.
Welch eine unendliche und kostbare Gnade! Das Herz betet
an und versenkt sich in die Liebe Gottes.
Doch Gott sei Dank! wir können uns auch Ihm nahen. Sein
Thron ist für uns ein Thron der Gnade. Um Seiner Liebe willen
dürfen wir ohne Furcht vor Seinem Angesicht erscheinen und
können durch das kostbare Blut Christi eintreten ins Heiligtum.
72
In Seiner Gegenwart lernen wir die Heiligkeit und unterschei=
den Seinen Willen. In dieser reinen Atmosphäre sieht unser
Auge klar, und die Unterwürfigkeit ist im Herzen. „Das Ge=
heimnis Jehovas ist für die, welche ihn fürchten" (Ps 25, 14).
Wir wandeln mit Gott als solche, die von Ihm unterwiesen sind,
und unser ganzer leib ist Licht. Zudem ist Er mit uns, naht
Sich uns und flößt uns Vertrauen ein. „Wenn Gott für uns ist,
wer wider uns?" Nicht nur ist die Kraft Gottes mit uns, sondern
Seine Gegenwart bewirkt die Freimütigkeit und das Vertrauen
im Herzen, weil wir, da Er mit uns ist, fühlen, daß wir Seinen
Willen erkennen. Das Bewußtsein Seiner Gegenwart bringt
angesichts des Feindes Freude, Ruhe und Mut hervor, und in
den Schwierigkeiten des Weges stützt man sich auf Ihn. „Du
verbirgst sie in dem Schirme deiner Gegenwart vor den Ver=
schwörungen der Menschen; du birgst sie in einer Hütte vor dem
Gezänk der Zunge" (Ps 31, 20). Ist die Gegenwart Gottes eine
wahre und wirkliche Sache für das Herz, so hält sie das Ge=
wissen wach und erfüllt das Herz mit ruhigem Vertrauen.
„Nahet euch Gott". Um dies tun zu können, ist es nötig, die
Hände zu säubern und das Herz zu reinigen, um in keiner
Weise wankelmütig zu sein. Gott ist Licht; Er verlangt die
Reinheit und die Lauterkeit im Innern. Voll von Güte und Her=
ablassung zu uns ist Er bereit, den Schwachen zu helfen, aber
Er verschließt Seine Ohren allen Doppelherzigen. Er will, daß
bei denen, die begehren, Sich Ihm zu nahen, der Wandel rein
und das Herz aufrichtig sei. Kann es anders erwartet werden?
Gott hält Sich fern von denen, deren Herz in Seiner Gegenwart
nicht offen ist. Er wendet Sich ab von einem Menschen, in
dessen Betragen die Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit fehlt und
dessen Herz zwischen der Welt und Ihm hin und her schwankt.
Er sieht alles, und Er will ein aufrichtiges Herz, das bereit ist,
Ihn zu hören. Deshalb ruft Jakobus, indem er an die eitle
Freude dieser Welt denkt, die zum ewigen Verderben führt,
allen zu, die Ohren haben zu hören, daß sie trauern und weinen
möchten, und daß sich ihr Lachen in Traurigkeit verwandle. Die
Seele, die mit Einsicht an andere denkt und von Liebe bewegt
wird, die des Geistes und demzufolge der Gefühle Christi
teilhaftig ist, wird das moralische und sichtbare Elend um sich
her tief fühlen; sie wird sich in Christo freuen, aber sie wird
trauern über den Zustand der Menschen dieser Welt.
73
Die Sünde hat die Welt unglücklich und elend gemacht, und
das größte Elend, dem man auch überall begegnet, sind die
durch die Sünde herbeigeführten Leiden. Dennoch wird das
Herz mitten in diesem allem die Güte Gottes empfinden; es
wird sich des ewigen Heils erfreuen und der Güte, die es er=
worben hat, und auch der täglichen Erweisungen dieser Güte.
Aber es wird nicht die eitle Freude der Welt sein, welche die
Leere im Herzen zu verbergen sucht, oder mit dem Lachen das
Gefühl des Elendes unterdrücken möchte. Ist man allein, macht
sich die Leere und oft auch der Schmerz fühlbar; ist man in
Gesellschaft, dann lacht man, um den Schmerz zu vergessen,
man will ihn vor anderen nicht eingestehen, andere will man
damit nicht belästigen und muß deshalb vorgeben, man sei
glücklich. In der Welt kann man nicht wahr gegeneinander sein;
aber die Leiden und Trübsale sind wahr. Der Herr
konnte weinen, aber nicht lachen; die Liebe und die christliche
Gesinnung folgen Seinem Beispiel, sie tun es von Herzen und
in Obereinstimmung mit Seinen Gefühlen. Jakobus will, daß
die weltliche Freude sich in christliche Gefühle verwandle, in
Gefühle der einsichtsvollen Liebe. Im fünften Kapitel sehen
wir, daß das Gericht bereit war, über das jüdische Volk und
über die Welt hereinzubrechen und somit ihrer falschen Freude
ein Ende zu machen. Hier ist die Ermahnung moralisch, dort
steht sie mit dem Ende dieser Freude durch die Hand des Herrn
in Verbindung.
Weiter nun ermahnt Jakobus zur Demütigung vor dem
Herrn (V. 10), damit Er uns erhöhe. „Wer sich selbst erniedrigt,
wird erhöht werden". Das ist es, was Christus getan hat
(Phil 2), und was Er gesagt hat (Lk 14, 11). „Gott widersteht
den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade" (l. Petr
5, 5). Dem Menschen geziemt die Demut; sie geziemt ihm in
seiner Kleinheit vor Gott, im Bewußtsein der Größe der göttlichen Gnade und alles dessen, was er jetzt in sich selbst ist.
Sogar die unendliche Herrlichkeit, die der Gläubige erwartet,
ist für ihn Ursache zur Demut, wenn er daran denkt, wie un=
würdig er ihrer ist. Er weiß, daß er in den Dingen Gottes nichts
ohne Ihn erkennen noch tun kann.
Jakobus ist hier mit dem Hochmut und dem Stolz des Geistes
dieser Welt beschäftigt; beides findet sich auch noch in dem
74
Christen, und deshalb verlangt Jakobus nicht nur Demut, son=
dem Demütigung. Er hatte ein tiefes Gefühl von der Torheit
der Menschen und besonders der Christen, die im Geiste
dieser Welt wandelten, indem sie nicht nur körperlich, sondern
auch dem Herzen und den Gebräuchen nach mit ihr vermengt
waren. Ein solcher Wandel geziemt dem Christen nicht. Die
Furcht Gottes, die Tatsache, daß die Welt den Herrn gekreuzigt
hat, gibt dem Christen das Vorgefühl des Gerichts, das ihrer
wartet, wenn er auch nicht den Augenblick weiß, wann es ein=
treffen wird. Es ist aber noch weit besser, wenn das Herz und
seine Neigungen von dem verherrlichten Herrn, von dem Mor=
genstern, und von allem angezogen wird, was im Himmel ist.
Neigt jedoch jemand dahin, mit dieser Welt zu wandeln und
sich ihr gleichzustellen, so hat die Welt die Oberhand, und es
ist nötig, mit einem solchen vom Ende der Welt, vom kommen^
den Gericht Gottes zu sprechen und ihn zu nötigen, die Stimme
und die Drohungen Gottes zu hören, die verkünden, daß „der
Tag kommen wird wie ein Dieb in der Nacht". Nimmt er dies
zu Herzen, wird ihn der Herr aufrichten und segnen. Wer aber
wird den Tag Seiner Ankunft ertragen, wenn Er kommen wird,
um die zu richten, die nicht hören wollten? Für den Christen ist
die Ankunft des Herrn etwas anderes. Der Herr Selbst sagt
uns, daß Er kommen wird, um uns zu Sich zu nehmen, uns zu
erhöhen, und in das Haus Seines Vaters einzuführen, in das
Er eingegangen ist, um uns eine ewige und himmlische Stätte
zu bereiten.
Ist man demütig, so braucht man sich nicht zu demütigen;
aber der Geist des Menschen erhebt sich wirklich so leicht, daß
es für uns nötig ist, uns zu demütigen und die Gegenwart
Gottes zu verwirklichen. In der Gegenwart Gottes werden wir
immer demütig sein; wir werden das Bewußtsein unserer Klein=
heit haben, werden an Gott und nicht an uns selbst denken.
Die Stolzen erheben heißt nichts anderes als den Stolz nähren,
und dieser geziemt weder dem sündigen, noch dem frommen
Menschen; daher können Frömmigkeit und Stolz nicht zusam=
mengehen. Gott aber hat Wohlgefallen daran, die Demütigen
zu erhöhen, und weil diese Erhöhung von Gott kommt, so ist
sie eine Quelle der Dankbarkeit und Freude und nicht des
Stolzes. Man ist vor Gott im Gefühl Seiner Güte. Beachten wir,
daß es heißt: „Demütigt euch vor dem Herrn", nicht „vor den
75
Menschen"; es handelt sich um ein wirklich innerliches Werk,
das die gute Meinung, die wir von uns selbst haben, zunichte
macht und die Gegenwart Gottes verwirklicht. Die Größe Got=
tes gibt Ihm Seinen wahren Platz im Herzen und sie gibt uns
unseren Platz. Ist dies bei uns der Fall, dann ist alles wahr in
uns, und wir können der Wahrheit gemäß, als von seiten
Gottes, handeln. Die Verse g und 10 drücken die Verwirklichung der Gegenwart Gottes durch ein Herz aus, das sich
inmitten einer Welt der Sünde und des Elends befindet und
dies fühlt.
„Redet nicht widereinander, Brüder", fährt Jakobus jetzt fort.
Das ist eine bestimmte Vorschrift, die viele Zungen zurück--
halten würde, wenn sie gehorsam wären. Und ach! wie viel
Böses würde dadurch verhütet werden! Die Liebe redet nicht
wider den anderen; die Zunge ist aber, wie wir gesehen haben,
ein schlimmes Übel, voll tödlichen Giftes, ein kleines Feuer, das
einen großen Wald anzündet. Aber mehr noch: „Wer wider
seinen Bruder redet oder seinen Bruder richtet, redet wider
das Gesetz und richtet das Gesetz"; denn das Gesetz will, daß
der Bruder der Gegenstand der Liebe und Zuneigung sei, nicht
aber, daß er verfolgt, übel behandelt oder vor den Augen ande=
rer verächtlich gemacht werde. Geschieht dies, so verlieren wir
die Stellung aus dem Auge, in die das Gesetz den Bruder ge=
bracht hat, während es doch unsere Pflicht nach dem Gesetz
und unsere Stellung als Bruder ist, sie anzuerkennen. Wenn
wir uns als Richter und Gesetzgeber aufwerfen, so übertreten
wir das Gesetz: wir sind ihm ungehorsam und befolgen seine
Vorschriften nicht, sondern stellen uns über es. Doch nur einer
ist Gesetzgeber und Richter, Er, „der zu erretten und zu ver=
derben vermag;" wer sind wir, daß wir andere richten?
Der Schluß unseres Kapitels beschäftigt sich mit dem falschen
Vertrauen auf die eigenen Vorsätze unserer Herzen. Das menschliche Herz, fern von Gott, meint, seine Schritte selbst lenken zu
können, und, ohne an den Willen Gottes, noch an Gott Selbst
zu denken, faßt es seine Vorsätze. Das was es tun will, mag an
und für sich nicht schlecht sein, noch das Gewissen verletzen
oder beunruhigen; aber Gott wird ganz und gar vergessen. Der
Mensch handelt ohne Gott, als wenn die Erde ihm überlassen
wäre, als wenn Gott Sich zurückgezogen hätte und Sein Wille
76
kein Gewicht in die Waagschale legte. Ein solcher Mensch lebt,
was die Religion, was die Ausübung seiner Pflichten in den
praktischen Dingen, in dem täglichen Leben betrifft, im Athe^
ismus (Leugnung Gottes). Gott hat keinen Raum in seinen Ge=
danken. Das Geld, der Ehrgeiz der Welt usw. sind die Dinge,
die sein Herz beherrschen, wenn er auch nicht gerade in schlech=
ten Vergnügungen lebt. Er fühlt nicht, daß er Gott angehört,
daß er, wenn er ein Christ ist, durch das kostbare Blut Christi
erkauft worden ist; er macht seine Pläne nach seinem eigenen
Willen, nach seiner eigenen Weisheit und nach seinen Vorteilen
in der Welt. Für Gott gibt es da keinen Platz; und ohne Ihn in
der Welt jagt er den irdischen Dingen nach und befindet sich
tatsächlich nicht in der Gegenwart Gottes. Daß wir arbeiten,
um das Nötige zu erwerben, ist dem Willen Gottes gemäß, und
wir können dafür Seinen Segen erflehen, weil es nach Seinem
Willen ist. Davon ist aber hier nicht die Rede, sondern vielmehr
von einem Menschen, der sich anmaßt, über seine Zeit zu ver=
fügen und selbst seinen Verdienst zu suchen, ohne dabei auf
Gott zu blicken, oder Seine Leitung und die Offenbarung Seines
Willens abzuwarten. Er weiß nicht, was der morgende Tag brin=
gen wird; er weiß nicht, ob sein Leben den Abend des folgen=
den Tages erreicht. Es ist ein Dampf, der eine kleine Zeit sicht=
bar ist, dann aber verschwindet. So ist das Leben hier. Es ge=
ziemt sich, zu sagen: „Wenn der Herr will und wir leben, so
wollen wir auch dieses oder jenes tun".
„Alles solches Rühmen ist böse". Jakobus widersetzt sich
immer und allenthalben jedem Anspruch des menschlichen
Willens; er besteht darauf, daß der Wille gebrochen werde, und
der Mensch die ihm gebührende Stellung des Gehorsams und
der Unterwürfigkeit einnehme. Gott will Seinen wahren Platz
haben, Er will, daß der Mensch abhängig und gehorsam sei.
Jede Tätigkeit und alle Ansprüche des menschlichen Eigen=
willens sind böse.
Noch einen anderen wichtigen Grundsatz finden wir am Ende
dieses Kapitels. Wenn man weiß, Gutes zu tun und tut es nicht,
so ist das Herz böse, oder wenigstens ist der Zustand eines
solchen Menschen schlecht. Die Gnade und die Liebe fehlen.
Sein eigenes Interesse suchen, seinen Willen tun, seine eigenen
Wünsche befriedigen, das kennzeichnet den natürlichen Men77
sehen; das Gute tun, das Wohl der anderen suchen und ihnen
dienen, ist die Frucht der Liebe. Wenn das Gute gekannt
wird und die Gelegenheit sich darbietet es auszuüben, der
Mensch sie aber nicht benutzt, so ist dies ein Beweis, daß das
Herz in einem schlechten Zustande ist; die Liebe zu den anderen
und der Wunsch, Gutes zu tun, fehlen. Das Gute unterlassen
ist Sünde und beweist, daß es an der Gnade mangelt und der
Eigenwille tätig ist.
Kapitel 5
Das Teil der Getreuen ist nicht in dieser Welt. Christus hat
sie für Sich Selbst, für den Himmel erworben, damit sie Ihm
in der Herrlichkeit gleichförmig und Seine Miterben seien; denn
Seine Liebe will, daß sie alles genießen, was Er Selbst genießt.
Seine Liebe ist vollkommen. Hier aber müssen wir mit Ihm
leiden. Es ist ein großes uns verliehenes Vorrecht, für Ihn zu
leiden; dies ist jedoch nicht aller Teil. Gleichwohl werden alle,
die gottselig leben wollen in Christo Jesu, verfolgt werden
(2. Tim 3, 12), und es ist nicht möglich, den Leiden mit Ihm
zu entgehen. Wenn wir den Geist Christi haben, so fühlen wir,
wie Er gefühlt hat. Die Heiligkeit und die Liebe leiden beim
Anblick der Sünde um uns her, sie leiden wegen des Zustandes
der Kirche Gottes und der Seinigen, wegen der Anhäufung des
Elends, das uns umgibt, und der Blindheit der Seelen, die weder
Christum noch das Heil wollen. Jeder hat sein Kreuz zu tragen;
zudem erlaubt Gott, daß wir leiden, weil wir durch dieses Mittel
Geduld lernen und zugleich erkennen, daß unser Erbteil nicht
hier auf Erden ist. Die Erfahrung, die Verwirklichung der prak=
tischen Wahrheit, befestigt sich im Herzen, und die Hoffnung
im Herzen wird viel klarer und mächtiger. Allerdings setzt dies
voraus, daß die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist ins Herz
ausgegossen ist. Wo dies nicht der Fall ist, da erlaubt Gott die
Leiden und schickt sie sogar, um das Herz zu erneuern.
Jakobus wendet sich mit einer scharfen Zurechtweisung an
die Reichen, die Güter in dieser Welt besaßen und keine Rück=
sieht auf die Armen nahmen, während doch geschrieben steht:
„Glückselig, wer achthat auf den Armen" (Ps 41, 1)! Wer den
Armen verachtet, weil er arm ist, verachtet den Herrn Selbst:
„Ich aber bin elend und arm", sagt der Herr im vorhergehenden
78
Psalm (40, 17). Der Herr hatte, als Er auf Erden war, Seine
Segnung über die Armen ausgesprochen, und ihnen war das
Evangelium gepredigt worden; dies kennzeichnete den Messias.
Wir wissen alle, daß ein Armer ein ebenso schlechter Mensch
sein kann wie jeder andere, aber die Reichtümer sind eine be=
sondere Gefahr für uns, weil sie den Stolz nähren und geeignet
sind, das Herz von den Armen zu entfernen, zu denen der Herr
Sich in dieser Welt gesellte. „. . . daß er, da er reich war, um
euretwillen arm wurde, auf daß ihr durch seine Armut reich würdet" (2. Kor 8,9). Die Reichen aber, an die sich Jakobus hier wendet, waren im Bösen weiter vorgeschritten; sie unterdrückten die
Armen und zahlten ihnen den Lohn ihrer Arbeit nicht aus.
Jakobus versetzt uns in die Zeit der letzten Tage. Das Geschrei
der Armen ist vor die Ohren des Herrn Zebaoth gekommen.
Er fordert die Reichen auf, zu weinen und zu heulen wegen des
Elends, das über sie kommt. Sie hatten auf der Erde üppig
gelebt und geschwelgt. Und nicht nur das, sondern während sie
in ihrer Üppigkeit lebten, wollten sie in der Befriedigung ihrer
Lüste durch niemand gestört werden. Sie haben den Gerechten
verurteilt und getötet. Er hat ihnen nicht widerstanden. Sie
wollten sich den Genuß dieser Welt sichern in jener falschen
Ruhe, die weder an Gott, noch ans Gericht, noch an den Tod
denkt. Wachte das Gewissen auf, so wurden sie beunruhigt,
und deshalb verhärteten sie sich, so viel sie konnten, um zu
verhindern, daß es aufwachte. Bis jetzt hat Gott den Lauf dieser
Welt nicht geändert, hätte Er es getan, so wäre Er genötigt
gewesen, das Gericht zu vollziehen; stattdessen ist Er immer
noch zu Gunsten der Bösen und Sünder in Liebe tätig. Er schlägt
sie nicht, aber dessenungeachtet verzieht Er nicht die Verhei=
ßung, sondern Er ist langmütig gegen uns, da Er nicht will, daß
irgendwelche verlorengehen, sondern daß alle zur Buße kommen (2. Petr 3, 9). Die Christen sollen daher ihre Herzen er=
muntern, geduldig bleiben und dem äußeren Übel sich unterwerfen bis zur Ankunft des Herrn, wie auch Christus, der das
Gute tat, gelitten hat und geduldig geblieben ist. Der Christ
ist ermahnt, Seinen Fußtapfen zu folgen. Unser Teil ist nicht in
dieser Welt; wenn wir leiden, indem wir Gutes tun (1. Petr 2,
20), so ist dies wohlgefällig vor Gott, vor allem, wenn es für
Christum Selbst geschieht. Das Leben des Heilandes war nur
Leiden und Geduld; jetzt aber ist Er verherrlicht bei Gott, dem
79
Vater. Bald wird Er zum zweiten Mal in diese Welt kommen
in der Herrlichkeit des Vaters, in Seiner eigenen Herrlichkeit
und in der Herrlichkeit der Engel; und dann wird Er „verherr=
licht werden in Seinen Heiligen und bewundert in allen denen,
die geglaubt haben" (2. Thess 1,10). An jenem herrlichen Tage,
wenn die Ärmsten der Seinigen, die von den Feinden der Wahr=
heit unterdrückten Christen, dem Herrn Selbst in der Herrlich*
keit gleich sind, werden wir uns rühmen, gewürdigt gewesen
zu sein, für Ihn zu leiden und inmitten der ungerechten Leiden
des christlichen Lebens in Geduld und Stillschweigen ausgeharrt
zu haben. Glückselig die, welche Er wachend finden wird! „Er
wird sich umgürten und sie sich zu Tische legen lassen und hin=
zutreten und sie bedienen" (Lk 12, 37). Welche Freude! Welche
Gnade! Es wird des Heilands eigene Ehre sein, uns in den Ge=
nuß der himmlischen Glückseligkeit im Hause des Vaters einzu=
führen und uns alles aus Seiner eigenen Hand empfangen zu
lassen. Wohl ist es der Mühe wert, ein wenig und auf kurze
Zeit für Ihn zu leiden und hernach eine himmlische Glückselig=
keit zu besitzen, die uns die Hand und das Herz Jesu Selbst
zuteilen. Wir werden mit Ihm herrschen; es ist die Frucht der
Arbeit, die zu vollbringen Er uns gewürdigt hat. Wäre es nur
ein Becher Wasser, der im Namen Jesu gegeben ist, der Geber
wird seinen Lohn nicht verlieren. Aber noch viel köstlicher wird
es sein, im Frieden zu sitzen und die ewigen Güter im Vater=
hause zu genießen, die Christus uns in Fülle darreichen wird.
Kostbares Zeugnis Seiner Anerkennung und Seiner Liebe (vgl.
Lk 12, 35-44)!
Beachten wir hier, wie die Ankunft des Herrn damals eine
gegenwärtige Hoffnung bildete. Wer niedergebeugt war, sollte
Geduld haben bis zur Ankunft des Herrn. „Habt nun Geduld,
Brüder", sagt Jakobus, „bis zur Ankunft des Herrn". Vielleicht
mag jemand sagen: Sie sind also getäuscht worden. Gewiß
nicht; wohl kann es geschehen, daß wir vor der Ankunft des
Herrn entschlafen, und wir wissen, daß es bei jenen der Fall
war. Wenn aber der Herr kommen wird, so werden sie alle die
Früchte ihres Ausharrens ernten. Und auch bis zu jener Stunde
sind sie beim Herrn, zwar ausheimisch von dem Leibe, aber
einheimisch bei dem Herrn, und sie werden mit Ihm kommen
und dann die Frucht ihrer Leiden genießen, in denen sie aus
Liebe zu Seinem Namen geduldig ausharrten und Ihn hier zu
ao
verherrlichen suchten. Obige Ermahnung zeigt aber deutlich,
wie diese Hoffnung damals eine in ihnen gegenwärtige Hoffnung war und das ganze Wesen des christlichen Lebens
durchdrang. Es war nicht eine bloße Idee, ein Gegenstand der
Erkenntnis, den man auswendig gelernt hatte, oder ein Artikel
des Glaubensbekenntnisses. Sie erwarteten den Herrn persön=
lieh. Welch ein Trost für die Armen und Unterdrückten, aber
auch welch eine ernste Schranke für die Reichen, das Bewußt=
sein zu haben, daß der Herr bald kommt, daß alle Not aufhört
und wir für immer bei Ihm sein werden, der uns also geliebt
hat! Nichts macht uns so los von der Welt, als die Erwartung
des Herrn. Ich sage nicht die Lehre von Seiner Ankunft sondern die wahrhaftige Erwartung des Herrn. Sein Kommen
trennt uns für immer von der Welt. Das Herz wartet bis zu
Seiner Ankunft.
Bis Er kommt verkündigen wir im Abendmahl den Tod des
Herrn. Wir feiern ihn mit Danksagung, indem wir uns Dessen
erinnern, Der uns geliebt hat, und indem wir uns von Seiner
Liebe nähren, bis Er kommt, um uns zu Sich zu nehmen, damit
wir bei Ihm seien. In dem Abendmahl finden wir überhaupt
den Ausdruck von allem, was das Wesen des praktischen Chri=
stentums ausmacht, und durch den Heiligen Geist sind wir
fähig, dies in der Feier jenes Mahles zu verwirklichen.
„Habt auch ihr Geduld, befestiget eure Herzen". Wenn wir
unsere Stellung wirklich verstanden haben, so warten wir
immer; aber welches auch unsere Wünsche sein mögen, wir
können dem Herrn nicht befehlen, zu kommen, auch können
wir nicht wissen, wann Er kommen wird. Und Ihm sei Dank
dafür! Der Herr ist geduldig, und so lange es noch eine Seele
gibt, die durchs Evangelium herzugerufen werden soll, wird Er
nicht kommen. Sein ganzer Leib, Seine Braut, muß gebildet,
jedes Glied muß anwesend, bekehrt und mit dem Heiligen Geist
versiegelt sein. Ist dies geschehen, so wird Er kommen und uns
zu Sich nehmen. Christus Selbst sitzt auf dem Thron des Vaters,
nicht auf Seinem eigenen. Auch Er wartet auf jenen herrlichen
Augenblick, und gewiß mit größerer Liebe, als wir es tun. Deshalb wird von dem „Ausharren des Christus" gesprochen. Das
ist der wirkliche Sinn von Offb 1, 9, wie auch von Kapitel 3,10,
wo wir lesen: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt
81
hast", sowie von 2. Thess 3, 5: „zu dem Ausharren des Chri=
stus". Diese drei Stellen enthalten das gleiche Wort. Im Brief
an die Hebräer (Kapitel 10, 12) werden wir belehrt, daß Chri^
stus Sich „gesetzt hat zur Rechten Gottes, fortan wartend, bis
seine Feinde gelegt sind zum Schemel seiner Füße''. Wenn Chri=
stus wartet, so können wir sicher auch warten, sei es auch in
Kampf und Leiden. Er erwartet den Augenblick, wo Er sowohl
im Himmel als auf Erden regieren und völlige Segnung über
die Seinigen ausschütten wird, und wo Er auch das Böse aus
beiden örtern verbannen wird.
Es ist also nötig, Geduld zu haben, damit weder der eigene
Wille, noch die Ermattung im Kampf sich unserer Seelen be=
mächtige. Wir können versichert sein, daß die von Gott er=
wählte Zeit die beste und gerade diejenige ist, die Seine gött=
liehe Weisheit und Liebe für die Seinigen bestimmen kann.
Richten wir unseren Blick auf den Herrn und auf die himm=
lischen Dinge, damit wir Ihn mit Verlangen, mit aufrichtigem
Herzen und festem Vertrauen erwarten, indem wir Seine Ankunft der Entscheidung Gottes überlassen. Möge unser Herz
ein völliges Vertrauen in Seine Liebe haben! Laßt uns, in der
Gewißheit, daß der Herr mit mehr Liebe auf uns wartet, als
wir auf Ihn, ruhig sein im Vertrauen, und geduldig auf der
Reise durch die Wüste! Es ist köstlich für das Herz, Christum
zu erwarten und mit Ihm eine Fülle von Freuden. Und Gott
sei Dank! Sein Wort sagt: „Seine Ankunft ist nahe gekommen".
Jakobus hebt zwei praktische Folgen hervor, die aus dieser
Erwartung des Herrn entspringen. Er ermahnt die Gläubigen
zunächst, den Bösen nicht zu widerstehen. Der Gerechte hat
ihnen nicht widerstanden. Es bedarf des geduldigen Wartens,
wie der Ackersmann die köstliche Frucht der Erde und ihret=
wegen den Fr.üh= und Spätregen erwartet, Mittel, deren sich
Gott bedient, um die Früchte Seiner Ernte zur Vollkommenheit
zu bringen. Der Christ soll sein Herz befestigen, während er die
Widerwärtigkeiten des Lebens und die Verfolgungen der Welt
zu ertragen hat, der Welt, die sich stets feindlich gegen den
Herrn beweist, und dabei jener Erwartung eingedenk sein. Dann
ermahnt Jakobus die Gläubigen, nicht in einem Geiste de?
Seufzens und des Zankes untereinander zu wandeln. Wenn wir
den Herrn erwarten, so ist das Herz ruhig und zufrieden; man
82
erbittert sich nicht wider die Verfolger, sondern erträgt viel=
mehr die Trübsale der Wüste mit Geduld und hält aus, wie
Christus ausgehalten hat, indem Er litt, das Unrecht ertrug und
auf Gott vertraute. Man ist zufrieden und ruhig und in einem
glücklichen und liebevollen Geiste; denn einem glücklichen
Herzen fällt es nicht schwer, liebevoll zu sein. Die Ankunft des
Herrn wird alles in Ordnung bringen; unsere Glückseligkeit
besteht nicht in den Dingen, die hier sind. Dies sagt auch Paulus in Phil 4, 5: „Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Men=
sehen; der Herr ist nahe". Welch eine wirkliche und gegen=
wartsnahe Sache ist doch die Erwartung des Herrn! Welch eine
Macht übt sie auf das Herz aus! „Der Richter steht vor der
Tür".
Jetzt folgen einige Beispiele. Die Propheten sind Exempel
des Leidens und der Geduld. Man liebte sie und pries sie selig
in ihren Leiden. Doch waren sie nicht die einzigen; auch noch
andere befanden sich in Trübsalen und schätzten sich glücklich
darin. Sehen wir zum Beispiel jemanden für den Namen Jesu
ungerecht leiden, und er ist geduldig und gelinde, sein Herz ist
seinen Verfolgungen mehr zugeneigt, als gegen sie empört, so
sind wir Zeugen der Macht des Glaubens und des Vertrauens
auf die Liebe und Treue des Herrn. Ist ein solcher ruhig und
voll Freude, so sagen wir: „Wie macht doch die Gnade diesen
Menschen so glücklich!" und wir selbst sind glücklich im Lei=
den, oder sollten es wenigstens sein. Es ist aber etwas ganz
anderes, jemanden zu bewundern, der vom Geiste Christi un=
terstützt wird, als sich der Trübsale zu rühmen, wenn man sich
selbst darin befindet. Ein gebrochener Wille, Vertrauen auf
Gott, die Gemeinschaft mit Dem, Der für uns gelitten hat, das
muß in uns sein, um uns der Leiden rühmen zu können.
Ein anderes Beispiel wird uns hier in Hiob vorgestellt, dies
jedoch zu dem Zweck, um uns das Ende des Herrn zu zeigen,
der voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist. Dennoch ist
das Exempel überaus lehrreich. Hiob war „vollkommen und
rechtschaffen und gottesfürchtig und das Böse meidend"
(Hiob 1, 1). Aber er fing an, Gefallen an sich selbst zu haben;
er tat Gutes und dachte an sein Gutestun; eine verborgene
Selbstgerechtigkeit befleckte seine Frömmigkeit. Doch Gott
zieht Seine Augen nicht ab von dem Gerechten (Hiob 36, 7).
83
Er sah die Gefahr Hiobs und richtete die Aufmerksamkeit
Satans auf ihn. Gott machte den Anfang. Satan, der Verkläger
der Heiligen, drängt darauf, daß Hiob angetastet werde. Gott
gestattet ihm, ihn zu versuchen und ihm nach seinem Willen
zu tun, setzt aber seiner Bosheit Grenzen. Satan geht jetzt so
weit, wie es ihm erlaubt ist, aber Hiob bleibt unterwürfig und
sündigt nicht mit seinen Lippen (Kap. 2, 10). Satan verharrt
in seinen Anklagen und dringt auf eine Verstärkung der Ver=
suchungen: „Aber strecke einmal deine Hand aus und taste
sein Gebein und sein Fleisch an, ob er sich nicht offen von dir
lossagen wird" (Kap. 2, 5). Gott gibt ihn jetzt in Satans Hand,
nur soll er seines Lebens schonen. Doch Hiob blieb treu und
sündigte nicht. Er hatte das Gute aus der Hand Gottes ange^
nommen, wie sollte er das Böse nicht auch annehmen? Sein
Weib versuchte ihn vergeblich.
Durch die Gnade trug die Geduld Hiobs den Sieg über Satan
davon; Satan vermochte ihn nicht zu erschüttern. Durch Gottes
Gnade war die Kraft des Feindes überwunden. „Von dem Aus=
harren Hiobs habt ihr gehört". Das Werk Gottes zu seiner Seg^
nung war aber noch nicht vollbracht. Gott hatte durch Seine
Gnade sein Herz wider den Feind gestärkt, und Hiob hatte
seine Treue an den Tag gelegt. Durch Satan, als Werkzeug in
den Wegen Gottes, war mittels der Not, die er über Hiob
brachte, vieles geschehen. Jedoch das Herz Hiobs war noch nicht
erreicht; er kannte sich selbst nicht. Freilich war er praktischem
weise durch die Gnade Gottes von den Anklagen Satans ge=
rechtfertigt; aber hätte es damit sein Bewenden gehabt, so wäre
sein Zusand schlechter, oder wenigstens die Gefahr für ihn
größer gewesen, als je zuvor. Er hätte sagen können: Ich war
sanftmütig und gütig im Glück, und jetzt bin ich geduldig im
Unglück. Gott mußte notwendigerweise Sein Werk vollbringen
und Hiob mußte sein eigenes Herz kennenlernen.
Die Freunde Hiobs besuchten ihn und setzten sich schwei=
gend zu ihm, entsetzt über den Zustand, in dem sie ihn fanden.
Ach, wie oft erwacht der Stolz vor den Augen des Menschen,
wenn er verletzt worden ist! Das Herz füllt sich mit Zorn; an=
gesichts der Teilnahme wankt die Festigkeit. Alles, was im
Grunde des Herzens Hiobs verborgen gewesen war, zeigte sich
jetzt in der Gegenwart seiner Freunde. Er verfluchte den Tag
seiner Geburt. Jetzt ist Hiob nackt, und zwar nicht nur vor Gott,
84
denn das sind wir immer, sondern, was so überaus schmerzlich
ist, auch vor seinen eigenen Augen. Wo ist jetzt seine liebreiche
Wohltätigkeit? Er streitet mit Gott; er behauptet, gerechter zu
sein als Gott. Dessenungeachtet ist es schön zu sehen, daß im
Grunde seines Herzens gerechte und wahre Gefühle in bezug
auf Gott vorhanden sind. Gott wäre nicht wie ihr, wenn ich
Ihm begegnen könnte, sagt er zu seinen Freunden; Er würde
Worte in meinen Mund legen. Seine Freunde behaupten, diese
Welt sei eine vollkommene Entfaltung der Regierung Gottes,
und infolgedessen müsse Hiobs Bekenntnis seiner Frömmigkeit
nur Heuchelei sein. Diesem ungerechten Urteil widersetzt sich
Hiob und besteht darauf, daß das Böse, wenn auch die Hand
Gottes Sich dann und wann offenbare, dennoch in dieser Well
seinen Lauf habe, ohne daß Gott Sich damit beschäftige; denn
die Gesetzlosen gedeihen. Doch Hiob macht der Bitterkeit seines
Herzens Luft. Elihu straft ihn darüber, daß er sich für gerechter
halte als Gott; denn es bestehe wirklich eine Regierung Gottes
über die Seinigen, Er ziehe Seine Augen nicht ab von den Ge=
rechten und züchtige sie, weil Er sie liebe. Dann offenbart Sich
Gott und zeigt dem Hiob, wie töricht es ist, mit Ihm zu rechten.
Hiob erkennt seine Schlechtigkeit und sein Nichts, und anstatt
wie früher zu sagen: „Wenn das Auge mich sah, so legte es
Zeugnis von mir ab" (Kap. 29, 11), sagt er jetzt: „Nun hat mein
Auge dich gesehen, darum verabscheue ich mich und bereue in
Staub und Asche" (Kap. 42, 5. 6). Er sieht, was er vor Gott ist.
Jetzt konnte Gott ihn segnen, und Er hat es mehr getan als im
Anfang. Das ist das Ende des Herrn. Hiob hat in der größten
Not und in den Prüfungen ausgeharrt; Gott hat sein Herz er=
forscht und ihn dann reichlich gesegnet (V. 11).
Jakobus verfolgt jetzt den Gegenstand, welcher der eigent=
liehe Zweck seiner Belehrungen ist. Er will nicht, daß der Wille
wirke, noch, daß das Fleisch sich offenbare; er besteht darauf,.
daß die Bewegungen der Natur im Zaum gehalten werden und
das Herz sich jenen Regungen der Ungeduld nicht überlasse, zu
welchen das fleischliche Herz so sehr geneigt ist. Wenn
man schwört, so läßt man diese Ungeduld des Herzens wir=
ken. Man vergißt die Herrlichkeit und Majestät Gottes, wenn
man Ihn durch das zügellose Fleisch einführt, um einer Behaup=
tung Gültigkeit zu verschaffen, oder ein ohne Ehrerbietung aus--
gesprochenes Gelübde zu unterstützen. Oder man setzt an
85
Gottes Statt irgendeine Kreatur, die man mit der Autorität und
Macht bekleidet, die Gott allein angehören. Einem solchen Ver=
halten liegt der nicht unterworfene Wille und die zügellose
Leidenschaft des Herzens zugrunde. In dem Gefühl seines (Jn=
Vermögens, die Wirkung seiner Gedanken und Worte sichern
zu können, führt der Mensch Gott ohne Ehrfurcht ein, so wie
ein Heide bei vorkommender Gelegenheit eine vergötterte
Kreatur einführte. Es handelt sich hier nicht um die Lust, son^
dem um das Ungestüm des zügellosen Fleisches (vergl. Kol 3,8).
Es ist der Mangel an Ehrerbietung, die Anmaßung und die
Unabhängigkeit des menschlichen Geistes auf seinem Höhe=
punkt. Darum sagt Jakobus: „Vor allem aber schwöret nicht. /'
Wir sollen in Ruhe und Gelassenheit mit Ja oder Nein das be=
stätigen, was wir zu sagen haben; ruhig in der Furcht Gottes.
Es ist von hoher Bedeutung, daß wir die Regungen der Natur
in Schranken halten. Wir würden es tun, wenn wir Gott stets
vor Augen hätten. Gewiß werden wir es einem Menschen ge=
genüber tun, dem wir gefallen möchten. Gott aber ist stets
gegenwärtig, und wenn wir es an dieser Ruhe und Mäßigung
fehlen lassen, so beweisen wir, daß wir Seine Gegenwart ver=
gessen haben.
Weiter ist Jakobus bemüht, die Seele von den Gewohnheiten
der Welt zu befreien (V. 13). Die Menschen suchen sich zu
täuschen, indem sie sich die traurigen Gedanken, die Mühen
und Sorgen, denen sie nicht entfliehen können, aus dem Sinn
schlagen, in welchen Gott, Ihm sei Dank dafür! in Seiner Liebe
und Sorge für uns dem Herzen eine Hilfe und einen Zufluchts=
ort darbieten. Er will nicht, daß wir für die Mühen dieses
Lebens gefühllos sind. Er schickt sie zu unserem besten. Es
fällt ja kein Sperling zur Erde ohne unseren Vater, nicht nur
ohne den Willen Gottes, sondern ohne den Gott, der uns wie
ein zärtlicher Vater liebt, der uns wohl züchtigen kann, der aber
immer an uns denkt. Er züchtigt uns nur, um uns zu heiligen
und unsere Herzen Ihm näher zu bringen. Wenn man sich Gott
in den Trübsalen nähert, so ist der Wille unterworfen, und das
Herz wird getröstet und ermuntert. Gott Selbst offenbart Sich
der Seele und wirkt durch Seine Gnade, und im Bewußtsein
Seiner Gegenwart sagt man: „Es ist gut für mich, daß ich ge=
demütigt ward" (Ps 119, 71). Daß wir nahe bei Gott sind, ist
aber nicht alles, sondern wir öffnen Ihm auch unsere Herzen;
86
weil Er voller Gnade ist, will Er, daß wir dies tun. Er will, daß
wir Ihm vertrauen, daß wir nicht nur Seinem Willen unter=
worfen sind, sondern Ihm auch alle unsere Sorgen mitteilen:
„Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet
und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kund=
werden, und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt,
wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu"
(Phil 4, 6. 7). Hier handelt es sich um die Sorgen, aber auch in
den Trübsalen finden wir in gleicher Weise Trost und Ruhe.
„Der uns tröstet in all unserer Drangsal", sagt der Apostel, er
ruft den Vater der Erbarmungen und den Gott alles Trostes an.
Im Brief an die Philipper wird das Herz mit Frieden erfüllt durch
die Tröstungen, die ins Herz ausgegossen werden. Dies kann
mittels der Umstände geschehen, wie Paulus in 2. Kor 7, 6 sagt:
„Der aber die Niedrigen tröstet, Gott, tröstete uns durch die Ankunft des Titus". Er war ganz niedergeschlagen, weil er Titus
nicht angetroffen hatte, den er zu den Korinthern, die sehr
schlecht wandelten, gesandt hatte. Paulus hatte die fürs Evan=
gelium in Troas geöffnete Tür verlassen, und sein Herz war so
weit gekommen, daß er es bereute, seinen ersten inspirierten
Brief geschrieben zu haben. Sein Glaube sank unter den Höhe=
punkt der Macht Gottes herab, die ihn angetrieben hatte, den
Brief zu schreiben. In Mazedonien angekommen und noch auf
dem Wege, um Titus zu begegnen, gibt er jedoch Zeugnis von
Christo, wiewohl sein Fleisch keine Ruhe hatte; denn er sagt:
„Allenthalben waren wir bedrängt; von außen Kampf, von
innen Befürchtungen". Gott läßt den Apostel seine Schwach=
heit fühlen; doch es lohnt sich der Mühe, betrübt zu sein, wenn
Gott Selbst unser Tröster wird. Titus kam und brachte gute
Botschaft von der Wirkung des ersten Briefes, so daß der
Apostel mit Freude erfüllt wurde. Es geschieht oft, daß Gott
Selbst die Trübsal abkürzt, das Herz mit Freude erfüllt und
Seinen Trost ins Herz ausgießt. Bei aller Trübsal ist das Gebet
unsere Zuflucht; wir erkennen unsere Abhängigkeit an und
vertrauen auf die Güte Gottes. Das Herz naht sich Ihm. Es gibt
Ihm sein Bedürfnis und seinen Kummer kund und legt sie am
Thron der Gnade und an Seinem Herzen nieder; und Gott ant=
wortet entweder durch erfreuliche Umstände oder dadurch, daß
Er uns Seine Tröstungen zuteil werden läßt. Dies letztgenannte
ist eine viel köstlichere Antwort als das äußere Glück. Gott
87
macht es immer so, wie es für uns am besten ist; Er handelt
nach Seiner vollkommenen Liebe.
Wenn die gottesfürchtige Seele sich unter dem Einfluß der
Gnade befindet, überläßt sie sich Gott auch im Glück; wenn sie
aber bei der Ursache der Freude stehenbleibt, ist sie in Gefahr.
Gleichwie Gott aber ein Zufluchtsort in der Trauer ist, so ist
Er auch das Teil der Seele im Glück. Wenn ich etwas habe, das
mich erfreut, teile ich es meinem treuen Freund mit, damit er
sich mit mir freue, und so wird es zu einer doppelten Freude.
In der uns vorliegenden Stelle (V. 13) finden wir jedoch noch
mehr, weil das Herz fühlt, daß Gott die Quelle der Segnung
und die Ursache der Freude ist. Und wäre auch kein besonderer
Anlaß zur Freude da, so ist doch das Herz fröhlich, und die
gottesfürchtige Seele, die in Gemeinschaft mit Gott lebt, will
ihre Freude mit Ihm genießen. Wenn aber die Seele sich aus=
schließlich der Freude überläßt, so wird sie eitel und leichtfertig;
das Herz entfernt sich von Gott, und die Torheit nähert sich
ihm. In der Not fühlen wir die Abhängigkeit von Gott, wäh=
rend wir im Glück in Gefahr sind, sie zu vergessen, und nicht
selten endigt die Freude mit einem Fall. Kommt es auch nicht
immer so weit, so ist doch das Fleisch in Tätigkeit, und Gott
wird vergessen. Jakobus dringt darauf, dies ist überaus wichtig
für den Christen, daß die Freude nicht ohne Frömmigkeit sei.
Denkt man in der Freude an Gott, dann drückt sie sich durch
Psalmen und Danksagung gegen Ihn aus; Gott ist in der Freude
und im Glauben gegenwärtig; die Gemeinschaft und die geist=
liehe Kraft werden durch das Gefühl Seiner Güte vermehrt. Auf
diese Weise ist man eifrig in seinem Tagewerk, man ist er=
muntert und gestärkt für die Arbeit der Wüste und hat ein
tieferes Bewußtsein davon, daß Gott für uns ist.
Die Trübsal und die Freude führen Jakobus zu einer anderen Sache, die unter den Christen vorkommt, zu der Krankheit,
die häufig, wenn auch nicht immer, eine Züchtigung vom Herrn
ist. Krankheit und Tod sind durch die Sünde in die Welt ge=
kommen, und man findet sie zu jeder Zeit in der menschlichen
Geschichte. Und obwohl diese Übel jetzt einen Teil des natür=
liehen Zustandes des Menschen bilden, gebraucht Gott sie doch,
um Seine Söhne zurechtzuweisen. In beiden Fällen, handle es
sich nun um Übel, die der Menschheit angehören, oder um
88
solche, die eine Züchtigung Gottes sind, bedient Gott sich
jetzt ihrer, wenn das Herz, statt alles gleichgültig zu betrachten,
was ihm. begegnet, sich Gott naht, der an die Leiden der Seini=
gen denkt und achthat auf die Unterwürfigkeit und auf das
Schreien derer, die Er züchtigt.
„Das Gebet des Glaubens wird den Kranken heilen, und der
Herr wird ihn aufrichten, und wenn er Sünden getan hat, wird
ihm vergeben werden" (V. 15). Der Kranke hat die Hand
Gottes in seiner Krankheit erkannt, und Gott antwortet dem
Glauben dessen, der zu Ihm betet. Es gibt in den Wegen Gottes
zweierlei Arten von Vergebung; zunächst in bezug auf die
Rechtfertigung für die Ewigkeit (siehe Röm 4 und Hebr 10).
Es ist die Segnung derer, die an die Wirksamkeit des Blutes
Christi glauben — ihre Sünden werden ihnen nicht mehr zuge=
rechnet. „Welche er berufen hat, diese hat er auch gerechte
fertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht'' (Röm 8, 30). Gott hat Sich auf dem Kreuz mit ihren
Sünden beschäftigt; Er hat sie für immer ausgetilgt und will
ihrer nie mehr gedenken. Außerdem hat Gott Seine Regierung;
es ist die Regierung eines Vaters, aber eines heiligen Vaters, der
Seine Kinder zu sehr liebt, um ihnen gestatten zu können, im
Bösen zu wandeln. Wenn Elihu im Buch Hiob sagt, daß Gott
Seine Augen nicht abziehe von dem Gerechten, und hiermit die
Segnung andeutet, die selbstverständlich aus der Gunst Gottes
hervorströmt und die Wirkung Seiner Gnade ist, so spricht er
gleich darauf von der Züchtigung, eine deutliche Erklärung
darüber, was sich mit Hiob zutrug. Auch hier setzt der Geist
Gottes die Möglichkeit voraus, daß ich mich in einem solchen
Falle befinden kann, denn Er spricht von den Vergehungen,
doch ist dies nicht immer so. In Hiob 33 lesen wir, daß Gott
redet und die Unterweisungen, die Er den Menschen gibt, be=
siegelt, „um den Menschen von seinem Tun abzuwenden und
auf daß er Übermut vor dem Manne verberge" (V. 16. 17). Er
kommt dem Bösen zuvor, wie bei Paulus (2. Kor 12). Er de=
mütigt den Menschen, um ihn für die Segnung zuzubereiten.
Jedenfalls läßt Er denen, die Ihn lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken (Röm 8, 28).
Wenn der Wille nicht gebrochen ist, so weint und murrt man
und erhebt sich wider Gott; wenn sich aber die Seele Ihm über=
89
läßt und Seine Hand erkennt, sei es in dem Übel, welches das
natürliche Erbteil des sündigen Menschen ist, (doch nie ohne
die Hand und den Willen Gottes) sei es in einer unverkenn=
baren Züchtigung, sei es endlich in etwas, dessen Ursache und
Zweck uns unbekannt ist, so wendet man sich zu Gott; man
sieht in seinem Zustand die Wirkung Seines Willens, und als
solche, die Ihm unterwürfig und von Seiner Macht und Seinem
Willen abhängig sind, sucht man das Hilfsmittel in Seiner
Gnade. Der Glaube der wahren Christen allein kann die Ant=
wort und die Segnung von oben herbeiführen.
Hier redet Jakobus nicht mehr von der Synagoge, sondern
von der Versammlung. Für die Segnung ist der wahre Glaube
erforderlich; nun hat aber Gott die Segnung in die Versamm=
lung der wahren Gläubigen gesetzt, dort ist man, durch den
Glauben, unter Seiner Regierung und Zucht. Wenn die Sünde
sich offen zeigt, so daß man von jemand, der sich Bruder nennt,
sagen kann: „er ist ein Böser", dann ist es die Pflicht der Ver=
Sammlung, ihn auszuschließen. Dann sind die Sünden auf den
Ausgeschlossenen gebunden; wenn er sich demütigt und von
Grund des Herzens seine Sünde bekennt, soll die Versammlung
ihn wieder aufnehmen (2. Kor 2). Alsdann hat der Sünder Ver=
gebung im Wege der Regierung (2. Kor 2, 7. 8); die Banden
sind gelöst. Und dies hat seine Gültigkeit, wenn zwei oder
drei im Namen Christi, in der Einheit und Macht des Heiligen
Geistes versammelt sind (Mt 18), denn nur durch den Geist
kann diese Zucht in Wahrheit ausgeübt werden. Auch ist es
nötig, daß die Versammlung als solche es tue, nicht nur, weil
die Verheißung ihr angehört, sondern auch damit sie selbst sich
reinige. An sie ist die Ermahnung in 2. Kor 2, 7. 8 gerichtet.
Die Bestätigung dieser feierlichen Handlung geschieht durch
die Gegenwart Jesu nach Seiner Verheißung.
Hier in Jakobus handelt es sich nicht um Sünden, welche das
Urteil der Versammlung bezüglich eines einzelnen hervorrufen,
sondern um die Wege Gottes Selbst in den gewöhnlichen Um=
ständen des Lebens, und zwar ganz besonders um die Züchti=
gung von seiten Gottes. Indem der einzelne die Hand Gottes
anerkennt und das, was ihm begegnet, nicht als einen bloßen
Zufall betrachtet, sucht er die Dazwischenkunft Gottes nach
90
Seiner Gnade. Die Versammlung nun ist der Ort, wohin Gott
Seinen Namen und Seine Segnung gesetzt hat; sie ist die von
Ihm bestimmte Verwalterin Seiner Gnade. Christus ist dort;
und als die Versammlung noch in Ordnung war, ließ der
Kranke die Ältesten, die über sie wachten, rufen, um die Gnade
und Segnung Gottes zu genießen. Dennoch war es der persön=
liehe Glaube, der durch das Gebet die besondere Segnung des
Himmels vermehrte, „das Gebet des Glaubens", wie geschrie=
ben steht. Die Ältesten waren nur ein Zeichen dieser besonde=
ren Dazwischenkunft Gottes, wie man es in Mk 6, 13 sieht.
Dort geschah ein Wunder durch die, welche Christus zu diesem
besonderen Zweck ausgesandt und zu dem Zweck mit Kraft
ausgerüstet hatte; hier wird die Segnung Gottes inmitten der
Versammlung durch ihre Häupter mitgeteilt unter der Bedin=
gung, daß Glauben da war. Jetzt besteht die Ordnung nicht
mehr, aber Christus vergißt Seine Versammlung nicht. Die
Verheißung für zwei oder drei, die in Seinem Namen und auf
Grund der Einheit der Seinigen versammelt sind, bleibt stets
gesichert; und wenn die, welche jetzt wachen, Glauben haben,
so wird auch die Antwort Gottes nicht ausbleiben. Man darf
nicht erwarten, daß die Segnung ihren natürlichen Lauf habe,
wenn die Kanäle verdorben und im Verfall sind. Die Sache
bleibt jedoch stets dieselbe, und die Macht Gottes ist unver=
änderlich. Wie köstlich ist es, dies zu wissen! Als der Herr die
Jünger wegen ihres Unglaubens getadelt hatte, fügte Er un=
mittelbar hinzu: „Bringet ihn zu mir"; und der Knabe wurde
geheilt (Mk 9, 19). Jakobus erwähnt daher den Elias, der ein
Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir war; aber
als Antwort auf sein Gebet regnete es drei Jahre und sechs
Monate lang nicht. Die äußere Ordnung der Versammlung ist,
wie schon gesagt, verlorengegangen, aber die Macht, die Liebe
und die Treue des Herrn bleiben unveränderlich dieselben. Er
kann uns fühlen lassen, daß es um der Sünde der Versammlung
willen nicht mehr ist, wie es im Anfang war. Aber dennoch
bleibt es wahr, daß da, wo Gott den Glauben gibt, die Antwort
von Seiner Seite nie fehlen wird. Es ist keine Frömmigkeit,
wenn man nicht fühlt, wieviel die Versammlung durch ihre
Untreue seit den Tagen der Apostel verloren hat; aber es ist
ebensowenig Frömmigkeit, an der Macht Christi zu zweifeln,
wenn Gott den Glauben verleiht, um sich ihrer zu bedienen.
91
Jakobus sagt: „Die Sünden werden ihm vergeben werden".
Wenn der kranke Bruder in sich geht, indem er die Hand Gottes
erkennt, so werden ihm die Sünden, wenn sie die Züchtigung
Gottes herbeigeführt und die Heilung des Kranken verhindert
haben, insofern es sich um die Zucht Gottes in Seiner Regierung
handelt, vergeben werden. Diese Zucht zeigte sich durch die
Züchtigung, d. h. durch die Krankheit; wenn diese beseitigt ist,
ist auch die Zucht zu Ende, und die Sünden sind vergeben.
Wir begegnen hier aber einer noch allgemeineren Unterwei=
sung, die jedoch von dem Zustand der Versammlung abhängt.
Wir haben gesehen, daß zur Zeit, als alles noch in Ordnung
war, der Kranke die Ältesten rufen sollte; dies kann auch heute
noch geschehen, wenn man diejenigen ruft, die zufolge ihres
Dienstes Älteste sind. Nur muß der von Gott gewirkte und also
durch Ihn tätige Glaube in ihnen vorhanden sein. Welches aber
auch der Zustand des Verfalls sein mag, in dem die Versamm=
lung Gottes sich befindet, jedenfalls können die einen den
anderen ihre Vergehungen bekennen, die einen für die anderen
beten, auf daß sie geheilt werden. Dies bedarf keiner eingerich=
teten Ordnung, setzt aber die Demut, das Vertrauen und die
Liebe unter den Brüdern voraus. Wir können unsere Verge=
hungen nicht bekennen, wenn das Vertrauen in die Liebe eines
Bruders nicht vorhanden ist. Wir können einen weisen und verschwiegenen Bruder wählen, anstatt alles einem Unvorsichtigen
anzuvertrauen; aber was die Gesinnung des Schuldigen betrifft,
so ändert diese Wahl durchaus nichts. Wenn man das Böse nicht
verbirgt, sondern sein Herz öffnet, so befreit man sein krankes
Gewissen und vielleicht auch seinen Körper. Die Wahrheit
bricht sich im Herzen Bahn, und der Schuldige sucht nicht einen
guten Ruf, der nur trüglich sein kann, sondern ein wahres, ein
vor Gott wahres Gewissen. Gott hat Freude daran, das Gewis=
sen zu befreien und selbst den Körper von der Krankheit, wenn
es nötig ist; das Herz wird glücklich im Bewußtsein Seiner
Gunst. Ein reines und wahrhaftiges Gewissen ist eine Quelle
der Freude vor Gott.
Es ist wichtig, immer daran zu denken, daß es eine Regierung
Gottes bezüglich Seiner Kinder gibt. Es handelt sich hierbei
nicht um die Frage, ob sie gerechtfertigt sind und Vergebung
haben. Diese Regierung setzt vielmehr voraus, daß wir, was das
91
Heil betrifft, in den Augen Gottes gerecht sind (Hi 36). Als
solche hält uns der Herr unter Seinem Auge, und wenn wir gut
wandeln, so segnet Er uns, läßt uns Seine Gunst empfinden,
und wir genießen Ihn Selbst. Wandeln wir hingegen nicht gut,
so ermahnt Er uns, und wenn wir auf Seine Stimme nicht
achten, so züchtigt Er uns, um unsere Seele aufzuwecken, die
einschläft und Gott zu vergessen beginnt. Seine Güte, Seine
bewunderungswürdige Geduld, Seine Liebe zu uns ermüden nie.
Zum Schluß fügt Jakobus eine Ermahnung hinzu, um unsere
Seelen anzuspornen, die Segnung der anderen zu suchen. Der,
welcher eine Seele, sei es ein Sünder, der in seinen Sünden vor=
angeht, oder ein Christ, der schlecht wandelt, von dem Irrtum
ihres Weges zurückführt, ist nicht nur das Werkzeug zur Ret=
tung dieser Seele, sondern er bedeckt auch eine Menge von
Sünden. Daß die Seele, wenn es sich um einen Unbekehrten
handelt, vom Tode errettet wird, ist leicht verständlich. Handelt
es sich um einen Christen, der schlecht wandelt, so wird er auf
dem Wege des Verderbens zurückgehalten. Der zweite Punkt:
„. . . daß der, . . . eine Menge von Sünden bedecken wird" be=
darf jedoch noch einiger Erläuterung und ist nicht unwichtig.
Die Sünde ist in den Augen Gottes abscheulich; Er sieht alles.
Wenn man an den Zustand der Welt denkt, so versteht man,
wie anbetungswürdig Seine Geduld ist. Bei der Bekehrung eines
Sünders werden alle seine Sünden vor Gottes Augen hinweg=
genommen; Gott sieht sie ebensowenig, als wären sie in die
Tiefe des Meeres geworfen, wie geschrieben steht (Mi 7, 19).
Sie sind für immer getilgt, und in diesem Sinne hat man die
Stelle zu verstehen: „Die Liebe bedeckt eine Menge von Sün=
den" (1. Ptr 4, 8). Sie sind nicht mehr vor den Augen Gottes
als ein Ihn beleidigender Gegenstand. Wenn wir die Vergehun=
gen eines Bruders nicht vergeben, so bleibt die Feindschaft wie
eine unheilbare Wunde in dem Körper der Gläubigen vor Gott.
Wird ihm vergeben, so tritt die Liebe vor Gott in den Vordergrund, und sie ist es, die Seinem Herzen wohlgefällt. Also,
wenn der Sünder bekehrt, zurückgeführt wird, so findet die
Liebe Gottes ihre Freude daran, und der beleidigende Gegen=
stand ist aus Seinen Augen verschwunden.
Wir finden also in dem Brief des Jakobus wenig Lehre, son=
dem vielmehr den Gurt der Gerechtigkeit, die Kundgebung des
93
Glaubens durch die Werke und durch den christlichen Charak=
ter. Ferner ist die Unterwürfigkeit unter die Hand Gottes und
das Ausharren unter Seiner Regierung auf eine für die Christen
überaus nützliche Weise dargestellt. J. N. D.
Die 70 Wochen in Daniel 9
Das Verständnis der in Daniel 9, 24—27 erwähnten 70 Wochen
hat schon manchem Leser des prophetischen Wortes Schwie=
rigkeiten gemacht. Ich möchte daher in kurzem die Bedeutung
der 70 Wochen zu erklären versuchen.
Diese 70 Wochen sind Jahrwochen, wobei jeder Tag zu
einem Jahr gerechnet wird; sie stellen also einen Zeitraum von
490 Jahren dar. „Wisse denn und verstehe: Vom Ausgang des
Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf
den Messias, den Fürsten, sind sieben Wochen (49 Jahre) und
zweiundsechzig Wochen. (434 Jahre). Straßen und Gräben
werden wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in
Drangsal der Zeiten" (V. 25). Wann wurde dieses Gebot, Je=
rusalem wiederherzustellen, gegeben? Wir finden es in Neh 2.
Zwischen dem Erlaß jenes Gebotes von Seiten des Königs
Arthasastha (Artaxerxes Longimanus) und dem öffentlichen
Einzug des Messias in Jerusalem, als des Fürsten und Königs
von Juda, (vergl. Mt 21, 5 mit Sach 9, 9), liegt ein Zeitraum von
im ganzen 483 Jahren. Nun ist es sehr wichtig, zu bemerken,
daß das, was jetzt folgt, keinen Teil von diesen Wochen bildet,
sondern erst nach Beendigung der 6g. und vor Beginn der je.
Woche eintritt. Der Tod des Messias, die Zerstörung Jerusa=
lems und „Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen" (V. 26)
sind die Ereignisse, welche zwischen der 69. und 70. Woche
geschehen sollen. Es ist daher gleichsam eine Zeitperiode ein=
geschoben, die jetzt schon länger als 1800 Jahre gedauert hat.
Wird dies nicht verstanden, so ist die ganze Prophezeiung in
Dunkel gehüllt, und der Leser sieht sich von unauflöslichen
Rätseln umgeben, während im anderen Falle alles klar und ein=
fach ist. Während dieser Zwischenzeit wird das Zeugnis von
94
dem auferstandenen Sohn Gottes in der ganzen Welt verkün=
digt. Gott sammelt durch die Wirksamkeit Seines Wortes und
des Heiligen Geistes ein Volk für Seinen hochgelobten Sohn.
Die Braut wird berufen und durch die Wüste hindurch zu Chri=
sto geführt, wie Rebekka zu Isaak geführt wurde (1. Mose 24).
Wenn dieses Werk der Gnade vollbracht und die göttliche Fa=
milie in den vielen Wohnungen der Vaterhauses (Joh 14, 1. 3),
versammelt ist, dann wird der Lauf der siebzig Wochen wieder
aufgenommen. Die sieben Jahre, die noch an der Vollendung
der ganzen Periode (490 Jahre) fehlen, sind daher noch zu=
künftig. Die Rückkehr der Juden in ihr Land, das Wiederauf=
bauen des Tempels und das Schließen eines Bundes zwischen
der Masse des Volkes und dem Haupt des vierten (römischen)
Weltreiches, das wieder errichtet werden wird, sind Umstände,
die zur Erfüllung dieses letzten Zeitabschnittes von 7 Jahren
notwendig sind (V. 27). Diese siebzig Wochen bilden daher
nicht, wie oft angenommen wird, einen Teil der gegenwärtigen
Periode der langmütigen Gnade Gottes der Welt gegenüber.
Verschiedenheit und Einheit
Es ist wichtig und lehrreich zugleich, die verschiedenen Seiten
der Wahrheit, wie sie uns im Neuen Testament vorgestellt wer=
den, zu betrachten, die alle ihren Mittelpunkt finden in dem
Einen, Der die Wahrheit ist. Dies gilt sowohl bezüglich der
Evangelien, als auch der Briefe. Jeder der vier Evangelisten gibt
uns, unter der unmittelbaren Leitung des Heiligen Geistes, eine
verschiedene Vorstellung von der Person Christi. Matthäus stellt
Ihn vor in Seinen jüdischen Beziehungen, als den Messias, den
Sohn Davids, den Sohn Abrahams, als den Erben der den
Vätern gegebenen Verheißungen. In Markus steht Er vor uns
als der treue Arbeiter, der eifrige Diener, als der wirksame
Prophet und der unermüdliche Prediger und Lehrer. Lukas stellt
uns „den Menschen Christus Jesus" vor Augen in Seinen
menschlichen Verhältnissen, den Sohn des Menschen, den
Sohn Adams. Johannes spricht von dem Sohn Gottes, dem
Sohn des Vaters, dem himmlischen Menschen.
95
Jeder hat daher seine eigene Ihn bezeichnende Vorstellung.
Nicht zwei sind gleich, und doch stimmen alle miteinander
tiberein. Wir finden eine lehrreiche Verschiedenheit und doch
Einheit. Matthäus steht nicht im Widerspruch mit Markus, noch
Markus mit Lukas, oder Lukas mit Johannes. Da gibt es nir=
gends einen Zusammenstoß, weil jeder sich in seinem eigenen
Kreise bewegt und alle sich um den einen großen Mittelpunkt
scharen. Wir würden auch keinen von ihnen entbehren können.
Wenn einer fehlte, würde eine große Lücke sein. Wir können
unmöglich einen Strahl von der moralischen Herrlichkeit des
Sohnes Gottes entbehren, und wir können durchaus nicht zu=
geben, daß eines der Werkzeuge, durch die der Heilige Geist
uns Ihn vor die Augen gemalt hat, beiseitegesetzt wird. Wir
brauchen sie alle. Jedes nimmt seinen eigenen Platz ein und
erfüllt unter der Leitung des Heiligen Geistes seinen beson=
deren Dienst.
So ist es auch in den Briefen. Die Vorstellung des Paulus von
der Wahrheit unterscheidet sich von der des Petrus, diejenige
des Petrus von der des Johannes, die Vorstellung des Johannes
von der des Jakobus. Keine zwei sind gleich, und doch stimmen
alle miteinander überein. Niemals widerspricht der eine dem
anderen, weil sich jeder, wie bei den Evangelisten, in seinem
eigenen Kreise bewegt und alle sich um den allgemeinen Mittel=
punkt vereinigen. Der Kreis ist verschieden, aber der Mittel^
punkt ist einer, Paulus lehrt uns die große Wahrheit von dem
Verhältnis des Menschen zu Gott auf Grund der vollbrachten
Erlösung und zugleich die Ratschlüsse Gottes in bezug auf Israel
und die Versammlung. Petrus stellt uns die christliche Fremd=
lingschaft und die Regierung Gottes über die Welt vor Augen.
Jakobus dringt auf praktische Gerechtigkeit. Johannes spricht
über das ewige Leben, das zuerst bei dem Vater war und dann
im Sohn geoffenbart und uns mitgeteilt wurde und endlich in
der glorreichen Zukunft entfaltet werden wird.
Es würde nun eine große Torheit sein, wenn wir Vergleiche
zwischen diesen verschiedenen Seiten der Wahrheit ziehen
wollten, oder zwischen den geliebten und geehrten Werkzeu=
gen, die der Heilige Geist gebraucht hat, um uns die Wahrheit
zu offenbaren. Wie töricht wäre es, Matthäus dem Markus,
oder Markus dem Lukas, Lukas dem Johannes, oder Johannes
96
allen den übrigen gegenüberstellen zu wollen! Wie unsinnig
würde es sein, zu sagen: „Ich halte mich an Paulus. Jakobus
steht tief unter unserem Standpunkt. Petrus und Johannes habe
ich nicht nötig. Paulus, das ist mein Mann. Seine Bedienung
des Wortes ziehe ich jeder anderen vor".
Dies wäre Torheit und Sünde. Die verschiedenen Seiten der
Wahrheit laufen alle auf einen herrlichen und gesegneten Mit=
telpunkt aus. Die verschiedenen Werkzeuge werden alle durch
ein und denselben Geist gebraucht, und zwar zu einem großen
Zweck, zur Darstellung der moralischen Vollkommenheit Chri=
sti. Wir haben sie alle nötig. Wir können ebensowenig Mat=
thäus oder Markus, wie Lukas oder Johannes entbehren; und
wir würden sehr verkehrt handeln, wenn wir Jakobus oder
Petrus geringschätzen wollten, weil sie nicht so erhabene Wahrheiten vorstellen wie Paulus und Johannes. Jeder ist nötig in
seinem Wirkungskreise. Jeder von ihnen hat seinen besonderen
Platz einzunehmen, sein besonderes Werk zu verrichten und
den ihm anvertrauten Teil der Wahrheit mitzuteilen. Es würde
zu großem Schaden für unsere Seelen gereichen und zugleich die
Unantastbarkeit der göttlichen Offenbarung in Gefahr stellen,
wenn wir uns nur an dem einen oder anderen Teil der Wahr=
heit hielten oder uns ausschließlich zu einem der Werkzeuge des
Heiligen Geistes bekannten.
Die Korinther verfielen in diesen großen Irrtum und zogen
sich dadurch die scharfe Zurechtweisung des Apostels Paulus
zu. Die einen sagten: „Ich bin des Paulus", die anderen: „Ich
des Apollos"; die einen: „Ich bin des Kephas", wieder andere:
„Ich bin des Christus". Alle nahmen einen verkehrten Stand=
punkt ein, und die, welche sagten, daß sie des Christus seien,
hatten ebenso Unrecht wie die übrigen. Sie waren ebenso töricht
wie ihre Brüder, denn sie machten Christum zum Haupt eines
Systems. Sie waren fleischlich und handelten nach Menschen=
weise.
Auch jetzt noch gibt es in der Versammlung Gottes verschie=
dene Arten von Arbeitern und verschiedene Seiten der Wahr=
heit, und es ist unser glückliches Vorrecht, um nicht zu sagen
unsere heilige Berufung, sie alle anzuerkennen und uns in
allen zu erfreuen. Wenn man jemand, der wirklich ein Diener
Christi ist, gering schätzt, so ist das nichts anderes, als die
97
Wahrheit verachten, die er bringt, und unsere Segnungen preis=
geben. „Alles ist euer. Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas,
es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zu=
künftiges: alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist
Gottes" (1. Kor 3, 21-23).
Das ist die wahre und göttliche Weise, diese Sache zu be=
trachten, und zugleich ist es der Weg, um Sekten, Parteiungen
und Vereinigungen in der Versammlung Gottes zu vermeiden.
Es gibt nur einen Leib, ein Haupt, einen Geist, eine göttliche
und vollkommene Offenbarung, die Heiligen Schriften; aber es
gibt viele Glieder, viele Gaben, viele Seiten der Wahrheit, viele
verschiedene Bedienungen. Wir haben sie alle nötig, und darum hat Gott sie alle gegeben. Er hat sie aber nicht geschenkt,
um die eine der anderen gegenüberzustellen, sondern damit wir
sie alle demütig und dankbar gebrauchen und durch sie, Seinen
gnädigen Ratschlüssen gemäß, gesegnet werden. Was aber
würde die Folge sein, wenn wir nur eine besondere Seite der
Wahrheit oder eine einzelne Bedienung annehmen wollten? Wir
würden einfach einen unvollkommenen christlichen Charakter
erhalten. Wir neigen alle zur Einsaitigkeit; und nichts nährt
diese böse Neigung mehr, als ein starres Festhalten an einer
besonderen Wahrheit, indem man andere, die ebenso wichtig
sind, ausschließt. Wir sind durch „die Wahrheit" geheiligt, und
nicht durch den einen oder anderen Teil von ihr. Wir sollen uns
in jedem Teil der Wahrheit erfreuen, und wir sollen jedes Ge=
faß oder Werkzeug, das unser Gott gebrauchen will, um Seine
Wahrheit unseren Seelen mitzuteilen, von Herzen willkommen
heißen. Wenn man das eine höher hält als das andere, heißt das
nichts anderes, als mehr mit dem Gefäß beschäftigt zu sein, als
mit seinem Inhalt, mehr auf den Menschen zu blicken, als auf
Gott. Und das ist ein großer Irrtum. „Wer ist denn Apollos und
wer Paulus? Diener, durch welche ihr geglaubt habt, und zwar,
wie der Herr einem jeden gegeben hat" (i. Kor 3, 5).
Das ist der große Grundsatz. Gott hat verschiedene Werk=
zeuge für Sein Werk. Wir haben sie alle nötig und sollen sie
alle schätzen als Seine Werkzeuge, als nichts anderes. Es ist seit
jeher die Absicht Satans gewesen, das Volk Gottes dazu zu
bringen, Häupter, Parteiführer und Vorstände von Vereinigun=
gen usw. aufzustellen, und auf diese Weise die Gemeinde
98
Gottes in Sekten aufzulösen und ihre sichtbare Einheit zu zer=
stören. Geben wir wohl acht auf seine Listen und bewahren wir
die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens (Eph 4, 3).
Und wie werden wir dieses herrliche Ziel erreichen? Einfach
dadurch, daß wir uns in der Nähe des einzigen und wahren
Mittelpunktes halten, daß wir in Christo und in der täglichen
Gemeinschaft mit Ihm bleiben, daß wir in Seinen Geist ein=
dringen, in Seinen Fußtapfen wandeln und in wahrer Gebrochenheit des Geistes und wahrer Demut des Herzens zu
Seinen Füßen sitzen, daß wir uns Seinem Dienste völlig weihen
und das Wohl und den Segen jedes geliebten Gliedes Seines
Leibes suchen. Auf diese Weise werden wir vor Streit und Tren=
nung, vor Zänkereien über eitle Fragen und unnütze Theorien,
vor Parteiung, Vorurteil und Vorliebe bewahrt bleiben. Wir
werden imstande sein, alle die verschiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken und zu schätzen, die alle in einen göttlichen
Mittelpunkt auslaufen. Wir werden uns in der großen Tatsache
erfreuen, daß in all den Wegen und Werken Gottes, in der
Natur und in der Gnade, in den Dingen auf der Erde und in
dem Himmel, in der Zeit und in der Ewigkeit, keine tötende
Einförmigkeit, sondern eine liebliche und herrliche Mannig=
faltigkeit besteht, daß der allgemeine und ewige Grundsatz
Gottes „Verschiedenheit und Einheit" ist. Je mehr wir mit Einsicht und Einfalt des Herzens die verschiedenen Teile des Wortes
Gottes erforschen, je mehr wir den göttlichen Zweck der ein=
zelnen Bücher entdecken, um so mehr werden wir erkennen, wie
genau und vollkommen sich ihr Inhalt in den ihnen von Gott
gestellten Grenzen bewegt, wie notwendig jedes einzelne Buch
dazu gehört, um das Wort Gottes zu vollenden, um Gott selbst
und alle Seine Wege und Ratschlüsse in ihrer ganzen Vollkommenheit zu offenbaren. Wir werden uns gedrungen fühlen,
auszurufen: Das ist wahrlich nicht das Wort eines Menschen,
sondern Gottes Wort! Nur Gott Selbst hat solche Verschiedenheit, die nirgends die ihr gestellte Grenze überschreitet, und
zugleich eine solche Einheit, in der keine Lücke ist, in diesem
heiligen Buch ans Licht stellen können. Er gebe uns einen er=
leuchteten Geist und begierige Herzen, die stets mit allem Fleiß
darin forschen, und mache uns dadurch immer mehr fähig,
Seinen heiligen Namen zu verherrlichen!
99
„Das Wort ward Fleisch"
Johannes 1, 14
„Das Wort ward Fleisch". Diese wenigen Worte schließen
eine Fülle von Gedanken in sich und geben uns Stoff zu den
köstlichsten Betrachtungen. Wer war dieses Wort? Wir lesen
in den ersten Versen unseres Kapitels: „Im Anfang war das
Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wart war Gott.
Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ward durch dasselbe, und
ohne dasselbe ward auch nicht eines, das geworden ist". Das
Wort war der Sohn Gottes, Gott Selbst. „Ich und der Vater
sind eins", sagt der Herr Jesus im zehnten Kapitel des Evan=
geliums Johannes. Er war das Wort, und Er war es im Anfang
aller Dinge. Das erste Buch Mose wird mit /den Worten ein=
geleitet: „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde".
Wann dieser Anfang war, wissen wir nicht; vielleicht vor zwan=
zigtausend, vielleicht vor hunderttausend Jahren, vielleicht sind
auch schon ebenso viele Jahrzehnte seitdem vergangen. Welch
ein unermeßlicher Zeitraum zwischen „dem Anfang", der Er=
Schaffung des Himmels und der Erde, und dem Zeitpunkte
liegt, wo Gott die Erde und alles, was auf ihr ist, so bildete,
wie wir es jetzt sehen, das weiß Gott allein. Wer kann sagen,
wie lange die Erde bestanden hat, bevor sie „wüste und leer"
wurde? Sie ist gewiß nicht „wüste und leer" aus der Schöpfen
hand Gottes hervorgegangen. Wer kann sagen, wie viele Jahr=
tausende sie in diesem öden Zustande gewesen ist? Kein
Mensch. Doch wann dieser „Anfang" auch gewesen sein mag,
das Wort war schon. Es heißt nicht: „Im Anfang ward das
Wort", sondern es „war", und: „Alles ward durch dasselbe,
und ohne dasselbe ward auch nicht eines, das geworden ist".
Ja, der Sohn Gottes war von Ewigkeit her, und Er war „bei
Gott", im Schöße Seines Vaters. „Jehova besaß mich im Anfang
seines Weges, vor seinen Werken, von jeher. Ich war eingesetzt
von Ewigkeit her, von Anbeginn, vor den Uranfängen der
Erde" (Spr 8, 22. 23). Und durch Ihn sind alle Dinge geschaffen
worden. Er war es, der durch Seine Allmacht die Welt ins Da=
sein rief. Er war es, der durch ein Wort Seines Mundes die
100
Finsternis verscheuchte, welche die Oberfläche der Erde bedeckte. Er sprach: „Es werde Licht", und es ward Licht. Er schuf
den Menschen nach dem Bilde Gottes und blies ihm einen
lebendigen Odem in seine Nase. Er war es, Der ihn in den
Garten Eden setzte und ihn, nachdem er gesündigt hatte, wieder
aus dem Garten vertrieb. Er war es, Der die große Flut über
diese schuldbeladene Erde und ihre sündigen Bewohner her=
einbrechen ließ und Noah mit sieben seiner Familienglieder
am Leben erhielt. Er berief Abraham aus Mesopotamien, führte
ihn in das Land Kanaan und verhieß es ihm und seinem Samen
nach ihm. Er führte das Volk Israel mit erhobener Hand aus
Ägypten und ernährte es vierzig Jahre lang in der Wüste. Er
war es, Der unter Blitz und Donner und im Gewölk auf den
Berg Sinai herniederfuhr und dem Volk von dort aus Sein
heiliges Gesetz gab. Er zog vor ihnen her in das Land Kanaan
und gab dessen zahlreiche Bewohner in ihre Hand. Er war mit
ihnen in allen ihren Bedrängnissen, und Er half ihnen aus,
wenn sie auf Ihn vertrauten. Er gab ihnen Propheten, Richter
und Könige. Er ist der Gott, Den Paulus den Athenern verkün=
digte, der Gott, Der „aus einem Blute jede Nation der Menschen gemacht, um auf dem ganzen Erdboden zu wohnen, in=
dem Er verordnete Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnung
bestimmt hat" (Apg 17, 26).
Dieser erhabene, ewige Gott nun, Der den Menschen mit
einem Wort Seines Mundes geschaffen hatte und Der ihn mit
einem Hauche Seines Mundes wieder verzehren kann, dieser
Gott wurde Mensch. „Er ward Fleisch". Welch ein wunderbarer
Gedanke! Er verließ den Himmel, die Räume ewiger Wonne
und Glückseligkeit, den Wohnplatz einer vollkommenen Heilig=
keit und Gerechtigkeit. Er entkleidete sich Seiner ganzen gött=
liehen Majestät und stieg auf diese fluchbeladene, sündige Erde
hernieder. „Er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er in Gleichheit der Menschen geworden und
in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden wurde" (vergl. Phil 2,
5—8). Er wurde wahrhaftiger Mensch, geboren von Maria,
einem Weibe. Er besaß nichts in dieser Welt, Er hatte nicht ein=
mal, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Er litt Hunger und
Durst und wurde in allem versucht wie wir, ausgenommen die
Sünde. Der Prophet Jesaias sagt von Ihm: „Er hatte keine Ge^
stalt und keine Pracht, und als wir ihn sahen, da hatte er kein
101
Ansehen, daß wir seiner begehrt hätten. Er war verachtet und
verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit
Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht
verbirgt" (Kap. 53, 2. 3).
Ja, Er war in der Tat ein Mann der Schmerzen und mit Leiden
vertraut. Er durchpilgerte diese Wüste als der einzige Mensch,
Der ohne Sünde war, und Er sah überall um Sich her, wie
schrecklich die Sünde den Menschen verderbt und in welches
Elend sie ihn gestürzt hatte. Wir können nicht ermessen, wie
sehr Er, Der allein Fleckenlose und Reine, in der Gegenwart der
Sünde und bei dem Anblick ihrer entsetzlichen Folgen litt. Er
wurde innerlich bewegt, als Er den Aussätzigen, das Bild des
größten Elends, zu Seinen Füßen liegen sah; Er wurde innere
lieh bewegt, als Er in den Toren Nains jenem Trauerzug begeg--
nete, der die entseelte Hülle eines Jünglings, des einzigen
Sohns einer Witwe, zu Grabe geleitete. Er wurde innerlich be=
wegt bei dem Anblick der großen Volksmenge in der Wüste,
die umherirrte wie Schafe, die keinen Hirten haben. Er weinte
über Jerusalem, die geliebte, aber jetzt verblendete und ver=
derbte Stadt, deren schreckliches Ende vor Seiner Seele stand.
Er seufzte tief im Geiste und vergoß Tränen, als Er Maria, die
über den Tod ihres Bruders betrübt war, weinen sah, und Er
erschütterte Sich angesichts des Todes, des entsetzlichen Soldes
der Sünde. In Seinem vollkommenen Mitgefühl erfüllte Er das
Wort des Propheten Jesaias: „Fürwahr, er hat unsere Leiden
getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen" (vergl.
Mt8,16 . 17).
Dies ist aber nicht alles. Der Herr Jesus, der Sohn Gottes,
erniedrigte Sich noch mehr. Er stieg in die tiefsten Tiefen unseres Elends hinab und trug alle die schrecklichen Folgen unserer
Sünden. Da Er vollkommen, ohne Sünde war, hätte Er nicht
nötig gehabt, zu sterben. Aber Er „wurde gehorsam bis zum
Tode, ja zum Tode am Kreuz". Nicht nur wurde Er Mensch,
nicht nur „wohnte Er unter uns", nein, Er ließ Sich auch von
den Geschöpfen Seiner Hand ans Kreuz schlagen. Er ließ Sich
verspotten und verhöhnen, ohne ein anderes Wort der Erwide;=
rung zu haben, als: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht,
was sie tun". Er ging hin zur Schlachtbank, stumm wie ein
Lamm vor seinem Scherer; Er tat Seinen Mund nicht auf. Er
102
bot Seinen Rücken den Schlagenden und Seine Wangen den
Raufenden, Sein Angesicht verbarg Er nicht vor Schmach und
Speichel (Jes 50, 6). Er stieg aufs Kreuz, Er hing am Fluchhol:',
und — Er starb. Es ist ein überwältigender Anblick, Ihn, den
Sohn Gottes, den Herrn der Herrlichkeit, an dem schimpflichen
Kreuz, mitten zwischen zwei Missetätern, die durch ihreSchand=
taten ihr Leben verwirkt hatten, hängen und sterben zu sehen.
Es war ein Schauspiel, welches das Staunen und die Anbetung
aller himmlischen Heerscharen wachrufen mußte, ein Schau=
spiel, wie es die Erde nie vorher gesehen hatte und nie wieder
sehen wird.
Und fragen wir jetzt nach der Ursache und dem Beweggrund
zu dieser vollkommenen Erniedrigung des Sohnes Gottes, so
gibt es nur eine Antwort: es war Seine unvergleichliche Liebe,
Sein unergründliches Erbarmen. Fragen wir nach dem Zweck:
es war die Verherrlichung Gottes und die Errettung des verlorenen Sünders. Der Mensch hatte gesündigt und dadurch
jedes Band zwischen sich und Gott zerrissen. Eine unausfüll=
bare, unübersteigliche Kluft trennte ihn von einem heiligen und
gerechten Gott. Ein schreckliches Gericht, dem er unmöglich ent=
rinnen konnte, wartete seiner. Nichts war imstande, ihn zu
retten, er war unrettbar verloren. Alle Wege, die Gott nach
dem Sündenfall Adams mit dem Menschen ging, dienten nur
dazu, sein völliges Verderben und seine gänzliche Unfähigkeit,
sich aus seiner schrecklichen Lage zu befreien, klar ans Licht
zu stellen. Die Sünde hatte sein ganzes Wesen durchdrungen;
sein Dichten und Trachten war böse von Jugend auf.
Das Zeugnis Gottes über den Zustand des natürlichen Men=
sehen ist in allen Teilen Seines Wortes gleich. Sowohl im Alten
als auch im Neuen Testament wird uns zu wiederholten Malen
und in den bestimmtesten Ausdrücken gesagt, daß er durch und
durch verderbt ist. Hören wir Gottes eigene Worte: „Alles Gebilde der Gedanken seines Herzens ist nur böse den ganzen
Tag". „Alles Fleisch hat seinen Weg verderbt auf Erden" (1. Mo
6, 5. 12). In den drei ersten Kapiteln des Römerbriefes entrollt
der Apostel Paulus ein düsteres Gemälde von der Verderbtheit
des Menschen. Er beweist, daß „alle unter der Sünde sind".
„Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der
verständig sei; da ist keiner, der Gott suche. Alle sind abge=
103
wichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner,
der Gutes tue, da ist auch nicht einer". „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes" (Röm 3, 10—12, 22. 23). Es gibt noch viele
Stellen, die in ebenso feierlicher Weise von dem hoffnungslosen
Verderben des Menschen reden, doch würde es uns zu weit
führen, wenn wir sie alle aufsuchen wollten.
Um solche feindseligen, gottlosen und verderbten Sünder zu
erretten, verließ der Sohn Gottes den Himmel; „Er ward
Fleisch", um sie für alle Ewigkeit in Seiner Nähe zu haben und
Seine Herrlichkeit mit ihnen zu teilen. Für sie ließ Er Sich zur
Sünde machen und trug den schrecklichen Zorn Gottes wider
die Sünde. Dies war der einzige Weg, um den Sünder in Seine
Gegenwart zu bringen. Aber Er ist ihn gegangen, und jetzt
ladet Er alle ein, an diesem gesegneten Heil teilzunehmen.
Möchte doch niemand diese Liebe, diese Errettung zurückwei^
sen, und möchte jeder Errettete diesen Herrn allezeit mit dank^
erfülltem Herzen preisen und anbeten!
„Christus hat die Versammlung geliebt"
Epheser 5, 22—33
Die Gnade hat uns mit Gott und mit Christo vereinigt. Sie
hat uns zu Teilhabern der göttlichen Natur gemacht und uns
den Geist Gottes gegeben, daß Er in uns wohne, so daß wir ver=
wirklichen, was Er ist, und dadurch, daß wir mit Ihm vereinigt
sind, eins mit Christo werden.
Wir finden in Vers 1 von Kapitel 5 des Briefes an die Ephe=
ser, daß wir berufen sind, „Nachahmer Gottes zu sein, als ge=
liebte Kinder, und in Liebe zu wandeln". Die Natur Gottes ist
Liebe, und wir sehen dies in einem Menschen verkörpert, wenn
wir Christum als das Muster der Liebe nehmen. „Wandelt in
Liebe, gleichwie auch der Christus uns geliebt hat".
Außerdem begegnen wir noch einem anderen Wort, das
gleichfalls die Natur Gottes ausdrückt: Er ist „Licht". Wir lesen
im Vers 8: „Denn einst wäret ihr Finsternis, jetzt aber Licht in
104
dem Herrn; wandelt als Kinder des Lichts". Und auch hier ist
Christus der vollkommene Ausdruck von dem, was uns vorgestellt wird: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus
den Toten, und der Christus wird dir leuchten" (V. 14). Als
Mensch in der Welt war Er der Ausdruck und das Muster des
Lichts.
Dann aber fügt der Apostel hinzu: „Seid mit dem Geiste
erfüllt"; denn obgleich wir zu Teilhabern dieser göttlichen
Natur, die Licht ist, gemacht und berufen sind, zu lieben nach
dem Muster Gottes in Christo, so sind wir doch nach allem nur
schwache, menschliche Geschöpfe, kraftlos in uns selbst; und
der Geist ist die alleinige Kraft, die wir für alles besitzen.
Es ist der wohlgefällige Wille Gottes, daß wir Gemeinschaft
mit Ihm haben. Er hat uns vor Sich hingestellt in Liebe, hat
uns zu Seinen Söhnen und Töchtern, zu Gegenständen Seiner
Wonne gemacht; und Er soll der Gegenstand unserer Wonne
sein. So viel über die erste Beziehung, die wir hier finden. Wir
sind vor Ihm, dem Vater, als Söhne, und hierin ist Christus der
Erstgeborene unter vielen Brüdern.
Die zweite Sache ist die Vereinigung mit dem jetzt verherr=
lichten Christus. „Wir sind Glieder seines Leibes, von seinem
Fleische und von seinen Gebeinen" (V. 30). Wir sind in lebendiger Weise mit Ihm verbunden, wie die Glieder mit ihrem
Haupt. Ich kann Ihm nicht näher kommen, als wenn ich ein
Glied Seines Leibes und in derselben Herrlichkeit mit Ihm bin.
Diese Beziehung stellt uns die unauflösliche Vereinigung Christi
und der Versammlung dar. „Ihr Männer, liebet eure Weiber,
gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich
selbst für sie hingegeben hat . . . das Weib aber, daß sie den
Mann fürchte" (V. 25. 33). Obgleich dies im Blick auf Mann
und Weib ganz wahr ist, so ist es doch eigentlich ein Bild von
Christo und der Versammlung.
Aber obschon wir mit Ihm vereinigt sind, nimmt Er doch stets
einen hervorragenden Platz ein, und gerade der notwendige
Vorrang Christi in dieser und in jeder anderen Beziehung ist es,
was ihr ihren wahren Wert verleiht. Als Moses und Elias auf
dem Berge waren, befanden sie sich in derselben Herrlichkeit
wie der Herr und sprachen mit Ihm über das, was Seinem
Herzen und dem Seines Vaters am nächsten stand; sie untere
105
redeten sich mit Ihm in ganz vertraulicher Weise. Sobald aber
Petrus davon spricht, drei Hütten zu machen, für jeden eine,
und er sie somit auf gleichen Boden stellt, ertönt die Stimme
des Vaters, der Seinem Sohne Anerkennung gibt! Moses und
Elias aber verschwinden sofort. (Ich führe dies nur an, um zu
zeigen, was ich meine). Und so muß es immer sein. Die ewige
Segnung und das ewige Vorrecht Seiner Person können nie auf=
hören, und je näher wir zu Ihm kommen, um so mehr werden
wir uns dessen bewußt sein. Wenn ich mit einem Menschen in
wirklich vertrautem Verkehr stehe, so werde ich sicher seine
Schwächen kennenlernen. Je mehr ich aber Christum kenne, je
mehr werde ich Seine tiefe und göttliche Vortrefflichkeit ken=
nenlernen. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß nahe Bekannt^
schaft mit Ihm die Ehrfurcht vor Seiner Person schwäche oder
vermindere. Je mehr ich Seine Liebe fühle, je mehr werde ich
auch fühlen, daß Er vollkommen in ihr ist. Mit Seiner Liebe
vertraut sein, bringt nur ihre Vortrefflichkeit ans Licht und
erweckt mehr Anbetung und Liebe in mir.
Gott ist vollkommen, unumschänkt in Liebe. Es wird in
unserem Kapitel nicht gesagt, daß wir Liebe sein sollen:
wir können nicht frei und unumschränkt in ihr sein. Es
wird gesagt, daß wir Licht sind, weil der neue Mensch an der
Reinheit Seiner Natur teilnimmt. In der Liebe Christi finden wir
die Wirksamkeit dieser vollkommenen Güte, und zwar in
einem Menschen, so daß wir, indem wir Ihm folgen, in ihr zu
wandeln vermögen; doch können wir nicht sagen, daß wir
Liebe sind, wie wir sagen, daß wir Licht sind. In unserem Ka=
pitel, wo es sich um die Versammlung handelt, haben wir eine
Liebe von besonderer Beziehung. Es ist nicht einfach die Güte
und unumschränkte Liebe Gottes, Der Ursprung und die Quelle
von allem liegt in der ungesuchten Liebe Christi, in der Er in
den Gedanken Seiner eigenen Gnade handelte, als nichts vor=
handen war, um sie hervorzurufen. Er hatte die Gegenstände
Seiner Liebe zu erwerben und sie für Sich zu bilden. „Er gab
sich selbst für sie", und wenn Er sie empfängt, so reinigt Er sie
für Sich Selbst.
Doch wir finden hier noch eine andere bemerkenswerte Sache.
Er stellt sie „sich selbst" dar. Als Gott Eva geschaffen hatte,
stellte Er sie Adam dar. Hier aber gewahren wir die Herrlichkeit
der Person Christi. Da Er eine göttliche Person ist, so stellt Er
106
Sich Selbst die Versammlung dar, nachdem Er sie so gebildet
und vollendet hat, daß sie passend für Ihn ist. Er tut alles für
die Versammlung. Sehen wir jetzt, in welcher Weise Er es tut.
Das erste von allem ist Seine eigene freie und vollkommene
Liebe. „Er hat die Versammlung geliebt", vollkommen, gött=
lieh, unendlich; wir finden hier den höchsten Beweis Seiner
Liebe. „Er gab sich selbst für sie". Er tat nicht nur etwas für
sie: „Er gab sich selbst". Und dies wird fortwährend in dem
Worte wiederholt; es heißt sogar: „Er gab sich selbst für unsere
Sünden", indem unsere Sünden die Scheidewand zwischen uns
und Gott bildeten. Wenn ich auf die Liebe Christi blicke, so sehe
ich, daß sie keinen Beweggrund außer in sich selbst hatte, und
sie gibt sich selbst. Nichts wird zurückgehalten. Sie ist ganz und
völlig mein. Er hat Sich Selbst gegeben — darin ist alles ein=
geschlossen. Die Selbstopferung Christi war vollkommen: Alles
in Seiner Natur nahm daran Teil: „Er gab sich selbst". Dies ist
ein wunderbarer Gedanke, wenn unsere Herzen ihn nur zu
erfassen vermöchten. Es ist nicht, daß Er Sein Blut und Sein
Leben gab, obwohl dies wahr ist und wir von beidem sprechen
können (denn die Schrift tut es); aber die Sache, um die es
sich hier handelt, ist der Charakter Seiner Liebe, und deshalb
heißt es: „Er gab sich selbst". Der Beweggrund war, Sich Selbst
hinzugeben.
Beachten wir hier, daß im Blick auf das Werk, die Versamm=
lung für Christo passend zu machen, die Liebe und die Selbst*
Opferung für sie voraufgeht. Es heißt nicht: Er reinigte und
wusch sie, so daß Er sie besitzen konnte, und dann liebte Er
sie, weil sie gewaschen und geeignet war, um von Ihm geliebt
zu werden. Nein. Er gibt Sich Selbst für sie und besitzt sie mit
einem vollkommenen Anrecht, da Er Sich für sie hingegeben
hat in der absoluten Vollkommenheit Seines ganzen Herzens,
nach welchem Er sie für Sich Selbst genommen hat. Er gibt Sich
für sie, weil Er sie liebt; und danach sagt Er: Sie muß gereinigt
und für mich passend gemacht werden. Es heißt nicht: Sie muß
glücklich sein — sie ist ohne Zweifel glücklich; das ist aber nicht
alles — sie muß für Ihn Selbst bereit gemacht werden. Ich
kann nicht befriedigt sein, wenn eine Person, die ich liebe, z. B.
meine Frau oder mein Kind, nicht so ist, wie ich sie gerne haben
möchte. Es ist nicht ein Gefühl von Unzufriedenheit, das meine
ich nicht, aber es fehlt die völlige Befriedigung. So hat Christus
107
Sich vorgesetzt, die Versammlung zu dem zu machen, was sie
nach dem Wunsche Seines Herzens sein sollte. Er reinigt sie
„durch die Waschung mit Wasser durch das Wort"; wie Er
früher gesagt hatte: „Heilige sie durch die Wahrheit; dein
Wort ist Wahrheit".
Da das Wort von Gott kommt, so richtet es alles, was im
Gegensatz zu Gott steht durch die Offenbarung dessen, was in
Gott ist, um mich dem ähnlich zu machen, was es offenbart.
„Ich heilige mich selbst für sie", sagt Christus. Ich bin nicht
das, was ich sein sollte, aber ich bin mit Christo verbunden,
welcher der Ausdruck dessen ist, was ich sein sollte, und der
mich bildet zu Seinem Gleichnis. „Wir alle aber, mit aufgedeckt
tem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden
verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herr=
lichkeit, als durch den Herrn, den Geist" (2. Kor 3,18). In dieser
Weise reinigt uns das Wort: es reinigt unsere Beweggründe,
unsere Gedanken und unsere Vorstellung und verwandelt uns
in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Doch Er ist
es, Der alles tut: Er erlöst uns, reinigt uns, heiligt uns und stellt
uns dar.
Es gibt hier noch einen Gedanken, der von höchstem Intern
esse ist, nämlich, daß wir die Reinigung nicht von der Herrlich=
keit trennen können. Die Reinigung entspricht der Herrlichkeit,
und wenn der Leib verwandelt ist, so ist der Zustand der Heilig=
keit der geoffenbarten Herrlichkeit gemäß. Vergl. 1. Thess 3,
13, wo wir gesagt haben würden: „tadellos in Heiligkeit zu
befestigen in eurem ganzen Wandel"; aber wir lesen: „. . . vor
unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesu".
Wir können wirklich nicht vorwärtsschreiten, ohne auf Chri=
stum in der Herrlichkeit zu blicken. Es heißt in Vers 27 unseres
Kapitels: „Auf daß er sich selbst die Versammlung verherrlicht
darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen
habe, sondern daß sie heilig und tadellos sei". Das ist die Rei=
nigung. Praktische Reinigung geschieht durch die Macht der Offenbarung der Herrlichkeit Christi. Doch lassen wir uns immer
daran erinnern, daß diese Reinigung nicht geschieht, damit wir
Ihm angehören, sondern daß es heißt: „Gleichwie auch der
Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hin=
gegeben hat, auf daß er sie heiligte".
108
Wir finden im Blick auf die Versammlung noch eine andere
Sache, und diese sollte unsere Herzen trösten in diesen finsteren
Tagen und in den noch finstereren, die wir kommen sehen. Der
Apostel sagt im Vers 29: „Niemand hat jemals sein eigenes
Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pflegt es, gleichwie auch
der Christus die Versammlung". Nicht nur bereitet Er sie für
Sich und macht sie Seinem eigenen Herzen entsprechend, son=
dem dieselbe Liebe, die sie bereitet, wacht auch über sie in den
Umständen der Schwachheit, in denen sie bei ihrem Wandel
durch diese Welt gefunden wird. Das Fleisch eines Menschen ist
der Mensch selbst; Christus sorgt für Sich Selbst, indem Er für
die Versammlung Sorge trägt. So sagte Er zu Paulus: „Warum
verfolgst du mich?" Du greifst mich an, indem du sie verfolgst.
Christus trennt die Heiligen hienieden nicht von Sich Selbst. Er
ist an ihnen interessiert, Er sorgt für sie, Er nährt und pflegt sie,
wie ein Mensch das Fleisch seines eigenen Leibes. Und hienieden kann Er nie fehlen. Die Finsternis mag groß und die Macht
des Bösen stark sein, ja immer stärker werden — (nicht daß Gott
nicht wirke; denn Er tut es, und wenn der Feind wie eine Flut
hereinbricht, so wird der Geist des Herrn eine Standarte gegen
ihn aufrichten, und Er ist damit beschäftigt und bereitet die
Ankunft des Herrn vor) — aber so wenig wie ein Mensch sich
selbst hassen kann, ebenso wenig kann Christus darin fehlen,
daß Er die Versammlung nährt und pflegt.
Der Herr hat lange Geduld mit dem täglichen sich steigernden
Bösen — (wir mögen beten, daß die Dinge sich rascher ent=
wickeln, daß Er das Ende schneller herbeiführen möge, indem
Er die Seinigen herzuruft; aber wenn dies geschieht, so wird es
das Böse und die über diese Welt hereinbrechenden Gerichte
ebenfalls rascher zum Vorschein bringen; (aber dennoch können
wir es wünschen) — doch kann der Heilige durch alles hindurch
auf die Sorgfalt und Liebe Christi rechnen. Ich kann in keine
Umstände versetzt werden, wo die Liebe Christi mich nicht zu
versorgen vermöchte.
Selbst die Wirksamkeit des Unglaubens hindert daran nichts.
Denn wenn solche, die Gläubige sind, von der gegen das Böse
eingeführten Macht nicht Gebrauch machen können, was ist
dann zu tun? Wir lesen, daß der Herr sagt, als man einen von
einem Teufel besessenen Knaben zu Seinen Jüngern gebracht
hatte und sie ihn nicht austreiben konnten: „Bis wann soll ich
109
bei euch sein? Bis wann soll ich euch ertragen?" Wenn ihr von
der Macht, die ich eingeführt habe, keinen Gebrauch machen
könnt, was kann es nützen, daß ich noch bei euch bleibe? Doch
Er fügt hinzu: „Bringt ihn mir her". Selbst wenn der Glaube
der Versammlung fehlen und man allein in der Prüfung sein
sollte, so wird doch der persönliche Glaube allezeit in dem
Herrn Jesu Christo Gnade finden, so viel er bedarf. Gerade wie
der Vater des Kindes unter Tränen ausrief: „Ich glaube Herr;
hilf meinem Unglauben!" Christus kann nicht fehlen; und wir
sollten unsererseits nie dem Elias gleichen und sagen: „die
Kinder Israel haben deinen Bund verlassen, deine Altäre nieder=
gerissen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und
ich bin allein übriggblieben, und sie trachten danach, mir das
Leben zu nehmen" — (beachten wir, daß er gerade zu jener Zeil
ihre Altäre niedergeworfen und ihre Propheten erschlagen
hatte) — und dann weglaufen. Wir sollten vielmehr sagen:
„Christus kann nie fehlen, und ebenso wenig kann es jemals
ein Bedürfnis in der Versammlung geben, für das in dem
Herzen Christi keine Antwort sein sollte".
Was wir brauchen, ist, unsere Augen auf Christum gerichtet
zu halten, von Dem alle Gnade und Liebe fließt, und dadurch
in Herz und Geist geheiligt zu sein, während wir auf Ihn war=
ten, der Sich Selbst für uns hingegeben hat, damit wir in dieser
Weise schon jetzt, während unseres Wandels durch diese
Wüste, Ihm gleich seien.
Gedanke
So lange wir in dieser feindseligen Welt sind, ist es vor allem
nötig, uns stets nahe bei dem Herrn zu halten und mit Ihm zu
wandeln, damit wir Seine Kraft besitzen und das Bewußtsein
in uns haben, daß Er mit uns ist. Alsdann werden wir in dem
rechten Wege, in Seinem Wege wandeln, und weil unser Auge
einfältig ist, so wird unser ganzer Leib voll Licht sein. Dann
werden die Schwierigkeiten auf dem Wege keine Zweifel in uns
wachrufen; wir werden die Gegenwart des Herrn in der Prüfung finden, und Seine Freude wird unser Herz erfüllen. Wir
werden mehr als Überwinder sein durch Den, Der uns geliebt
hat.
110
Der einzige Zufluchtsort
Als Gott im Begriff stand, Sein Gericht über diese Erde er=
gehen zu lassen, sorgte Er für einen Zufluchtsort für die, welche
auf Ihn vertrauten (1. Mo 6, 14—18). So hat Er auch jetzt, „weil
er einen Tag gesetzt hat, an dem er den Erdkreis richten wird
in Gerechtigkeit" (Apg 17, 31), eine vollkommene Erlösung und
völlige Errettung von dem kommenden Zorn für alle vorge^
sehen, die an den Namen Seines Sohnes Jesu Christi glauben
(Röm l , 16; 3, 24—26).
In den Tagen Noahs gab es nur einen sicheren Zufluchtsort,
die Arche (1. Mo 7, 23); so gibt es auch jetzt nur einen Weg,
um errettet zu werden, der ist Christus. In der Arche war Sicherheit für jeden, der sich in ihr befand; ebenso ist Heil und
Rettung in Jesu für alle, die ihre Zuflucht zu Ihm nehmen.
„Diesem geben alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der an
ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch seinen
Namen" (Apg 10, 43). Keiner von denen, die in der Arche ihren
Platz genommen hatten, konnte umkommen, weil Jehova selbst
hinter ihnen zugeschlossen hatte; so kann keiner, der sich durch
den Glauben in Jesu befindet, verlorengehen, sondern er „hat
ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus
dem Tode in das Leben übergegangen" (Joh 5, 24).
Noah glaubte, daß die Flut kommen würde, nicht weil er
irgendein Anzeichen davon sah, denn es gab keins, sondern
einfach weil Gott erklärt hatte, daß Er sie über die Erde bringen
wollte. „Durch Glauben bereitete Noah, als er einen göttlichen
Ausspruch über das, was noch nicht zu sehen war, empfangen
hatte, von Furcht bewegt, eine Arche zur Rettung seines Hauses" (Hebr 11, 7). Als das schreckliche Gericht hereinbrach,
waren alle, die Gott geglaubt hatten, sicher in der Arche; die
aber, die das Wort Gottes verachtet hatten, wurden mitten in
ihrer Gleichgültigkeit von der Flut überrascht und vernichtet.
Teurer Leser, zu welcher von diesen beiden Klassen gehörst
du? Hast du bereits durch den Glauben deinen Platz in dem
Herrn Jesu, der wahren Sicherheitsarche, gefunden, oder ergötzest du dich noch sorglos an den Vergnügungen der Sünde? Laß
111
dich bitten, die frohe Botschaft von der in dem kostbaren Blut
Christi geschaffenen Errettung nicht von dir zu weisen. Ver=
achte nicht diesen Tag der Gnade, damit nicht der Tag Seines
gerechten Zorns dich erreiche.
Der Oelbaum, der Feigenbaum
und der Weinstock
Es gibt drei fruchttragende Bäume, die von den Einwohnern
Palästinas sehr geschätzt und vielfach kultiviert wurden, und
die zu gleicher Zeit für uns, die wir das Neue Testament be=
sitzen und untersuchen, viel Unterweisung und Belehrung ent=
halten. Das sind der Ölbaum, der Feigenbaum und der Wein=
stock. Sie waren es, die Jotham, der jüngste Sohn Gideons, in
dem Gleichnis, das er den Männern von Sichern erzählte, auf=
zählte (Rieh 9, 7—20). Sie belehren uns in beachtenswerter
Weise über die Nationen, die Juden und die Christen. Vorrechte,
Bekenntnis und Fruchtbarkeit, das sind die drei Gegenstände,
zu deren näherer Beleuchtung jene drei Bäume häufig ange=
führt werden.
1. Der Ölbaum gibt uns eine besondere Unterweisung in
bezug auf die Nationen als solche. Wir begegnen ihm in dieser
Weise in Röm 11, wo an alle diejenigen, die nicht dem Volke
Israel angehören, ein Wort der Warnung gerichtet wird. Die
Verheißungen waren das Teil Israels, als Kinder Abrahams
(Röm 9, 4). In betreff der Bündnisse der Verheißungen waren
die Nationen Fremdlinge (Eph 2, 12). Es gab, wie auch schon
bemerkt, Verheißungen, die Bezug hatten auf die Nationen,
aber keine, die an sie gerichtet waren. „Dem Abraham waren
die Verheißungen zugesagt und seinem Samen" (Gal 3, 16).
Die Israeliten erwarteten auf Grund ihrer Abstammung „nach
dem Fleische" die Erfüllung und den Genuß der Verheißungen.
Johannes der Täufer hatte ihnen gesagt, wie sehr sie sich ge=
täuscht finden würden, wenn sie in dieser Sache auf die natür=
liehe Geburt vertrauten, ohne von Gott geboren zu sein. Gott
112
konnte aus den Steinen, die um sie her lagen, dem Abraham
Kinder erwecken. Seine warnende Stimme verhallte ungehört,
insoweit es die Nation betraf. Denn sie verwarfen den Einen,
auf welchen sich die dem Abraham gemachten Verheißungen
bezogen, und dieser Eine war Christus, der Same des Patri=
archen. Gott hat sie daher als Nation für eine Zeit beiseite
gesetzt und ist jetzt mit den Nationen beschäftigt. Von diesem
Wechsel in der Verwaltung und der Handlungsweise Gottes
schreibt Paulus in Röm 11, und er gebraucht dazu das Bild
eines Ölbaums, um diesen Wechsel in einer dem Fassungsver=
mögen seiner Leser angemessenen Weise klarzumachen; denn
dieser Baum war den Römern, den Bewohnern Italiens, gut
bekannt. Aus diesem Baum, dem guten Ölbaum, sind einige
Zweige herausgebrochen worden, das heißt, das ganze Volk
Israel, mit Ausnahme des Überrestes nach der Wahl der Gnade,
der als Zweig in dem Ölbaum, dort, wo er immer seinen Platz
gehabt hat, verbleibt.
In diesen Baum sind nun andere Zweige eingepfropft wor=
den, und zwar Zweige, die aus einem wilden Ölbaum genom=
men sind, aus einem Baum, der der Kultur nie unterworfen
war. Diese Zweige sind die Nationen, mit denen Gott im gegen=
wärtigen Augenblick in unumschränkter Güte handelt, und die
auf diese Weise äußerlich mit Abraham, der Wurzel der Ver^
heißung — der Wurzel des Ölbaumes, um das Bild weiterzu=
führen — in Verbindung gebracht sind. Vor dem Kreuz war
Gott mit Israel, als der auserwählten Nation, beschäftigt, aber
nicht direkt mit den Nationen. Die Vorrechte gehörten Israel;
die Nationen hatten keinen Anteil daran. Das kananäische
Weib mußte dies anerkennen. Sie fühlte und bekannte es. Nach
dem Kreuze entfaltete sich die Handlungsweise Gottes in einer
neuen Gestalt. Die Israeliten erfreuten sich nicht länger der
Vorrechte, die sie als das besondere Volk Gottes auf der Erde
ausgezeichnet hatten, denn sie verharrten im Unglauben. Der
betagte Simeon hatte erklärt, daß das Kind, das er in seinen
Armen hielt, „ein Licht zur Offenbarung der Nationen" sein
würde, um sie aus der Finsternis, in der sie sich bis dahin be=
funden hatten, herauszuführen, als solche, mit denen Gott Sich
in besonderer Weise in Güte beschäftigen konnte. Paulus be=
lehrt uns, daß dies stattfand, als Israel für eine Zeitlang als
Nation beiseitegesetzt wurde.
113
Die Nationen besitzen daher jetzt Vorteile, wie sie solche vor
dem Kreuze niemals gehabt haben. Die Wurzel der Verhei=
ßung hat sich nicht verändert. Der Ölbaum ist nicht abgeschnit=
ten, sondern einige Zweige sind herausgebrochen und Zweige
eines wilden Ölbaumes sind an deren Stelle eingepfropft worden,
und zwar auf dem Grundsatz des Glaubens. Als eingepfropfte
Zweige sind sie „der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes
mitteilhaftig geworden". Indem sie mit der Wurzel der Verheißung, mit Abraham, dem Vater der Gläubigen, in unmittel=
bare Verbindung gebracht worden sind, gehören die Vorrechte
ihnen. Sie haben Teil an allem, was von der Wurzel ausgeht;
als Nationen und durch den Glauben in den Stamm der Ver=
heißung auf der Erde eingepfropft, nehmen sie an der Wurzel
und der Fettigkeit des ganzen Baumes teil.
Dies ist jedoch, beachten wir es wohl, nicht die Errettung;
denn diese Zweige können wieder „ausgehauen" werden. Es ist
auch nicht die Stellung der Versammlung, denn diese ist beiden,
sowohl Juden als Heiden, neu. Es handelt sich hier vielmehr
um die Einführung der Nationen, um teilzuhaben an den
irdischen Vorrechten derer, welche, als Gläubige unter den
Juden, sie nie verloren hatten. Wir sagen „irdische Vorrechte",
weil das Bild des Baumes uns belehrt, daß die auf diese Weise
erläuterte Stellung eine auf der Erde genossene ist.
Sollen denn die Nationen immer diesen bevorzugten Platz
einnehmen? Dies ist von ihrem Verhalten abhängig. „Wenn
du an der Güte bleibst" (V. 22). Sind sie an der Güte geblieben?
Jeder wird zugeben müssen, daß sie das nicht sind. Es muß
deshalb ein Aushauen der Zweige stattfinden. Und wenn die
natürlichen Zweige nicht im Unglauben bleiben, so werden sie
wieder in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden. Die Vorzüge, welche die Nationen als solche jetzt besitzen, können sie
durch Unglauben wieder verlieren, denn sie stehen an jenem
Platz nur durch den Glauben. Gott sucht jetzt die Nationen
heim (Apg 15, 14), und das äußere Resultat davon ist das, was
wir Christenheit nennen. Alle, die zur Christenheit gehören,
besitzen Vorrechte, aber diese Vorrechte bringen Verantworte
lichkeit mit sich. Könnten sich daher die Heiden über die Juden,
als die herausgebrochenen Zweige, erheben? Durchaus nicht.
Der natürliche Platz des Juden war in dem Ölbaum, und nur
114
wegen seiner Sünde und seines Unglaubens ist er herausge=
brachen worden. Für den Heiden ist es nur göttliche Güte, wenn
er überhaupt dort ist, eingepfropft auf dem Grundsatz des
Glaubens, und er kann nur diesen Platz behalten, wenn er an
der Güte Gottes bleibt. Alle, die wirklich errettet sind, befinden
sich daher in dem Ölbaum, aber weit mehr als sie zählen zu
seinen Zweigen. Dazu gehört sowohl der gläubige Überrest
Israels, als auch die ganze Christenheit. Die Nationen können,
wenn sie einmal ausgehauen sind, nicht wiederhergestellt wer=
den. Die Juden können und werden es, wenn sie nicht im Un--
glauben bleiben. Wie völlig wird dies einst gefühlt und bekannt
werden, wenn das, was der Prophet Sacharja in Kapitel 8, 13
sagt, seine Erfüllung finden wird! „Und es wird geschehen,
gleichwie ihr, Haus Juda, und Haus Israel, ein Fluch unter den
Nationen gewesen seid, also werde ich euch erretten, und ihr
werdet ein Segen sein".
2. Der Feigenbaum liefert uns eine andere Art von Belehrung
und wurde einem anderen Zuhörerkreise gegenüber als erläu=
terndes Beispiel gebraucht. Der Herr machte Gebrauch davon,
als Er Israel warnte und Seine Jünger belehrte (Lk 13, 6—9;
Mt 21, 19-21 ; Mk 11, 12-14; 20-23). Es sind die Früchte, die
diesen Baum so wertvoll machen. Wenn er keine Frucht bringt,
warum soll er dann noch das Land einnehmen? Er macht es
unnütz. Jedoch gibt es besonders eine Erscheinung bei dem Feigenbaum, die ihn so geeignet machte, den Zustand Israels bild=
lieh darzustellen. Seine Blüten bilden sich, ehe noch die Blätter
hervorbrechen. Die Gegenwart von Blättern läßt daher auf
das Dasein von Frucht schließen. Welch ein treffendes Bild ist
deshalb ein solcher Baum von Israel, das seinem Bekenntnis
nach das Volk Gottes war, das aber, als der Herr kam, durch
Seine Verwerfung seine völlige Unfruchtbarkeit für Gott be=
wies. Der Ölbaum stellt, als ein immergrüner Baum, in geeig=
neter Weise die ununterbrochene Fortsetzung der Linie der Ver=
heißung auf der Erde dar, die durch alle die Jahrhunderte hindurch, die noch der Errichtung des Reiches Gottes in Macht auf
der Erde vorhergehen sollten, niemals aufhören würde. Wie der
Ölbaum, seinem Charakter nach, den Gedanken eines ununter=
brochenen Fortbestehens erweckt, so ist der Feigenbaum im
Hinblick auf seine Eigenschaften trefflich geeignet, ein Bekennt=
115
nis darzustellen, welches von Beweisen der Fruchtbarkeit begleitet sein sollte. Und wenn solche Beweise fehlen, so hat er
sicher verdient, abgehauen zu werden. Gottes Nachsicht und
Langmut in bezug auf Israel bis zu dem Kreuze hin stellt das
Gleichnis von dem Feigenbaume in Lk 13 dar. Die Worte des
Herrn in betreff des unfruchtbaren, aber mit Blättern bedeckten
Baumes auf dem ölberg zeigten dagegen das Gericht an, das
über Israel ausgeübt werden sollte, und vor dem Er das Volk
vorher gewarnt hatte. Ein abgehauener Baum hört auf, von den
Menschen gesehen zu werden. Israel, als geordnete Nation,
sollte aufhören zu existieren. Ein Bekenntnis ohne Frucht kann
niemals Gott genügen.
3. Wenn wir uns jetzt zu dem Weinstock wenden, so werden
wir wieder eine Belehrung von einem neuen Charakter finden.
Gott besaß einen Weinstock, den Er „aus Ägypten gezogen
hatte"; dieser Weinstock war Israel (Ps 80, 9—11). Ein Wein=
stock, der keine Frucht bringt, ist ganz nutzlos, wie Hesekiel
seinen Landsleuten zuruft (Kap. 15, 2—4). Der Herr nun belehrt
Seine Jünger in Joh 15, daß Er der wahre Weinstock sei. Es
konnte daher nur Fruchtbarkeit in ihnen hervorgebracht wer=
den, wenn sie in Ihm blieben. Für solche, die dem Volke Israel
angehörten, war diese Belehrung von großer Bedeutung. Eine
nationale Stellung, eine Abstammung nach dem Fleische war
nutzlos. Um Frucht für Gott zu bringen, mußten sie in Christo
bleiben. Doch es ist zugleich eine nützliche und für alle Zeiten
notwendige Belehrung für uns. „Ich bin der wahre Weinstock,
und mein Vater ist der Weingärtner. Jede Rebe in mir, die nicht
Frucht bringt, die nimmt Er weg; und jede, die Frucht bringt,
reinigt Er, auf daß sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein
um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibet in
mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe nicht von sich selbst
Frucht bringen kann, sie bleibe denn im Weinstock, also auch ihr
nicht, ihr bleibet denn in mir. Ich bin der Weinstock, ihr die
Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel
Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun. Wenn jemand
nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen und verdorrt,
und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbren=
nen. Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben,
so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen.
116
Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht bringt,
und ihr werdet meine Jünger sein" (Joh 15, 1—8).
Wenn wir uns mit der Belehrung des Herrn über den Wein=
stock beschäftigen, so verlassen wir die Wahrheit von den Rab
Schlüssen Gottes in bezug auf die Nationen und Juden und
kommen zu dem, was betreffs des Lebens nötig ist. Aber um
diese Belehrung richtig verstehen zu können, müssen wir uns
immer daran erinnern, daß das Bild eines Baumes etwas dar=
stellt, was auf der Erde ist und nicht etwa eine mit dem Himmel
in Verbindung stehende Sache. Wenn wir daran denken, so
werden wir die Bedeutung der Worte des Herrn verstehen. Er
spricht von dem, was auf der Erde gesehen wird. Eine Rebe
kann daher in dem Weinstock sein und doch keine Frucht brin=
gen. Jedoch kann niemand vor Gott in Christo sein, wenn er
nicht wirklich ein Kind Gottes ist. Bringen wir, wenn wir uns
mit dem Weinstock beschäftigen, unsere Stellung vor Gott mit
hinein, so werden wir alles verwirren. Halten wir aber daran
fest, daß ein Baum ein Bild von einer auf der Erde bestehenden
Sache ist, so werden wir nicht irregeleitet werden. Eine Rebe
an dem Weinstock ist ein bekennender Christ. Es kann daher
jemand eine Rebe sein, ohne daß er ein wahrer Gläubiger ist.
In dem Augenblick, als der Herr dieses Gleichnis aussprach,
bildete Judas Iskariot einen bemerkenswerten Beleg zu Seinen
Worten. Er war einer von den Zwölfen, er schien ein Gläubiger
zu sein, und er war eine Rebe in dem Weinstock; aber seine
Beschäftigung gerade in jenem Augenblick bewies, daß er nicht
in Christo geblieben war. Ein bloßes Bekenntnis kann daher
nicht genügen. Doch der Herr hält damit nicht ein. Er zeigt
Seinen Jüngern nicht nur, daß Wirklichkeit und Leben vor=
handen sein muß, um Frucht zu bringen, sondern Er sagt ihnen
auch, auf welche Weise, und zwar auf welche Weise allein sie
Frucht tragen können, nämlich dadurch, daß sie in Ihm bleiben.
Der über den Feigenbaum ausgesprochene Fluch bewies, daß
Gott nicht ohne Frucht zufrieden sein würde. Die Belehrung
des Herrn über den Weinstock zeigt, wie die Fruchtbarkeit
sicher erreicht werden kann. Es mochten damals Bekenner vor=
handen sein; es hat solche gegeben und es gibt sie heute noch.
Von solchen spricht der Herr in Vers 6, aber Er tut es in einer
Weise, die jeden Gedanken ausschließt, daß ein wirklicher
Christ verlorengehen könne, während sie die schreckliche Zu=
117
kunft jener Bekenner auf das Bestimmteste darstellt. Wenn der
Herr von wahren Gläubigen redet, so sagt Er: „Ihr". Spricht Er
aber von bloßen Bekennern, die keine Frucht bringen, so sagt
Er: „Wenn jemand usw." Es gibt in dieser Stelle keine Entmutigung für den schwächsten Gläubigen, während sie zugleich
eine ernste Warnung für den bloßen Bekenner enthält.
Johannes 1, 17
„Das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und
die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden". Das Gesetz
schrieb dem Menschen vor, was er sein sollte, es sagte ihm
aber nicht, was er ist. Es verhieß ihm das Leben, wenn er gehorchte, einen Fluch, wenn er nicht gehorchte; aber es sagte ihm
nicht, daß Gott die Liebe ist. Dies alles war vollkommen an
seinem Platze; aber es offenbarte weder was der Mensch noch
was Gott ist. Dies blieb verborgen, aber dies ist die Wahrheit.
Und diese Wahrheit konnte nicht geoffenbart werden ohne
Gnade; denn der Mensch war ein verderbter Sünder; aber Gott
ist die Liebe.
Gilgal Josua5
1
„Alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung
geschrieben, auf daß wir durch das Ausharren und durch die
Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben" (Röm 15, 4).
Diese wenigen Worte geben dem Christen ein bestimmtes und
unbestreitbares Recht, die Schriften des Alten Testaments zu
durchforschen und in ihnen, nach dem Maße seiner Fähigkeit
und dem Charakter oder der Tiefe seines geistlichen Bedürf=
nisses, Belehrung und Ermunterung zu sammeln. Noch an einer
118
anderen Stelle wird von diesem unserem Vorrecht gesprochen.
Wir lesen in 1. Kor 10, 11: „Alle diese Dinge aber widerfuhren
jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer
Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist".
Ohne Zweifel ist es beim Lesen des Alten wie des Neuen
Testaments gleicherweise nötig, fortwährend wachsam, frei von
allen eigenen Gedanken und abhängig zu sein von der un=
mittelbaren Belehrung des Heiligen Geistes, durch den alle
Schriften eingegeben sind. Die Einbildungskraft muß im Zaum
gehalten werden, wenn sie uns nicht zu falschen Meinungen
und wunderlichen Erklärungen hinreißen soll, die zu nichts
nützen, sondern vielmehr die Kraft des Wortes über unsere
Seelen schwächen und unserem Wachstum in den göttlichen
Dingen hinderlich sind.
Doch dürfen wir andererseits nie das Vorrecht, das uns in
Röm 15, 4 gegeben wird, aus dem Auge verlieren, noch für
einen Augenblick vergessen, daß „alles, was zuvor geschrieben
ist, zu unserer Belehrung geschrieben ist". In der Kraft dieser
Worte laden wir auch den Leser ein, uns bis zum Anfang des
Buches Josua zurückzubegleiten, um zusammen die uns dort
erzählten merkwürdigen und lehrreichen Ereignisse zu betrach=
ten und zu suchen, die in ihnen entfalteten kostbaren Belehrung
gen zu sammeln. Wir glauben sagen zu können, daß wir an den
Ufern des Jordan einige schöne Lektionen lernen werden.
Gewöhnlich betrachtet man den Jordan als das Bild vom
Tode, vom Tode des Gläubigen, wenn er die Welt verläßt und
zum Himmel geht. Wenn wir aber einen Augenblick nachden=
ken, werden wir finden, daß diese so allgemeine Auffassung
äußerst mangelhaft ist. Wenn z. B. ein Gläubiger stirbt und
zum Himmel geht, ist er dann berufen, zu kämpfen? Sicherlich
nicht. Droben ist alles Ruhe und Frieden, unaussprechlicher,
ewiger Frieden. Kein Kampfgeschrei wird dort gehört, keine
Waffe gesehen werden. Wir werden keinen Gürtel für unsere
Lenden brauchen, noch einen Brustharnisch der Gerechtigkeit,
denn göttliche Gerechtigkeit wird ewiglich dort wohnen. Wir
werden die Sandalen entbehren können, da es in jenen herr=
liehen und segensreichen Gefilden keinen rauhen und dornigen
Pfad geben wird. Wir werden keinen Schild mehr brauchen, da
wir den feurigen Pfeilen des Bösen für immer entrückt sind,
119
keinen Helm des Heils, denn die göttlichen und ewigen Resuh
täte des Heils Gottes werden dann erreicht sein. Kein Schwert
wird mehr nötig sein, da in jenen lichterfüllten Räumen weder
ein Feind, noch irgend etwas Böses uns begegnen wird.
Der Jordan kann daher nicht den Tod des Gläubigen und
seinen Hingang zum Himmel bedeuten; der einfachste aller
Gründe hierfür ist, daß gerade zu der Zeit, als Israel den Jordan
überschritt, ihr Kampf begann. Allerdings hatten sie in der
Wüste mit Amalek gestritten, aber erst in Kanaan nahmen die
wirklichen Kämpfe ihren Anfang. Ein Kind kann dies verstehen.
Aber stellt der Jordan nicht den Tod dar? Ganz gewiß. Und
muß der Gläubige ihn nicht durchschreiten? Allerdings; aber
wenn er es tut, so findet er ihn ausgetrocknet, weil der Fürst
des Lebens in seine Tiefen hinabgestiegen ist und für die
Seinigen einen Pfad geöffnet hat, auf dem sie hinübergehen in
ihr ewiges Erbteil, in das himmlische Kanaan. Christus, der
wahre Josua, hat den Jordan durchschritten. Der Christ ist nicht
berufen, zitternd am Ufer des Flusses des Todes zu stehen, wie
jemand, der nicht weiß, wie es mit ihm gehen wird. Jener Fluß
ist für den Glauben ausgetrocknet. Seine Kraft ist gebrochen.
Unser anbetungswürdiger Herr „hat den Tod zunichte gemacht,
aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das
Evangelium" (2. Tim 1, 10).
Herrliche, befriedigende Tatsache! Laßt uns Ihm dafür dan=
ken! Laßt uns aus dem tiefsten Grunde unseres Herzens Ihm
Loblieder singen, der dem Tode seinen Stachel genommen und
den vernichtet hat, der die Macht des Todes hatte, das ist den
Teufel, und der uns in eine Sphäre versetzt hat, die erfüllt ist
mit Leben, Licht, Unverweslichkeit und Herrlichkeit! Möchte
unser ganzer Wandel zu Seiner Verherrlichung sein!
Doch laßt uns jetzt etwas eingehender die Belehrung der
Schrift über diesen großen Gegenstand untersuchen; möchten
wir uns dabei der Leitung des Heiligen Geistes überlassen!
„Da machte sich Josua des Morgens frühe auf, und sie brachen auf von Sittim und kamen an den Jordan, er und alle Kinder Israel, und sie rasteten daselbst, ehe sie hinüberzogen. Und
es geschah am Ende von drei Tagen, da gingen die Vorsteher
mitten durch das Lager, und sie geboten dem Volke und spra=
120
chen: Sobald ihr die Lade des Bundes Jehovas, eures Gottes
sehet, und die Priester, die Leviten, sie tragen, dann sollt ihr
von eurem Orte aufbrechen und ihr nachfolgen. Doch soll
zwischen euch und ihr eine Entfernung sein bei zweitausend
Ellen an Maß. Ihr sollt ihr nicht nahen, auf daß ihr den Weg
wisset, auf dem ihr gehen sollt, denn ihr seid des Weges früher
nicht gezogen" (Jos 3, 1—4).
Es gibt in der Geschichte Israels drei Punkte oder Abschnitte,
die von tiefem Interesse sind und die eingehendste Betrachtung
verdienen. Diese sind erstens die mit Blut bestrichene Ober=
schwelle im Lande Ägypten, dann das Rote Meer und drittens
der Jordan. In jedem dieser drei Abschnitte haben wir ein Vor=
bild des Todes Christi, und zwar jedesmal von einer besonderen Seite aus betrachtet. Wie wir wissen, hat jener gesegnete
Tod viele und mannigfaltige Gesichtspunkte, und nichts kann
für den Christen nützlicher sein, nichts sollte ihn mehr an=
ziehen, als das Studium des tiefen Geheimnisses des Todes
Christi. In diesem Geheimnis gibt es Höhen und Tiefen, deren
völlige Ergründung der Ewigkeit überlassen bleiben muß; aber
es sollte jetzt unsere Wonne sein, unter der Leitung des Hei=
ligen Geistes und in dem vollkommenen Licht der Heiligen
Schrift in diese Dinge einzudringen. Sie stärken, trösten und
beleben den inwendigen Menschen.
Betrachten wir den Tod Christi, wie er uns in dem Blute des
Passah=Lammes vorbildlich dargestellt wird, so sehen wir darin
das, was uns vor dem Gericht Gottes bewahrt. „Ich werde in
dieser Nacht durch das Land Ägypten gehen und alle Erstgeburt
im Lande Ägypten schlagen vom Menschen bis zum Vieh,
und ich werde Gericht üben an allen Göttern Ägyptens, ich,
Jehova. Und das Blut soll euch zum Zeichen sein an den Häu=
sern, worin ihr seid, und sehe ich das Blut, so werde ich an
euch vorübergehen; und es soll keine Plage zum Verderben
unter euch sein, wenn ich das Land Ägypten schlage" (2. Mo
12, 12. 13). Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß es für die
beunruhigte, schuldbewußte Seele von höchster Bedeutung ist,
zu wissen, daß Gott einen Zufluchtsort vor dem kommenden
Zorn und Gericht bereitet hat. Niemand wird, wenn er richtig
belehrt ist, diese Seite des Todes Christi unterschätzen. „Sehe
ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen". Die Sicher=
heit Israels ruhte auf der Wertschätzung des Blutes von Seiten
121
Gottes. Er sagt nicht: „Wenn ihr das Blut seht". Der Richter
sah das Blut, kannte seinen Wert und ging an dem Hause vorüber. Köstliche Tatsache!
Wir sind so sehr geneigt, uns mit unseren Gedanken über
das Blut Christi, anstatt mit den Gedanken Gottes über es zu
beschäftigen. Wir fühlen, daß wir jenes kostbare Blut nicht so
wertschätzen, wie wir es sollten, und beginnen dann an unserer
Errettung zu zweifeln, da wir in unserer Wertschätzung des
Blutes Christi und in unserer Liebe zu Seiner Person einen so
großen Mangel entdecken. Wenn unsere Sicherheit aber im
geringsten von unserer Wertschätzung des Werkes Christi oder
unserer Liebe zu Seiner Person abhinge, so hätten wir alle
Ursache, zu zittern. Es ist wahr, völlig wahr, daß wir das
Werk Christi wertschätzen und Ihn Selbst lieben sollen. Aber
sobald wir dies zu einer gerechten Anforderung stempeln und
unsere Sicherheit von unserer Erfüllung dieser Anforderung
abhängig machen, so sind wir in größerer Gefahr und werden
gerechter verurteilt, als wenn wir auf dem Grunde eines gebrochenen Gesetzes ständen. Denn in dem Maße, wie die
Forderungen Christi und des Christentums höher sind, als
die Forderungen Moses und des gesetzlichen Systems, steht es
dann schlimmer um uns. Wir stehen alsdann auf einem gefähr=
liehen Boden und sind weit von dem Frieden entfernt.
Doch Gott sei Dank! es ist nicht so. Wir sind errettet durch
Gnade, durch eine freie, unumschränkte, göttliche und ewige
Gnade, und nicht durch unser Gefühl über sie. Wir sind durch
das Blut und nicht dadurch in Sicherheit gebracht, wie wir das
Blut wertschätzen. Jehova sagte in jener entsetzlichen Nacht
nicht: „Wenn ihr das Blut seht und es so wertschätzt, wie ihr
es sollt, werde ich an euch vorübergehen". Nichts derartiges
hören wir. Das ist nicht der Weg unseres Gottes. Er wollte Sein
Volk in Sicherheit bringen und sie wissen lassen, daß sie in
völliger, weil göttlicher Sicherheit waren, und deshalb stellt Er
die ganze Sache auf eine göttliche Grundlage. Er nimmt sie ganz
aus ihrer Hand, indem Er ihnen versichert, daß ihre Rettung einfach und gänzlich auf dem Blute und auf Seiner Wertschätzung
des Blutes ruhe. Er gibt ihnen zu verstehen, daß sie gar nichts
mit der Herstellung des Rettungsmittels zu tun hatten. Dafür
sorgte Er; ihr einziges Teil war es, sich dessen zu erfreuen.
122
Das Blut stand in jener denkwürdigen Nacht zwischen Jehova
und Israel, und so steht es jetzt zwischen Ihm und der Seele,
die einfach auf Jesum vertraut. Wir sind nicht errettet durch
unsere Liebe, noch durch unsere Wertschätzung, noch durch
irgend etwas von unserer Seite. Wir sind errettet durch das Blut
und durch seine Wertschätzung von seiten Gottes. Und gerade
wie Israel innerhalb der mit Blut bestrichenen Türschwelle,
sicher vor dem Schwerte des Verderbens, sich an dem gebra=
tenen Lamme erfreuen konnte, so darf der vor dem kommen=
den Zorn völlig in Sicherheit gebrachte Gläubige in vollkom=
mener Ruhe und in süßem Frieden Christum genießen in der
ganzen Köstlichkeit Seiner Person.
Wir haben wahrlich nur ein geringes Verständnis darüber,
wie sehr die Eigengerechtigkeit uns selbst nach unserer Bekeh=
rung noch anklebt, und wie sehr sie unseren Frieden stört und
uns hindert, uns der Gnade zu erfreuen. Wir mögen uns
einbilden, wir hätten einen völligen Abschluß mit unserer
Eigengerechtigkeit gemacht, wenn wir den Gedanken aufge=
geben haben, durch unsere Werke errettet werden zu können;
aber ach! es ist nicht so. Das Böse nimmt tausenderlei Formen
an, und keine ist feiner und betrügerischer als jene,-auf die wir
schon anspielten, nämlich das Gefühl, daß wir das Blut nicht so
wertschätzen, wie wir es sollten, und aus diesem Grunde an
unserer Errettung zweifeln. Dies alles ist die Frucht der Selbst=
gerechtigkeit. Wir haben noch nicht mit unserem „Ich" abge=
schlössen. Wir machen allerdings keinen Heiland mehr aus
unserem Tun, aber wir machen einen aus unseren Gefühlen.
Wir suchen, vielleicht ohne es selbst zu wissen, eine Art von
Anrecht und Verdienst in unserer Liebe zu Gott und in unserer
Wertschätzung der Person Christi zu finden. Doch dies alles
muß aufgegeben werden. Wir müssen einfach auf dem Blut
Christi und auf dem Zeugnis ruhen, das Gott diesem Blute gibt.
Er sieht das Blut. Er schätzt das Blut, wie es es verdient. Er ist
befriedigt, und das sollte uns auch befriedigen. Er sagte nicht zu
Israel: „Wenn ich sehe, wie ihr euch verhaltet, wenn ich das un=
gesäuerte Brot, die bitteren Kräuter, die gegürteten Lenden und
die beschuhten Füße erblicke, dann will ich an euch vorüber=
gehen". Ohne Zweifel hatten alle diese Dinge ihren besonderen
Platz; aber dieser Platz war nicht der Grund ihrer Sicherheit,
sondern das Geheimnis ihrer Gemeinschaft. Sie waren berufen,
123
sich so und so zu verhalten, berufen, das Fest zu feiern, aber
nicht etwa, um ein errettetes Volk zu werden, sondern weil sie
es waren. Das ist der große Unterschied. Weil sie auf eine göttliche Weise vor dem Gericht geschützt waren, konnten sie das
Fest feiern. Sie hatten die Autorität des Wortes Gottes, das
ihnen versicherte, daß es für sie kein Gericht mehr gab; und
wenn sie jenem Wort glaubten, so konnten sie das Fest in
Frieden und Sicherheit feiern. „Durch Glauben hat er das Passah
gefeiert und die Besprengung des Blutes, auf daß der Zerstörer
der Erstgeburt sie nicht antaste" (Hebr n , 28).
Hierin liegt das tiefe und große Geheimnis der ganzen Sache.
Durch Glauben feierte Mose das Passah. Gott hatte gesagt:
„Sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen", und
Er konnte Sich Selbst nicht verleugnen. Er würde Seinen Cha=
rakter und Seine Natur verleugnet und Sein eigenes gesegnetes
Heilsmittel nicht beachtet haben, wenn in jener feierlichen
Nacht einem Israeliten ein einziges Haar gekrümmt worden
wäre. Es handelte sich, wir wiederholen es, in keiner Weise um
den Zustand Israels, noch um seine Verdienste. Einzig und
allein handelte es sich um den Wert des Blutes in den Augen
Gottes und um die Wahrheit und Autorität Seines eigenen
Wortes.
Welch eine Festigkeit verleiht dies! Welch einen Frieden und
welch eine Ruhe! Das Blut Christi und das Wort Gottes sind
der feste Grund unseres Vertrauens. Möchten wir es niemals
vergessen oder aus dem Auge verlieren! Nur durch die Wirk=
samkeit des Heiligen Geistes sind wir fähig, das Wort Gottes
aufzunehmen oder auf das Blut Christi unser ganzes Vertrauen
zu setzen. Doch es ist das Wort Gottes und das Blut Christi und
nichts anderes, das dem Herzen im Blick auf alle Fragen in
betreff des zukünftigen Gerichts Frieden verleiht. Für den Gläu=
bigen kann es kein Gericht geben. Und warum nicht? Weil das
Blut sich vor dem Gnadenstuhle befindet, als der vollkommene
Beweis, daß das Gericht schon ausgeführt worden ist.
Vor Gottes Thron bist Du, o Herr für uns erschienen,
Du trugst Dein eignes Blut ins innre Heiligtum.
Versöhnt sind wir durch Dich, bereitet, Gott zu dienen
Und zu verkünden Deinen Ruhm.
124
Ja, Preis und Dank sei Seinem Namen! so steht es mit jeder
Seele, die einfach Gott bei Seinem Wort nimmt und in dem
kostbaren Blute Christi ruht. Sie ist versöhnt, sie ist völlig frei.
Es ist ebenso unmöglich, daß sie je ins Gericht kommen kann,
wie Christus Selbst. Alle, die durch das Blut geschützt werden,
sind so sicher, wie Gott sie sicher machen kann, so sicher wie
Christus Selbst. Es ist eine wunderbare Sache, daß eine arme,
sündige, sterbliche Kreatur solche Worte aussprechen darf.
Wenn aber etwa noch irgendeine Frage in betreff der Sicher=
heit des Gläubigen erhoben werden kann, dann ist das Blut
Christi nicht auf dem Gnadenstuhl, oder es hat in dem Gericht
Gottes keinen Wert. Wenn es sich noch um den Zustand des
Gläubigen, um seine Würdigkeit, seine Gefühle, seine Erfah=
rung, seinen Wandel, seine Liebe, seine Unterwürfigkeit und
Wertschätzung der Person Christi handelte, dann würden jene
herrlichen Worte: „Wenn ich das Blut sehe, so will ich vorüber=
gehen", weder Kraft noch Wert haben. In diesem Fall würden
die Worte ganz andere sein, ein dunkler Schatten würde ihr
himmlisches Licht verdüstern; sie würden lauten: „Sehe ich das
Blut und , so will ich an euch vorübergehen".
Doch nein, so ist es nicht und kann es niemals sein. Nichts
muß und kann jenem kostbaren Blute hinzugefügt werden, das
Gott als Richter völlig befriedigt hat und das jede Seele, die
einfältig glaubt, was Gott sagt, weil Er es sagt, vollkommen
sicherstellt. Wenn der gerechte Richter Sich für befriedigt erklärt
hat, kann der schuldige Verbrecher sicher auch wohl zufrieden
sein. Gott ist durch das Blut Jesu befriedigt; und wenn die
Seele gleicherweise befriedigt ist, dann ist alles in Ordnung und
in betreff der Frage des Gerichts herrscht völliger Friede. „Also
ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind"
(Röm 8, 1). Wie könnte es auch sein, da Er an ihrer Statt die
Verdammnis getragen hat? Wenn man daran zweifelt, daß der
Gläubige von dem Gericht ausgenommen ist, dann macht man
dadurch Gott zu einem Lügner und das Blut Christi wirkungs=
los.
2
Der Leser wird bemerken, daß wir bis jetzt nur mit der Frage
unserer Befreiung vom Gericht beschäftigt waren. In der von
Gott für uns bereiteten Errettung ist jedoch noch weit mehr
125
eingeschlossen, als die Befreiung von Zorn und Gericht, so
gesegnet und herrlich dies auch sein mag. Wir mögen die völlige
Gewißheit besitzen, daß unsere Sünden vergeben sind, und daß
Gott in betreff ihrer nie mit uns ins Gericht gehen wird, und
doch können wir fern von dem Genuß der wahren christlichen
Stellung sein. Wir sind vielleicht mit allerlei Befürchtungen in
bezug auf uns selbst erfüllt, mit Befürchtungen, die durch das
Bewußtsein der in uns wohnenden Sünde, der Macht Satans
und des Einflusses der Welt hervorgebracht werden. Alle diese
Dinge mögen in uns die ernstesten Besorgnisse erwecken.
Wenn wir uns z. B. zu Kapitel 14 des 2. Buches Mose wen=
den, so finden wir Israel in der tiefsten Not und fast über=
wältigt von Furcht. Es scheint, als hätten sie für den Augenblick
völlig die Tatsache aus den Augen verloren, daß sie unter dem
Schutz des Blutes gewesen waren. Doch laßt uns einen Blick auf
die Stelle selbst werfen: „Und Jehova redete zu Mose und
sprach: „Sprich zu den Kindern Israel, daß sie umkehren und
sich lagern vor Pi=Hachiroth, zwischen Migdol und dem Meere;
vor Baal=Zephon, ihm gegenüber, sollt ihr euch am Meere
lagern. Und der Pharao wird von den Kindern Israel sagen:
verwirrt irren sie im Lande umher, die Wüste hat sie umschlos=
sen. Und ich will das Herz des Pharao verhärten, daß er ihnen
nachjage, und ich will mich verherrlichen an dem Pharao und
an seiner ganzen Heeresmacht, und die Ägypter sollen erken=
nen, daß ich Jehova bin. Und sie taten also. Und es wurde dem
König von Ägypten berichtet, daß das Volk entflohen wäre;
da verwandelte sich das Herz des Pharao und seiner Knechte
gegen das Volk und sie sprachen: Was haben wir da getan, daß
wir Israel aus unserem Dienste haben ziehen lassen? Und er
spannte seinen Wagen an und nahm sein Volk mit sich. Und
er nahm sechshundert auserlesene Wagen und alle Wagen
Ägyptens und Wagenkämpfer auf jedem derselben. Und Jehova
verhärtete das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, und
er jagte den Kindern Israel nach; und die Kinder Israel zogen
aus mit erhobener Hand. Und die Ägypter jagten ihnen nach,
alle Rosse, Wagen des Pharao und seine Reiter und seine Hee=
resmacht und erreichten sie, als sie sich am Meere gelagert
hatten, bei Pi-Hachiroth, vor Baal-Zephon. Und als der Pharao
nahte, da hoben die Kinder Israel ihre Augen auf, und siehe,
die Ägypter zogen hinter ihnen her; und die Kinder Israel
126
fürchteten sich sehr und schrien zu Jehova" (2. Mo 14, 1—10).
Wir möchten wohl versucht sein zu fragen: „Sind das die
Leute, die kurz vorher in vollkommener Sicherheit unter dem
Schutze des Blutes das Passahfest gefeiert haben?" Ja, sie sind
es. Aber woher denn diese Befürchtungen, dieser Aufruhr und
dieses verzweiflungsvolle Schreien zu Jehova? Dachten sie wirk=
lieh, daß Er im Begriff stehe, sie zu richten und zu verderben?
Nicht gerade das; sie fürchteten vielmehr, nach allen ihren bis=
herigen Erfahrungen in der Wüste umzukommen. „Und sie
sprachen zu Mose: Hast du uns darum, weil in Ägypten keine
Gräber waren, weggeholt, um in der Wüste zu sterben? War=
um hast du uns das getan, daß du uns aus Ägypten herausge=
führt hast? Ist dies nicht das Wort, das wir in Ägypten zu dir
geredet haben, da wir sprachen: Laß ab von uns, daß wir den
Ägyptern dienen? denn besser wäre es uns, den Ägyptern zu
dienen, als in der Wüste zu sterben" (V. 11. 12).
Dies alles war sehr traurig und niederdrückend. Ihre armen
Herzen scheinen zwischen „den Gräbern in Ägypten" und dem
Tode in der Wüste hin und herzuschwanken. Sie haben kein
Gefühl von ihrer Befreiung, noch ein richtiges Verständnis für
die Ratschlüsse oder die Rettung Gottes. Tiefes Dunkel umgibt
sie; eine fast hoffnungslose Verzweiflung erfüllt ihre Herzen.
Von allen Seiten sind sie eingeschlossen; sie können nicht vornoch rückwärts. Ihre Lage scheint sich ungünstiger zu gestalten
als je, und deshalb wünschen sie sich zurück zu den Ziegelöfen
und Stoppelfeldern Ägyptens. Auf beiden Seiten sind sie von
Bergen eingeschlossen, vor ihnen liegt das Meer, hinter ihnen
steht Pharao mit seinem ganzen furchtbaren Heer. Ihre Lage
schien völlig hoffnungslos zu sein, und sie war es auch, so weit
es die Israeliten betraf. Sie waren ohne die geringste Kraft und
wurden zubereitet, um dies anzuerkennen und zu verwirk=
liehen. Es ist sehr schmerzlich für die Seele, eine solche Schule
durchzumachen, aber zugleich auch sehr heilsam, wertvoll und
notwendig für einen jeden. Wir müssen alle in der einen oder
anderen Weise lernen, daß wir „ohne Kraft" sind, und je mehr
wir entdecken, was es ist, ohne Kraft zu sein, je mehr sind wir
fähig, das Heil Gottes zu schätzen.
Man möchte jedoch fragen: „Gibt es denn etwas in der jet=
zigen Geschichte des Volkes Gottes, das der Erfahrung Israels
am Roten Meer entspricht?" Ohne Zweifel; denn es wird uns
127
gesagt, daß die Dinge, die unter Israel geschehen sind, Beispiele
und Vorbilder für uns sind. Und sicher birgt die Szene an der
Küste des Roten Meeres eine Fülle von Belehrung für uns in
sich. Wie oft finden wir die Kinder Gottes in bezug auf ihren
Zustand und ihre Hoffnung in großer Finsternis! Sie ziehen
zwar nicht die Liebe Gottes oder die Wirksamkeit des Blutes
Jesu in Frage; auch zweifeln sie nicht daran, daß Gott ihnen
ihre Sünden nicht zurechnen, noch mit ihnen ins Gericht gehen
wird. Aber sie haben kein Verständnis und kein Bewußtsein
von ihrer völligen Befreiung; sie kennen nicht die Anwendung
des Todes Christi auf ihre böse Natur. Sie verwirklichen nicht
die herrliche Wahrheit, daß sie durch jenen Tod von diesem
gegenwärtigen bösen Zeitlauf, von der Herrschaft der Sünde
und von der Macht Satans völlig befreit sind. Sie verstehen
wohl, daß das Blut Jesu genügt, um sie vor dem Gericht Gottes
zu schützen, aber sie haben nicht jenes beseligende, glücklich=
machende und von der Welt trennende Gefühl einer vollkom=
menen und ewigen Erlösung. Sie befinden sich sozusagen noch
auf der ägyptischen Seite des Roten Meeres und sind fort=
während in Gefahr, in die Hände des Fürsten dieser Welt zu
fallen. Sie sehen nicht „alle ihre Feinde tot am Ufer des Meeres". Sie können nicht das Lied der Erlösung singen. Niemand
kann es singen, bevor er sich durch den Glauben auf der ande=
ren Seite des Roten Meeres befindet, mit anderen Worten,
bevor er seine vollkommene Befreiung von der Sünde, der Welt
und Satan im Tode Christi versteht.
Wenn wir die in den ersten fünfzehn Kapiteln des zweiten
Buches Mose erzählten Ereignisse betrachten, so werden wir
bemerken, daß nicht eher über die Lippen der Kinder Israel ein
Ton des Lobes und Dankes kam, als bis sie das Rote Meer
durchschritten hatten. Wir hören ihren Schrei der tiefsten Not
unter den grausamen Peitschenhieben der Treiber des Pharao
und inmitten der brennenden Ziegelöfen Ägyptens. Ihr Schrek=
kensruf dringt an unser Ohr aus dem Lagerplatz „zwischen
Migdol und dem Meere"; aber wir hören keinen Laut des
Lobes, nicht den leisesten Ton eines Triumphgesangs. Erst als
die Wogen des Roten Meeres zwischen ihnen und dem Lande
des Todes und der Finsternis hinrollten und sie die ganze
Macht des Feindes gebrochen und vernichtet sahen, erheben
sie den Lobgesang. „So rettete Jehova Israel an selbigem Tage
128
aus der Hand der Ägypter, und Israel sah die Ägypter tot am
Ufer des Meeres. Und Israel sah die große Macht, die Jehova an
den Ägyptern betätigt hatte; und das Volk fürchtete Jehova,
und sie glaubten an Jehova und an Mose, seinen Knecht. Da=
mals sangen Mose und die Kinder Israel dieses Lied dem Je=
hova" (Kap. 14, 30. 31; 15, 1).
Was ist nun die einfache Anwendung von diesem allem auf
uns als Christen? Welche große Lektion sollen wir aus den
Szenen an den Ufern des Roten Meeres lernen? Mit einem
Wort, wovon ist das Rote Meer ein Vorbild, und welches ist der
Unterschied zwischen der mit Blut bestrichenen Oberschwelle
und dem „gespaltenen" Meer?
Das Rote Meer ist ein Vorbild von dem Tode Christi in
seiner Anwendung auf alle unsere geistlichen Feinde, auf die
Sünde, die Welt und Satan, Durch den Tod Christi ist der
Gläubige völlig und für immer von der Macht der Sünde befreit. Er ist sich leider der Gegenwart der Sünde bewußt, aber
ihre Macht ist vernichtet. Er ist in dem Tode Christi der Sünde
gestorben; und welche Macht hat die Sünde über einen gestoi=
benen Menschen? Es ist das Vorrecht des Christen, sich von
der Herrschaft der Sünde für ebenso befreit zu halten, wie
ein Mensch, der tot auf dem Boden liegt, frei ist. Welche Macht
hat die Sünde über einen solchen? Durchaus keine. Ebensowenig
hat sie es über den Christen. Die Sünde wohnt in dem Gläubigen, das ist in seinem Fleische, und sie wird in ihm wohnen
bis zum Ende seiner Laufbahn; aber ihre Herrschaft ist vernichtet. Christus hat das Szepter aus der Hand unseres vorigen
Herrn genommen und es in Stücke zerschmettert. Sein Blut hat
unsere Sünden abgewaschen und Sein Tod hat die Macht der
Sünde gebrochen. Es ist eine ganz andere Sache, zu wissen, daß
„der Leib der Sünde abgetan", daß ihre Herrschaft beendet und
ihre Macht zerstört ist, als überzeugt zu sein, daß unsere Sünden vergeben sind. Viele bekennen, daß sie die Vergebung ihrer
früheren Sünden nicht bezweifeln, sie wissen aber nicht, was
sie in betreff der in ihnen wohnenden Sünde sagen sollen. Sie
fürchten, daß nach allem noch etwas gegen sie kommen und sie
ins Gericht bringen könne. Solche Personen befinden sich, um
das Bild zu gebrauchen, „zwischen Migdol und dem Meere".
Sie haben die Lehre von Römer 6 noch nicht gelernt. Sie haben
129
in ihrem geistlichen Verständnis noch nicht die Auferstehungs=
Seite des Roten Meeres erreicht. Sie verstehen nicht, was es
heißt, der Sünde gestorben zu sein und Gott zu leben durch
unseren Herrn Jesum Christum.
Der Leser möge die Bedeutung des Wortes des Apostels:
„Haltet euch der Sünde für tot" wohl beachten. Es ist etwas
ganz anderes als: „verwirklicht es". Wie kann ich verwirklichen,
daß ich der Sünde gestorben bin? Meine ganze Erfahrung, alle
meine Gefühle, mein inneres Bewußtsein stehen damit völlig im
Widerspruch. Ich kann nicht verwirklichen, daß ich gestorben
bin; aber Gott sagt mir, daß ich es bin. Er versichert mir, daß
Er mich als mit Christo gestorben betrachtet. Ich glaube es, nicht
weil ich es fühle, sondern weil Gott es sagt. Ich halte mich für
das, was ich nach dem Worte Gottes bin. Wäre ich ohne Sünde,
hätte ich keine Sünde in mir, so würde ich nicht aufgefordert
werden, mich der Sünde für tot zu halten, noch würde ich
jemals berufen sein, auf Worte zu lauschen, wie: „So herrsche
denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe". Gerade weil
die Sünde in mir wohnt, und um mich von ihrer herrschenden
Macht völlig und praktisch zu befreien, wird mir die große,
erquickende Wahrheit mitgeteilt, daß durch den Tod Christi
die Herrschaft der Sünde gebrochen ist. Doch woher weiß ich
das? Vielleicht, weil ich es fühle? Sicherlich nicht. Wie könnte
ich es fühlen, wie es verwirklichen? Wie könnte ich, so lange ich
in diesem Leibe bin, das Bewußtsein davon haben? Es ist un=
möglich. Gott aber sagt mir, daß ich der Sünde gestorben sei,
und ohne weiter darüber zu grübeln, glaube ich es. Ich zweifle
nicht deshalb daran, weil ich keinen Beweis dafür in mir selbst
finde. Ich nehme Gott bei Seinem Wort. Ich strenge mich nicht
an und zerarbeite mich nicht, um zu einem sündlosen Zustand
zu gelangen, (was unmöglich ist) noch bilde ich mir ein, schon
in einem solchen Zustand zu sein, denn das wäre nur Täu=
schung und Betrug, sondern ich stelle mich durch einen ein=
fachen, kindlichen Glauben auf den gesegneten Boden, den das
Wort Gottes mir anzeigt, und zwar in Verbindung mit einem
gestorbenen und auferstandenen Christus. Ich blicke auf Chri=
stum und sehe in Ihm, dem Worte Gottes gemäß, den wahren
Ausdruck von dem, was ich in der Gegenwart Gottes bin. Ich
mache nicht Schlüsse von mir nach oben, sondern von Gott aus
auf mich. Dies bildet gerade den Unterschied zwischen Un=
130
glaube und Glaube, zwischen Gesetz und Gnade, zwischen
menschlicher Religion und göttlichem Christentum. Wenn ich
auf mich blicke und von mir aus Schlüsse mache, so tappe ich
völlig im Dunkeln umher, und alle meine Folgerungen sind
falsch. Ist aber das Gegenteil der Fall, beginne ich, von Gott
aus meine Schlüsse zu machen, so befinde ich mich im Lichte,
ja in dem Licht Seiner ewigen Wahrheit, und alle meine Folge=
rungen gründen sich auf einen göttlichen Boden.
Es ist eine unaussprechliche Gnade, mit dem „Ich" in allen
seinen Gestalten und Wirksamkeiten abgeschlossen zu haben
und in aller Einfachheit auf Grund des geschriebenen Wortes
zur Ruhe gebracht zu sein. Sich mit sich selbst beschäftigen, ist
für die Gemeinschaft gleich einem tödlichen Winde, ein völli=
ges Hindernis für die Ruhe der Seele. Eine Seele kann unmög=
lieh wahren Frieden genießen, so lange sie mit sich selbst be=
schäftigt ist. Sie muß sich selbst aufgeben und allein auf das
Wort Gottes lauschen und ohne eine Frage, ohne ein Bedenken,
auf seinem lauteren, köstlichen und unvergänglichen Inhalt
ruhen. Gottes Wort kann sich nie verändern. Ich verändere
mich; meine Gestalt, meine Gefühle, meine Erfahrung, meine
Umstände wechseln fortwährend, aber das Wort Gottes ist das=
selbe gestern und heute und in Ewigkeit.
Es ist ferner für die Seele wichtig, zu verstehen, daß Christus
der einzige Ausdruck des Platzes des Gläubigen vor Gott ist.
Dies verleiht eine unermeßliche Kraft, Freiheit und Segnung.
„Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt" (1. Joh 4, 17).
Welch eine wunderbare Sache! Ein armer, böser, schuldiger
Sklave der Sünde, ein Knecht Satans, ein Verehrer der Welt
und ihrer Vergnügungen, ein Mensch, der dem ewigen Gericht,
den Flammen der Hölle verfallen ist, ein solcher wird durch die
Gnade erfaßt, völlig von der Macht Satans, der Herrschaft der
Sünde und von diesem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf befreit,
von seinen Sünden gewaschen, gerechtfertigt, in die Nähe Got=
tes gebracht, angenommen in Christo, ja Ihm völlig und für
immerdar gleichgemacht, so daß der Heilige Geist sagen kann,
daß, wie Christus ist, so auch er ist in dieser Welt. Dies alles
erscheint fast zu herrlich, um wahr sein zu können; jedoch,
gepriesen sei der Gott aller Gnade! es ist nicht zu herrlich für
Ihn, um es uns zu geben. Gott gibt Seiner Person gemäß. Er
131
will Gott sein trotz unserer Unwürdigkeit und dem Wider=
Stande Satans. Er will handeln in einer Weise, die Seiner selbst
sowohl als auch des Sohnes Seiner Liebe würdig ist. Handelte
es sich um unsere Verdienste, so könnten unsere Gedanken
nur bei dem tiefsten und finstersten Abgrund der Hölle ver=
weilen. Wenn wir aber sehen, daß es sich um die Frage handelt:
„Was ist Gottes würdig, zu geben?" wenn wir verstehen, daß Er
nach Seiner Schätzung der Würdigkeit Christi gibt, dann wahr=
lieh können sich unsere Gedanken bis zu dem höchsten Platz
im Himmel erheben. Die Herrlichkeit Gottes und die Würdig=
keit Seines Sohnes sind in Seinen Handlungen mit uns einge=
schlössen; und daher ist alles, was unserer ewigen Segnung im
Wege stehen konnte, in einer Weise hinweggeräumt worden,
welche die göttliche Herrlichkeit aufrechthält und auf jede Ein=
rede des Feindes eine triumphierende Antwort gibt. Handelt
es sich um Übertretungen Er hat uns alle unsere Übertretung
gen vergeben- Handelt es sich um Sünde, Er hat die Sünde ge=
richtet. Handelt es sich um Schuld, sie ist getilgt durch das Blut
des Kreuzes. Handelt es sich um den Tod, Er hat dem Tod
seinen Stachel genommen und ihn zu einem Teil unseres Eigen=
tums gemacht; der Tod ist unser. Handelt es sich um Satan, Er
hat ihn zunichte gemacht. Handelt es sich um die Welt, Er hat
uns von ihr befreit und jedes Band zerrissen, das uns mit ihr
verknüpfte.
Es steht daher, mein lieber christlicher Leser, bei uns, ob wir
uns durch die Schrift belehren lassen, ob wir Gott bei Seinem
Wort nehmen und glauben wollen, was Er sagt. Möchte der
Heilige Geist die Augen des Volkes Gottes öffnen und ihnen
den Platz und das Teil zeigen, das ihnen auf Grund der Auf=
erstehung und in Verbindung mit einem auferstandenen und
verherrlichten Christus gehört.
3
Nachdem wir so in den vorigen Abschnitten die beiden
Hauptteile des Gegenstandes, der uns beschäftigt, nämlich
Israel unter dem Schutze des Blutes und Israel an den Ufern
des Roten Meeres, betrachtet haben, bleibt uns noch übrig,
für einige Augenblicke unsere Aufmerksamkeit auf jenes Volk
zu richten, wie es den Jordan durchschreitet und das Passahfest
132
in Gilgal feiert. Es repräsentiert in diesen beiden Handlungen
die wahre Stellung des Christen, die er jetzt einnimmt.
Der Christ ist nicht nur vor dem Gericht in Sicherheit ge=
bracht durch das Blut des Lammes, sondern er ist auch durch
den Tod Christi befreit von diesem gegenwärtigen bösen Zeit=
lauf und er ist mit Ihm vereinigt, wo Er jetzt ist, zur Rechten
Gottes. Er ist gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den
himmlischen örtern in Christo. Er ist daher ein himmlischer
Mensch und ist berufen, als solcher in dieser Welt zu wandeln
in all den verschiedenen Beziehungen und verantwortlichen
Verhältnissen, in welche die gütige Hand Gottes ihn gestellt
hat. Er ist nicht ein Mönch oder ein Einsiedler, der in beschau=
licher Ruhe und Einsamkeit seine Tage verbringt, noch gleicht
er einem Menschen, der in den Wolken lebt und weder für die
Erde, noch für den Himmel geeignet ist. Er führt nicht ein
träumerisches Leben inmitten einer finsteren und trüben Um=
gebung, nein, sein glückliches Vorrecht ist es, von Tag zu Tag
inmitten der Szenen und Umstände der Erde die Gnade und
die Tugenden eines himmlischen Christus zu betrachten und
zu verkündigen, mit Dem er durch eine unendliche Gnade und
auf dem unerschütterlichen Grunde einer vollbrachten Erlösung
verbunden ist durch die Macht des Heiligen Geistes. Das ist der
Christ nach der Belehrung des Neuen Testaments. Seine Sünden
sind vergeben, er besitzt ewiges Leben, und er weiß dies, der
Heilige Geist wohnt in ihm, er ist angenommen in und verbunden mit einem auferstandenen und verherrlichten Christus,
er ist der Welt gekreuzigt, ist der Sünde und dem Gesetz gestorben, und er findet den Gegenstand seines Herzens, seine
Wonne und seine geistliche Nahrung in dem Christus, Der ihn
geliebt und Sich Selbst für ihn dahingegeben hat, und auf
Dessen Ankunft er jeden Tag seines Lebens hofft.
Das sind, wir wiederholen es, die Gedanken des Neuen
Testaments über einen Christen. Wie unendlich verschieden sie
sind von dem gewöhnlichen Gepräge christlicher Bekenntnisse
um uns her, brauchen wir wohl nicht zu sagen. Möchte der
Leser sich nach dem göttlichen Muster messen und sehen, wo=
ran es bei ihm fehlt; denn er kann versichert sein, daß, soweit
die Liebe Gottes, oder das Werk Christi, oder das Zeugnis des
Heiligen Geistes in Betracht kommen, es durchaus keinen
Grund gibt, weshalb er sich nicht des ganzen Reichtums jener
133
geistlichen Segnungen, die der wahren christlichen Stellung angehören, völlig und ungeteilt erfreuen sollte. Finsterer, durch
Gesetzlichkeit genährter Unglaube, schlechte Lehre und falsche
Religiosität berauben eine große Zahl der geliebten Kinder
Gottes des ihnen zukommenden Platzes und ihres Teils. Bei
vielen jedoch ist es auch, daß es an dem vollständigen Bruch mit
der Welt fehlt, wodurch sie gehindert sind, klar zu denken und
als himmlische Menschen ihre Stellung zu verwirklichen und
ihre Vorrechte zu genießen.
Doch wir greifen der Unterweisung, die wir in der vorbild=
liehen Geschichte Israels in Josua 3—5 entfaltet finden, vor. Wir
lesen im Anfang des dritten Kapitels: „Da machte sich Josua
des Morgens früh auf, und sie brachen auf von Sittim und
kamen an den Jordan, er und alle Kinder Israel, und sie raste=
ten daselbst, ehe sie hinübergingen. Und es geschah am Ende
von drei Tagen, da gingen die Vorsteher mitten durch das
Lager, und sie geboten dem Volke und sprachen: Sobald ihr
die Lade des Bundes Jehovas, eures Gottes seht, und die Prie=
ster, die Leviten, sie tragen, dann sollt ihr von eurem Orte
aufbrechen und ihr nachfolgen. Doch soll zwischen euch und
ihr eine Entfernung sein bei zweitausend Ellen an Maß. Ihr
sollt ihr nicht nahen, auf daß ihr den Weg wisset, auf dem ihr
gehen sollt; denn ihr teid des Weges früher nicht gezogen"
(Jos 3, 1-4).
Es ist unser sehnlicher Wunsch, daß der Leser mit aller Ein=
fachheit und Klarheit die wahre geistliche Bedeutung des Jor=
danflusses erfasse. Wie das Rote Meer, so stellt auch der Jordan
den Tod Christi in einem seiner wichtigsten Gesichtspunkte
vor. Als die Kinder Israel auf der anderen Seite des Schilfmeeres
standen, sangen sie das Lied der Erlösung. Sie waren ein be=
freites Volk, befreit von Ägypten und von der Macht Pharaos.
Sie sahen alle ihre Feinde tot an den Ufern des Meeres. Sie
konnten deshalb in jubelnden Tönen ihren triumphierenden
Einzug in das gelobte Land im voraus besingen. „Du hast durch
deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine
Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung. Es hörten's die
Völker, sie bebten, Zittern ergriff die Bewohner Philistäas. Es
wurden bestürzt die Fürsten Edoms, die Starken Moabs, sie
ergriff Beben; es verzagten alle Bewohner Kanaans. Es über=
134
fiel sie Schrecken und Furcht; ob der Größe deines Armes ver=
stummten sie gleich einem Stein, bis hindurchzog dein Volk,
Jehova, bis hindurchzog das Volk, das du erworben hast. Du
wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils,
die Stätte, die du, Jehova, zu deiner Wohnung gemacht, das
Heiligtum, Herr, das deine Hände bereitet haben. Jehova wird
König sein immer und ewiglich" (2. Mo 15, 13—18)! Dies alles
war herrlich und göttlich wahr, und doch war Israel noch nicht
in Kanaan. Der Jordan, den sie in ihrem prächtigen Siegesge=
sang gar nicht erwähnen, lag noch zwischen ihnen und dem
gelobten Land. Es ist wahr, nach den Ratschlüssen Gottes und
nach dem Urteil des Glaubens gehörte das Land ihnen, aber
sie hatten noch die Wüste zu durchpilgern, den Jordan zu über=
schreiten und das Land selbst in Besitz zu nehmen.
Wir begegnen der gleichen Erscheinung fortwährend in der
Geschichte der Seelen. In den ersten Augenblicken nach der
Bekehrung findet sich nur Raum für Freude, Dank und Preis.
Die Seelen wissen, daß ihre Sünden vergeben sind, und sie
sind mit Bewunderung, Liebe und Anbetung erfüllt. Gerechte
fertigt aus Glauben, haben sie Frieden mit Gott; sie können sich
in der Hoffnung Seiner Herrlichkeit rühmen, ja sie können sich
Gottes Selbst rühmen durch unseren Herrn Jesum Christum.
Sie befinden sich in Römer 5, 1—11; und in einer Hinsicht kann
es nichts Erhabeneres geben. Im Himmel selbst werden wir
nichts Erhabeneres oder Besseres besitzen als diese Freude und
dies Rühmen in Gott, aber dann freilich in einer vollkommenen
Weise. Man spricht oft davon, daß das achte Kapitel des Römer=
briefes erhabenere Wahrheiten enthalte, als das fünfte. Aber
was kann wohl höher und erhabener sein, als sich Gottes zu
rühmen? Wenn wir zu Gott gebracht sind, haben wir den
höchsten Punkt erreicht, zu dem eine Seele je kommen kann.
Ihn zu kennen als unser Teil, unsere Ruhe, unseren Halt, den
Gegenstand unserer Herzen, unser alles, alle unsere Quellen
in Ihm zu haben und zu wissen, daß Er zu allen Zeiten, an
allen Orten und in allen Umständen eine volle Fülle für unsere
Augen ist, das ist für den Gläubigen der Himmel selbst.
Doch dieser Unterschied besteht zwischen Röm 5 und 8, daß
die Kapitel 6 und 7 dazwischenliegen. Wenn die Seele prak=
tischerweise die Kapitel 6 und 7 durchschritten und gelernt hat,
135
wie sie die kostbaren und tiefen Wahrheiten, die darin sind, auf
die großen Fragen der inwohnenden Sünde und des Gesetzes
anwenden muß, dann ist sie in einem besseren Zustande, ob=
wohl sicherlich nicht in einer erhabeneren Stellung. Wir wieder=
holen noch einmal ausdrücklich die Worte: „praktisch durchschritten", denn wir müssen dies getan haben, wenn wir wirklich in jene heiligen Geheimnisse, Gott gemäß, eintreten wollen.
Es ist nicht schwer, darüber zu sprechen, daß wir der Sünde und
dem Gesetz gestorben sind, es ist leicht diese Dinge in Römer 6
und 7 niedergeschrieben zu sehen und mit dem Verstände ihre
bloße Theorie zu erfassen. Die Frage ist aber: Haben wir sie
uns zu eigen gemacht? Sind sie durch die Macht des Heiligen
Geistes in praktischer Weise auf unsere Seelen angewendet
worden? Finden sie in unserem täglichen Wandel einen leben=
digen Ausdruck zur Verherrlichung Dessen, Der uns um einen
so hohen Preis zu einem so wunderbaren Platz der Segnung
und des Vorrechts gebracht hat? Es steht sehr zu befürchten,
daß diese tiefen und kostbaren Wahrheiten bei einem großen
Teil der Gläubigen eine bloße Sache des Wissens sind, während
sie, wenn sie wirklich in geistlicher Kraft erfaßt werden, im
praktischen Leben die bemerkenswertesten Resultate hervor=
zubringen vermögen.
Doch wir müssen zu unserem Thema zurückkehren, und
indem wir dies tun, möchten wir die Frage an jeden Leser dieser
Zeilen richten: „Verstehst du wirklich die wahre geistliche Be=
deutung des Jordanflusses?" Wir haben gesagt, daß er den Tod
Christi darstelle. Aber wir können den Tod Christi von ver=
schiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, und wir glauben,
daß der Jordan nicht so sehr ein Bild des Todes unseres Herrn
Jesu ist in seiner Anwendung auf das, wovon Er uns befreit hat,
als vielmehr auf das, worin wir eingeführt worden sind. Das
Rote Meer befreite Israel von Ägypten und von Pharao. Der
Jordan brachte sie in das Land Kanaan. Wir finden beides in
dem Tode Christi. Er hat uns, gepriesen sei Sein Name! durch
Seinen Kreuzestod nicht nur von unseren Sünden, unserer
Schuld und unserer Verdammnis, sondern auch von der Macht
Satans und von diesem gegenwärtigen bösen Zeitlauf befreit,
und Er hat uns durch dasselbe unendlich kostbare Werk jetzt
in eine ganz neue Stellung, in eine lebendige Vereinigung und
136
Gemeinschaft mit Sich Selbst gebracht, und zwar dort, wo Er
ist zur Rechten Gottes. Das ist die bestimmte Lehre des 2. Ka=
pitels des Briefes an die Epheser. Der Apostel sagt dort: „Gott
aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe,
womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot
waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht (durch
Gnade seid ihr errettet), und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen örtern in Christo Jesu"
(V. 4-6).
Beachten wir hier das Wörtchen „hat". Der Apostel spricht
nicht davon, was Gott tun will, sondern was Er getan hat —
getan für uns und mit uns in Christo. Der Gläubige erwartet
nicht, zum Himmel zu gehen, wenn er stirbt. Er ist schon dort
in der Person Seines lebendigen und verherrlichten Hauptes,
er ist dort im Geist und durch den Glauben. Aber ist das alles
wirklich wahr? möchte vielleicht mancher fragen. Es ist ebenso
wahr und gewiß, wie Christus am Kreuze hing und im Grabe
lag. Ebenso wahr und gewiß, wie wir tot in Sünden und Über=
tretungen waren. Es ist so wahr, wie es die ewige Wahrheit
Gottes machen kann, so wahr, wie die Inwohnung des Heiligen
Geistes in jedem wahren Gläubigen.
Wir sprechen jetzt natürlich nicht von der praktischen Ver=
wirklichung aller dieser herrlichen Wahrheiten im täglichen
Leben des Christen. Das ist eine ganz andere Sache. Ach, wenn
wir unsere Schlüsse über die wahre christliche Stellung aus dem
praktischen Wandel der bekennenden Christen zu ziehen
hätten, so könnten wir das Christentum nur als eine sagen=
hafte Mythe, als einen Schatten aufgeben. Doch, Gott sei Dank!
es ist nicht so. Aus den Schriften des Neuen Testaments er=
fahren wir, was wahres Christentum ist, und wir lernen dort
zu gleicher Zeit, uns selbst, unsere Wege und unsere Um=
gebung in seinem himmlischen Licht zu richten. Auf diese Weise
werden unsere Herzen, während wir sicher immer über unsere
Gebrechen zu seufzen und sie zu bekennen haben werden,
mehr und mehr erfüllt sein mit Lob und Dank gegen Ihn,
Dessen unendliche Gnade uns in Verbindung und in Gemein=
schaft mit Seinem eigenen Sohn in eine so herrliche Stellung
versetzt hat, eine Stellung, die in keiner Weise von unserem
persönlichen Zustand abhängig ist, sondern die, wenn sie wirk137
lieh verstanden wird/
einen mächtigen Einfluß auf unser ganzes
Verhalten und auf unseren Charakter ausüben muß*).
4
Je tiefer wir in die vorbildliche Belehrung, die uns in dem
Jordanfluß dargeboten wird, eindringen, um so klarer muß es
uns werden, daß die ganze christliche Stellung in dem Stand=
punkt eingeschlossen ist, von dem wir ihn betrachten. Wenn
der Jordan ein Bild des Todes ist und wir diesem noch zu be=
gegnen haben, dann sind wahrlich unsere Aussichten sehr
düster; denn der Tod ist der Lohn der Sünde, und die Sünde
ist der Stachel des Todes. Aber Gott sei Dank! es ist nicht so.
Das große Gegenbild der Bundeslade ist vor uns in den Jordan
hineingegangen, um seine Fluten aufzuhalten und ihn zu einem
trockenen Pfad für unsere Füße zu machen, damit wir rein und
unversehrt in unser himmlisches Erbteil hinübergehen könnten.
Der Fürst des Lebens hat um unseretwillen den, der die Macht
des Todes hat zunichte gemacht. Er hat dem Tode seinen Stachel
genommen, ja Er hat den Tod selbst zu dem Mittel gemacht,
durch das wir in dem gegenwärtigen Augenblick im Geiste und
durch den Glauben das himmlische Kanaan erreichen.
Laßt uns jetzt untersuchen, inwieweit dies alles in unserem
Vorbilde dargestellt wird. Vor allem ist der Befehl, der durch
die Vorsteher gegeben wurde, beachtenswert. „Sobald ihr die
Lade des Bundes Jehovas, eures Gottes, sehet, und die Priester,
die Leviten, sie tragen, dann sollt ihr von eurem Orte auf=
brechen und ihr nachfolgen". Die Lade mußte vorausgehen. Die
Israeliten durften sich keinen Zoll auf jenem geheimnisvollen
Wege vorwärtsbewegen, bevor das Symbol der Gegenwart
Gottes vorausgegangen war. „Doch soll zwischen euch und ihr
eine Entfernung sein bei zweitausend Ellen an Maß. Ihr sollt
ihr nicht nahen, auf daß ihr den Weg wisset, auf dem ihr gehen
sollt, denn ihr seid des Weges früher nicht gezogen" (V. 4).
Es war ein unbekannter Weg, der noch nie betreten worden
*) Wir bitten den Leser dringend, mit Aufmerksamkeit Römer 3—8 und Epheser
1 und 2 zu lesen und diese Kapitel in Verbindung mit dem uns augenblicklich
beschäftigenden Gegenstande zu untersuchen. Die Kapitel 3—8 im Römerbrief
stehen in genauer Beziehung zu den Begebenheiten am Roten Meer, die Kapitel
1—2 im Epheserbrief in Beziehung zu dem Jordan.
138
war. Kein Sterblicher konnte ihn straflos betreten. Tod und
Verdammnis sind miteinander verbunden. „Es ist dem Men=
sehen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht"
(Hebr 9, 27). Wer kann vor dem König der Schrecken bestehen?
Wer kann jenem grimmigen, schrecklichen Feinde Trotz bieten?
Wer kann die Fluten des Jordan durchschreiten? Der arme
Petrus glaubte, es zu können, aber wir wissen, wie sehr er
sich täuschte. Er sagte zu Jesu: „Herr, wo gehst du hin? Jesus
antwortete ihm: Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht
folgen; du wirst mir aber später folgen" (Joh 13, 36). Welch
eine deutliche Erklärung geben uns diese Worte über die Be=
deutung jenes geheimnisvollen Zwischenraums zwischen Israel
und der Lade des Bundes! Petrus verstand diesen Zwischen=
räum nicht. Er hatte Josua 3 und 4 nicht richtig untersucht. Er
kannte durchaus nicht jenen schrecklichen Pfad, den sein geliebter Herr und Meister im Begriff stand zu betreten. „Petrus
spricht zu ihm: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen?
Mein Leben will ich für dich lassen" (V. 37).
Der arme Petrus! Wie wenig kannte er sich selbst! Wie wenig
verstand er von dem, was er sich in seiner Unwissenheit ver=
maß zu tun! Er dachte nicht im geringsten daran, daß schon das
ferne Geräusch der dunklen Wasser des Todes genügen wür=
den, um ihn so zu erschrecken, daß er fluchen und schwören
würde, seinen Meister nicht zu kennen. „Jesus antwortete: Dein
Leben willst du für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage
dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal ver=
leugnet hast" (V. 38).
„Doch soll eine Entfernung sein zwischen euch und ihr". Wie
nötig und wichtig ist dies! Zwischen Petrus und dem Herrn gab
es wahrlich einen Zwischenraum. Jesus mußte vorangehen. Er
mußte dem Tode in seiner schrecklichen Gestalt begegnen. Er
mußte jenen rauhen Pfad in völliger Einsamkeit betreten, denn
wer hätte Ihn begleiten können?
„Du kannst mir jetzt nicht folgen; du wirst mir aber später
folgen". Anbetungswürdiger Herr! Er wollte nicht dulden, daß
Sein armer, schwacher Diener jenen schrecklichen Pfad eher
betrat, als bis Er Selbst vorangegangen war und seinen Charak=
ter so gänzlich verändert hatte, daß er durch die Strahlen des
Lebens und der Unsterblichkeit erhellt wird. Unser Jesus hat
139
„den Tod zunichte gemacht und Leben und Unvergänglichkeit
ans Licht gebracht durch das Evangelium" (2. Tim 1, 10). Der
Tod ist daher für den Gläubigen nicht länger mehr Tod. Für
Jesum war es der Tod in seiner ganzen furchtbaren Wirklich^
keit, mit allen seinen Schrecken. Er begegnete ihm als der
Macht, die Satan über die Seele des Menschen besitzt.
Er begegnete ihm als der Strafe, welche die Sünde verdient,
und als dem gerechten Gericht Gottes gegen die Sünde und
gegen uns. Nichts was imstande war, den Tod schrecklich zu
machen, fehlt bei dem Tode Christi. Er begegnete allem, und wir
werden, Gott sei dafür gepriesen! als solche betrachtet, die in
Ihm und durch Ihn durch alles hindurchgegangen sind. Wir starben in Ihm, so daß der Tod nicht länger ein Anrecht auf uns oder
eine Macht über uns hat. Seine Anrechte sind beseitigt, seine
Macht ist gebrochen und für alle Gläubigen hinweggetan. Der
ganze Schauplatz ist völlig vom Tode gereinigt und mit Leben
und Unvergänglichkeit angefüllt.
Und dann finden wir in der Geschichte des Petrus, im letzten
Kapitel des Evangeliums Johannes, wie unser Herr, voll von
Gnade, dem aufrichtigen Verlangen Seines Dieners, seinem
geliebten Herrn zu folgen, entgegenkommt. „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: als du jünger warst, gürtetest du dich selbst
und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt geworden
bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird
dich gürten und hinbringen, wohin du nicht willst. Dies aber
sagte er, andeutend, mit welchem Tode er Gott verherrlichen
sollte" (Joh 21, 18. 19). Der Tod wurde also, anstatt das Ge=
rieht Gottes zu sein um Petrus zu überwältigen, zu einem Mittel,
durch das er Gott verherrlichen konnte.
Welch eine herrliche Tatsache! Welch ein staunenswertes
Geheimnis! Wie verherrlicht dieses das Kreuz oder vielmehr
den Einen, Der am Kreuze hing! Welch eine gewaltige Umwälzung muß stattgefunden haben, wenn ein armer, sündiger
Mensch im Tode Gott verherrlichen kann! So völlig ist der Tod
seines Stachels beraubt und so gänzlich sein Charakter ver=
ändert worden, daß wir ihm, statt vor ihm zurückzuschrecken,
mit Siegesliedem auf unseren Lippen entgegengehen können,
und daß er, statt für uns der Lohn der Sünde zu sein, zu einem
Mittel wird, durch das wir Gott verherrlichen können.
140
Doch wir müssen zu unserem Gegenstand zurückkehren.
„Und Josua sprach zu den Priestern und sagte: Nehmet die
Lade des Bundes auf und ziehet vor dem Volke hinüber. Und
sie nahmen die Lade des Bundes auf und gingen vor dem Volke
her. Und Jehova sprach zu Josua: An diesem Tage will ich be=
ginnen, dich in den Augen von ganz Israel groß zu machen,
damit sie wissen, daß, so wie ich mit Mose gewesen bin, ich mit
dir sein werde". Josua steht vor uns als ein Vorbild des auf=
erstandenen Christus, Der in der Macht des Heiligen Geistes
Sein Volk in sein himmlisches Erbe einführt. Die Priester,
welche die Lade mitten in den Jordan hineintragen, stellen Chri=
stum vor, wie Er für uns in den Tod ging und die Macht völlig
vernichtete. Er ging durch die finsteren Fluten des Todes hin=
durch, um unsere Ruhe zu sichern, und nicht allein dies, son=
dem auch, um uns in Verbindung mit Sich in die Ruhe einzuführen, und zwar jetzt im Geiste und durch den Glauben,
später aber in Wirklichkeit. „Und Josua sprach zu den Kindern
Israel: Tretet herzu und höret die Worte Jehovas, eures Gottes!
Und Josua sprach: Hieran sollt ihr wissen, daß der lebendige
Gott in eurer Mitte ist, und daß er die Kanaaniter und die Hethiter . . . gänzlich vor euch austreiben wird. Siehe, die Lade des
Bundes des Herrn der ganzen Erde wird vor euch hörgehen in
den Jordan" (V. 9-11).
Daß die Bundeslade in den Jordan eintrat, bewies zweierlei,
nämlich daß der lebendige Gott in der Mitte Seines Volke|s
gegenwärtig war, und daß Er alle ihre Feinde gänzlich vor ihnen
austreiben würde. Der Tod Christi ist für den Glauben die
Grundlage und die Garantie für alles. Aus der einen großen
Tatsache, daß Christus für uns in den Tod gegangen ist, schlie=
ßen wir mit völligem Vertrauen, daß alles in Ordnung gemacht
ist. Gott ist mit uns, und Gott ist für uns. „Er, der doch seines
eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken"
(Röm 8, 32)? Die Schwierigkeit für den Ungläubigen besteht in
der Frage: „Wie wird Er schenken?" Der Glaube dagegen fragt:
„Wie wird Er nicht schenken?" Israel mochte verwundert fragen, wie denn alle die zahllosen Heere der Kanaaniter vor
ihnen ausgetrieben werden sollten; blickten sie jedoch auf die
Lade in der Mitte des Jordan, so mußten alle Bedenken und alle
Zweifel schwinden. Und daher können wir fragen: Was dürfen
141
wir nicht erwarten im Blick darauf, daß Christus für uns ge=
sterben ist? Nachdem Gott Seines eingeborenen Sohnes nicht
geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat, gibt es
nichts mehr, was für Ihn zu gut, zu groß oder zu herrlich wäre,
um es für uns und in uns und mit uns zu tun. Alles ist uns
durch den Tod Christi zugesichert. Er hat den Weg geöffnet, auf
dem sich die reichen Ströme der Liebe Gottes in unsere Seelen
ergießen können. Er gibt uns die süße Versicherung, daß Er,
der Seinen eigenen Sohn für uns auf dem Fluchholz richtete,
allen unseren Bedürfnissen begegnen, uns durch alle Schwierig=
keiten hindurchführen und in den vollen Besitz und Genuß von
allem bringen wird, was Seine ewigen Gnaden=Ratschlüsse für
uns vorgesehen haben. Nachdem Er uns einen solchen Beweis
Seiner Liebe zu einer Zeit, da wir noch Sünder waren, gegeben
hat, was können wir da nicht jetzt aus Seinen Händen erwarten,
wo Er uns in Verbindung mit der gesegneten Person Dessen
sieht, Der Ihn im Tode verherrlicht hat? Sobald Israel die Lade
in der Mitte des Jordan erblickte, war es berechtigt, alles für
geordnet zu betrachten. Sie hatten wohl, wie wir wissen, von
dem Lande noch Besitz zu nehmen und ihre Füße auf ihr Erbe
zu setzen, aber die Macht, die imstande war, die Wogen des
Jordan aufzuhalten, vermochte auch jeden Feind vor ihnen aus=
zutreiben und sie in den friedlichen Besitz von allem zu brin=
gen, was Gott ihnen verheißen hatte.
Bevor wir diese kurze Betrachtung über Gilgal schließen,
müssen wir unsere Gedanken noch auf die praktische Anwen=
düng dessen richten, was unsere Aufmerksamkeit bisher be=
schäftigt hat. Wenn es wahr ist — und es ist wahr — daß Chri=
stus für uns starb, so ist es gleichfalls wahr, daß wir in Ihm
mitgestorben sind. Es gibt wohl keine Wahrheit von größerem
praktischem Wert als diese. Sie bildet die Grundlage von allem
wahren Christentum. Wenn Christus für uns und wir mit Ihm
gestorben und auferweckt sind, so sind wir dadurch völlig aus
unserer alten Stellung und aus allem, was ihr angehörte, her=
ausgenommen und auf einen ganz neuen Boden gestellt wor=
den. Wir können von dem Auferstehungs=Ufer aus zurück*
blicken auf den finsteren Todesfluß und in seinen tiefsten
Tiefen das Gedächtnis an den Sieg entdecken, den der Fürst des
Lebens für uns errungen hat. Wir erblicken den Tod nicht vor
142
uns; er liegt hinter uns, und wir können in Wahrheit sagen:
„Die Bitterkeit des Todes ist vorüber".
Jesus begegnete dem Tode für uns, und das in seiner schreck=
lichsten Form. Gerade wie der Jordan geteilt wurde, als er am
gewaltigsten erschien — „denn der Jordan war voll über alle
seine Ufer, alle Tage der Ernte hindurch" — so auch stritt
Christus mit unserem letzten großen Feinde in seiner seh reck=
lichsten Gestalt, und Er besiegte ihn. Preis und Anbetung sei
Seinem herrlichen Namen! Es ist unser Vorrecht, durch den
Glauben und im Geiste auf der kanaanitischen Seite des Jordan
zu stehen und unseren Lobgesang zu erheben über alles, was
der Heiland, der wahre Josua, für uns getan hat.
„Und es geschah, als die ganze Nation vollends über den
Jordan gezogen war, da sprach Jehova zu Josua und sagte:
Nehmet euch aus dem Volke zwölf Männer, je einen Mann aus
einem Stamme, und gebietet ihnen und sprechet: Hebet euch
auf von hier, aus der Mitte des Jordan, von dem Standort, wo
die Füße der Priester fest gestanden haben, zwölf Steine, und
bringet sie mit euch hinüber und leget sie nieder in dem Nacht=
lager, wo ihr diese Nacht übernachten werdet. Und Josua rief
die zwölf Männer, die er aus den Kindern Israel bestellt hatte,
je einen Mann aus einem Stamme. Und Josua sprach zu ihnen:
Gehet hinüber vor der Lade Jehovas, eures Gottes, in die Mitte
des Jordan, und hebet euch auf ein jeder einen Stein auf seine
Schulter, nach der Zahl der Stämme der Kinder Israel, damit
dies ein Zeichen unter euch sei. Wenn eure Kinder künftig
fragen und sprechen: Was bedeuten euch diese Steine? so sollt
ihr zu ihnen sagen, daß die Wasser des Jordan vor der Lade
des Bundes Jehovas abgeschnitten wurden; als sie durch den
Jordan ging, wurden die Wasser des Jordan abgeschnitten. Und
diese Steine sollen für die Kinder Israel zum Gedächtnis sein
ewiglich" (Jos 4, 1—7).
Welche Lektionen gibt es hier für uns zu lernen! Je ein Mann
aus jedem Stamm hatte einen Stein zu nehmen von dem Stand=
ort hinweg, wo die Füße der Priester gestanden hatten. Alle
sollten in eine lebendige, persönliche Verbindung mit der
großen, geheimnisvollen Tatsache gebracht werden, daß die
Wasser des Jordan abgeschnitten wurden. Alle sollten teilhaben
an der Errichtung eines Gedenkzeichens an diese Tatsache, und
143
zwar eines Gedenkzeichens, das die Frage ihrer Kinder erregen
sollte. Richten wir auch ein solches Zeichen auf? Sind wir ein
Zeugnis von der Tatsache, daß unser Jesus die Macht des Todes
für uns überwunden hat? Beweisen wir in unserem täglichen
Leben, daß Christus für uns gestorben ist, und wir in Ihm?
Gibt es etwas in unserem Wandel, das dem in der eben ange=
führten Stelle enthaltenen Bilde entspricht? Bekennen wir es
offen, daß wir unversehrt den Jordan überschritten haben, daß
wir zu dem Himmel gehören und nicht mehr im Fleische, son=
dem im Geiste sind? Sehen unsere Kinder etwas in unseren
Gewohnheiten und Wegen, in unserem ganzen Charakter, in
unserem Wandel und in unserer Lebensweise, das sie dazu
führt, zu fragen: „Warum tut ihr dieses?" Leben wir als solche,
die mit Christo der Sünde und der Welt gestorben sind? Sind
wir praktisch von der Welt getrennt und haben wir, ]<raft
unserer Vereinigung mit einem auferstandenen Christus, alle
unsere Stützen auf gegenwärtige Dinge fahren lassen?
Dies sind ernste Fragen für die Seele, mein lieber christlicher
Leser. Laßt uns suchen, sie aufrichtig, als die wir uns in der
göttlichen Gegenwart befinden, zu beantworten. Wir bekennen
diese Dinge und halten sie in der Theorie aufrecht; wir sagen,
daß wir glauben, daß Jesus für uns gestorben ist, und wir in
Ihm. Wo ist der Beweis, wo das bleibende Gedächtnis? Möchten
wir uns aufrichtig vor Gott richten! Möchten wir uns nicht
länger mit etwas wenigerem zufriedengeben, als der völligen,
praktischen Verwirklichung der großen Wahrheit, daß „wir
gestorben sind, und daß unser Leben verborgen ist mit dem
Christus in Gott!" Ein bloßes Bekenntnis ist wertlos. Wir be=
dürfen der lebendigen Kraft, der wahren Resultate und der
persönlichen Früchte.
„Und das Volk stieg aus dem Jordan herauf am Zehnten des
ersten Monats, und sie lagerten in Gilgal an der Ostgrenze von
Jericho. Und jene zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genom=
men hatten" — es sind Steine von besonderer Bedeutung; keine
anderen Steine konnten eine solche Sprache reden, keine solche
Lektionen geben, keine solche wunderbare Tatsache symbolisch
darstellen — „jene zwölf Steine richtete Josua zu Gilgal auf. Und
er sprach zu den Kindern Israel und sagte: Wenn eure Kinder
künftig ihre Väter fragen und sprechen: Was bedeuten diese
144
Steine? so sollt ihr es euren Kindern kundtun und sprechen:
auf trockenem Boden ist Israel durch diesen Jordan gezogen.
Denn Jehova, euer Gott, hat die Wasser des Jordan vor euch
ausgetrocknet, bis ihr hinübergegangen wäret, wie Jehova, euer
Gott mit dem Schilfmeer tat, das er vor uns austrocknete, bis
wir hinübergegangen waren: damit alle Völker der Erde die
Hand Jehovas erkennten, daß sie stark ist; damit ihr Jehova,
euren Gott, fürchtet alle Tage" (Jos 4, 19—24).
Hier sehen wir also Israel in Gilgal. Jedes Glied des Heeres
hatte unversehrt den Jordan überschritten; nicht einer von
ihnen war von den Fluten des Flusses berührt worden. Die
Gnade hatte sie alle wohlbehalten in das ihren Vätern ver=
heißene Erbteil gebracht. Sie waren nicht nur von Ägypten
durch das Rote Meer getrennt, sondern auch durch das trockene
Bett des Jordan in das Land Kanaan hineingebracht worden und
hatten ihr Lager in den Ebenen Jerichos, bei Gilgal, aufge=
schlagen. Doch beachten wir, was jetzt folgt: „Und es geschah,
als alle Könige der Amoriter, die diesseits des Jordan westwärts,
und alle Könige der Kanaaniter, die am Meere waren, hörten,
daß Jehova die Wasser des Jordan vor den Kindern Israel aus=
getrocknet hatte, bis sie hinübergegangen waren, da zerschmolz
ihr Herz, und es war kein Mut mehr in ihnen vor den Kindern
Israel. In selbiger Zeit" — beachten wir diese Worte! als alle
Nationen bei dem bloßen Gedanken an dieses Volk vor Schrek=
ken gelähmt waren — „in selbiger Zeit sprach Jehova zu Josua:
Mache dir Steinmesser und beschneide wiederum die Kinder
Israel zum zweiten Male" (Kap. 5, 1. 2).
Wie bezeichnend ist dies! Welch eine Fülle von Gedanken
erwecken diese „Steinmesser" in uns! Als Israel im Begriff
stand, das Schwert über die Kanaaniter zu bringen, mußten zu=
vor die Steinmesser auf sie selbst angewandt werden. Sie waren
in der Wüste nicht beschnitten worden. Die Schande Ägyptens
war noch nicht von ihnen abgewälzt. Und ehe sie das Passah
feiern und das alte Korn des Landes Kanaan essen konnten,
mußte das Urteil des Todes auf sie geschrieben werden. Ohne
Zweifel war dies durchaus nicht angenehm für die Natur, aber es
mußte geschehen. Wie konnten sie Besitz von Kanaan nehmen,
während die Schande Ägyptens auf ihnen lastete? Wie konnte
ein unbeschnittenes Volk die Kanaaniter aus ihrem Besitz ver=
145
treiben? Unmöglich. Die Steinmesser mußten ihr Werk tun in
dem ganzen Lager Israels, bevor sie das Getreide Kanaans essen
oder den Krieg beginnen konnten.
„Und Josua machte sich Steinmesser und beschnitt die Kinder
Israel am Hügel Araloth (scharfe Messer). Und dies ist die
Sache, warum Josua sie beschnitt: Das ganze Volk, das aus
Ägypten ausgezogen war, die Männlichen, alle Kriegsleute,
waren in der Wüste gestorben, auf dem Wege, als sie aus Ägypten zogen, . . . Und ihre Söhne, die er an ihrer statt aufkommen
ließ, diese beschnitt Josua, denn sie hatten Vorhaut, weil man
sie auf dem Wege nicht beschnitten hatte . .. Und Jehova sprach
zu Josua: Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch abgewälzt. Und man gab selbigem Ort den Namen Gilgal (Abwälzung) bis auf diesen Tag. Und die Kinder Israel lagerten in
Gilgal und feierten das Passah am vierzehnten Tage des Mo=
nats am Abend in den Ebenen von Jericho. Und sie aßen am
anderen Tage nach dem Passah von dem Erzeugnis des Landes,
ungesäuertes Brot und geröstete Körner, an diesem selbigen
Tage. Und das Man hörte auf am anderen Tage, als sie von
dem Erzeugnis des Landes aßen, und es gab für die Kinder
Israel kein Man mehr; und sie aßen vom Ertrage des Landes
Kanaan in jenem Jahre" (Kap. 5, 3—12).
Hier haben wir ein Bild der ganzen christlichen Stellung. Der
Christ ist ein himmlischer Mensch, der Welt gestorben, mit
Christo gekreuzigt und mit Ihm dort, wo Er jetzt ist, verbun=
den; und während er auf Sein Erscheinen wartet, ist er in
seinem Herzen mit Ihm beschäftigt und nährt sich durch den
Glauben von Ihm, der die wahre Nahrung des neuen Menschen
ist. Das ist die Stellung und das Teil des Christen; aber um
in den vollen Genuß dieser Stellung eintreten zu können, müs=
sen die „Steinmesser" auf alles angewendet werden, was der
Natur angehört. Das Urteil des Todes muß auf alles geschrieben
werden, was die Schrift „den alten Menschen" nennt. Wir sind
anders nicht imstande, unsere Stellung aufrechtzuhalten und
uns unseres Teils als himmlische Menschen zu erfreuen. Lassen
wir unserer Natur freien Spielraum, bewegen wir uns in einer
niedrigen, weltlichen Atmosphäre, gehen wir den Vergnügun=
gen und Lustbarkeiten dieser Welt nach und geizen wir nach
ihren Ehren und Reichtümern, dann ist es wahrlich unmöglich,
146
uns der Gemeinschaft unseres auferstandenen Hauptes und
Herrn zu erfreuen*). Christus ist im Himmel, und wenn wir
uns Seiner erfreuen wollen, müssen wir im Geiste und durch
den Glauben dort verweilen, wo Er ist. Er ist nicht von dieser
Welt; und deshalb können wir, wenn wir weltlich gesinnt sind,
Seine Gemeinschaft nicht genießen. „Wenn wir sagen, daß
wir Gemeinschaft mit ihm haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit" (1. Joh 1, 6).
Dies ist sehr ernst. Wenn ich in und von der Welt lebe, so
wandle ich in der Finsternis und kann keine Gemeinschaft mit
einem himmlischen Christus haben. „Wenn ihr", fragt Paulus
die Kolosser, „mit Christo den Elementen der Welt gestorben
seid, was unterwerfet ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in
der Welt?" Verstehen wir wirklich diese Worte? Haben wir das
volle Gewicht des Ausdrucks: „als lebtet ihr noch in der Welt",
in unseren Herzen erwogen? Diese Welt ist nicht der Schau=
platz, auf dem der Christ leben soll; er soll im Geiste dort
leben, wo Christus ist. Wohl hat er sich auf dieser Erde zu
bewegen und in den verschiedenen Verhältnissen und Wir=
kungskreisen, in die ihn die Hand Gottes versetzt, seinen Platz
auszufüllen, aber seine Heimat ist im Himmel. Sein Leben ist
dort. Der Gegenstand seines Herzens, seine Ruhe, ja sein alles
ist im Himmel. Er gehört nicht zu der Erde. Seine Bürgerschaft
ist im Himmel, und um dieses im täglichen Leben praktisch zu
verwirklichen, hat er sich selbst zu verleugnen und seine GIie=
der zu töten.
Dies alles wird uns in Kol 3 in lebendiger Weise vor Augen
geführt. Eine treffendere Auslegung des ganzen uns beschäf=
tigenden Gegenstandes kann man wohl kaum geben, als sie
uns in den Worten dargeboten wird: „Wenn ihr nun mit dem
Christus auferweckt seid, so suchet, was droben ist, wo der
*) Ich möchte hier bemerken, daß das „alte Korn" des Landes Kanaan ein
Vorbild des auferstandenen und verherrlichten Christus ist. Das Manna stellt
Christum in Seiner Erniedrigung vor. Die Erinnerung an Ihn in Seiner Ernie=
drigung ist unaussprechlich köstlich für die Seele. Es ist erquickend, zurück=
zublicken und Seinen Weg, den Er als der niedrige, demütige Mensch ging, zu
betrachten. Das heißt, sich von dem verborgenen Manna — von dem einst er=
niedrigten Christus — nähren. Dennoch ist ein auferstandener, erhöhter und ver=
herrlichter Christus der wahre Gegenstand für das Herz des Christen; aber um
sich dieses Gegenstandes erfreuen zu können, muß die Schande dieses gegen*
wärtigen, bösen Zeitlaufs durch die geistliche Anwendung der Beschneidung
Christi von uns abgewälzt werden.
147
Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was
droben ist nicht auf das, was auf der Erde ist, denn ihr seid
gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in
Gott. Wenn der Christus unser Leben, geoffenbart weden wird,
dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit". Und dann folgt die wahre geistliche Bedeutung und An=
wendung „Gilgals" und seiner „Steinmesser": „Tötet nun eure
Glieder, die auf der Erde sind" (Kol 3, 1—5).
Möchte der Heilige Geist uns in ein tieferes und völligeres
Verständnis unseres Platzes, unseres Teils und unseres prak=
tischen Lebens, als Christen, einführen! Wollte Gott, daß wir
besser verständen, was es heißt, uns von dem alten Korn des
Landes in dem wahren geistlichen Gilgal zu nähren, damit wir
so besser geschickt seien für den Dienst, zu dem wir berufen
sind.
Die Rotte Korah
4. Mose 16
Das Wort Gottes ist reich an ernsten Unterweisungen. Es
zeigt uns die mannigfachen Gefahren und Versuchungen, denen
das Volk auf seinem Wege durch diese Wüste ausgesetzt ist,
und ermahnt zu beständiger Wachsamkeit und Nüchternheit.
Der Feind schlummert nicht; er benutzt alles, um Unzufrieden=
heit, Mißtrauen, Unglauben und Murren gegen Gott in uns
wachzurufen.
Hierfür liefert uns unter anderem die Geschichte der Rotte
Korah ein schlagendes Beispiel. In ihr wird uns der ganze Ernst
Gottes in einer Sache gezeigt, die wir oft nicht so hoch anzu=
schlagen geneigt sind. Handelt es sich um das Werk Gottes auf
Erden, so dürfen wir überzeugt sein, daß der Herr ein großes
Interesse an ihm nimmt. Es ist Sein Werk; Er Selbst ist es,
Der alles tut, alles anordnet, jede Gabe verleiht und die, welche
Er zu Seinen Mitarbeitern beruft, für den Dienst ausrüstet.
148
Wie gesegnet ist es, dieses Werk Gottes anzuerkennen, Ihn
für alles zu preisen, was Er für die Versammlung tut, und es
mit dankbarem Herzen zu benutzen. Doch ebenso wie in Korah
und den 250 Männern in jenen Tagen keine Gottesfurcht war,
obwohl der Herr so große Dinge unter Israel getan und so
ernste Gerichte ausgeführt hatte, so finden wir auch in unseren
Tagen in vielen Versammlungen Geister des Widerspruchs,
Unzufriedene, die alles betrachten nach ihren Gedanken und
alles beurteilen nach menschlichen Begriffen, die völlig ver=
gessen, daß wir es mit Gott zu tun haben, und sich nicht fürch=
ten zu tadeln, die gerade so handeln und sprechen, als ob Gott
nichts bei der Sache zu sagen hätte. Auch gibt es solche, die
zwar nicht den Mut haben, etwas zu sagen oder die Fahne zu
entfalten, die aber bereit sind, wenn es irgendwie Widerspruch
gibt, sich den Unzufriedenen anzuschließen.
Satan erwählt sich gewöhnlich ein fähiges Werkzeug, um die
Leidenschaften des Volkes zu erregen. So war es der Fall bei
Korah, der den Grundsatz aufstellte, daß alle gleich seien, und
der Moses beschuldigte, herrschen zu wollen, obwohl dieser sich
kurz vorher geweigert hatte, die Last des ganzen Volkes fernerhin auf seinen Schullern allein zu tragen, weshalb der Herr ihm
siebzig Männer aus den Ältesten Israels beigesellte (S. 4. Mo 11).
Korah, erfüllt mit seinen eigenen Gedanken, vermaß sich
sogar, davon zu reden, daß Jehova in ihrer Mitte sei. Hätte er
auf dem zurückgelegten Wege nur ein wenig gelernt, was Je=
hova war, so würde ihn der Gedanke an die Gegenwart dieses
Jehova sicherlich erschreckt haben. Die ernsten Folgen des Ver=
haltens Korahs belehren uns, zu welch einem verderblichen
Ausgang die eigenen Gedanken und Meinungen führen, und
wie weit oft unsere Meinungen von den Gedanken Gottes ent=
fernt, ja diesen vielleicht völlig entgegengesetzt sind. Die Mei=
nung Korahs wurde sogar unterstützt von 250 Männern, Für=
sten der Gemeinde, und doch war sie ganz und gar verwerflich
vor Gott, ja so verwerflich, daß Gott nicht zögerte, Selbst in
der Wolke zu erscheinen, um Gericht zu halten. Korah tadelte
Moses; wenn aber Gott jemanden mit einem Dienste beauf=
tragt hat, wie darf man einen solchen dieserhalb tadeln? Man
würde Gott tadeln, der die Gabe verliehen hat. Im Grunde
wollte Korah sich selbst nur erheben; er trachtete nach einer
149
Stellung, die Gott ihm nicht gegeben hatte. Jeder hat sein be=
sonderes Werk; keiner sollte sich in das des anderen drängen
(1. Kor 12, 14—18). Gott ist es, der dies anordnet, und nicht ein
Mensch.
Als Moses diese Worte Korahs hörte (V. 4), fiel er auf sein
Angesicht. Sich bösen Menschen gegenüber zu verantworten,
ist nutzlos; man kann nichts besseres tun, als alles in die Hände
Gottes legen. Es ist nichts seltenes, wenn Gott uns mit einem
Dienste betraut hat, daß wir von Zeit zu Zeit von neidischen
Menschen angegriffen werden. Moses brachte alles vor den
großen Richterstuhl Gottes (V. 5), und er tat es nicht vergebens.
Es war die Sache Gottes.
Es genügte diesen Empörern nicht (V. 8—11), daß Gott Levi
einen gesegneten Dienst übertragen hatte. Korah hatte zu
dienen, aber er wollte mehr, er wollte Hoherpriester sein. Er
gab sich den Anschein, als handle er im Interesse der ganzen
Gemeinde; im Grunde aber suchte er nur seine eigene Ehre.
Und so ist es mit allen in der Versammlung Gottes, die durch
den Geist Korahs geleitet werden. Sie sind nicht zufrieden mit
dem Platz, den ihnen Gott angewiesen hat, und begehren den
Platz eines anderen; das ist der Widerspruch Korahs (V. 10).
Man sieht nicht, daß Korah und seine Rotte sich zu Jehova
wenden. Das menschliche Herz denkt in solchen Fällen der Er=
hebung nicht an Gott. Es kommt nicht in das Licht Seiner Ge=
genwart, es ist auch nicht fähig dazu. Voll von seinen eigenen
Gedanken, hat es mit sich und seinen Plänen genug. Wie ganz
anders war es mit Mose! Er konnte zu Jehova sagen: „Nicht
einen Esel habe ich von ihnen genommen, und nicht einem
unter ihnen ein Leid getan" (V. 15)! Moses konnte alle seine
Gefühle vor Gott bringen, alles in Seine Hände legen, und ohne
Zweifel war dies ein Bedürfnis für ihn. So sehen wir diese An=
kläger auf der einen Seite ohne Verbindung mit Gott, und
Moses auf der anderen Seite mit Gott in Gemeinschaft und
alles in Seine Hand legend.
Wir leben jetzt in einer Zeit der Erhebung des Menschen,
und es gibt in dieser Hinsicht viele Gefahren für uns. Es ist
daher nötig, wachsam zu sein und auf das Wort Gottes zu ach=
ten. In allem kommt es stets darauf an, wie Gott urteilt. Wir
können vielleicht lange Zeit unsere Meinungen festgehalten
150
und nach ihnen gehandelt haben, aber — am Ende kommt das
Urteil Gottes; und wie schmerzlich muß es dann für uns sein,
zu sehen, daß unsere Gedanken nicht mit den Gedanken Gottes
im Einklang waren! Möchten wir uns stets hüten, unseren
eigenen Meinungen zu folgen!
Wenn wir in der letzten Hälfte unseres Kapitels den großen
Ernst Gottes im Gericht Korahs sehen, so fühlen wir, welchen
Wert die Sache in den Augen Gottes hatte. Einen solchen Aus=
gang hatten Korah und sein Anhang gewiß nicht erwartet; aber
diese Erfahrung kam zu spät. Es gab keine Umkehr mehr,
sondern nur Gericht. Wie manche, die in ihrem Widerspruchs^
geist und in ihrem Urteilen über die, welche Gott zu einem
Dienst berufen hat, vorangehen, vergessen, wie ernst eine
solche Sache in den Augen Gottes ist, und welche traurigen
Folgen sie nach sich zieht. Möchte der Herr uns alle zur Förde=
rung Seines Werkes bereiten und durch Seinen Geist uns leiten,
mit Gebet und Fürbitte anstatt mit Tadel aller derer zu gedenken, die Er in Seinem Werke berufen hat!
Die Wiederherstellung Israels
oder der zehn Stämme
Die zehn Stämme gerieten ungefähr 130 Jahre vor der Weg=
führung Judas nach Babylon in die assyrische Gefangenschaft
(2. Kön 17). Die Ursache ihrer gewaltsamen Entfernung aus
Palästina waren ihre vielen, schrecklichen Sünden und der Göt=
zendienst, dem sie sich gänzlich hingegeben hatten. Sie kehrten
nie wieder in ihr Land zurück und waren infolgedessen an der
Verwerfung und Kreuzigung des Messias nicht beteiligt. Ihre
Wiederherstellung wird deshalb auch in einer besonderen Weise
geschehen. Sie werden nicht wie ihre Brüder aus dem Hause
Juda durch die schrecklichen Prüfungen unter dem Antichristen
gehen müssen. Hes 20, 33—39 erzählt die Wiederherstellung
der zehn Stämme durch den Herrn Selbst. Die Masse des jüdischen Volkes wird durch die Hilfe einer seefahrenden Nation
151
zurückgebracht werden (Jes 18). Welche menschlichen Werk=
zeuge aber auch von Gott gebraucht werden mögen, um die
Rückkehr der zehn Stämme zu unterstützen, sie bleiben ver=
borgen, und Gott Selbst wird als die Quelle und die ausführende Macht bei ihrer Zurückführung in ihr Land dargestellt.
Doch so wie einst die Ungläubigen und Ungehorsamen in der
Wüste umkamen und nur die Treuen in das Land eingingen,
so werden auch in jenen kommenden Tagen zuerst die Widerspenstigen und Aufrührerischen aus dem Volk ausgeschieden
und dann die Treuen und Gottesfürchtigen in das Land zurück^
gebracht werden, um sich mit ihren bekehrten Brüdern aus dem
Hause Juda zu vereinigen. Diese Sichtung wird außerhalb des
Landes stattfinden, während die Juden unter dem Antichristen
in dem Lande leiden. Wir finden in Jer 31, 8—9 eine rührende
Beschreibung von der wunderbaren Vereinigung der so lange
getrennten Stämme des ganzen Hauses Israel.
Wie wir wissen, ist ein großer Teil der Juden nach einer siebzigjährigen Gefangenschaft in Babylon nach Jerusalem zurückgekehrt, (vergl. Esra und Nehemia) aber niemals hat eine Rück=
kehr Ephraims oder der zehn Stämme stattgefunden. Doch das
Auge Gottes ist auf sie gerichtet; Er weiß, wo sie sind, denn
Er hat sie zerstreut. Merkwürdigerweise bemüht man sich hier
und da, zu beweisen, wer und wo die Nachkommen dieser
lange verlorenen Stämme sind. Es gibt kein Volk, das seine
Abstammung von ihnen nachweisen könnte; denn sie sind
unter alle Nationen vertrieben und über den ganzen Erdboden
hin zerstreut worden (Vergl. Hes 20; 34). Gott erklärt, daß Er
„das Verlorene suchen", und daß Er Seine Herde retten will
„aus all den Orten, wohin sie zerstreut ist". „Wie ein Hirte sich
seiner Herde annimmt an dem Tage, da er unter seinen zer=
streuten Schafen ist, also werde ich mich meiner Schafe annehmen und werde sie erretten aus allen Orten, wohin sie zerstreut
sind am Tage des Gewölks und des Wolkendunkels. Und ich
werde sie herausführen aus den Völkern und sie aus den Län=
dern sammeln und sie in ihr Land bringen" (Hes 34, 12. 13).
Es ist daher töricht, erforschen zu wollen, wer und wo diese
Zerstreuten vom Hause Israel sind. Der Herr allein kennt sie,
und Er wird Seine Boten aussenden und Seine Auserwählten
sammeln von den vier Winden des Himmels.
152
„Ein Mensch in Christo"
Epheser 1—2, 10
Der Brief an die Epheser betrachtet Jesum, obgleich er Ihn
selbstverständlich als den ewigen Sohn anerkennt, gewöhnlich
in einem anderen Charakter. Wir lesen in Phil 2, 6—11, daß Er,
„da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete,
Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und
Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen
geworden ist, und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden,
sich selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tode, ja,
zum Tode am Kreuze. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben
und ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist, auf
daß in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen
und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne,
daß Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des
Vaters". Wir sehen hier, wie dem Herrn eine Herrlichkeit zu=
erteilt wird, nicht infolge Seines Gleichseins mit Gott, sondern
infolge Seiner Selbsterniedrigung, indem Er in Seiner Stellung
wie ein Mensch erfunden und gehorsam wurde bis zum Tode.
Als Gott gehörte alle Herrschaft und Herrlichkeit Ihm, und als
solcher kann Ihm nichts gegeben werden. Aber als Mensch
hatte Er Sich freiwillig von allem entkleidet, indem Er den
niedrigsten Platz einnahm und Sich Selbst der Macht des Todes
unterwarf, um die Gnaden=Ratschlüsse Gottes auszuführen.
Die gerechte Antwort Gottes auf diesen Gehorsam und diese
Unterwürfigkeit war die Erhöhung des Herrn in demselben
Charakter, in dem Er Sich erniedrigt hatte; Er gab dem Menschen „Jesus" einen Namen, vor dem jedes Knie sich beugen
soll, und Er zwingt jede Zunge zu dem Bekenntnis, daß Er
Herr ist.
In diesem Charakter nun wird der Herr Jesus im Brief an
die Epheser gewöhnlich dargestellt, und dies gibt Gelegenheit
zur Enthüllung zweier großer Geheimnisse, die bis dahin in den
Ratschlüssen Gottes vor Grundlegung der Welt verborgen ge=
wesen waren. Das erste dieser Geheimnisse ist, daß Gott „alles
unter ein Haupt zusammenbringen" will in dem Christus, das,
153
was in den Himmeln und das, was auf der Erde ist" (Kap. 1,
10). Dies ist eine ausgedehnte Erweiterung der im Alten Testa=
ment prophezeiten Herrlichkeiten des Messias und zeigt die
Würde, die Jesus durch Seine Erniedrigung erlangt hat — den
erhabenen „Namen", der Ihm wegen Seines Gehorsams „bis
zum Tode, ja zum Tode am Kreuze" gegeben ist. Das zweite
Geheimnis ist, „daß die aus den Nationen Miterben sein sollten
und Miteinverleibte und Mitteilhaber seiner (Gottes) Verheißung in Christo Jesu durch das Evangelium" (Kap. 3, 6). Dies
beweist das völlige Aufschieben der irdischen Ratschlüsse Got=
tes, während Er ein neues Volk einführt. In diesem neuen Volk
verschwindet der Unterschied zwischen Jude und Heide ganz;
beide werden zusammen auf ein und denselben Boden gestellt.
Zugleich ist es kein irdisches Volk; denn, obwohl es noch in der
Welt ist, sind seine Glieder „gesegnet mit jeder geistlichen Seg=
nung in den himmlischen örtern", ja sie sind sogar zubereitet,
um jetzt schon „mitzusitzen in den himmlischen örtern in
Christo Jesu". Ihr unterscheidendes Merkmal ist, daß sie „in
Christo" gesehen werden und in Ihm angenommen sind.
Die beiden Geheimnisse sind daher die Ratschlüsse Gottes,
und zwar betrifft das erste die völlige Herrlichkeit des Herrn
Jesu und das zweite die Segnung der Seinigen, die aufs engste
mit Ihm verbunden sind. Die Entfaltung dieser beiden Geheim=
nisse ist der große Gegenstand der ersten Hälfte des Briefes.
Daher tritt nicht die dem Sünder gleichsam zugewandte Seite
des Versöhnungswerkes in den Vordergrund, wie im Brief an
die Römer, sondern die Seite Gottes. Im Römerbrief wird der
Sünder in seiner bösen Natur betrachtet, und das Kreuz wird
zu seiner Befreiung eingeführt. Im Brief an die Epheser werden
die Ratschlüsse Gottes enthüllt und der Gegenstand der Erlö=
sung und die Segnung der Erlösten in Verbindung mit Christo
vorgestellt. Der Brief an die Römer hat das Bedürfnis des Men=
sehen zum Ausgangspunkt und endigt mit der Gnade Gottes;
der Epheserbrief geht von der Gnade Gottes aus zu dem Bedürfnis des Menschen hin. Der eine zeigt, auf welche Weise
Gott gerecht sein kann, wenn Er den Sünder rechtfertigt und
befreit, der andere, wie das Bedürfnis des Sünders Gelegenheit
zur Entfaltung der Weisheit und Gnade Gottes gibt. Im Römer»
brief wird der Sünder daher als lebend im Fleische dargestellt,
154
und der Tod wird eingeführt als das Mittel zu seiner Befrei=
ung, während im Epheserbriefe der Sünder als geistlich tot
betrachtet wird, tot in Sünden und Übertretungen, wobei sich
die lebendigmachende Kraft Gottes darin zeigt, daß sie ihn aus
diesem Zustande auferweckt und mitsitzen läßt in den himm=
lischen örtern in Christo Jesu.
Der Brief beginnt daher mit Danksagungen für die Stellung,
die der Gläubige jetzt in Christo hat. Es handelt sich nicht dar=
um, inwieweit er die Vorrechte und Segnungen, die ihm zuteil
geworden sind, versteht oder genießt. Hierin mag es große
Unterschiede geben, in den Segnungen und Vorrechten selbst
aber gibt es keine. Das Kind in Christo steht in dieser Bezie=
hung ganz gleich mit dem Jüngling und dem Vater, denn alle
drei sind „in Christo" und im Besitz der vollen Segnung dieser
Stellung. Alle Gläubigen sind „gesegnet mit jeder geistlichen
Segnung in den himmlischen örtern in Christo", und „in ihm
auserwählt vor Grundlegung der Welt, daß sie heilig und
tadellos seien vor ihm in Liebe"; alle sind „zuvorbestimmt zur
Sohnschaft durch Jesum Christum" für Gott „nach dem Wohl=
gefallen seines Willens" und sind daher „zum Preise der Herr=
lichkeit seiner Gnade, womit er uns begnadigt hat in dem Ge=
liebten" (Kap. 1, 3—6). Dies sind die Vorrechte, obgleich die
sehr ungleich genossenen Vorrechte aller Gläubigen, als gesehen
in Christo, gerade so wie das Fundament, auf dem alles ruht,
„die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen,
nach dem Reichtum seiner Gnade" (V. 7), das gemeinsame Teil
aller Heiligen ist. Es sind keine zukünftigen, sondern gegen=
wärtige Vorrechte, und daß wir sie besitzen, entspringt aus
unserer Annahme in Ihm, Der Gott vollkommen verherrlicht
hat und jetzt, nicht als der ewige Sohn des Vaters, sondern
kraft Seines Werkes und Seines Gehorsams bis zum Tode, der
Gegenstand der besonderen Wonne und Liebe des Vaters ist.
Es wäre ein Irrtum, wenn man sagen wollte, daß wir in Christo
angenommen sind oder uns in Ihm befinden, sobald Er in
Seiner göttlichen Natur betrachtet wird. Wir sind angenommen
und befinden uns, was unsere Stellung anbetrifft, „in Christo",
aber in Ihm als dem auferstandenen, verherrlichten Menschen
zur Rechten Gottes. Im Brief an die Römer wird bis zum achten
Kapitel nicht davon gesprochen, daß die Gläubigen „in Christo"
sind, weil wir dort erst zu der wahren christlichen Stellung ge=
155
langen. Im Epheserbrief dagegen begegnet uns dieser bemer=
kenswerte Ausdruck schon im ersten Vers, weil hier alles den
Ratschlüssen Gottes gemäß betrachtet und die ganze Stellung
des Gläubigen sogleich vorgestellt wird.
Nachdem der Apostel uns so in den Besitz unserer gegenwär=
tigen Vorrechte „in Christo" eingeführt hat, fährt er fort, uns
zu zeigen, wie Gott „seine Gnade gegen uns hat überströmen
lassen in aller Weisheit und Einsicht" (V. 8), indem Er uns
Seine wunderbaren Ratschlüsse in bezug auf Christum ent=
hüllt. Diese Ratschlüsse beziehen sich nicht nur auf die durch
die alttestamentlichen Propheten vorhergesagten irdischen
Herrlichkeiten, sondern auch auf die himmlischen, mit denen
wir jetzt zum ersten Mal bekanntgemacht werden. Sie werden
deshalb auch ein Geheimnis genannt, und es wird uns gesagt,
daß Gott „uns kundgetan hat das Geheimnis seines Willens
nach seinem Wohlgefallen, das er sich vorgesetzt in sich selbst,
für die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt
zusammenzubringen in dem Christus, das, was in den Him=
mein, und das, was auf der Erde ist" (V. 9. 10). Von Christo,
dem Gesalbten Gottes, war schon immer als Demjenigen geredet
worden, der eine unumschränkte Autorität auf Erden ausüben
sollte; aber es war ein jetzt erst geoffenbartes Geheimnis, daß
dem Menschen Jesus, kraft Seines Gehorsams und Seiner Er=
niedrigung, diese hohe Würde sowohl im Himmel als auch auf
der Erde übertragen werden sollte. Es liegt klar auf der Hand,
daß hier nicht von der Herrlichkeit Jesu als Gott gesprochen
wird, denn diese besaß Er allezeit und unveränderlich. Er ist als
der auferstandene Mensch, als der Eine, in Dem wir angenom=
men sind, auf diese Weise erhöht und verherrlicht. Daher
haben die Gläubigen einen Anteil an dieser Herrschaft; denn
in Ihm „sind wir zu Erben gemacht worden, die wir zuvor=
bestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach
dem Rate seines Willens, damit wir zum Preise seiner Herrlich»
keit seien, die wir zuvor auf den Christus gehofft haben" (V. 11.
12). Und nicht nur sind die gläubigen Juden, „die zuvor auf den
Christus gehofft haben", zu Erben gemacht worden, sondern
auch die Gläubigen aus den Nationen; denn auch sie hatten auf
Ihn gehofft, nachdem sie das Evangelium gehört hatten, und
waren, nachdem sie geglaubt hatten, „versiegelt worden mit
dem Heiligen Geiste der Verheißung, welcher das Unterpfand
156
unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes, zum
Preise Seiner Herrlichkeit" (V. 13. 14).
Der Besitz ist durch das Kreuz erworben worden, ist aber
noch nicht völlig erlöst und noch nicht in die Hände des Erwerbers übergegangen. Christus wartet daher, sitzend zur
Rechten des Vaters, bis zur „Verwaltung der Fülle der Zeiten",
wenn die Vereinigung aller Dinge in Ihm stattfinden wird.
Auch wir warten, wenngleich oft mit sehr schwachem Glauben
und schwacher Hoffnung, aber doch ohne Ungewißheit in bezug
auf das Resultat; denn Gott hat uns mit dem Heiligen Geiste
der Verheißung versiegelt, der das Unterpfand unseres Erben
ist bis zu der Zeit der Erlösung, wenn der Besitz angetreten und
völlig genossen werden wird.
Es handelt sich hier nicht um die Segnung, in die der Gläu=
bige bei seinem Tode eintritt, d. h. bei Christo zu sein, noch um
die reicheren Segnungen, die ihm zuteil werden, wenn der Herr
kommt, um das Werk der Erlösung in betreff seiner zu voll=
enden, indem Er ihm einen Leib gibt, der dem Seinigen gleich
ist, und ihn aufnimmt in das Vaterhaus droben. Die hier in
Rede stehende Erlösung ist nicht die Erlösung des Gläubigen,
sondern diejenige des Erbes, das er im Verein mit Christo emp=
fangen wird; und der Besitz, von dem der Apostel spricht, ist
nicht der Besitz der Freuden und Segnungen des Vaterhauses,
sondern der Besitz jener Herrschaft, die Christus mit uns als
Seinen Miterben annehmen wird, zu jener Zeit, wenn alle
Dinge in Ihm vereinigt sein werden.
Es werden uns daher im Eingang des Briefes unsere gegenwärtigen Vorrechte und unser zukünftiger Besitz „in Christo" vor=
gestellt. Nachdem dies geschehen ist, bittet der Apostel, daß wir
alle diese Dinge verstehen und zugleich erkennen möchten,
„welches die überschwengliche Größe seiner Kraft ist an uns,
den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner
Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem Christus, indem er
ihn aus den Toten auferweckte und Ihn zu Seiner Rechten
setzte in den himmlischen örtern, über jedes Fürstentum und
jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeglichen Namen,
der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch
in dem zukünftigen" (V. 19—21). Wenn unsere Annahme in
dem Geliebten die Wahrheit in sich schließt, daß die gleichen
Vorrechte und Segnungen, die Er empfängt, auch unser Teil
157
sind, so ist dies dadurch hervorgebracht, daß wir durch dieselbe
Macht lebendiggemacht worden sind wie Er Selbst. Wir sind
nicht nur eins mit Ihm in unseren Segnungen und Aussichten,
sondern auch in unserem Leben. Die Kraft, die Ihn lebendig
machte, wurde in der nämlichen Weise ausgeübt, um uns leben=
dig zu machen. Gott hat „die überschwengliche Größe seiner
Kraft an uns, den Glaubenden, geoffenbart nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem
Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte", denn Er
„hat uns mit dem Christus lebendig gemacht" (Kap. 2, 5). Zugleich hat Gott an uns gewirkt nach der Macht, die Christum
„zu seiner Rechten setzte in den himmlischen örtern" ; denn Er
hat uns „mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmli=
sehen örtern in Christo Jesu" (Kap. 2, 6).
Dies alles ist von wunderbarer Schönheit. Als arme, hilflose
Sünder, die wir waren, hatten wir durchaus kein geistliches
Leben, wir waren „tot in den Vergehungen''. Jesus nahm in
Seiner Gnade unseren Platz unter dem Gericht Gottes ein und
starb, „der Gerechte für die Ungerechten". Wir sind daher
völlig befreit — nicht nur befreit von dem gerechten Gericht
Gottes, sondern auch, wie wir im Römerbrief sehen, „mit
Christo gestorben", „mit ihm gekreuzigt", indem unsere alte,
sündige Natur betrachtet wird als mit Ihm gestorben und be=
graben. Der Brief an die Epheser beginnt mit diesem Abschnitt
unserer Geschichte. Sie sieht Christum im Tode und zeigt dann,
wie die Macht Gottes „ihn aus den Toten auf erweckte"; sie
sieht uns als „tot in den Vergehungen'' und zeigt, wie dieselbe
Macht, die Christum auferweckte, auch uns lebendiggemacht
hat. Im Brief an die Römer sind wir daher durch das Kreuz
Christi befreit von der alten Natur, und im Epheserbrief sind
wir mit Christo in der neuen Natur lebendiggemacht. Und dies
ist viel mehr als eine neue Geburt. Es ist eine neue Geburt oder
ein neues Leben von einem ganz besonderen Charakter, bewirkt
durch dieselbe Macht, die Christum aus den Toten auferweckte,
so daß wir nicht nur mit Ihm lebendiggemacht, sondern auch
mit Ihm, dem Auferstandenen und Verherrlichten zur Rechten
Gottes, einsgemacht sind. Und so innig ist diese Vereinigung,
daß von uns, obwohl wir noch auf der Erde sind, gesprochen
wird als mitsitzend „in den himmlischen örtern in Christo
Jesu".
158
Die Schlußworte des ersten Kapitels zeigen den Charakter
dieser Vereinigung in sehr treffender Weise. Da wird uns in
bezug auf Christum gesagt, daß Gott „alles seinen Füßen unterworfen und ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben
hat, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem
erfüllt" (V. 22. 23). Hier wird zum ersten Mal in diesem Brief
die Versammlung erwähnt, und zwar in einer bezüglich ihres
Charakters höchst wunderbaren Offenbarung. Wir lernen dar=
aus, daß Christus, wenn Er nach den Ratschlüssen Gottes die
Herrschaft über alle Dinge übernehmen wird, dies nicht allein
tut, sondern in Verbindung mit der Versammlung. Nicht nur
Christus wird regieren, sondern Christus und die Versammlung; und die Versammlung ist so unzertrennlich mit Ihm verbunden, daß sie Seine „Fülle" oder Seine Vollendung genannt
wird, so völlig eins mit Ihm, wie der Leib mit dem Haupte.
Christus ist daher in dem Charakter, in dem Er die Herrschaft
über alle Dinge übernehmen wird, nicht eher vollkommen, bis
die Kirche, Sein Leib, vollendet ist. Christus wartet, bis das
letzte Glied gesammelt ist; bis dahin hat Sein Leib noch nicht
seine „Fülle" erreicht und das Haupt kann nicht, getrennt von
dem ganzen Leibe, die Herrschaft übernehmen.
Es ist vielleicht unnötig zu wiederholen, daß diese Vereini=
gung mit allen ihren gesegneten Folgen nicht mit Christo als
dem ewigen Sohne, dem Worte, welches Gott war, ist, sondern
mit Ihm als dem auferstandenen, verherrlichten Menschen. Mit
Ihm als Gott kann es keine Vereinigung geben. Auch können
wir nicht mit Ihm als in diese Welt geboren vereinigt werden,
noch Er mit uns. So lange das Weizenkorn nicht in die Erde
fiel und starb, blieb es allein, nachdem es aber gestorben war,
konnte es viel Frucht bringen. In Seinem sündlosen Leben
war Jesus der fleckenlose und gehorsame Mensch, der Offene
barer des Vaters, aber Er war allein. In dem Tode, in dem Er
„zur Sünde gemacht" wurde, war Er unser Stellvertreter und
Heiland, aber auch da war Er allein. In der Auferstehung jedoch
wurde Er das Haupt einer neuen Schöpfung, und durch eine
neue Schöpfung sind wir jetzt „in ihm"; denn „wenn jemand
in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung" (2. Kor 5, 17). Von
einer Vereinigung mit Christo wird immer in dieser Verbin=
düng gesprochen: „Er ist das Haupt des Leibes, der Versamm=
lung, welcher der Anfang ist, der Erstgeborene aus den Toten"
159
(Kol 1, 18). Erst nachdem Gott Ihn erhört hatte von den Hör=
nern der Büffel, sagt Er: „Verkündigen will ich deinen Namen
meinen Brüdern" (Ps 22, 21. 22; Hebr 2, 9—12). Erst nach der
Auferstehung gebraucht Er die Worte: „Gehe hin zu meinen
Brüdern", und vereinigt die Jünger mit Sich, indem Er spricht
von „meinem Vater und eurem Vater, meinem Gott und eurem
Gott" (Joh 20,17). So wird Er auch dadurch, daß wir dem Bilde
des Auferstandenen gleichförmig gemacht werden, „der Erst=
geborene unter vielen Brüdern" (Röm 8, 29).
So offenbart sich also die Gnade Gottes gegen uns, die wir
einst wandelten „nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem
Fürsten der Gewalt der Luft . . . indem wir den Willen des
Fleisches und der Gedanken taten und von Natur Kinder des
Zorns waren" (Kap. 2, 2. 3). Gnade hat uns von diesem ver=
lorenen Zustand befreit, uns mit Christo lebendig und zu
Gliedern Seines Leibes gemacht, sie hat uns Sein Wohlgefälligsein vor Gott gegeben und uns mit Ihm als Miterben Seiner
unumschränkten Herrschaft vereinigt. Das ist wahrlich Gottes
würdig! Er hat auf diese Weise für Seine eigene Verherrlichung
gewirkt, „auf daß er in den kommenden Zeitaltern den über=
schwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns erwiese in Christo Jesu" (V. 7). Alles ist aus Gnade. Werke
können hier keinen Platz haben, auch der Ruhm des Menschen
nicht. Ist denn Gott gleichgültig gegen gute Werke? Gewiß
nicht; „denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo
Jesu zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß
wir in ihnen wandeln sollen" (V. 8—10). In bezug auf unsere
Stellung haben gute Werke gar keinen Wert; denn wir sind
Gottes Werk. Aber gerade diese Tatsache erfordert, daß gute
Werke als Resultat folgen sollten. Wir sind nicht geschaffen
durch gute Werke, sondern zu guten Werken.
<
160
„Ich bin der Weg, die Wahrheit
und das Leben"
Johannes 14, 6
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand
kommt zum Vater, als nur durch mich". Mit diesen Worten
beantwortet der Herr, als Er im Begriff stand, diese Welt zu
verlassen und zum Vater zu gehen, die Frage Seiner Jünger:
„Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst, und wie können wir
den Weg wissen?" Ihre Gedanken erhoben sich nicht über die
irdischen Hoffnungen, welche sie an die Erscheinung des Mes=
sias geknüpft hatten, und daher war es ihnen völlig unver=
ständlich, daß der Herr sie jetzt verlassen wollte, bevor ihre
Erwartungen in betreff der Segnung ihres Landes und Volkes
in Erfüllung gegangen waren. Thomas dachte nicht im ent=
ferntesten daran, daß der Herr im Begriff stand, in den Himmel
zum Vater zurückzukehren; er übersah deshalb auch völlig den
Weg. Aber dies gab dem Herrn Gelegenheit, jene einfachen, aber
so bedeutungsvollen Worte auszusprechen: „Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, als
nur durch mich".
„Ich bin der Weg". Wohin und für wen? Er ist der Weg zum
Vater, und zwar für den Sünder, für den Verlorenen, für den
Er kam, ihn zu suchen und zu erretten. Er war in dem Vater,
und der Vater war in Ihm; jeder der sich an Ihn wandte, kam
daher zum Vater. Und dies war und ist heute noch der einzige
Weg, um zu Gott zu kommen. „Niemand kommt zum Vater,
als nur durch mich". Doch wunderbar! wer diesen Weg betritt,
begegnet nicht einem Gott, Der Sich mit einer unnahbaren Heiligkeit und Gerechtigkeit umgibt, sondern er findet einen lie=
benden Vater! Und einem jeden verlorenen Sünder steht dieser
Weg zum Vater durch Jesum offen.
Doch der Herr sagt noch mehr. „Ich bin die Wahrheit". Er
stellte in vollkommener Weise alle Dinge dar, wie sie wirklich
sind. Er zeigte dem Menschen, was er ist, und offenbarte zu
gleicher Zeit in Seiner eigenen Person, was Gott ist. Das Gesetz,
161
obwohl es heilig, gerecht und gut ist, war nicht die Wahrheit.
Es sagte dem Menschen, was er sein sollte, teilte ihm aber nicht
mit, daß er ein verlorener Sünder war; es machte ihn mit einem
heiligen und gerechten Gott bekannt, redete aber nicht von
einem Gott der Liebe, einem Gott=Heiland, der den Sünder
errettet. Dies tat Jesus. Zugleich war Er der einzige Mensch,
der auf die Frage der Juden: „Wer bist du?" antworten konnte:
„Durchaus das, was ich auch zu euch rede" (Joh 8, 25). Er war
die Wahrheit selbst.
Er war aber auch „das Leben". In Gemeinschaft mit dem
Vater macht Er lebendig, welche Er will. Nicht nur, daß Er das
Leben besaß, sondern Er war es, und daher konnte Er dieses
Leben auch anderen mitteilen. Alle, die an Ihn glauben, sind
lebendiggemacht durch Ihn und besitzen dasselbe Leben wie Er.
„Und dies ist das Zeugnis: daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohne. Wer den
Sohn hat, hat das Leben" (1. Joh 5,11. 12).
Das Wort Gottes
1
Es ist köstlich, sowohl die wunderbare Liebe Gottes in der
Erlösung, als auch Seine unwandelbare Treue und Fürsorge für
die Seinen während ihrer Pilgerschaft in der Wüste zu sehen.
Er brachte Sein Volk Israel durch das Blut des Passahlammes
in völlige Sicherheit vor dem Gericht in Ägypten, Er führte es
mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus dem Lande ihrer
Sklaverei und befreite es gänzlich von der Macht Pharaos, dies
nicht nur, sondern Er ernährte es auch in einer Wüste, die gar
keine Nahrung zu bieten vermochte. Er versorgte die Kinder
Israel mit einer Speise, die ihnen Ägypten nie darbieten konnte,
mit einer Speise, kraft deren sie fähig waren, in der Abhängige
keit von Jehova die Mühsale des Weges zu überwinden und
Kanaan zu erreichen. Und Er gab ihnen diese Speise während
ihrer ganzen Reise durch die Wüste. Alles, sowohl die Erlösung,
162
als auch die Versorgung des Volkes war nur Sein Werk; beides
kam von Ihm und war auf Seine unumschränkte Gnade ge=
gründet. Obgleich sich das Volk stets als halsstarrig und rebel=
lisch erwies, so hinderte dies Gott doch nicht, ihnen Tag für
Tag das Manna darzureichen. Im Psalm 78 finden wir die Ge=
schichte Israels dargestellt. Sie zeigt uns die Treue Gottes im
beständigen Gegensatz zu der Untreue Israels: „Sie glaubten
nicht an Gott und vertrauten nicht auf seine Rettung, und doch
hatte er den Wolken oben geboten und die Türen des Himmels
geöffnet, und Manna auf sie regnen lassen, damit sie äßen, und
ihnen Himmelsgetreide gegeben. Der Mensch aß Brot der Star=
ken, Speise sandte er ihnen bis zur Sättigung". Selbst dann
noch, als sich dies Volk in seinem Undank soweit vergaß, daß
es in vermessener Geringschätzung des Mannas sagte: „Un=
sere Seele ekelt vor dieser losen Speise", blieb Gott in Seiner
Gnade und Treue gegen das Volk unveränderlich. Wohl war Er
genötigt, es zu züchtigen, aber Er hörte nicht auf, es mit dem
Manna vom Himmel zu versorgen. Denn wir lesen: „Und die
Kinder Israel aßen das Manna vierzig Jahre, bis sie in ein be=
wohntes Land kamen" (2. Mo 16, 35).
Wie einerseits das Manna ein Zeugnis der Treue und Für=
sorge Jehovas war, so war es andererseits auch ein Prüfstein
für das Volk. „Da sprach Jehova zu Mose: Siehe, ich werde Brot
vom Himmel regnen lassen, und das Volk soll hinausgehen
und den täglichen Bedarf an seinem Tage sammeln, damit
ich es versuche, ob es wandeln wird in meinem Gesetz oder
nicht" (2. Mo 16, 4). Es sollte also dadurch seine Abhängigkeit
von Jehova auf die Probe gestellt werden. Das Manna war
weder ein Erzeugnis Ägyptens, noch der Wüste, noch des Men=
sehen; es kam vom Himmel hernieder und war eine göttliche
Speise. Deshalb konnte selbstverständlich eine Natur, die nicht
von Ägypten entwöhnt war, keinen Geschmack daran finden.
Es bedurfte der ganzen Unterwerfung der Natur. Das, was
Ägypten hervorbrachte, stand in völligem Gegensatz zu diesem
Manna und übte einen höchst verderblichen Einfluß aus, indem
es den Menschen in seinen eigenen Augen erhob und ihn zu=
gleich an Ägypten fesselte, während es ihm das Manna ver=
leidete. Nur für den, der sich außerhalb Ägyptens und in der
Unterwürfigkeit und Abhängigkeit von Gott befand, war das
Manna eine köstliche Speise. Wir lesen in 5. Mo 8: „Und er
163
demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit dem
Man, das du nicht kanntest, und das deine Väter nicht kannten,
um dir kundzutun, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt,
sondern daß der Mensch von allem lebt, was aus dem Munde
Jehovas hervorgeht" (V. 3). Und wiederum: „Der dich in der
Wüste mit Man speiste, welches deine Väter nicht kannten, um
dich zu demütigen und um dich zu versuchen, damit er dir wohltue an deinem Ende" (V. 16). Gott mußte die Kinder Israel
zuerst von Ägypten entwöhnen; dann aber gab Er ihnen etwas,
das ihnen bisher fremd geblieben war, und das sie in Ägypten
zuvor nie genossen hatten. Dies ist eine köstliche und lehrreiche
Wahrheit.
Daß bei den Kindern Israel ein Verlangen nach den Fleischtöpfen Ägyptens wiedererwachte und das Manna verachtet
wurde, war daher der Beweis einer rebellischen Natur, die sich
unfähig erwies, in dem Gesetz Jehovas zu wandeln. „Und das
Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die
Kinder Israel weinten wiederum und sprachen: Wer wird uns
Fleisch zu essen geben? Wir gedenken der Fische, die wir um=
sonst aßen in Ägypten, der Gurken und der Melonen und des
Lauchs und der Zwiebeln und des Knoblauchs; und nun ist
unsere Seele dürre, gar nichts ist da, nur auf das Man sehen
unsere Augen" (4. Mo 11, 4—6). Israel verstand wahrlich nicht,
von jeglichem Worte zu leben, das aus dem Munde Jehovas
ausgeht. Ach! die Geschichte dieses Volkes wird nicht charak=
terisiert durch Abhängigkeit von Gott, sondern vielmehr durch
Halsstarrigkeit und Auflehnung gegen Ihn, d. h. durch die
Frucht des eigenen Willens. Nun ist dies leider nicht nur die
Geschichte Israels, sondern die des Menschen, des ersten Adam.
Um zu leben von jeglichem Worte, das aus dem Munde Jehovas
hervorgeht, bedarf es einer neuen Natur. Und wir wissen, wer
in der Wüste den Versucher siegreich überwand und ihm ent=
gegentrat mit den Worten: „Es steht geschrieben: Nicht vom
Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte,
das durch den Mund Gottes ausgeht" (Mt 4, 4). Jesus, der
zweite Adam, war es, Dessen Vollkommenheit als Mensch durch
Seine volle Abhängigkeit von Gott bewiesen wurde.
Indessen läßt uns die durch den Herrn Selbst angeführte
Stelle in 5. Mose 8, 3 deutlich verstehen, welche geistliche Be=
164
deutung Er dem Manna in bezug auf uns beilegt. Das, was das
Manna vorbildlich für Israel in der Wüste war, ist das Wort
Gottes jetzt für uns. Und die unwandelbare Treue Gottes, die
Israel in der Wüste nicht ohne Nahrung ließ, hat auch uns nicht
ohne diese geistliche Speise gelassen. Er hat auch uns, sozu=
sagen, die Türen des Himmels und Seine Schatzkammern in
der köstlichen Gabe Seines Wortes geöffnet; und diese Gabe
ist für uns ebenso, wie das Manna für Israel, sowohl ein Beweis
Seiner vollkommenen Fürsorge, als auch ein Prüfstein unseres
geistlichen Zustandes.
Betrachten wir nun das Wort Gottes unter diesen beiden
Gesichtspunkten, so haben wir uns zunächst mit seiner Natur
und seinen Wirkungen, und dann mit unserer Verantwortlich=
keit ihm gegenüber zu beschäftigen.
Gott handelt in allem in einer göttlich vollkommenen Weise,
in einer Weise, die Seiner würdig ist. So wie Er unseren Bedürf=
nissen als Sünder durch eine vollkommene Erlösung begegnete,
so begegnet Er auch unseren Bedürfnissen als Heilige durch
eine vollkommene Fürsorge. Er, Der uns kraft der Erlösung mit
Sich Selbst ganz in Übereinstimmung gebracht hat und uns,
kraft des Blutes Christi, mit einem vollkommenen Gewissen in
Seine Gegenwart gestellt hat, versieht uns auch mit dem, was
uns befähigt, in dieser Übereinstimmung mit Ihm zu wandeln
inmitten einer Welt, die ihren Grundsätzen nach im schroffem
Gegensatz zu Ihm steht. Er kennt alle unsere Bedürfnisse in
dieser Welt, und Er begegnet ihnen in Seinem Worte auf völlige
Weise. Dies Wort ist uns als Mensch völlig angepaßt, und Gott
hat in ihm für alle Schwierigkeiten und Gefahren Vorsehung
getroffen, denen wir auf unserem Pfade in der Wüste und durch
eine versuchungsreiche Welt ausgesetzt sind. Es genügt uns
ganz, um all den Fallstricken uad listigen Anläufen des Feindes
und den Betrügereien der Menschen zu entgehen und ohne An=
stoß und tadellos bis ans Ende bewahrt zu bleiben. Und nicht
allein das, sondern es befähigt uns auch, hier ein Zeugnis zu
sein zur Verherrlichung des Namens Jesu, ja sogar zu wandeln,
wie Er gewandelt hat. Konnte Gott uns in dieser Beziehung
etwas Vollkommeneres geben, als Sein teures Wort? Gewiß
nicht. In ihm wird unseren Herzen alles dargereicht, was wir
Tag für Tag, in jeder Lage und in allen Umständen und Ver=
165
hältnissen dieses Lebens brauchen. Was wir auch nötig haben,
sei es Kraft, Trost, Ermunterung, Belehrung, Rat, Weisheit
alles können wir darin finden. Es genügt sogar für die gegen=
wärtigen schweren Zeiten der letzten Tage der Kirche. Es bietet
dem Glauben eine Zuflucht und Stütze dar, die jede Dazwi=
schenkunft des Menschen überflüssig macht.
Selbstverständlich haben wir, um dieses Wort zu verstehen
und richtig anzuwenden, die Leitung des Heiligen Geistes nötig.
Ohne sie würde das Lesen des Wortes nicht nur ohne Nutzen
sein, sondern sogar unter dem Einfluß des Feindes und einer
des göttlichen Lichts beraubten Vernunft verderblich für uns
werden. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen.
Immerhin aber bleibt es das Wort, wodurch der Heilige Geist
wirkt, und dessen Er Sich bedient, um uns Dem gemäß zu
bilden, Der Sich uns in dem Wort geoffenbart hat.
Gleichwie nun die Erlösung bei dem Menschen nichts voraus=
setzt, als ein zerknirschtes Herz, das seinen verlorenen Zustand
anerkennt, so erwartet auch das Wort Gottes bei uns nichts
anderes, als ein unterwürfiges Herz, das seine Bedürfnisse
fühlt. Das Wort setzt nicht geistliche Einsicht oder ein geist=
Iiches Verständnis oder göttliche Gefühle bei uns voraus, son=
dem es erweckt und erzeugt vielmehr dies alles: „Die Eröffnung deines Worte* erleuchtet, gibt Einsicht den Einfältigen"
(Ps 119, 130). Wie wir in dem Gleichnis vom Sämann sehen,
ist das Wort der Same, der die Frucht erzeugt. Und in 1. Petr 1,
23 lesen wir: „Die ihr nicht wiedergeboren seid aus verwes=
lichem Samen, sondern aus unverweslichem, durch das lebendige
und bleibende Wort Gottes". So auch in Jakobus l, 18: „Nach
seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine gewisse Erstlingsfrucht seiner
Geschöpfe seien". Das Wort erzeugt in uns eine Natur, gleichförmig derjenigen, von welcher es der Ausdruck ist — und es
ist der Ausdruck der Natur Gottes, der Ausdruck von dem, was
Gott ist und will.
Hiervon ist das Wort selbst von Anfang bis zu Ende ein
klares Zeugnis. Die Art und Weise seiner Darstellung, und
ihr Inhalt, die darin geoffenbarten Ratschlüsse Gottes und
Seine Wege mit dem Menschen, vor allem aber seine Mittei=
Jungen über „Gott, geoffenbart im Fleische", bezeugen den
166
göttlichen Ursprung dieses Buches. Seine Darstellungen sind
charakterisiert durch eine göttliche Einfachheit, während ihr
Inhalt oft eine für den Geist des Menschen unerforschliche
Tiefe und Fülle enthält. Mit wie einfachen Worten wird zum
Beispiel die Geschichte der Schöpfung mitgeteilt, und doch,
welch eine unendliche Fülle liegt in ihnen verborgen! „Im An=
fang schuf Gott die Himmel und die Erde". Die Unermeßlich=
keit und Unerforschlichkeit von dem, was geschaffen ist, zeugt
von der Unendlichkeit und Größe Dessen, Der geschaffen hat,
und Der uns als solcher gleich beim Beginn dieses Buches vor
die Seele gestellt wird. Das Herz findet sich sofort in die Ge=
genwart Gottes versetzt; und dies ist der Zweck des Buches.
Gott wollte Sich uns offenbaren, uns mit Sich Selbst bekanntmachen, und deshalb gab Er uns Sein teures Wort. Er tritt uns
darin zunächst in Seiner Herrlichkeit als Schöpfer entgegen:
„Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und die Aus=
dehnung verkündet Seiner Hände Werk" (Ps 19,1). Die ResuU
täte, welche die Wissenschaft in ihren Erforschungen der Erde
und der Himmelskörper bis jetzt erlangt und in umfangreichen
Bänden veröffentlicht hat, bestätigen nicht die Größe des Men=
sehen, sondern seine Ohnmacht, das Unergründliche zu er=
forschen. Denn je tiefer die Wissenschaft dringt und je mehr sie
erforscht, um so unendlicher erscheint das, was sie zu ergründen
sucht. „So spricht Jehova: Wenn die Himmel oben gemessen,
und die Grundfesten der Erde unten erforscht werden können,
so will ich auch . . ." (Jer 31, 37). So zeigt uns also das Wort in
diesen einfachen, kurzen Ausdrücken Gott in einer Größe, die
das Herz des Gläubigen mit Ehrfurcht und Anbetung erfüllt.
Die gleiche Einfachheit der Darstellung finden wir in der in
den Evangelien mitgeteilten Lebensgeschichte des Herrn Jesu
als Mensch auf der Erde. Wie wunderbar einfach ist die Mit=
teilung Seines Eintritts in diese Welt! Welche Niedrigkeit! „Ein
Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend". Aber
wenn der menschliche Geist nicht fähig ist, die Himmel oben
zu messen, oder die Gründe der Erde unten zu erforschen, so
ist er noch weit weniger imstande, die Tiefen zu ergründen,
die in dieser einfachen Darstellung enthalten sind. Wir haben
hier das anerkannt große Geheimnis: „Gott, geoffenbart im
167
Fleische". Wunderbares Geheimnis! Der Gott, dessen Größe,
Macht und Weisheit sich in der Schöpfung offenbarte, der dem
Moses in einer Feuerflamme im Dornbusch erschien, dessen
Herniedersteigen auf den Berg Sinai das Herz dieses treuen
Mannes mit Furcht und Schrecken erfüllte, der Gott hat Sich im
Fleische, und zwar in der größten Schwachheit geoffenbart.
Welch eine Fülle enthalten die wenigen Worte der himmlischen
Heerscharen-. „Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Frieden auf
Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!" Wer ist fähig, auch
nur annähernd ihre ganze Tragweite zu erforschen, alle die
herrlichen Resultate jenes wunderbaren Ereignisses: Gott, geoffenbart im Fleische! Er hat Sich in einer Weise kundgemacht,
daß Er vor den Engeln und dem ganzen Weltall verherrlicht da=
steht. Doch haben wir hier nicht die Offenbarung Seiner Ge=
rechtigkeit im Gericht gegen den Sünder, sondern die Offenbarung einer Liebe, Gnade, Macht und Weisheit, die den Sün=
der zu retten wußte, und zwar auf einem Wege, der Seine Ge=
rechtigkeit verherrlichte, das Böse richtete und alle Macht des
Feindes als Ohnmacht erwies. Er hat Sich in einer Weise geoffenbart, die diese Worte der himmlischen Heerscharen nicht nur
in den Räumen des Himmels, sondern auch in den unzähligen
Scharen erlöster Sünder, in einer von der Knechtschaft des Ver=
derbnisses befreiten Schöpfung, ja, in dem ganzen Weltall in
tausendfachem Echo widerhallen läßt.
Und dies alles ist das Resultat davon, was die Schwachheit
Gottes genannt werden kann.
Diese Verbindung des Einfachen mit dem Unermeßlichen ist
der hervorragende Charakterzug des Wortes Gottes. Betrachten
wir z. B. die Szene am Jakobsbrunnen bei Sichar. Einsam und
ermüdet von der Reise sitzt der Herr dort als ein unbekannter
Fremdling und bittet eine Frau um einen Trunk Wasser. Der
Herr des Himmels und der Erde, der Schöpfer und Träger des
Weltalls, der Richter der Lebendigen und der Toten begegnet
hier im Gewände der Niedrigkeit dem Sünder in seinem tiefsten
Elend, um Sich ihm zu offenbaren, um ihm zu zeigen, was Er
für einen verlorenen Sünder ist, um ihn zu erretten und ihn zu
der Herrlichkeit zu erheben, die Er um seinetwillen verlassen
hatte.
168
Christus war das lebendige Wort, die Offenbarung Gottes auf
der Erde. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei
Gott, und das Wort war Gott . . . Und das Wort ward Fleisch
und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit an=
geschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater)
voller Gnade und Wahrheit" (Joh 1, 1. 14). Er konnte auf die
Frage: „Wer bist du?" antworten: „Durchaus das, was ich auch
zu euch rede". Er war wahrhaftig Gott Selbst, durch Den alles
geworden ist, und dennoch war Er ein wahrhaftiger Mensch
unter den Menschen, der ein menschlich fühlendes Herz hatte.
Doch nie hätte eine menschliche Feder Ihn so wahr, so wirklich
und treu darzustellen vermocht, wie das Wort es getan hat. Der
dem Einfachen so eigentümliche Reiz, und die göttliche Schönheit und Kraft des Ganzen wären verloren gegangen. Das Wort
ist der wahre Ausdruck von Ihm. Es hat Ihn nach Seinem wah=
ren Wesen in der Wirklichkeit und Einfachheit Seiner Mensch=
heit dargestellt, während es zugleich die Fülle Seiner göttlichen
Herrlichkeit in einer Weise durchstrahlen läßt, daß ihr Glanz
durch jene Einfachheit nur um so mehr erhöht wird. Verweilen
wir einen Augenblick bei der Begegnung des Herrn mit den
Einnehmern der Doppeldrachme (Mt 17). Petrus, nicht einge=
denk der auf dem Berge geschauten Herrlichkeit seines Herrn,
erblickt in Ihm nur einen frommen Juden, der sich nicht weigern
wird, die Steuer für den Tempel zu zahlen. Der Herr ist auch
dazu bereit, läßt aber den Petrus verstehen, daß der Herr des
Tempels (Gott) — dem gegenüber jeder Jude zur Zahlung der
Steuer verpflichtet war — von Ihm, als Seinem Sohn, ebensowenig Steuer verlange, wie ein König von seinen Kindern. Er
war der Sohn Gottes. Zugleich offenbart Er Sich als der Her=
zenskündiger, indem Er Seinem Jünger kundtut, daß Er alles
wußte, was dieser fern von Ihm mit den Steuereinnehmern
gesprochen hatte. Und da Er nichts besaß, um die Steuer zu
bezahlen, (denn Er hatte nicht, wo Er Sein Haupt hinlegte) ent=
hüllte Er Seine Macht als Herr und Gebieter der Schöpfung,
indem Er einen Fisch kommen ließ, der einen Stater im Munde
führte. Nach diesem allem aber stellt Er Petrus mit Sich in dasselbe Verhältnis zum Vater; denn Er spricht zu ihm: „Den
nimm und gib ihnen für mich und dich"; ebenso hatte Er vorher
zu ihm gesagt: „Damit wir ihnen kein Ärgernis geben" (Mt 17,
24—27). Diese kleine Geschichte zeigt uns in der Person Jesu
169
eine Fülle von Herrlichkeit und zugleich eine wunderbare Her=
ablassung. Wie wahr, einfach und göttlich ist dies alles!
Aber auch noch in anderer Weise zeigt sich das Wort als der
Ausdruck dessen, was Gott ist, und was Er will. Betrachten
wir zum Beispiel die dem Volke Israel gegebenen Gebote, so
finden wir in ihnen eine Heiligkeit, Gerechtigkeit, Weisheit und
Güte ausgedrückt, die uns sagen, wer Der ist, Der solche Gebote
gab. Sie zeugen von einem Gott, Der mit dem Bösen durchaus
nicht in Gemeinschaft sein kann, Der aber Seine Freude am
Wohltun findet und dem, der im Gehorsam wandelt, mit einer
unbegrenzten Güte begegnet. Ach! der Mensch in seiner natür=
liehen Feindschaft gegen diesen Gott der Güte beraubte sich
selbst der Segnungen der Güte Gottes und zwang Ihn gleichsam,
Seine eigentliche Natur, Sein wirkliches Wesen zu verbergen
und die Gerechtigkeit vorwalten zu lassen. Denn Gott ist die
Liebe; dies ist Seine Natur, Sein Wesen. Es wird nie gesagt:
„Gott ist die Gerechtigkeit", obwohl Er vollkommen gerecht ist.
Er findet Seine Freude in der Ausübung der Liebe, während die
Ausübung der Gerechtigkeit zur Bestrafung des Bösen für Ihn
immer etwas ist, wozu Er genötigt wird. „O daß du gemerkt
hättest auf meine Gebote! Dann würde dein Friede gewesen
sein wie ein Strom, und deine Gerechtigkeit wie des Meeres
Wogen" (Jes 48, 18). Diese Worte, wie auch die Verse 8—16 in
Psalm 81, zeigen deutlich, weshalb Gott jene Gebote Seinem
Volke gab, und welch ein Schmerz es für Ihn war, daß Er durch
die Halsstarrigkeit des Volkes an der Ausübung Seiner Güte
gehindert wurde. Die Feindschaft des natürlichen Herzens war
es, die sich mit unversöhnlicher Macht dem Strom der Liebe
Gottes entgegenstellte; und dennoch wurde sie gerade in der
wunderbaren Weisheit Gottes ein Anlaß, die Macht der Liebe
um so stärker hervortreten zu lassen. Jene Feindschaft offene
barte sich in der Verwerfung Christi auf ihrem Höhepunkt.
Aber gerade die Verwerfung Christi führte auf Grund Seiner
unendlichen Liebe die Versöhnung ein, die dem Ausfluß solcher
Liebe Gottes freien Lauf verschaffte. Wir hören deshalb den
Herrn Jesum, der Seiner Gottheit gemäß die Liebe war, sagen:
„Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muß, und
wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist (Lk 12, 50)! Dies ist
das wahre Wesen Gottes, Der Seine Freude in der Ausübung
Seiner Liebe findet; denn Er ist die Liebe.
170
Wenden wir uns jetzt zur Bergpredigt, so finden wir in ihr
Grundsätze niedergelegt, die nur Der aufstellen konnte, Der
die Quelle solcher Grundsätze ist, und Der sie als Mensch in
Seinem Leben hienieden, inmitten einer gottlosen Welt, vollkommen verwirklichte. Wir begegnen darin einer Gesinnung,
die, völlig anspruchslos und frei von Sich Selbst, ihr Glück in
dem Glück anderer findet, einer Gesinnung, die in geduldiger
Selbstaufopferung innigstes Mitgefühl für das Elend des Un=
glücklichen mit entschiedenem Haß gegen das Böse und einem
brennenden Verlangen nach Reinheit in sich vereinigt. Sie ist der
getreue Ausdruck davon, was Er während Seines ganzen Lebens
auf der Erde war. Er, der „sich selbst zu nichts machte" und
sagen konnte: „ich bin sanftmütig und von Herzen demütig",
war zugleich „der Heilige, der Wahrhaftige". Er, der Sohn
Gottes, war der große „Friedensstifter", Der auf dem Kreuz
solche, die Seine Feinde und Gottlose waren, mit Gott ver=
söhnte, und Der dies freiwillig tat mit tiefem Erbarmen und
Mitgefühl für den verlorenen Sünder.
Das, was der Herr lehrte, Sein Wort, war der Ausdruck von
dem, was Er war und tat. Und so wie sich dies in Seiner völligen
Hingabe zeigte, so offenbarte es sich auch in den Geboten, die
Er Seinen Jüngern gab. „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß
ihr einander liebet, auf daß, gleichwie ich euch geliebt habe, auch
ihr einander liebet" (Joh 13, 34). „Dies ist mein Gebot, daß
ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe" usw. (Joh
15, 12). Diese Gebote stellen nicht nur die Verpflichtung zur
gegenseitigen Liebe dar, die den Jüngern auferlegt war, sondern
zeigen uns auch das Herz Dessen, Der sie gab, die Liebe, die
in diesem Herzen wohnte und die Quelle dieser Gebote war.
Die Gebote bringen uns notwendigerweise mit jener Quelle
selbst in Verbindung. Sie sind der Ausfluß dieser Liebe, die das
Herz anzieht, es erfüllt und zu einem Kanal macht, durch den
sie gegen andere ausströmen kann. Der Herr sagt deshalb:
„Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe
bleiben".
Ebenso bezeugen auch die in den Briefen an die Gläubigen
gerichteten Ermahnungen die Natur Dessen, Der sie gab. Nehmen wir zum Beispiel nur das Wort: „Der da Barmherzigkeit
übt, mit Freudigkeit", so finden wir darin eine Natur ausge=
171
drückt, die, entgegen der dem Menschen angeborenen Selhst=
sucht, in der Ausübung der Barmherzigkeit ihre Freude findet
und in vollem Einklang mit Gott ist, der den „fröhlichen Geber
liebt", da Er Selbst ein fröhlicher Geber ist. Alle diese Ermahnungen lassen die Schönheit der göttlichen Natur in einer Weise
ausstrahlen, daß das Ungöttliche ebensowenig vor ihnen be=
stehen kann, wie die Finsternis vor der Sonne.
Ein weiterer Beweis für die göttliche Natur des Wortes sind
die Früchte, die es in dem unterwürfigen Herzen hervorbringt.
Welch eine Weisheit und Zucht, ein Gehorsam und eine Ehr=
furcht, eine Milde und Güte, eine Bereitwilligkeit und Unter=
würfigkeit wird in den mannigfaltigen Beziehungen zwischen
Mann und Weib, Eltern und Kindern, Herrschaft und Gesinde,
zwischen den Christen und der Welt oder der Obrigkeit her=
vorgebracht, wenn diese Beziehungen wirklich nach dem Worte
Gottes geregelt sind. Außer dem Worte Gottes ist nichts imstande, solche gesegneten Resultate zu bewirken.
Schließlich möchte ich noch einen anderen Punkt hervor=
heben, der uns die göttliche Natur des Wortes zeigt. Das Wort
stellt alles ins Licht und enthüllt den wahren Charakter einer
jeden Sache. Der Mensch würde sich nie ohne das Wort ein
wahrheitstreues Urteil bilden können, sei es in bezug auf Gott
oder in bezug auf sich selbst, ja, moralisch gesprochen, selbst
nicht in bezug auf irgendeine Sache. Alles, was es auch sei,
wird nur im Lichte des Wortes Gottes in seiner wahren Gestalt
gesehen. Der geistliche Mensch kann daher je nach seiner geist=
liehen Fähigkeit kraft dieses Lichtes alles beurteilen, ausgenom=
men das Licht selbst; vielmehr wird er selbst durch es beurteilt.
Das Wort steht, seiner Natur nach, weit über dem Menschen
(denn sonst würde es nicht Gottes Wort sein), und es beurteilt
alle Gedanken des Menschen, die sich in moralischer Beziehung
in seinem eigenen Geiste bilden, als falsch, weil es selbst die
einzige Quelle aller wahren Gedanken, oder vielmehr der Ausdruck der Gedanken Gottes ist. Der Mensch wird sich daher in
moralischer Hinsicht immer täuschen, wenn er nicht einzig und
allein durch das Wort geleitet wird. Es hat eine göttliche Auto=
rität über jeden Menschen, die ihn seinem Gewissen nach unter
eine Verantwortlichkeit stellt, der er sich nicht entziehen kann.
172
2
Das Gesagte wird genügen, um die Natur des Wortes ins
Licht zu stellen, und zugleich verstehen zu lassen, welche Re=
sultate das Wort notwendigerweise in uns erzeugen muß. Wir
haben oben gesagt, daß das Wort eine Natur in uns schafft
gleichförmig der Natur, von der es der Ausdruck ist. Das Wort
hat eine lebendigmachende und erzeugende Kraft und wirkt in
uns, um uns Dem gemäß zu bilden, Der Sich uns in ihm ge=
offenbart hat. Es war der Zweck Gottes, das durch Sein Wort
in uns erzeugte Leben auch durch dasselbe Wort zu nähren
(vergl. 1. Petr 2, 2) und zur völligen Entwicklung zu bringen,
damit wir praktisch dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig wür=
den; zugleich dient es dazu, uns hier vor dem Bösen, das uns
umringt, zu bewahren und uns zu befähigen, zur Verherr=
lichung Seines Namens ein Zeugnis für Ihn zu sein. Wie wir
schon gesehen haben, sind wir durch das Wort wiedergeboren
und somit der neuen Natur teilhaftig geworden. Dadurch, daß
es uns in die Erkenntnis Gottes, als geoffenbart in Christo, ein=
geführt hat, haben wir das ewige Leben. Jesus sagt: „Dies aber
ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und
den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh 17, 3).
Für alle, die auf diese Weise nun durch das Wort wiedergeboren
sind, ist es, wie schon gesagt, zugleich die Nahrung des neuen
Lebens. Das Wort entwickelt das neue Leben durch eine fort=
schreitende Entfaltung des göttlichen Lichts vor der Seele, und
erzeugt dadurch eine praktisch heiligende Wirkung in ihr. Das
Wort wirkt stets seiner eigenen Natur gemäß und muß deshalb
alles in uns richten, was mit dieser Natur im Widerspruch steht.
Dies verleiht dem Wort einen richtenden Charakter. Wir lesen
daher in Hebr 4, 12. 13: „Denn das Wort Gottes ist lebendig
und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert
und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, so=
wohl der Gelenke, als auch des Markes, und ein Beurteiler der
Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf
ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor
den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben". Nichts ist
gefährlicher für uns, als wenn das Ich oder die Regungen des
Fleisches unseren Wandel beeinflussen, der dadurch notwen=
digerweise gehemmt wird; die Gemeinschaft mit Gott wird ge=
173
stört, das geistliche Leben geschwächt und die Klarheit der Seele
getrübt. Wenn wir nicht stets in unseren Herzen Geist und
Fleisch voneinander unterscheiden, gibt es keinen Fortschritt;
vielmehr bleibt alsdann die Seele infolge jener Vermischung in
einem schlechten und krankhaften Zustand. Doch, Gott sei gepriesen, daß Er uns durch Sein teures Wort in dieser schwie=
rigen Sache in so gesegneter Weise zu Hilfe kommt! Das Wort
läßt uns erkennen, was in den Gedanken und Gesinnungen
unserer Herzen nicht mit Gott im Einklang ist; es lehrt uns
unterscheiden, was aus dem Fleische und was aus dem Geiste
hervorkommt, und stellt alles genau an den ihm gebührenden
Platz. Mit einer alles durchdringenden Schärfe trennt es in
unseren Herzen das Wahre von dem Falschen und weiß stets
zwischen Geist und Fleisch, zwischen Gott und dem Ich, die
richtige Grenze zu ziehen und aufrechtzuhalten. Es ist, sozu=
sagen, das Auge Gottes, das bis auf den innersten Grund und
in die verborgensten Winkel unserer Herzen blickt und die ge=
heimsten Beweggründe der Herzen erforscht, so, daß wir da=
durch in der Gegenwart Gottes bloßgestellt sind, und was nötigt,
alles in uns zu verurteilen, was ihr nicht entspricht. Nur so ist
es möglich, in Gemeinschaft mit Gott und in Seiner Kraft
unseren Weg durch die Wüste fortsetzen und das Ziel, die
Ruhe Gottes, erreichen zu können. Das Wort läßt uns alles
erkennen und verurteilen, was uns verleiten will, vom Ziele
abzublicken und hier Ruhe zu suchen. Das ist der Weg, auf
dem es stets seine reinigende Macht an uns offenbart und uns
in beständiger Verbindung mit Gott erhält.
Der gleiche Gedanke liegt der Fußwaschung zugrunde. Die
Jünger waren rein, ihrer Stellung nach; aber um teil mit Jesu
zu haben, das heißt, um durch den Glauben mit Ihm im Genuß
Seiner neuen, himmlischen Stellung zu sein, war es nötig, daß
ihre Füße gewaschen wurden — sie mußten praktisch rein sein.
Der Herr nahm daher Wasser und wusch ihnen die Füße. Dies
ist bezüglich unseres praktischen Wandels die Anwendung des
Wortes in der oben angeführten richtenden Weise. In Epheser 5
finden wir die gleiche Anwendung des Wortes; jedoch handelt
es sich da mehr um das dadurch erzeugte völlige Resultat, und
um das besondere Verhältnis zwischen Christo und der Ver=
Sammlung. Christus reinigt Seine Versammlung durch die
Waschung mit Wasser durch das Wort, „auf daß er sich selbst
174
die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder
Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß sie heilig und
tadellos sei". Welch ein herrliches Resultat! Der Beweggrund,
der Christum sowohl hier als auch bei der Fußwaschung leitet,
ist einzig und allein Seine unaussprechliche Liebe zu Seiner
Versammlung. Wir lesen in Joh 13, 1: „Da er die Seinigen, die
in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende".
Und dann stand Er im Bewußtsein Seiner persönlichen Herrlich^
keit auf und wusch ihnen die Füße. In Epheser 5, 25 lesen wir:
„Ihr Männer, liebet eure Weiber, gleichwie auch der Christus
die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat,
auf daß er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit
Wasser durch das Wort". Seine Liebe ist hier die Quelle von
allem, was Er für Seine Versammlung getan hat und noch tut;
und diese Liebe ist nur dann befriedigt, wenn die Versammlung
so vor Ihm ist, wie Er sie haben will, passend für Seine Herrlichkeit und in völliger Übereinstimmung mit Ihm Selbst. Deshalb reinigt Er sie durch das Wort, durch die Mitteilung der
himmlischen Dinge. Indem das Wort uns bekanntmacht mit
Seiner Liebe, macht es Ihn zum Gegenstand unserer Herzen,
und indem es uns unsere Stellung in Ihm, eine Stellung in
himmlischer Reinheit erkennen läßt, richtet es alles in unserem
praktischen Leben, was mit solcher Reinheit im Widerspruch
steht. Verbinden sich unsere Herzen mit den Dingen dieser
Welt, so hat diese Mitteilung der göttlichen und himmlischen
Dinge keinen Reiz für uns (das Fleisch in uns findet nie Geschmack daran); vielmehr finden wir uns dadurch gerichtet. Um
so anziehender sind diese göttlichen Mitteilungen für die neue
Natur. Gleichwie einst Elieser die Rebekka mit den Reichtümern
Isaaks bekanntmachte und ihr von seinen Schätzen im voraus
erzählte, macht uns jetzt der Heilige Geist mit den Herrlich=
keiten Christi bekannt und läßt sie uns im voraus genießen.
„Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist,
wird er euch in die ganze Wahrheit leiten; . . . denn von dem
Meinen wird er empfangen und euch verkündigen. Alles, was
der Vater hat, ist mein; darum sagte ich, daß er von dem Mei=
nen empfängt und euch verkündigen wird" (Joh 16). Was das
Herz der Rebekka für einen Bräutigam gewann, den sie noch
nicht gesehen hatte, was sie willig machte, ihr Vaterhaus zu
verlassen und dem Elieser zu folgen, waren die Mitteilungen,
175
die der Knecht Abrahams ihr machte. So ist auch das, was der
Heilige Geist uns in dem Worte mitteilt, geeignet, uns von den
Banden dieser Welt zu lösen, um Ihm willig in jene neue Welt
zu folgen, wo Christus ist, Der, obgleich wir Ihn nicht gesehen
haben, der Gegenstand unserer Zuneigungen ist. „Welchen ihr,
obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebt; an welchen glaubend,
obgleich ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und
verherrlichter Freude frohlockt" (1. Petr 1, 8).
In Johannes 17 finden wir die gleiche heiligende Wirkung
des Wortes. Es ist der Wille des Herrn, daß wir in der Welt
leben als solche, die nicht von der Welt sind, gleichwie Er nicht
von der Welt war. Obgleich Er von dem Vater in die Welt gesandt war, war Er doch in Seinen Gedanken, Beweggründen,
Handlungen und Grundsätzen völlig von der Welt getrennt.
Nichts in Ihm war von der Welt. Dies ist der Maßstab unserer
Stellung hienieden; denn der Herr sagt wiederholt- „Sie sind
nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin"; und:
„Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie
in die Welt gesandt". Wir sollen in der Welt sein, aber nicht in
Verbindung mit der Welt; wir sollen ebenso völlig von ihr
getrennt sein, wie Jesus Selbst es war. Der 17. Vers zeigt uns
das Mittel, wodurch dies erreicht wird: „Heilige sie durch die
Wahrheit: dein Wort ist Wahrheit". Bemerken wir hier, daß
der Ausdruck „dein Wort" dies als das Wort des Vaters charak=
terisiert, das uns unser Verhältnis zu Ihm in Christo unter dem
uns geoffenbarten Namen „Vater", und folglich unsere himm=
lische Stellung als Kinder Gottes offenbart. Dieses Wort ent=
hüllt vor uns die ganze Kostbarkeit dieses Namens, die Ver=
traulichkeit der Verwandtschaft und einer Nähe, die uns natur=
gemäß ebensoweit von der Welt entfernt, wie Er Selbst von der
Welt entfernt ist. Denn Er steht in völligem Gegensatz zu der
Welt. Welch eine wunderbare Wirkung! Wie weit entfernt ist
die dadurch erzeugte Heiligung von den ermüdenden, frucht=
losen Anstrengungen eines gesetzlichen Geistes/
Anstrengun=
gen, die sich nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Fleisch
stützen! Denn die Wahrheit ist es, wodurch diese Heiligung
bewirkt wird. „Dein Wort ist Wahrlieit". Aber diese Wahrheit
ist, wie bereits gesagt, die Mitteilung unserer neuen, himm=
lischen Stellung in Christo, die Sein Werk zur Grundlage hat.
Nur das Kreuz und die vollbrachte Erlösung konnten die wahre
176
Grundlage dieser neuen Stellung bilden. Das Kreuz hat sowohl
das, was der Mensch, als auch das, was Gott ist, völlig ins Licht
gestellt. Es hat die Feindschaft des Menschen gezeigt, der als
Mittelpunkt des durch Satan verderbten Systems dieser Welt
Christum verwarf. Aber es hat auch die Heiligkeit und Liebe
Gottes in der für uns vollbrachten Erlösung geoffenbart. Da
Christus für uns starb, so war Sein Tod das Ende unseres
Lebens als Menschen im Fleische, und somit das Ende all der
Beziehungen, die sich an dieses Leben knüpften, das Ende von
allem, was uns mit dieser Welt verband. Paulus sagt daher:
„Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes
unseres Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt ge=
kreuzigt ist, und ich der Welt" (Gal 6, 14). Aber Christus starb
nicht allein für uns, Er ist auch auferweckt worden, und zwar
durch die Herrlichkeit des Vaters. Der Vater hat Den, Der Ihn
in Seinem Tode vollkommen verherrlicht und Ihm, sozusagen
dadurch die Ausführung Seiner Ratschlüsse in Gnade für den
verlorenen Sünder ermöglicht hat, auferweckt und verherrlicht,
indem Er Ihm einen Namen gegeben hat, der über jeden Namen
ist. Er hat Den verherrlicht, Den die Welt verworfen hat, und
hat Ihn zum Mittelpunkt einer neuen Welt gemacht. Und das
ist die Wahrheit, die uns das Wort des Vaters offenbart, und
die uns praktisch von der Welt absondert. Christus hat uns
mit Sich Selbst vereinigt in dieser Seiner neuen Stellung und
uns so mit Sich in das gleiche Verhältnis zum Vater gestellt. Er
hat uns unserer Stellung nach durch Seinen Tod von der Welt
getrennt, wie Er von ihr getrennt ist, und wie Er es war wäh=
rend Seines ganzen Lebens auf Erden. Und durch die Mit=
teilung dieser Wahrheit wird diese Absonderung, diese voll=
ständige Trennung von der Welt und allem, was uns mit ihr
verbindet, praktisch in uns bewirkt. Sie heiligt uns und macht
uns zu Fremdlingen in dieser Welt, wie Christus Selbst es war,
während sie uns zugleich den Vater, Seine Liebe und unsere
innige Gemeinschaft mit Ihm in Christo erkennen läßt und
dadurch Zuneigungen, Wünsche und Hoffnungen in uns er=
weckt, die ganz und gar himmlisch sind.
Das ist die reinigende und heiligende Wirkung des Wortes
Gottes, das vollkommen genügt, dies alles in uns zu erzeugen.
Darum sagt auch Paulus zu den Ältesten von Ephesus, im Blick
auf das Verderben, das nach seinem Abschiede über die Kirche
177
hereinbrechen würde: „Und nun befehle ich euch Gott und dem
Worte seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch
ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten". Er betrachtet das
Wort, wenn es in der Abhängigkeit von Gott benutzt wird., als
vollkommen genügend und ausreichend für die Herde Gottes,
wenn sie aller anderen Stützen beraubt sein wird. Ferner sagt
er zu Timotheus hinsichtlich der schweren Zeiten in den letzten
Tagen: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon
du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt
hast, und weil du von Kind auf die heiligen Schriften kennst,
die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch
den Glauben, der in Christo Jesu ist. Alle Schrift ist von Gott
eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf daß der
Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig
geschickt" (2. Tim 5,14—17). Das Wort allein macht uns weise,
um all den verderblichen Schlingen des Feindes zu entgehen,
wodurch die Kirche zum Fall gebracht und ins Verderben gestürzt worden ist, diesen tausendfachen Schlingen, denen die
höchste menschliche Weisheit nicht entgehen kann. Es zeigt uns
den schmalen Pfad, den menschliche Klugheit weder zu entdecken, noch zu wandeln vermag, der aber den Treuen sicher und
wohlbehalten an all den Verirrungen und Trugschlüssen der
Menschen vorbeiführt. „Ein Pfad, den der Raubvogel nicht kennt,
und den das Auge des Habichts nicht erblickt hat" (Hi 28, 7).
Das Wort allein macht uns durch seine heiligende, erleuch»
tende und belebende Wirkung vollkommen, zu allem guten
Werke völlig geschickt. Es genügt durchaus, um zu jeder Zeit
und in allen, auch den wichtigsten Angelegenheiten das Rich=
tige, Passende und Angemessene zu wählen und zu tun. So
wurde zu Josua gesagt, als er im Begriff stand, als Heerführer
des Volkes Gottes den Jordan zu überschreiten und das Land
einzunehmen: „Nur sei sehr stark und mutig, daß du darauf
achtest, zu tun nach dem ganzen Gesetz, welches mein Knecht
Mose dir geboten hat. Weiche nicht davon ab zur Rechten noch
zur Linken, auf daß es dir gelinge überall, wohin du gehst.
Dieses Buch des Gesetzes soll nicht von deinem Munde weichen,
und du sollst darüber sinnen Tag und Nacht, auf daß du darauf
achtest, zu tun nach allem, was darin geschrieben ist; denn alsdann wirst du auf deinem Wege Erfolg haben, und alsdann
178
wird es dir gelingen" (Josua 1). Und in Psalm 1 lesen wir:
„Glückselig der Mann, der nicht wandelt im Rate der Gott=
losen . . . sondern seine Lust hat am Gesetz Jehovas und über
sein Gesetz sinnt Tag und Nacht. Und er ist wie ein Baum,
gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner
Zeit, und dessen Blatt nicht verwelkt; und alles, was er tut,
gelingt".
Aber wenn das Wort so wunderbare Wirkungen erzeugt,
müssen wir uns dann nicht fragen: Woher kommt es, daß diese
Wirkungen bei den Gläubigen oft so wenig wahrgenommen
werden? Die Beantwortung dieser Frage führt uns zu dem
zweiten Punkt unserer Betrachtung, zu der Verantwortlichkeit
gegenüber dem Worte Gottes.
3
Wir haben gesehen, daß das Wort Gottes göttlich in seiner
Natur und göttlich in seinen Wirkungen ist; und dies ist es,
was ihm seinen Wert gibt und was uns das Maß unserer Ver=
antwortlichkeit verstehen läßt. Es besitzt eine göttliche Autori=
tat; denn es ist Gottes Wort, Gott hat geredet, und als solches
fordert es Anerkennung. Paulus schreibt an die Thessalonicher:
„Und darum danken wir auch Gott unablässig, daß, als ihr von
uns das Wort der Kunde Gottes empfinget, ihr es nicht als
Menschenwort aufnähmet, sondern, wie es wahrhaftig ist, als
Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt" (i. Thess
2, 13). Gott verlangt für Sein Wort die gleiche Anerkennung
und die gleiche Unterwerfung, die Er für Sich Selbst bean=
spruchen kann und muß, wenn nicht alles, was Er ist, in Frage
gestellt werden soll. Sein Wort ehren und achten, heißt Ihn
Selbst ehren und achten. Dies geht klar aus den Worten hervor,
die der Herr an Martha richtete: „Martha, Martha, du bist be=
sorgt und beunruhigt um viele Dinge; eines aber ist not. Maria
aber hat das gute Teil erwählt, welches nicht von ihr genom=
men werden wird" (Lk 10, 41. 42). Der Herr stellt hier in ge=
wissem Sinn die Aufmerksamkeit, die man Seinem Worte
schenkte, höher, als die, welche man Seiner Person nach dem
Fleische widmete. Scheinbar ehrte Martha den Herrn mehr, als
Maria; und wirklich liebte sie Ihn, denn sie nahm Ihn in ihr
Haus auf und war beschäftigt, Ihm zu dienen. Aber das, was
179
Maria tat, hatte mehr Wert für den Herrn; sie hatte das gute
Teil erwählt, das eine, was not ist; sie „setzte sich nieder zu
den Füßen Jesu und hörte seinem Worte zu". Und das Wort,
das sie hörte, hatte deshalb so großen Wert für sie, weil die
Person Dessen, Der es redete, Jesu, so wertvoll für sie war;
andererseits fesselten Seine Worte sie um so mehr an Seine
Person. Er nahm den ersten Platz in ihrem Herzen ein und
somit auch Sein Wort. Das ist es, was auch die Gläubigen in
Philadelphia charakterisiert, die Treuen der letzten Tage in=
mitten der allgemeinen Untreue der bekennenden Kirche. Der
Herr sagt von ihnen: „denn du hast eine kleine Kraft und hast
mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet"
(Offb 3, 8). Ihre Treue besteht darin, daß 9ie das Wort bewahren; und sie bewahren es, weil es Sein Wort ist, das Wort
Dessen, Welcher der Gegenstand ihrer Herzen ist. Sie kennen
den Wert Seiner Person, Seines Namens, und darum auch den
Wert Seines Wortes. Jesus sagt: „Meine Schafe hören meine
Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir" (Joh 10, 27).
Unsere Verantwortlichkeit besteht also darin, daß wir dem
Wort, als dem Worte Gottes, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und seine Autorität durch eine völlige Unterwer=
fung unter das Wort anerkennen. Dies ist eine Sache von hoher
Bedeutung, deren Vernachlässigung das Geheimnis der bei
vielen Christen herrschenden Unkenntnis und Unfruchtbarkeit
in sich birgt. Es mag deshalb gut sein, den bereits angeführten
Stellen, die auf diese Verantwortlichkeit bezug haben, hier
noch einige hinzuzufügen: „Wodurch wird ein Jüngling seinen
Pfad in Reinheit wandeln? Indem er sich bewahrt nach deinem
Worte" (Ps 119, 9). „Die Eröffnung deines Wortes erleuchtet,
gibt Einsicht den Einfältigen" (Ps 119, 130). „Wer Ohren hat
zu hören, der höre" (Mt 13, 9). „Das aber in der guten Erde
sind diese, die in einem redlichen und guten Herzen das Wort,
nachdem sie es gehört haben, bewahren und Frucht bringen mit
Ausharren" (Lk 8, 15). „Sehet nun zu, wie ihr höret; denn wer
irgend hat, dem wird gegeben werden, und wer irgend nicht
hat, von dem wird selbst was er zu haben scheint, genommen
werden" (Lk 8, 18). „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein
Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen" (Joh 14, 23).
„Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe
180
bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe
und in seiner Liebe bleibe (Joh 15, 10). „Laßt das Wort des
Christus reichlich in euch wohnen" (Kol 3, 16). Ferner finden
wir am Ende von jedem der sieben Sendschreiben in der Offen=
barung die ernste Mahnung: „Wer ein Ohr hat, höre, was der
Geist den Versammlungen sagt". Diese Stellen bestätigen unter
vielen anderen zur Genüge, was wir über die Größe unserer
Verantwortlichkeit gegen das Wort gesagt haben.
Ein richtiges Verständnis des Wortes bildet die Grundlage
eines gesunden, geistlichen Lebens und eines Wandels zur Ver=
herrlichung Gottes. Der Herr sagt in Seiner Erklärung des
Gleichnisses vom Sämann: „Der aber auf die gute Erde gesät
ist, dieser ist es, der das Wort hört und versteht, welcher wirklich Frucht bringt; und der eine trägt hundert=, der andere
sechzig=, der andere dreißigfaltig" (Mt 13, 23). Wir stellen nicht
in Abrede, daß ein Christ ohne ein richtiges Verständnis treu
sein kann; immerhin aber wird sein Zustand ungesund und
sein Wandel mangelhaft sein, da es ihm an der „gesunden
Lehre" fehlt, die allein ihn auf seinem Pfade richtig zu leiten
vermag. Andererseits kann jemand viele und auch wahre Erkenntnis besitzen, aber dennoch in einem schlechten Zustand
sein, weil er aus Mangel an Treue die Autorität des Wortes
nicht durch völlige Unterwerfung anerkennt. Das Wort hat
keine Macht über ihn, weil er ihm nicht unterworfen ist. Ob=
gleich also ein richtiges Verständnis des Wortes die erste Be=
dingung eines gesunden geistlichen Zustandes ist, so muß dies
dennoch mit völligem Gehorsam und unbedingter Unterwer=
fung unter das Wort verbunden sein. Man kann beides nicht
voneinander trennen, ohne sich unberechenbaren, nachteiligen
Folgen auszusetzen, deren Resultat im Licht des Richterstuhls
Christi geoffenbart werden wird, vor dem Richterstuhl Dessen,
Der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt, und Der
sagt: „Ich kenne deine Werke" (Offb 2, 2). Niemand kann sich
der Verantwortlichkeit entziehen, unter die das Wort Gottes
kraft seiner Autorität einen jeden Menschen stellt, mag er sie
nun anerkennen oder nicht. Dies ist eine sehr ernste und feier=
liehe Sache.
Unsere erste Frage muß also sein: wie erlangen wir ein richtiges Verständnis des Wortes? Wir haben oben gesagt, daß
das Wort nicht ein geistliches Verständnis bei uns voraussetzt,
181
sondern es vielmehr in uns erzeugt. „Die Eröffnung deines
Wortes erleuchtet, gibt Einsicht den Einfältigen". Aber wenn
es sich um unsere Verantwortlichkeit handelt, dann zeigen uns
sowohl diese Stelle als auch die oben angeführten Stellen, unter
welcher Bedingung das Wort erleuchtet und Einsicht gibt. Es
heißt: „Die Eröffnung deines Wortes erleuchtet . . ." Wir müssen in das Wort hineingehen und ihm unsere ungeteilte Auf=
merksamkeit schenken, indem wir es in der Abhängigkeit von
der Leitung des Heiligen Geistes mit Gebet zu erforschen
suchen. Hierin wird leider so viel gefehlt. Gott hat uns in Seiner
herablassenden Güte Sein teures Wort gegeben, um uns durch
es mit Sich Selbst, mit Seinen Gedanken und Ratschlüssen be=
kanntzumachen und unsere Herzen dadurch zu nähren und zu
bilden; aber ach! wie viele Christen gibt es, die es unbenutzt
im Staube liegen lassen oder doch nur sehr wenig und ober=
flächlich darin lesen, und offen und unumwunden erklären:
„Wir-haben keine Zeit zum Lesen". Und dieses sagt man in
einem Ton, der einerseits die Geringschätzung des Wortes
Gottes zeigt und andererseits durchfühlen läßt, wie wichtig man
die weltlichen Dinge hält. Solche Christen verstehen nicht, wem
ihre Zeit und ihr Leben und alles, was sie besitzen, gehört, und
wem sie Rechenschaft davon geben müssen. Sie gehen, ver=
wickelt in die Geschäfte und die Dinge dieser Welt, von Tag zu
Tag voran in einem Leben, das keinen anderen Beweggrund,
Mittelpunkt und Zweck hat, als das eigene Ich. Ihr Leben ist
ein fruchtloses und verlorenes Leben. Das Wort Gottes hat
seinen Geschmack für sie verloren, wie ihn das Manna für die
Kinder Israel verloren hatte, deren Herzen von den Fleisch=
topfen Ägyptens eingenommen waren; und wenn sie aufrichtig
wären, dann würde gleich jenen auch ihre Sprache sein: „Und
nun ist unsere Seele dürre, gar nichts ist da, nur auf das Man
sehen unsere Augen". Aber welches Heilmittel gibt es noch für
eine Seele, wenn die einzige Speise, die Gott als vollkommen
genügend zu ihrer Erquickung in der Wüste gegeben hat, sie
dürre läßt? Wir wissen wohl, daß man nicht den ganzen Tag
mit dem Lesen des Wortes beschäftigt sein kann, und daß es
verwerflich und eine Verunehrung des Herrn sein würde, wenn
wir darüber unsere Verpflichtungen versäumen wollten, die uns
unser Beruf und unsere irdischen Beziehungen auferlegen. Ein
solches Verhalten wäre durchaus kein Gehorsam gegen das
182
Wort, das uns lehrt, „im Fleiße nicht säumig" zu sein. Die
Ermahnung, dem Worte eine ungeteilte Aufmerksamkeit zu
schenken, in dieser Weise aufzufassen, wäre ganz verwerflich.
Solch ein Gedanke lag gewiß nicht im Sinn der an Josua ge=
richteten Aufforderung: „Du sollst darüber sinnen Tag und
Nacht"; denn wie hätte er dann Jericho einnehmen und dieKanaaniter vertreiben können? Ebensowenig konnte ein so falscher
Begriff in der Absicht des Herrn liegen, als Er Maria recht=
fertigte und Martha tadelte. Indessen weiß ein geistlicher
Christ, der den Wert des Wortes Gottes kennt und dessen tägliche Nahrung es ist, die gelegene Zeit auszukaufen und zu
benutzen, indem er nicht nur seine geistlichen Beziehungen,
sondern sein ganzes Leben, auch seine irdischen Berufsgeschäf=
te nach dem Worte regelt. Für ihn ist das Christentum nicht ein
Kleid, das er nur sonntags anzieht und die Woche über in den
Schrank hängt. Er weiß, daß nur der in jeder Beziehung wahr=
haft treu seinen Platz nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
einnimmt, dessen alleinige Richtschnur das Wort Gottes ist.
Er versteht, was eine ungeteilte Aufmerksamkeit gegen das
Wort bedeutet. Und auch jene nachlässigen und gleichgültigen
Seelen sind in ihrem Gewissen überzeugt, daß ihr vorgeblicher
Mangel an Zeit nur aus dem Mangel an Liebe zum Herrn und
zu Seinem Wort entspringt.
Doch ist es auch möglich, daß man nicht geradezu gleichgültig
gegen das Wort Gottes ist, sondern selbst ein gewisses Inter=
esse an ihm hat. Da dies jedoch nicht tief genug geht, so liest
man zwar das Wort, sinnt aber nicht viel darüber, oder vergißt
es doch bald wieder, weil man dabei mehr durch die Mahnungen
des Gewissens, als durch ein wirkliches Bedürfnis des Herzens
geleitet wird. In einem solchen Fall mag die Schärfe des Wortes
zwar gefühlt und das Gewissen zuweilen getroffen werden, so
daß man genötigt ist, sich selbst zu richten und zu verurteilen,
aber trotzdem gibt es keine durchgreifende Wendung zum
Besseren. Die Sorgen für die Dinge dieses Lebens und die Re=
gungen des Fleisches treten immer wieder in den Vordergrund
und verdrängen jedes wahre Interesse am Wort. Vergeblich
macht man Anstrengungen, um das Interesse am Wort wach=
zuhalten. Schon während man liest, sind die Gedanken wieder
auf andere Dinge gerichtet; man liest mit einem zerstreuten
Herzen, und das Wort bleibt wirkungslos. Es darf uns nicht
183
wundern,, wenn die Seele bei einem solchen Lesen kein richtiges
Verständnis erlangt und sich folglich kein wesentlicher Fort=
schritt im geistlichen Leben zeigt, sondern vielmehr die gött=
liehe Einfalt und geistliche Energie verschwindet, um einer geistlichen Erschlaffung Platz zu machen. Christus und die himm=
lischen Dinge haben keinen Reiz für das Herz; das Interesse
für das Wort und das Werk des Herrn nimmt ab, während die
Dinge dieser Welt immer mehr das Herz einnehmen. Und an=
statt der geistlichen Freude, welche das Wort dem Herzen mit=
teilt, indem es in uns die Erkenntnis des Herrn und das Ver=
ständnis der himmlischen Dinge bewirkt, tritt Mutlosigkeit
und Unzufriedenheit mit den Wegen Gottes ein, allenfalls ver=
bunden mit den gesetzlichen und fruchtlosen Anstrengungen
eines beunruhigten Gewissens. Der Herr erklärt diesen Zu=
stand mit den Worten: „Anderes aber fiel unter die Dornen,
und die Dornen schössen auf und erstickten es . . . Der aber
unter die Dornen gesäet ist, dieser ist es, der das Wort hört,
und die Sorge dieses Lebens und der Betrug des Reichtums
ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht" (Mt 13, 7. 22).
4
Ein anderes Hindernis, ein richtiges Verständnis des Wortes
Gottes zu erlangen, ist, daß man seine eigenen Gedanken
in das Wort hineinträgt, statt die Gedanken Gottes daraus zu
schöpfen. Man vergißt, daß das Wort die einzige Quelle aller
wahren Gedanken ist; man denkt außerhalb des Wortes, bringt
dann seine vorgefaßten Meinungen und Ideen in das Wort
hinein und sucht, es diesen anzupassen. Auf diese Weise wird
das Wort verdreht und ihm häufig ein Sinn beigelegt, der ihm
ganz und gar fremd ist. Man bewegt sich, mit der Bibel in der
Hand, in seinen eigenen Gedanken, bleibt deshalb in Unwissen=
heit und tappt im Finstern umher; zugleich liefert man den
Beweis, daß man sich nicht unter, sondern über das Wort stellt.
Man kommt nicht, um durch das Wort belehrt zu werden, son=
dem als ein solcher, der bereits etwas zu wissen meint. Aber
„wenn jemand sich dünkt, er erkenne etwas, der hat noch nicht
erkannt, wie man erkennen soll" (1. Kor 8, 2).
Das Wort „gibt Einsicht den Einfältigen". Es fordert unsere
ungeteilte Aufmerksamkeit und völlige Unterwerfung, wenn
184
der Zweck, zu dem Gott es gegeben hat, in uns erreicht werden
soll. Das Bewußtsein, es mit dem Worte Gottes zu tun zu
haben, läßt uns den uns geziemenden Platz ihm gegenüber im
Gefühl unseres Nichts einnehmen, wie Maria ihn zu den Füßen
Jesu einnahm. Sowohl die Dinge dieser Welt, als auch unser
vermeintliches Wissen müssen in den Hintergrund treten. Wo
Gott redet, muß das Ich schweigen; ausgeleert von uns selbst,
sind wir Gefäße, die Gott füllen kann. Der Psalmist sagt:
„Bevor ich gedemütigt ward, irrte ich; jetzt aber bewahre ich
dein Wort" (Ps 119, 67). Das Bewußtsein der Gegenwart Gottes
macht immer demütig und läßt uns nie leichtfertig mit Seinem
Worte umgehen.
So wenig wir uns jedoch bei dem Studium des Wortes durch
unsere eigenen Gedanken leiten lassen dürfen, ebensowenig
sollten wir die Meinungen anderer über es stellen. Dies ge=
schieht leider oft. Es ist eins der am weitesten verbreiteten Übel
unter den Christen und eins der wirksamsten Mittel in der
Hand des Feindes, um die Christen von dem richtigen Verstände
nis der Wahrheit fernzuhalten und sie zum Spielball mensch=
licher Vernünfteleien und allerlei verkehrter Auslegungen des
Wortes zu machen. Viele Gläubige gelangen dadurch nie zu
wahrer Festigkeit und Selbständigkeit, sondern sie werden „hin
und her geworfen und umhergetrieben von jedem Winde der
Lehre" (Eph 4, 14). Den gröbsten Irrtümern ist auf diesem
Wege Tür und Tor zu den Herzen geöffnet, und dies kann
sicher nur die traurigsten Früchte hervorbringen. Wie viele
Seelen mühen sich, in Ungewißheit über ihre Errettung und
von steten Zweifeln geplagt, vergeblich ab und schleppen sich
oft jahrelang in einem gesetzlichen Zustande dahin, ohne die
Ruhe des Gewissens und den ihrem Herzen so nötigen Frieden
finden zu können, den das einfache, klare und köstliche Wort
Gottes ihnen bietet. Wie viele Tausende nehmen in ihrem
Streben nach Heiligkeit, vielleicht mit aufrichtigem Herzen, zu
allerlei Mitteln, die ihnen vorgeschlagen werden, ihre Zuflucht,
um entweder, ermüdet und enttäuscht durch schmerzliche Erfahrungen, schließlich eine entgegengesetzte Richtung einzuschlagen oder sich der noch schrecklicheren Täuschung einer
fleischlichen Vollkommenheit hinzugeben. Doch wer vermöchte
die unzähligen, krankhaften Zustände alle zu schildern! Den=
ken wir nur an die traurige Zersplitterung inmitten der Chri=
185
stenheit, an die unendlich vielen Sekten und Parteien unter ihr,
an das kraftlose Formen= und Zeremonienwesen, in dem so
manches christliche Leben verkümmert! Alle diese betrübenden
Erscheinungen sind, wenn sie auch zum Teil in der persön=
liehen Untreue ihren Grund haben mögen, doch hauptsächlich
die Frucht jener großen Unkenntnis und falschen Auffassung
des Wortes, die sich bei Tausenden von Christen vorfindet,
einer Unkenntnis, die sich in den meisten Fällen auf den Ein=
fluß anderer zurückführen läßt.
Hiermit soll aber keineswegs gesagt sein, daß wir alles, was
andere in bezug auf das Wort reden oder schreiben, verwerfen
oder unbenutzt lassen sollen. Denn dadurch würden wir zu=
gleich die Gaben verwerfen, die Christus gegeben hat „zur
Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die
Auferbauung des Leibes Christi" (Eph 4, 12). Wir würden
durch eine solche Handlungsweise nicht Ehrfurcht vor dem
Worte Gottes beweisen. Denn ein Christ, der gegen diese
Gaben, mögen sie sich nun in Wort oder Schrift kundgeben,
gleichgültig ist, ist es sicherlich auch gegen das Wort Gottes
selbst. Zugleich würden wir dadurch die Wirksamkeit des Hei=
ligen Geistes verachten, der auf diese Weise zum Nutzen aller
durch die verschiedenen Glieder des Leibes Christi wirkt. Er
teilt einem jeglichen insbesondere aus, wie Er will, und kommt
durch die verliehenen Gaben unserem Verständnis beim Lesen
der Heiligen Schrift zu Hilfe. Dies stellt uns unter eine Verantwortlichkeit, der wir uns nicht entziehen können, ohne da=
durch den Heiligen Geist zu betrüben und uns selbst großen
Schaden zuzufügen. Endlich verrät es Hochmut und Einbildung
des Herzens, wenn jemand meint, die Gaben entbehren zu
können, die Gott anderen geschenkt hat.
Dennoch kann nur die Heilige Schrift unsere einzige Richt=
schnür sein. Wir müssen alles, was andere, wer es auch sei,
darüber sagen oder schreiben, im Lichte der Schrift und unter
der Leitung des Heiligen Geistes prüfen. Wir lesen in Apg 16
von den Beröern, daß sie mit aller Bereitwilligkeit das Wort
aufnahmen, indem sie täglich die Schriften untersuchten, ob
dies sich also verhielte. Sie prüften selbst das, was Paulus zu
ihnen redete im Lichte der Schriften, und als sie sein Wort
in Übereinstimmung mit ihnen fanden, nahmen sie es unver=
186
züglich auf, und viele glaubten. Auf diese Weise können wir
bei der Betrachtung des Wortes alles mit Dank gegen den Herrn
benutzen, was der Geist Gottes durch andere darreicht, aber
wir sollten uns nie der Leitung anderer überlassen. Unser allein
niger untrüglicher Leiter ist der Heilige Geist. Da wo man unter
Seiner Leitung, im Bewußtsein der eigenen Unwissenheit, mit
Gebet das Wort zu erforschen sucht, wird ein richtiges Ver=
ständnis des Wortes nicht ausbleiben. Denn es steht geschrie=
ben: „Uns aber hat Gott es geoffenbart durch seinen Geist,
denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. Denn
wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur
der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes . . . Der natür=
liehe Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist,
denn es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen,
weil es geistlich beurteilt wird" (i. Kor z, 10. 11. 14). „Der
Sachwalter aber, der Heilige Geist, welchen der Vater senden
wird in meinem Namen, jener wird euch alles lehren und euch
an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Joh 14, 26). Der
Heilige Geist ist es, der uns in alle Wahrheit einführt, der alle
Dinge erforscht, selbst die Tiefen Gottes, und sie uns offenbart.
Aber Er tut dies durch das Wort. Es ist in Seiner Hand das
Mittel, uns in alle Wahrheit zu leiten und uns ein richtiges
Verständnis zu geben, und das ist die erste Bedingung zu einer
gesunden Entwicklung des geistlichen Lebens in uns.
Doch obwohl dies der Fall ist, so kann es dennoch sein, wie
wir schon früher bemerkten, daß jemand ein richtiges Verständ=
nis über viele Punkte der Wahrheit besitzt, ohne deshalb in
einem gesunden Zustand zu sein. Es ist durchaus nötig, daß ein
solches Verständnis mit einem völligen Gehorsam verbunden
ist. Josua (das Vorbild unserer wahren christlichen Stellung in
den himmlischen örtern) mußte nicht allein Tag und Nacht
über das Wort sinnen, sondern auch „tun nach allem, was darin
geschrieben ist"; er mußte „tun nach dem ganzen Gesetz".
Da, wo das Verständnis mit dem Gehorsam verbunden ist,
kann das Wort seine Wirkungen in uns erzeugen und das
Leben sich in gesunder Weise entwickeln, trotz des Widerstandes des Fleisches und inmitten einer Welt, die im Gegen=
satz zu dem neuen Leben steht. Das Wort verlangt unbeding=
te Unterwerfung, bietet aber zugleich auch die dem Gehorsam
187
nötige Kraft dar. Sobald die Priester der Aufforderung, mit
der Bundeslade vor dem Volke her über den Jordan zu gehen,
Folge leisteten und ihre Füße in den Rand des Wassers tauchten,
teilte sich der Jordan, obwohl er voll war über alle seine Ufeir
(Josua 3, 15). Der Glaube findet das Wort stets zuverlässig und
köstlich und erfährt seine Kraft, indem er sich seiner Leitung
völlig anvertraut. Aber er erfährt diese Kraft nur auf dem
Wege des Gehorsams, und dieser Weg ist der Tod des Fleisches.
Zuerst Gehorsam, dann die Kraft. Wenn die Priester nicht zu=
erst gehorcht hätten, würde sich der Jordan nicht geteilt haben.
Das Wort Gottes ist völlig ausreichend in all unseren Be=
Ziehungen auf unserem Wege hier, aber diese Erfahrung macht
nur der Glaubensgehorsam. Alles hängt, soweit es unsere Ver=
antwortlichkeit betrifft, von diesem unterwürfigen Gehorsam
ab. Wir brauchen nicht nur ungeteilte Aufmerksamkeit gegen
das Wort, um zu seinem richtigen Verständnis zu gelangen,
sondern sollen auch das, was wir erkannt haben, verwirklichen.
In dem Maße wir dies tun, wird auch wiederum das Verständnis
zunehmen. „Sehet nun zu, wie ihr höret; denn wer irgend hat,
dem wird gegeben werden, und wer irgend nicht hat, von dem
wird selbst, was er zu haben scheint, genommen werden"
(Lk 8, 18). Dies ist eine sehr ernste Sache in bezug auf unser
tägliches Leben, und um so ernster, je einfacher und gewöhn=
licher die Beziehungen sind, in welchen wir uns bewegen. So
haben wir zum Beispiel in den täglich wiederkehrenden Um=
ständen unseres Familienlebens am meisten Gnade und Wach=
samkeit nötig, um stets dem Worte unterworfen zu bleiben.
Und diese Unterwürfigkeit gibt sich darin kund, daß wir das
verwirklichen, was wir von dem Worte erkannt haben.
Doch wie groß ist der Mangel an dieser Unterwürfigkeit in
den Häusern so vieler Christen! Wir müssen uns hier darauf
beschränken, nur auf einige Punkte aufmerksam zu machen.
Wie viele christliche Eltern gibt es z. B., die sehr wohl wissen,
wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Denn die darauf bezüg=
liehen Ermahnungen des Wortes sind einfach und bestimmt.
Aber dennoch erziehen sie die Kinder nicht für den Herrn, son=
dem für die Welt. Worin hat dies seinen Grund? Nicht im
Mangel an Verständnis, sondern im Mangel an Unterwürfig*
keit. Eine solche Erziehung hat aber nicht nur die traurigsten
Folgen für die Kinder, sondern auch für das geistliche Leben
188
der Eltern. Die Wirksamkeit des Wortes wird in ihnen ge=
hemmt und ihre geistliche Kraft geschwächt. Sie begehen nicht
allein Untreue gegen ihre Kinder, sondern auch gegen das
Wort, weil sie ihm nicht gehorchen, obwohl sie seine bestimm=
ten Gebote kennen. Jeder Ungehorsam aber, selbst in den ge=
ringsten Dingen, ist der Beweis des Mangels an Achtung und
Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, der Beweis einer nicht unter=
worfenen Natur und eines ungebrochenen Willens. Die Ver=
antwortlichkeit gegen das Wort erstreckt sich jedoch nicht nur
auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, sondern auch
auf die Beziehungen der Kinder zu den Eltern, der Geschwister
zueinander, der Herrschaften zu dem Gesinde, des Gesindes
zur Herrschaft, kurz auf all die Beziehungen unseres Familien=
und öffentlichen Lebens. Stets haben wir die Autorität des
Wortes anzuerkennen und uns ihr zu unterwerfen.
Auch im Geschäftsleben der Christen zeigt sich oft große
Untreue, ein bedauerlicher Mangel an Achtung vor dem Wort,
obwohl es in dieser Beziehung gewiß auch nicht an genügenden
klaren und einfachen Anleitungen im Worte fehlt. Viele be=
trachten das Geschäft als eine vom Christentum getrennte
Sache und betreiben es folglich ganz nach den Grundsätzen
dieser Welt, anstatt auch hierin wie in allem anderen das Wort
als alleinige Richtschnur gelten zu lassen. Doch ich frage: „Ge=
nügt es in dieser Beziehung nicht als alleinige Richtschnur?
Oder kann ein Christ, wenn er das Wort ausschließt, über=
haupt noch als Christ handeln? Keiner, der wirklich den Herrn
kennt, wird über die Beantwortung dieser Fragen in Ungewiß=
heit sein. Aber dennoch weigert man sich, diesen Maßstab an
sein Geschäft anzulegen und das Licht des göttlichen Wortes
in jeden Winkel des Geschäfts hineinleuchten zu lassen. Verrät
das nicht deutlich, wie sehr man von der Tatsache überzeugt ist,
daß nicht alles im Geschäft mit dem Worte im Einklang steht,
und wie wenig man geneigt ist, sich der ausschließlichen Lei=
tung des Wortes zu unterwerfen? Ach, der Grund der Sache
ist: man will nicht abhängig von Gott sein. Bei einer solchen
Gesinnung muß das Wort seinen gesegneten Einfluß auf uns
vollständig verlieren und der eigene Wille Nahrung finden.
Gott erlaubt vielleicht, daß wir unseren Zweck ereichen und
uns Reichtum, Ehre und Ansehen erwerben. Aber wie steht es
mit unserem geistlichen Fortschritt? wie mit dem Zeugnis als
189
„Brief Christi"? Kann die Welt den Fremdling in uns vvahr=
nehmen, der nicht von der Welt ist, gleichwie Christus nicht
von ihr ist? Gewiß nicht. Statt wie Abraham in glückseliger
Gemeinschaft mit Gott auf dem Berge, fern von Sodom, zu
stehen, befinden wir uns wie Lot in Verbindung mit dem, was
bald einem schrecklichen Gericht anheimfallen wird. Das geist=
liehe Leben ist geschwächt und gleicht einer Pflanze, auf die der
Mehltau gefallen ist; ihr Wachstum ist gestört, und sie selbst
verkümmert mehr und mehr. Wohl schreckt das Gewissen dann
und wann wieder auf; aber es ist umsonst, es ist keine Kraft
vorhanden. Das Wort Gottes, dieser kostbare Schatz, der allein
die Seele durch seine köstlichen Mitteilungen über das eigene
Ich und über die nichtigen Dinge dieser Welt zu erheben ver=
mag, ist in seiner Autorität beiseitegesetzt und der Heilige
Geist betrübt.
Andere erreichen zwar nicht ihren Zweck in der Verfolgung
ihres eigenen Willens, aber dennoch erzeugt dieser auch bei
ihnen seine unausbleiblichen Resultate: der Herr wird in der
traurigsten Weise verunehrt, in einer Weise, die besonders in
unseren Tagen eine solche Ausdehnung gewonnen hat, daß
jedes christlich fühlende Herz mit Trauer und Schmerz erfüllt
sein muß. Das gewissenlose, leichtfertige Schuldenmachen und
so manche Fallimente (Bankrotte), welche unter den Christen
vorkommen, sind nicht eine Folge von schlechten Zeiten, wie
man gewöhnlich zu sagen pflegt, sondern von Mangel an Ach=
tung und Ehrfurcht vor dem Worte Gottes. Bin ich nicht in
Übereinstimmung mit dem Worte, dann kann mein Weg un=
möglich ein gesegneter Weg sein. Was dem Wort eine so uner=
meßliche Bedeutung verleiht, ist, daß in allen Beziehungen,
selbst den irdischen, der wahre Segen von seiner sorgfältigen
Beobachtung abhängig gemacht sind. „Denn alsdann wirst du
auf deinem Weg Erfolg haben und alsdann wird es dir gelingen" (Jos 1, 8). „Und alles, was er tut, gelingt" (Ps 1, 3).
Jedoch ist es verkehrt, zu denken, daß das Wort einer irdischen
Gesinnung Vorschub leistet; der geistliche Christ weiß im Ge=
genteil sehr wohl, daß er als ein himmlischer Mensch keine irdischen Verheißungen besitzt, und daß er berufen ist, hier
mit Christo zu leiden und Seine Schmach zu tragen. Aber den=
noch ist es köstlich für ihn, seine irdischen Angelegenheiten als
die Angelegenheiten Gottes zu betrachten und auf Seine Fürsorge
190
rechnen zu können. Wir erkennen völlig die Schwierigkeiten
an, die für einen Christen mit dem Geschäftsleben verbunden
sind, gegenüber den in der Welt herrschenden Betrügereien
und Ungerechtigkeiten. Aber immer bleibt es wahr, daß die
größte Schwierigkeit nicht darin besteht, sondern vielmehr in
einer nicht unterworfenen Natur und in einem ungebrochenen
Willen. Für den völligen Gehorsam sind die Schwierigkeiten
nichts anderes, als was auch der überflutende Jordan für die
Priester war.
In seiner traurigsten Form zeigt sich die Untreue gegen das
Wort jedoch auf religiösem Gebiet. Zwar herrscht in dieser Be=
Ziehung ein großer Mangel an Verständnis unter den Christen,
aber dennoch sind sie verantwortlich, weil sie das Wort Gottes
besitzen. Trägt auch der Einfluß anderer, wie oben bemerkt,
die Hauptschuld an diesem Mangel, so findet er doch auch bei
sehr vielen seinen Grund in ihrer persönlichen Untreue gegen
das Wort. Nicht, daß sie es nicht als Grundlage ihres Bekennt=
nisses haben wollten; denn darauf möchte wohl keine Partei, sei
sie noch so weit von der Wahrheit entfernt, verzichten, wenn
sie überhaupt den Anspruch auf ein christliches Bekenntnis
macht. Aber wenn die Heilige Schrift die einzige wahre Regel
und Richtschnur des Christentums ist, warum weigern sie sich
dann, sie bei religiösen Fragen allein reden zu lassen? Warum
hören sie nicht, wenn sie klar und deutlich redet? Warum wer=
den sie aufgebracht, wenn die Wahrheit an sie herantritt? Ein
solches Verhalten errät nur den Hochmut eines Herzens, das
sich nicht unter das Wort beugen will, weil es sich in einem
System gefällt, in dem nicht Christus, sondern es selbst der
Mittelpunkt ist. Es will die Autorität des Wortes nicht anerken=
nen, weil es seine eigenen Interessen, seine eigene Ehre und
seine Verbindungen mit der Welt nicht preisgeben will. Es ver=
rät gewiß einen traurigen Zustand, wenn man sich beharrlich
der Wahrheit widersetzt, ohne sie einer näheren Prüfung zu
würdigen. Und in diesem Zustand befinden sich Tausende von
Christen. Sie besitzen das teure Wort Gottes, aber sie machen
es durch ihr Verhalten in bezug auf sich selbst wirkungslos,
und die Wahrheit bleibt ihnen verborgen. Auch auf sie könnte
man das Wort anwenden, welches Petrus in einer anderen Be=
Ziehung gebraucht: „denn nach ihrem eigenen Willen ist ihnen
dies verborgen" (2. Petr 3, 5).
191
Eine aufrichtige Seele kann wohl durch den Einfluß anderer,
denen sie viel Vertrauen geschenkt hat, irregeleitet werden,
aber sobald sie die Wahrheit unterscheidet, beugt sie sich vor ihr
und nimmt sie an; sie hat Achtung und Ehrfurcht vor dem
Worte Gottes. Und dies ist immer das unterscheidende Kenn=
zeichen solcher, die es aufrichtig meinen. Sie kommen zur Er=
kenntnis der Wahrheit, deren Resultat die praktische Befreiung
ist, wenngleich ihr Herz dabei viele Übungen durchzumachen
hat, und ihr Glaube auf mancherlei Weise geprüft wird. „Ihr
werdet die Wahrheit erkennen; und die Wahrheit wird euch
freimachen" (Joh 8, 32).
Doch es gibt leider auch solche, die wirklich die Wahrheit
erkannt haben, jedoch ohne sie zu verwirklichen. Wenn schon in
den mancherlei äußeren Verhältnissen des Lebens die aus
unserer Untreue entspringenden Folgen sehr ernst sind, so sind
sie es doch noch weit mehr auf religiösem Gebiet. Der Gläubige
macht in diesem Falle nicht nur keine Fortschritte, sondern er
verliert auch das Licht, das er empfangen hatte. Die, von wel=
chen wir jetzt sprechen, streiten nicht gegen die Wahrheit,
sondern erkennen sie völlig an und rechtfertigen sie sogai'
anderen gegenüber. Sie haben erkannt, daß alle die Systeme
der bekennenden Parteien im Widerspruch stehen mit der Wahrheit des „einen Leibes", zu dem alle Gläubige durch „einen
Geist" getauft sind. Sie wissen, daß nur da das Gedächtnismahl
des Herrn im Sinne des Wortes gefeiert wird, wo es der Ausdruck dieser Einheit ist, und wo der Wandel aller, die daran
teilnehmen, mit diesem Worte nicht im Widerspruch steht. Sie
wissen, wie sehr der Herr verunehrt, der Heilige Geist betrübt
und das Zeugnis durch ihr Verbleiben in irgendeiner Partei
geschwächt wird. Aber obwohl sie dies wissen, bleiben sie doch,
wo sie sind. Welch ein trauriger Zustand! Gott hat ihnen in
Seiner herablassenden Güte das Verständnis der Wahrheit gegeben und ihnen Seinen wohlgefälligen Willen kundgetan, aber
sie wollen nicht folgen. Er hat ihnen den Weg gezeigt, auf dem
sie, getrennt vom Bösen, die herrlichen Erfahrungen des Gehorsams machen und Seine gesegnete Gemeinschaft genießen
können, aber sie weigern sich, den Weg zu gehen. Er hat ihnen
in Seiner unendlichen Güte die Grundlosigkeit all ihrer Befürchtungen, Einwendungen und Bedenken gezeigt und sie durch die
herrlichsten Verheißungen zu ermutigen gesucht, aber vergeb=
192
lieh. Sie wollen nicht und verraten durch ihr trauriges Verhalten
Liebe zu allem, nur nicht zu dem HeTrn und Seinem Wort. Es
fehlt ihnen nicht an Einsicht, wohl aber an Treue, und dies kann
nur zum großen Schaden für ihre Seele ausschlagen. Sie werden
die Wahrheit des Wortes an sich erfahren: „Sehet nun zu, wie
ihr höret; denn wer irgend hat, dem wird gegeben werden, und
wer irgend nicht hat, von dem wird selbst, was er zu haben
scheint, genommen werden" (Lk 8, 18). Das Wort behauptet
stets seine Autorität. Es ist treu, sowohl in seinen Verheißun=
gen als auch in seinen Androhungen.
Was ist aus denen geworden, die einst die Wahrheit erkann=
ten, aber nicht entschieden genug waren, ihr zu folgen? Gleich
einem Schiff ohne Steuerruder, hin und her geschleudert und
umhergetrieben durch die immer höher steigenden Anforderung
gen der Natur und Begierden des Fleisches, haben sie sich weiter
und weiter von der im Worte Gottes verzeichneten Spur ent=
fernt; die Gemeinschaft, der verborgene Umgang mit Gott hat
aufgehört, eine Wirklichkeit für das Herz zu sein; die daraus
hervorgehende Freude und Kraft sind verschwunden, um allerlei weltlichen Plänen Platz zu machen. Und um noch den Schein
der Frömmigkeit zu retten, geben sie sich um so eifriger den
äußeren Formen einer dem Fleische entsprechenden Religiosität
hin; das Licht ist verschwunden, und oft bekämpfen sie mit
Energie die Wahrheit, gegen die sie ehedem keinen Widerspruch
zu erheben wagten. Ach! sie sind in eine Strömung hineinge=
raten, die sie, soweit es von ihrer Verantwortlichkeit abhängt,
einem unvermeidlichen Untergang entgegenführt.
Das sind die unausbleiblichen Folgen des Ungehorsams gegen
das Wort Gottes, selbst wenn es sich nur um einzelne Wahr=
heiten handelt. Vernachlässigen wir zum Beispiel die Wahrheit
von der auf den Tod und die Auferstehung Christi gegründeten
Befreiung des Gläubigen und halten wir sie nicht aufrecht in
der steten Gemeinschaft mit Gott, wie bald wird sie dann für
uns zu einer rein kraftlosen Verstandessache, deren Besitz die
Lüste und Begierden des Fleisches nicht zu hemmen vermag!
Oder vernachlässigen wir die Wahrheit der täglichen Erwartung des Herrn, wie bald wird ihr heiligender und erfrischender
Einfluß auf unseren Wandel verschwinden, und wie bald wird
das Herz mit Plänen für diese Welt erfüllt sein! Und wer kann
sagen, wo wir enden werden, wenn wir einmal angefangen
193
haben, das Wort zu vernachlässigen? Ach! die traurigen Sün=
den, die selbst unter solchen vorgekommen sind, die nicht nur
die Wahrheit erkannt, sondern auch eine Zeitlang darin gewan=
delt haben, reden in dieser Beziehung eine so ernste Sprache,
daß wir nicht nötig haben, noch weitere Bemerkungen daran zu
knüpfen.
Unsere Verantwortlichkeit gegen das Wort Gottes ist größer,
als man gewöhnlich denkt; und der unter uns herrschende
Mangel an Frische, Energie und Kraft ist nur der Beweis unseres Mangels an Achtung und Ehrfurcht vor dem Wort, zugleich
aber auch die Bestätigung seiner ungeschwächten Autorität.
Möchten wir mehr den Ernst unserer Verantwortlichkeit verstehen und der an Timotheus gerichteten Ermahnung eingedenk
sein: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon
du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt hast,
und weil du von Kind auf die Heiligen Schriften kennst, die
vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den
Glauben, der in Christo Jesu ist" (2. Tim 3, 14. 15). Sicherlich
können wir nur durch die Gnade und Kraft des Heiligen Geistes
und in stetem Aufblick auf den Herrn in Seinem Worte bleiben.
Dennoch wiederholen wir noch einmal, daß es das Wort ist,
das der Heilige Geist gebraucht, um uns die nötige Kraft darzureichen. Und wenn es dabei vieles zu richten gibt, so ist dies
der Zweck und die erste gesegnete Wirkung des Wortes, der
Weg, der zum Siege führt. Wohin sollten wir uns auch wenden,
wenn die einzige Zuflucht, die Gott in Seiner Güte uns für
die letzten Tage gegeben hat, nicht genügend für uns wäre?
Möge der Herr uns in Seiner reichen Gnade geben, daß wir
den unendlichen Wert und die Bedeutung Seines Wortes immer
mehr verstehen, und daß wir uns vor ihm, als dem Worte
Gottes, beugen mit aller Unterwürfigkeit! Möge es auch für
uns das sein, was es für unseren gehebten Herrn hienieden war,
Der als der göttliche Mensch von jeglichem Worte lebte, das
durch den Mund Gottes ausging, und Der sagen konnte: „Was
das Tun des Menschen anlangt, so habe ich mich durch das
Wort deiner Lippen bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen"; und wiederum: „Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott,
ist meine Lust, und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens"
(Psalm 17, 4; 40, 8).
194
Der Abfall und der Antichrist
2. Thesserlonicher 2
„Laßt euch von niemandem auf irgendeine Weise verführen,
denn dieser Tag (der Tag des Herrn) kommt nicht, es sei denn,
daß zuerst der Abfall komme und geoffenbart worden sei der
Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens" (2. Thess 2, 3).
Wenn der Apostel hier von „dem Abfall" redet, so meint er
damit nicht das mehr und mehr um sich greifende Verderben
der Christenheit, sondern daß sie alle christlichen Grundsätze
in den letzten Tagen verleugnen wird. Dieser Abfall wird nicht
nur hier und da eintreten, wie es ja heute schon der Fall ist,
sondern die ganze unzählige Masse der bekennenden Christen=
heit wird sich dem anschließen. Vielleicht mögen nach der Auf=
nähme der Gläubigen in den Himmel die äußeren Formen
der Christenheit für eine Zeitlang noch aufrechtgehalten
werden. Doch wehe den Ländern, wo das Christentum bekannt
und das Licht der göttlichen Wahrheit angezündet worden ist!
Der Abfall wird sich überraschend schnell ausbreiten und eine
schreckliche Gestalt annehmen. Die Anbetung Gottes, des Va=
ters in Christo Jesu, wird der Anbetung Satans, des Tieres und
des falschen Propheten Platz machen (Offb 13). Petrus be=
schreibt in seinem zweiten Brief das Verderben des Christentums in den letzten Tagen; Judas geht in seinem kurzen Brief
jedoch noch einen Schritt weiter und zeichnet mit scharfen, aus=
geprägten Zügen den Abfall der Christenheit.
Fragen wir uns jetzt, wann dieser völlige Abfall eintreten
wird, dann ist die Antwort: Nach der Aufnahme der Kirche in
den Himmel und vor der Ankunft des Tages des Herrn. Beachten wir hier sorgfältig die einfache Beweisführung des
Apostels. Er tröstet die beunruhigten Thessalonicher mit „der
Ankunft unseres Herrn Jesu Christus und unseres Versam=
meltwerdens zu ihm hin" (V. 1), und beweist dadurch zu
gleicher Zeit, daß der Tag des Herrn noch nicht da war. Sie
hatten durchaus keine Ursache, durch die jüdischen oder heid195
nischen Verfolgungen in ihrer Gesinnung erschüttert oder er=
schreckt zu werden. Der Herr war noch nicht gekommen, und
sie waren noch nicht zu Ihm versammelt worden. Unmöglich
konnte daher auch „der Tag", mit dem die Gerichte in Verbin=
düng standen, schon gekommen sein. Der zweite Beweis des
Apostels ist womöglich noch bestimmter und schlagender. Ehe
jener schreckliche Tag erscheint, muß zuvor „der Abfall" kom=
men und „der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens",
mit anderen Worten der Antichrist, geoffenbart sein. Wohl
werden, wenn „der Tag des Herrn" kommt, das abgefallene
Christentum sowohl als auch der Antichrist besondere Gegen=
stände des göttlichen Gerichts ausmachen, aber der Abfall muß
vorher geschehen und der Mensch der Sünde vorher geoffenbart werden. Fassen wir die Beweisführung des Apostels noch
einmal kurz zusammen, so lautet sie: Der Tag des Herrn ist
noch nicht da, 1. weil der Herr noch nicht gekommen und wir
noch nicht zu Ihm versammelt sind, und 2. weil derAbfall und
der Mensch der Sünde noch nicht geoffenbart ist. Wenn wir
den weiteren Inhalt des Kapitels sorgfältig betrachten, werden
wir noch andere und gewichtige Beweisgründe für die Richtig=
keit des Gesagten finden.
Es ist sehr interessant, die verschiedenen Namen und Bezeichnungen, die dem Antichristen in der Schrift beigelegt wer=
den, zu sammeln und zu untersuchen. 1. „Der Antichrist".
Dieser Ausdruck findet sich nur in den Briefen des Johannes
und wird dort gebraucht, um seinen religiösen Charakter, als
den Vater und den Sohn leugnend, zu bezeichnen (1. Joh 2,
18. 22). 2. „Der Mensch der Sünde" (2. Thess 2, 3). Jede Form
der Gottlosigkeit wird sich völlig in einem Menschen entfalten.
Die Sünde wird gleichsam in einer Person, dem „Menschen der
Sünde", konzentriert sein. 3. „Der Sohn des Verderbens"
(2. Thess 2, 3). Diese Bezeichnung drückt seinen schrecklichen
Ursprung und sein entsetzliches Ende aus. 4. „Der Gesetzlose"
(2. Thess 2, 8). Er ist die Personifizierung des Eigenwillens
und steht daher im schroffen Gegensatz zu Ihm, Der niemals
Seinen eigenen Willen suchte, sondern immer tat, was dem
Vater wohlgefiel. 5. „Ein anderes Tier" (Offb 13,11—16). Er ist
in seiner Macht und in seinem Charakter eine Nachbildung
Christi, indem er „Hörner hat gleich einem Lamme"; seine
196
Äußerungen sind jedoch der Ausdruck eines satanischen Ein=
flusses: „er redete wie ein Drache". 6. „Der falsche Prophet"
(Offb 16, 13; 19, 20). Ein Titel, der seinen bösen Einfluß auf
das abtrünnige Israel ausdrückt, dem er sich fälschlich als der
Mund Gottes darstellt. 7. „Ein törichter und nichtswürdiger
Hirte" (Sach 11, 15. 17). Anstatt die Herde zu weiden, wird
dieser Hirte, der wegen der Verwerfung Jehovas, des wahren
Hirten und Königs, über Israel erweckt werden soll, sie mit
Grausamkeit behandeln. Doch das Schwert (das Gericht) wird
über seine gerühmte Macht und Einsicht, „über seinen Arm
und sein rechtes Auge", kommen. 8. „Der König" (Dan 11, 36).
Dieser Titel bezeichnet seinen königlichen Charakter in Palä=
stina. Außerdem gibt es in den Psalmen noch verschiedene Be=
nennungen, die sich auf den Antichristen anwenden lassen und
auf ihn angewendet werden, wie z. B. in Ps 5, 6: „Der Mann
des Blutes und des Truges". Doch sind dies nicht gerade
direkte Bezeichnungen seiner Person.
Zum Schluß möchten wir noch mit einigen Worten des
schrecklichen Endes des Antichristen gedenken. In 2. Thess 2, 8
lesen wir, daß der Herr ihn „verzehren wird durch den Hauch
seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner
Ankunft". Das 19. Kapitel der Offenbarung liefert uns noch
einige Einzelheiten in bezug auf sein endliches Gericht. Es heißt
dort in Vers 20: „Und es wurde ergriffen das Tier und der
falsche Prophet, der mit ihm war, der die Zeichen vor ihm tat,
durch welche er die verführte, die das Malzeichen des Tieres
annahmen und die sein Bild anbeteten, lebendig wurden die
zwei in den Feuersee geworfen, der mit Schwefel brennt". Auch
im Alten Testament ist an verschiedenen Stellen von dem
schrecklichen Endgericht des Antichristen die Rede. Es sei hier
nur noch eine Stelle angeführt: „Denn vorlängst ist eine Greu=
elstätte zugerichtet; auch für den König (wie in Dan 11, 36) ist
sie bereitet. Tief, weit hat er sie gemacht, ihr Holzstoß hat
Feuer und Holz in Menge; wie ein Schwefelstrom setzt der
Hauch Jehovas ihn in Brand" (Jes 30, 33).
*
197
Gideon und seine Gefährten
Richter 6-8
In der Geschichte des Volkes Israel lassen sich zwei große
Zeitabschnitte unterscheiden, zunächst die Periode, in der die
zwölf Stämme handelten wie ein Mann, und dann diejenigen, in
welcher ein Mann berufen war, für die zwölf Stämme zu handeln. Wir möchten die erstgenannte Periode die der Einheit und
die zweite die Periode der einzelnen, persönlichen Tätigkeit
nennen. Das Buch Josua und das Buch der Richter sind getreue
Bilder dieser beiden Perioden. Selbst einem flüchtigen Leser
kann der große Unterschied, der zwischen diesen beiden Büchern besteht, nicht entgehen. Das eine ist charakterisiert durch
äußere Kraft und Herrlichkeit, das andere durch Schwachheit
und Elend. Das eine trägt den Stempel der Macht, das andere
den des Verfalls. In dem einen gibt Jehova dem Volk Israel das
Land, in dem anderen versäumt es Israel, das Land aus Seiner
Hand zu nehmen.
Es gibt zwei Namen, die diesem Unterschiede der beiden
Bücher Ausdruck geben, und die wir als das Motto für sie be=
trachten können: Gilgal und Bochim. Im Buche Josua finden
wir, daß das Volk im Verlauf des Krieges immer von Gilgal
auszieht und wieder dahin zurückkehrt, um da seine Siege zu
feiern. Gilgal war gleichsam der Mittelpunkt des Volkes; da
waren sie beschnitten, und da war die Schande Ägyptens von
ihnen abgewälzt worden (vergl. Jos 5, 9—10).
Doch kaum öffnen wir das Buch der Richter, da sehen wir
die betrübenden Worte: „Und der Engel Jehovas kam von Gilgal herauf nach Bochim; und er sprach: Ich habe euch aus
Ägypten heraufgeführt und euch in das Land gebracht, das ich
euren Vätern zugeschworen habe; und ich sagte: Ich werde
meinen Bund mit euch nicht brechen ewiglich; ihr aber sollt
keinen Bund mit den Bewohnern dieses Landes machen, ihre
Altäre sollt ihr niederreißen. Aber ihr habt meiner Stimme
nicht gehorcht. Warum habt ihr das getan! So habe ich auch
gesagt: Ich werde sie nicht vor euch vertreiben, und sie werden
zu euren Seiten sein und ihre Götter werden euch zum Fall=
strick werden. Und es geschah, als der Engel Jehovas diese
198
Worte zu allen Kindern Israel redete, da erhob das Volk seine
Stimme und weinte. Und sie gaben selbigem Ort den Namen
Bochim (Weinende). Und sie opferten daselbst dem Jehova"
(Ri 2, 1-5).
Hier tritt uns also in bemerkenswerter Weise der ganze Ge=
gensatz, der zwischen dem Buche Josua und dem Buch der
Richter besteht, entgegen. Ach! die äußere Herrlichkeit und
Macht des Volkes machte bald großer Schwachheit und einem
raschen Verfall Platz. Die nationale Größe Israels schwand
schnell dahin. „Und das Volk diente Jehova alle Tage Josuas
und alle die Tage der Ältesten, welche ihre Tage nach Josua ver=
längerten, die das ganze große Werk Jehovas gesehen, das er
für Israel getan hatte. Und Josua, der Sohn Nuns, der Knecht
Jehovas, starb, hundert und zehn Jahre alt; . . . Und auch das
ganze selbige Geschlecht wurde zu seinen Vätern versammelt,
und ein anderes Geschlecht kam nach ihnen auf, das Jehova
nicht kannte und auch nicht das Werk, welches er für Isxael
getan hatte. Und die Kinder Israel taten, was böse war in den
Augen Jehovas, und dienten den Baalim . . . Und sie verließen
Jehova und dienten dem Baal und den Astaroth. Da entbrannte
der Zorn Jehovas wider Israel, und er gab sie in die Hand von
Plünderern, welche sie plünderten, und er verkaufte sie in die
Hand ihrer Feinde ringsum; und sie vermochten nicht mehr
vor ihren Feinden zu bestehen. Überall, wohin sie auszogen,
war die Hand Jehovas wider sie zum Bösen, so wie Jehova ge=
redet und wie Jehova ihnen geschworen hatte; und sie wurden
sehr bedrängt" (Ri 2, 7-15).
Das ist die traurige und demütigende Geschichte des Volkes
Israel in jenen Tagen. Das Schwert Josuas rostete in der Schei=
de. Jene herrlichen Tage, in denen er die vereinigten Heerscharen Israels zu glänzenden Siegen über die Könige Kanaans
geführt hatte, waren vorüber. Der moralische Einfluß Josuas
und der Ältesten, die ihn überlebt hatten, war nicht mehr, und
mit furchtbarer Schnelligkeit eilte das ganze Volk auf seiner
abschüssigen Bahn vorwärts, hinab in den Sumpf der Sünden
und greulichen Götzendienereien jener Nationen, die sie nach
dem Befehl Jehovas vor sich hätten austreiben sollen. Soweit
es Israel betraf, war ein vollständiger Verfall eingetreten. Wie
Adam im Garten Eden und Noah auf der wiederhergestellten
199
Erde, so fiel auch Israel im Lande Kanaan auf die traurigste
Weise. Adam aß die verbotene Frucht, Noah trank sich trunken,
und Israel warf sich nieder vor den Altären Baals.
Doch, Gott sei Dank! es gibt noch eine andere Seite dieses
Gemäldes. Bis hierher haben wir nur die menschliche Seite be=
trachtet, und sie ist wahrlich traurig und demütigend genug.
Betrachten wir jetzt die göttliche Seite. Gott bleibt immer der=
selbe, mag sich der Mensch auch zeigen, wie er will. Das ist
ein unaussprechlicher Trost und Rückhalt für das Herz. Gott
bleibt treu, und hierin findet der Glaube einen festen Halt, mag
auch kommen, was da will. Auf Gott können wir immer rech=
nen, trotz aller Schwachheit und Fehler des Menschen. Seine
Güte und Treue bilden die Hilfsquelle und den Zufluchtsort
der Seele inmitten der finstersten Szenen der menschlichen Ge=
schichte. Diese erhebende Wahrheit strahlt in hellem Licht aus
derselben Stelle hervor, aus der wir soeben eine so demütigende
Anführung machten. „Und Jehova erweckte Richter, und sie
retteten sie aus der Hand ihrer Plünderer". Doch beachten wir
besonders die jetzt folgenden Worte; sie zeigen deutlich den
eigentümlichen Charakter des Buches der Richter. „Und wenn
Jehova ihnen Richter erweckte, so war Jehova mit dem Richter,
und er rettete sie aus der Hand ihrer Feinde alle Tage des
Richters; denn Jehova ließ es sich gereuen wegen ihrer Wehklage vor ihren Bedrückern und ihren Drängern" (Ri 2, 16. 18).
Diese letzten Worte enthalten den großen Grundsatz des
Buches, das göttliche Geheimnis des Dienstes eines Barak,
Gideon, Jephta und Simson. Israel war in traurige, schändliche
Sünden gefallen und hatte keine Entschuldigung. Es hatte alle
Ansprüche auf den Schutz Jehovas verloren. In gerechtem Ge=
rieht war es den ruchlosen Händen der Könige Kanaans über=
geben. Über dies alles konnte keine Ungewißheit bestehen.
Aber dennoch konnte das Herz Jehovas Gefühle des Erbar=
mens für Sein armes, unterdrücktes und seufzendes Volk hegen.
Wohl hatte es sich als äußerst böse und unwürdig gezeigt,
dennoch war Sein Ohr stets bereit, seinen ersten Seufzer zu
vernehmen; ja, wir lesen sogar im 10. Kapitel, daß „Seine Seele
ungeduldig wurde über die Mühsal Israels" (V. x6).
Wie rührend sind solche Worte! welch eine Zartheit und
welch ein Mitgefühl spricht sich in ihnen aus! Sie lassen uns
einen Blick in die unergründlichen Tiefen der Güte Gottes tun.
200
Das Elend Seines Volkes rührte und bewegte Sein liebendes
Herz. Die ersten schwachen Zeichen eines gedemütigten und
zerschlagenen Geistes begegneten einer gnädigen Antwort von
Seiten des Gottes Israels. Es handelte sich nicht darum, wie weit
sie abgeirrt, und wie tief sie gesunken waren, oder wie schreck=
lieh sie gesündigt hatten; Gott war stets bereit, auf die leisesten
Seufzer eines gebrochenen Herzens zu lauschen. Die Quellen
göttlicher Gnade und göttlichen Mitgefühls sind unerschöpflich.
Das Meer der Liebe Gottes ist unbegrenzt und unergründlich;
deshalb betritt Er in dem Augenblick, wo Sein Volk den Platz
des Bekenntnisses einnimmt, den Platz der Vergebung. Es ist
Seine Freude, zu vergeben, und Er findet Seine höchste Wonne
darin, die Übertretungen auszulöschen, zu heilen, sie wieder=
herzustellen und zu segnen in einer Weise, die Seiner Selbst
würdig ist. Diese herrliche Wahrheit tritt sowohl in der Ge=
schichte Israels als auch in der Geschichte der Kirche und in der
Geschichte von jedem Gläubigen ans Licht.
Doch es ist Zeit, uns zu dem eigentlichen Gegenstand unserer
Betrachtung, zu der Geschichte Gideons und seiner Gefährten,
wie sie uns in den Kapiteln 6 bis 8 des Buches der Richter er=
zählt wird, zu wenden. Möge der Heilige Geist ihren köstlichen
Inhalt zum Nutzen für unsere Seelen dienen lassen!
Das sechste Kapitel beginnt mit einer traurigen und nieder=
drückenden Erzählung, die aber charakteristisch für die ganze
Geschichte Israels ist. „Und die Kinder Israel taten, was böse
war in den Augen Jehovas; und Jehova gab sie in die Hand
Midians sieben Jahre. Und die Hand Midians wurde stark
über Israel. Vor Midian richteten sich die Kinder Israel die
Klüfte zu, die in den Bergen sind, und die Höhlen und Berg=
festen" (V. 1. 2). Welch ein demütigendes Bild! In was für
einem schneidenden Gegensatz steht Israel hier zu dem trium=
phierenden Heer, das einst den Jordan durchschritten und auf
den Ruinen Jerichos gewandelt hatte! Welch ein trauriger An=
blick, das Volk, aus Furcht vor den unbeschnittdnen Midia=
nitern, in den Höhlen und Klüften der Berge einen Zufluchts=
ort suchen zu sehen! Es ist sehr gesegnet für uns, diese Szene
zu betrachten und die darin enthaltene heilsame Lehre zu er=
wägen. Die Macht und Herrlichkeit Israels bestand einfach darin,
daß Gott in ihrer Mitte gegenwärtig war. Ohne dies waren sie
201
wie Wasser, das auf den Boden ausgeschüttet ist, oder wie
herbstliche Blatter vor dem Sturm. Doch die Gegenwart Gottes
konnte nicht genossen werden in Verbindung mit der Sünde
und dem Bösen. Wenn daher Israel seinen Jehova vergessen
hatte und auf den verbotenen Pfaden des Götzendienstes von
Ihm abirrte, so mußte Er sie dadurch wieder zur Besinnung
bringen, daß Er Seine richtende Hand ausstreckte und sie die
vernichtende Gewalt der einen oder anderen der Nationen um
sie her fühlen ließ.
In diesem allem gibt es für uns etwas zu lernen. So lange das
Volk Gottes in heiligem Gehorsam mit Ihm wandelt, hat es
nichts zu fürchten. Es ist vollkommen sicher vor den Fall=
stricken und Anläufen aller seiner Feinde. So lange es in dem
Schutz der Gegenwart Gottes bleibt, kann ihm nichts etwas
anhaben. Aber selbstverständlich erfordert die Gegenwart
Gottes Heiligkeit. Sünde kann da nicht weilen. In der Sünde zu
leben und von Sicherheit zu sprechen, zu versuchen, die Gegen=
wart Gottes mit der Sünde zu verbinden, zeugt von einer gro=
ßen Verblendung des Herzens. „Er ist ein Gott, gar erschrecklich in der Versammlung der Heiligen . . ." (Ps 89, 7). „Deine
Zeugnisse sind sehr zuverlässig. Deinem Hause geziemt Hei=
ligkeit, Jehova, auf immerdar" (Ps 93, 5). Wenn das Volk
Gottes diese heilsamen Wahrheiten vergißt, dann weiß Gott
sie durch die Zuchtrute wieder in das Gedächtnis der Seinigen
zurückzurufen; und, Sein Name sei ewig dafür gepriesen! Er
liebt die Seinigen viel zu sehr, um die Rute zu sparen, so ungern
Er sie auch anwenden mag. „Wen der Herr liebt, den züchtigt er,
er geißelt aber jeden Sohn, den er aufnimmt. Was ihr erduldet,
ist zur Züchtigung: Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn
wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber
ohne Züchtigung seid, welcher alle teilhaftig geworden sind,
so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne. Zudem hatten wir
auch unsere Väter nach dem Fleische zu Züchtigern und scheu=
ten sie; sollen wir nicht vielmehr dem Vater der Geister unter=
würfig sein und leben? Denn jene freilich züchtigten uns für
wenige Tage nach ihrem Gutdünken, er aber zum Nutzen, da=
mit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Alle Züchtigung
aber scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der Freude,
sondern der Traurigkeit zu sein; hernach aber gibt sie die
friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt
202
sind. Darum „richtet auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie" (Hebr 12, 6—12).
Dies sind ermutigende Worte für das Volk Gottes zu allen
Zeiten. Die Zucht mag schmerzlich sein, und sie ist es auch
wirklich; doch wenn wir wissen, daß die Hand eines Vaters sie
ausübt, und wenn wir das, was Sein Zweck ist, verwirklichen,
so können wir mit geübtem Herzen durch die Trübsal hindurch=
gehen und so die friedsamen Früchte der Gerechtigkeit ernten.
Wenn wir andererseits der Zucht mit einam ungeduldigen
Geist, einem widerspenstigen Willen und einem nicht unter=
würfigen Herzen begegnen, so machen wir es dadurch nur not=
wendig, daß der Druck fortgesetzt und vermehrt wird; denn
unser liebender Vater wird uns nie dahingehen lassen. Er will
uns, koste es, was es wolle, in heiliger Unterwürfigkeit vor sich
haben. Er tritt uns in Seiner Gnade entgegen, bezwingt die
stolzen Erhebungen unseres Willens und nimmt alles hinweg,
was unser Wachstum in Heiligkeit, Gnade und göttlicher Er=
kenntnis zu hindern vermag.
Welch eine unendliche Gnade tritt in der Tatsache ans Licht,
daß unser Gott Sich mit unseren Mängeln und Torheiten beschäftigt, mit unserem Eigenwillen, unseren Sünden und Über=
tretungen, und das zu dem Zweck, um uns von ihnen zu be=
freien! Er kennt uns und alle unsere Umstände. Er kennt unsere
inneren Neigungen und alles was uns umgibt, und Er zieht dies
sorgfältig in Betracht. Er handelt mit uns in unergründlicher
Weisheit und vollkommener Geduld, indem Er unablässig den
einen herrlichen Zweck vor Augen behält, uns zu Teilhabern
Seiner Heiligkeit zu machen und in uns den Ausdruck Seiner
Natur und Seines Charakters hervorzubringen. Wahrlich, an=
gesichts einer solchen überströmenden Gnade und eines solchen
Erbarmens mögen wir wohl „die erschlafften Hände und die
gelähmten Knie aufrichten".
Doch es gibt noch eine andere Wahrheit, die mit ungewöhn=
lichem Glanz aus den uns im Buch der Richter erzählten Ereig=
nissen hervorstrahlt, nämlich, daß wir stets auf Gott rechnen
können, selbst dann, wenn sich alles um uns her in der höchsten
Unordnung und Verwirrung befindet. Gott täuscht nie ein
Herz, das auf Ihn vertraut. Niemals hat Er eine Seele zuschanden werden lassen., die sich auf Ihn stützte und in kindlicher
203
Einfalt des Glaubens an Seinem köstlichen Worte festhielt. Und
Er wird und kann es nicht tun. Dies ist sehr tröstend und ermutigend für uns, mögen die Zeiten und Umstände sein, wie sie
wollen. Es ist wahr, sehr wahr, daß der Mensch in allem fehlt.
Stelle ihn hin wohin du willst, versetze ihn in einen Wirkungs=
kreis in welchen du magst, immer wirst du derselben Untreue,
derselben Schwäche und demselben Ruin begegnen. Von den
Tagen Edens bis zum gegenwärtigen Augenblick hat sich der
Mensch in diesem Lichte gezeigt. Wir dürfen dreist behaupten,
daß es in der Geschichte des gefallenen Geschlechts Adams
keine einzige Ausnahme von jener traurigen Regel gegeben hat.
Wir dürfen dies nie außer acht lassen. Der wahre Glaube er=
kennt es immer an. Es würde auch die größte Torheit sein, wenn
wir versuchen wollten, die Tatsache zu vergessen, daß auf die
ganze Geschichte des Menschen, von Anfang bis zu Ende, der
Verfall mit unauslöschlichen Zügen eingegraben ist.
Doch obwohl dies alles so ist, bleibt Gott treu; Er kann Sich
Selbst nicht verleugnen. Der Glaube sieht und erkennt den Ver=
fall an, aber er rechnet zugleich auf Gott. Er ist nicht blind
gegen die Untreue des Menschen, aber er richtet seinen Blick
auf die Treue Gottes. Alle seine Quellen sind in Ihm.
Das bisher Gesagte findet in der interessanten und lehrreichen Geschichte Gideons einen treffenden Beleg. Er war in
seiner Person und in seinen Erfahrungen ein wahres Bild von
dem traurigen Zustande Israels. Der Unterschied zwischen
Josua und Gideon, so weit es sich um ihre Stellung und ihre
Umstände handelt, könnte nicht größer sein. Josua konnte
seinen Fuß auf den Nacken der kanaanitischen Könige setzen.
Gideon mußte seinen Weizen in einem verborgenen Schlupf=
winkel ausdreschen, um ihn vor den Augen der Midianiter zu
verbergen. Der Tag Josuas war durch glänzende Siege ausge=
zeichnet, während der Tag Gideons ein Tag kleiner Dinge war.
Doch der Tag kleiner Dinge für den Menschen ist der Tag
großer Dinge für Gott. Dies erfuhr auch Gideon. Wohl wurde
es ihm nicht gestattet, die Sonne und den Mond in ihrem Laufe
aufgehalten zu sehen oder die Städte der Unbeschnittenen dem
Boden gleichzumachen. Sein Tag war ein Tag der Gerstenbrote
und der zerbrochenen Krüge, nicht aber ein Tag staunenerre=
gender Wunder und ausgezeichneter Heldentaten. Aber Gott
war mit ihm, und das war genug.
204
„Und der Engel Jehovas kam und setzte sich unter die Terebinthe, die zu Ophra war, welche Joas, dem Abieseriter, gehörte. Und Gideon, sein Sohn, schlug eben Weizen aus in der
Kelter, um ihn vor Midian zu flüchten. Und der Engel Jehovas
erschien ihm und sprach zu ihm: Jehova ist mit dir, du tapferer
Held" (Ri 6, 11. 12). Welche Worte für das Ohr Gideons, der
sich aus Furcht vor den Feinden in der Kelter verborgen hatte!
Es waren Worte vom Himmel, um seine Seele über die Schwierigkeiten, Sorgen und Demütigungen der Erde zu erheben,
Worte von göttlicher Kraft, und geeignet, seinem niedergedrückten und trauernden Herzen Mut einzuflößen. „Jehova ist
mit dir, du tapferer Held!" Wie schwer mag es Gideon geworden sein, diese merkwürdigen Worte auf 9ich anzuwenden! Ein
Held ist stark und tapfer und verbirgt sich nicht vor seinen
Feinden. Gideon aber offenbarte in jenem Augenblick seine
ganze Schwachheit und Mutlosigkeit. Wo sollte er Kraft und
Mut finden? Dort, wo auch Josua sie fand, in dem lebendigen
Gott. Es besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen
den Worten, mit denen diese beiden auserwählten Knechte
Gottes angeredet wurden, obwohl der Unterschied in den beiderseitigen Umständen groß war. Zu Josua wurde gesagt:
„Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig ? Erschrick nicht
und fürchte dich nicht, denn Jehova, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst" (Jos 1, 9); und die Ansprache des Engels
an Gideon lautete: „Jehova ist mit dir, du tapferer Held!"
Was für köstliche, ermutigende Worte! Und doch war Gideon
nicht in dem Stande, sie sich zu eigen zu machen und sie anzunehmen in jenem einfältigen Glauben, der das Herz Gottes so
sehr erfreut und Seinen Namen verherrlicht. Wie oft ist das
auch mit uns so! Wie selten können wir uns zur Höhe der
gnädigen Ratschlüsse und Gedanken Gottes in bezug auf uns
erheben! Wir sind stets geneigt, nach uns und nach unseren
Umgebungen zu urteilen, statt dem Worte Gottes zu glauben
und in süßer Ruhe in Seiner vollkommenen Liebe und unwandelbaren Treue zu ruhen.
„Und Gideon sprach zu ihm: Bitte, mein Herr! Wenn Jehova
mit uns ist, warum hat denn dieses alles uns betroffen? Und
wo sind alle seine Wunder, die unsere Väter uns erzählt haben,
indem sie sprachen: Hat Jehova uns nicht aus Ägypten heraufgeführt? Und nun hat uns Jehova verlassen und uns in die
205
Hand Midians gegeben" (V. 13). Gideon urteilt augenscheinlich
nach den Umständen, Daher seine ungläubige Frage: „Wenn
Jehova mit uns ist, warum hat uns denn dieses alles betroffen?"
Sicher waren die Umstände rund um ihn her von der traurigsten Art. Der Himmel war gleichsam mit dunklen, schweren
Wolken behangen. Doch ein heller Lichtstrahl durchbrach das
finstere Gewölk und fiel auf das verzagte Herz Gideons, ein
Strahl, der von dem Herzen Gottes Selbst ausging, „Jehova
ist mit dir". In diesen kurzen Worten gab es kein „wenn",
keinen Zweifel, keine Schwierigkeit und keine Bedingung. Sie
waren klar und bestimmt, und nur eine Sache war nötig, um
sie in dem Herzen Gideons zu einer Quelle der Freude und der
Kraft zu machen, und das war, sie mit dem Glauben zu vermischen. Aber ein wahrer Glaube antwortet Gott niemals mit
einem „wenn", und zwar aus dem einfachsten aller Gründe —
weil er auf Gott blickt, bei Dem es nie ein „wenn" gibt. Der
Glaube urteilt von Gott nach unten, nicht aber von dem Menschen nach oben. Der Glaube hat nur eine Schwierigkeit, und
diese ist eingeschlossen in der Frage: „Wie wird Gott nicht
. . . ?" nie aber fragt er: „Wie wird Gott . . . ?" Das ist die
Sprache des Unglaubens.
Man möchte jedoch versucht sein, zu fragen: Gab es denn für
Gideon wirklich keinen Grund zu seinem ungläubigen,, wenn"
und „warum"? In Gott und in Seinem Wort war sicherlich kein
Grund dazu vorhanden. Wenn Gideon nur einen kurzen Rückblick auf die Geschichte seines Volkes geworfen hätte, würde
er ohne Zweifel deutlich gesehen haben, warum es sich in einem
so traurigen und demütigenden Zustand befand. Er würde eine
völlig genügende Antwort auf seine Frage: „Warum hat denn
dieses alles uns betroffen?" erhalten haben. Aber waren die
Handlungen Israels fähig, den Glanz der mächtigen „Wunder"
Jehovas auszulöschen? Für das Auge des Glaubens sicherlich
nicht. Gott hatte große und herrliche Dinge für Sein Volk getan; und die Erinnerung daran stand stets vor dem Auge des
Glaubens. Ohne Zweifel hatte Israel gefehlt, auf traurige Weise
gefehlt, und der Glaube erkannte die Untreue Israels ebenfalls
an; sie gab eine ernste, feierliche Antwort auf die Frage Gideons. Der Glaube erkennt ebensosehr die Regierung Gottes an,
wie Seine Gnade, und beugt sich in heiliger Ehrfurcht vor
jedem Streich Seiner Rute. Wir tun wohl, dies nicht aus dem
206
Auge zu verlieren. Wir sind so leicht geneigt, es zu vergessen;
Gott muß zu Zeiten Seine züchtigende Hand ausstrecken, weil
Er nichts in und an uns ertragen kann, was nicht mit Seiner
Natur und mit Seinem Namen im Einklang steht. Gideon hatte
nötig, sich daran zu erinnern. Israel hatte gesündigt, und das
war der Grund, weshalb sie unter der Zuchtrute standen.
Gideon war, wir wiederholen es, berufen, praktisch in dieses
alles einzugehen und sich mit seinem Volk in seinem Elend und
seiner Not einszumachen. Dies war wie wir wissen, das Teil
und die Erfahrung von jedem treuen Diener Gottes in Israel.
Alle hatten durch jene tiefen Übungen der Seele zu gehen., die
eine Folge ihrer Verbindung mit dem Volke Gottes waren.
Richter und Propheten, Priester und Könige, alle hatten die
Leiden und Trübsale des Volkes Israel zu teilen. Andererseits
konnte auch kein treues Herz, keins, das wirklich Gott und
Sein Volk liebte, wünschen, eine Ausnahme von solchen tiefen
und heiligen Übungen zu machen. Dies war vor allen Dingen
wahr bei dem einzigen vollkommenen Diener, der jemals auf
dieser Erde gewandelt hat. Obgleich Er persönlich von all den
Folgen der Sünde und der Untreue Israels ausgenommen war,
obgleich Er rein und fleckenlos, göttlich heilig in Seiner Natur
und in Seinem Leben war, machte Er Sich dennoch freiwillig
und in vollkommener Gnade eins mit dem Volke in seiner
ganzen Erniedrigung und in seinem tiefen Elend. „In all ihrer
Bedrängnis war er bedrängt" (Jes 63, 9). So war es mit unserem
gesegneten Herrn; und alle, die in irgendeinem Grade Seinen
Geist besaßen, hatten, je nach ihrem Maße, den gleichen Kelch
zu trinken.
Wenn wir jetzt die Worte des Engels mit der Antwort Gideons vergleichen, dann bemerken wir einen interessanten Unterschied zwischen der Sprache beider, einen Unterschied, der
den besonderen, persönlichen Charakter des Buches der Richter
von neuem treffend ans Licht stellt. Der Engel sagt: „Jehova
ist mit dirl" Gideon antwortet: „Wenn Jehova mit uns ist . . ."
Diese Worte stehen in voller Übereinstimmung mit einer bereits angeführten Stelle aus dem 2. Kapitel: „Und wenn Jehova
ihnen Richter erweckte, so war Jehova mit dem Richter" — es
heißt nicht: „Er war mit dem Volke"; wohl aber lesen wir
weiter die lieblichen Worte: „und er rettete sie aus der Hand
207
ihrer Feinde alle Tage des Richters; denn Jehova ließ sich's
gereuen, wegen ihrer Wehklagen vor ihren Bedrückern und
ihren Drängern" (V. 18).
Dies ist sehr schön und köstlich. Wenn Jehova Sein Angesicht vor Seinem Volke verbergen und es für eine Zeit in die
Hand der Unbeschnittenen übergeben mußte, so war Sein liebendes Herz noch allezeit mit ihnen beschäftigt und stets bereit,
die leisesten Spuren eines bußfertigen Geistes zu bemerken.
„Wer ist ein Gott wie du, der die Ungerechtigkeit vergibt und
die Übertretung des Überrestes seines Erbteils übersieht? Er
behält seinen Zorn nicht auf immer, denn er hat Wohlgefallen
an Güte. Er wird sich unser wieder erbarmen, er wird unsere
Ungerechtigkeiten niedertreten; und du wirst alle ihre Sünden
in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst an Jakob Wahrheit,
an Abraham Güte erweisen, die du von den Tagen der Vorzeit
her unseren Vätern geschworen hast" (Mi 7, 18—20).
Gideon schloß also aus den Umständen, daß Gott Sein Volk
vergessen hatte. Er dachte nicht daran, daß Er den Verheißungen, die Er Abraham, Isaak und Jakob gemacht hatte, treu
bleiben würde. Hätte er einen einfältigen Glauben gehabt, dann
würde Er zu einem ganz anderen Schluß gekommen sein. Der
Glaube rechnet auf Gott, und Gott, gepriesen sei Sein Name!
ehrt den Glauben. Zuerst bringt Er ihn in uns hervor, und dann
erkennt Er ihn an. Doch nicht allein das, Gott vertreibt auch
unsere Furcht. Er erhebt sich über unseren Unglauben und
bringt alle unsere törichten Überlegungen zum Schweigen. In
Seinem Verkehr mit Gideon, Seinem auserwählten Knecht,
scheint es, als ob Er sein „wenn" und „warum" gar nicht gehört
hätte. Er beginnt, Seine Gedanken vor ihm zu entfalten und die
Seele Seines Knechtes mit einem Vertrauen und einem Mut zu
erfüllen, der ihn über alle niederdrückenden Einflüsse, die ihn
umgaben, erheben sollte.
„Und Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in
dieser deiner Kraft, und rette Israel aus der Hand Midians!
Habe ich dich nicht gesandt" (V. 14)? Welche erhebenden
Worte! Aber ach! Gideon ist immer noch voller Fragen. „Und
er sprach zu ihm: Bitte, mein Herr, Womit soll ich Israel retten?
Siehe, mein Tausend ist das ärmste in Manasse, und ich bin
der Jüngste im Hause meines Vaters" (V. 15).
208
So ist es immer. Im Unglauben richten wir unseren Blick entweder auf die Umstände, oder auf uns selbst. Der Unglaube
bringt uns dazu, unsere sichtbaren Hilfsmittel mit dem Werk,
wozu Gott uns beruft, zu vergleichen. Jehova hatte gesagt:
„Gehe hin in dieser deiner Kraft". Worin bestand diese Kraft?
In einem großen Reichtum, einer erhabenen Stellung oder in
einer gewaltigen Körperkraft? Nein, in inichts derartigem.
„Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in dieser
deiner Kraft, und rette Israel". Das waren bestimmte, unzweideutige Worte. Sie machten es sehr klar, daß die Kraft, mit
welcher Gideon Israel erretten sollte, nicht in ihm oder in Seines
Vaters Hause, sondern in dem Gott Israels lag. Es war nicht
wichtig, ob seine Familie reich oder arm, ob er klein oder groß
war. Gott war es, Der ihn gebrauchen wollte. Und was war für
Jhn Reichtum und Größe? Er konnte sich eines Gerstenbrotes,
oder eines zerbrochenen Kruges bedienen. Was machte es für
den allmächtigen Gott für einen Unterschied, ob Sein Werkzeug
stark oder schwach, ein Riese oder ein Zwerg war? Das Werkzeug ist nichts. Gott ist alles in allem. Wohl gefällt es Ihm,
Werkzeuge zu gebrauchen; aber alle Kraft ist Sein. Ihm allein
gebührt aller Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gideon hatte
dies zu lernen, und wir haben es nicht minder zu lernen. Es ist
eine unschätzbare Lektion. Wir sind alle so geneigt, wenn irgendeine Arbeit, oder ein Dienst uns zu vollbringen obliegt, an
unsere Fähigkeit zu denken, während wir uns immer daran
erinnern sollten, daß Gott es ist, Der alles tun muß und tut.
Er ist es, Der uns zu allem fähig machen muß. Wir können
nichts tun; und könnten wir es, so würde es sicher schlecht
getan sein. Der menschliche Finger kann nur einen Flecken zurücklassen. Die Werke der Menschen vergehen wie ihre Gedanken. Das Werk Gottes bleibt für immer und ewig. Möchten
wir uns allezeit daran erinnern, damit wir demütig wandeln und
uns stets auf den mächtigen Arm des lebendigen Gottes stützen!
In der Berufung Gideons finden wir zwei Dinge, die unsere
ganze Aufmerksamkeit verdienen. Zunächst tritt uns in den
bedeutungsvollen Worten: „Habe ich dich nicht gesandt?" der
göttliche Auftrag an Gideon entgegen; und dann hören wir
im Verse 16 aus dem Munde Jehovas die ermutigende Versicherung Seiner Gegenwart. „Ich werde mit dir sein". Das sind
209
die beiden Hauptpunkte für alle, die Gott dienen wollen. Sie
müssen zunächst wissen, daß der Pfad, den sie betreten, ihnen
durch die Hand Gottes bestimmt vorgezeichnet ist, und dann,
daß Er auf dem Wege mit ihnen sein wird. Diese beiden Dinge
sind unumgänglich nötig. Ohne sie werden wir stets unentschlossen sein und hin und her schwanken. Wir werden von
einer Art des Werkes zu einer anderen übergehen, heute vielleicht mit dem größten Eifer eine Tätigkeit aufnehmen, um sie
morgen wieder mit einer anderen zu vertauschen. Unser Lauf
wird unbeständig und unser Licht flackernd sein. Ohne Festigkeit und Beständigkeit werden wir alles anfangen wollen, aber
nichts vollenden.
Es ist unermeßlich wichtig für jeden Diener Christi, für jedes
Kind Gottes, zu wissen, daß er an dem ihm von Gott angewiesenen Platz steht und das ihm von Gott übertragene Werk
vollbringt. Ein solches Bewlußtsein wird uns Festigkeit und
eine heilige Unabhängigkeit verleihen. Es wird uns davor bewahren, durch menschliche Gedanken und Meinungen umhergeschleudert, oder durch das Urteil des einen oder anderen beeinflußt zu werden. Es ist unser gesegnetes Vorrecht, in dem
Bewußtsein, daß wir gerade das Werk tun, das der Meister uns
gegeben hat zu tun, so sicher zu sein, daß wir uns durch die
Gedanken anderer nicht im geringsten darin beirren lassen.
Es möchte jedoch scheinen, als ob wir einem Geiste stolzer
Unabhängigkeit das Wort reden wollten. Ein solcher Gedanke
sei uns fem! In einem Sinne können wir, als Christen, niemals
unabhängig voneinander sein. Wie wäre es auch möglich, da
wir voneinander Glieder sind? Wir sind verbunden miteinander
und mit unserem verherrlichten Haupt im Himmel, und zwar
durch den einen Geist, der bei uns und in uns ist. Doch zu
gleicher Zeit müssen wir auf der Wahrheit unserer persönlichen
Verantwortlichkeit bestehen. Sie muß mit aller Entschiedenheit
aufrechtgehalten werden. Jeder Diener hat es mit seinem Herrn
zu tun, und zwar in dem besonderen Wirkungskreis, in den
er berufen ist. Und mehr noch, jeder sollte seine Arbeit und die
ihm verliehene Gabe kennen und sich dem ihm übertragenen
Werk mit allem Fleiß und aller Ausdauer unterziehen. Er sollte
die heilige Gewißheit besitzen, die jene göttlichen und schwerwiegenden Worte der Seele verleihen: „Habe ich dich nicht
gesandt?"
210
Vielleicht möchte jemand einwenden: „Wir sind aber nicht
alle Gideons und Josuas. Wir sind nicht alle berufen, einen so
hervorragenden Platz einzunehmen oder einen so herrlichen
Pfad zu wandeln, wie jene großen Männer". Das ist wahr, aber
wir sind alle berufen zu dienen, und es ist wichtig für jeden
Diener, seinen Auftrag zu kennen, sein Werk zu verstehen und
in seinem Herzen völlig überzeugt zu sein, daß er gerade das
tut, was der Herr ihm aufgetragen hat, und daß er gerade auf
dem Wege wandelt, der ihm von der Hand Gottes vorgezeichnet
ist. Wenn hierüber irgendwelche Ungewißheit in der Seele
besteht, können unmöglich Fortschritte gemacht werden.
Wenn wir aber wirklich den uns von Gott vorgezeichneten
Pfad wandeln, so haben wir auch die köstliche Verheißung, daß
Er mit uns ist. „Ich werde mit dir sein". Und das ist alles, was
wir nötig haben. Sind wir von Gott beauftragt, und ist Er mit
uns, so macht es nichts aus, wer, was oder wo wir sind. Der
Unglaube mag vielleicht ausrufen: „Bitte mein Herr, womit
soll ich Israel retten? Siehe, mein Tausend ist das ärmste dn
Manasse, und ich bin der Jüngste im Hause meines Vaters".
Doch der Glaube kann erwidern: „Was hat das alles zu bedeuten, wenn Gott für uns ist? Hat Er den Reichen oder den Edlen
nötig? Was ist Reichtum und Größe für Ihn? Nichts!" — „Denn
sehet eure Berufung, Brüder, daß es nicht viele Weise nach
dem Fleische, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle sind, sondern
das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, auf daß er die Weisen zu Schanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott
auserwählt, auf daß er das Starke zu Schanden mache; und das
Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt, und
das, was nicht ist, auf daß er das, was ist, zunichte mache, damit
sich vor Gott kein Fleisch rühme" (1. Kor 1, 26—29).
Diese Worte enthalten eine heilsame Lehre für uns alle. Es
ist für jeden teuren Diener Gottes eine unaussprechliche Gnade,
wenn er im vollen Bewußtsein seines gänzlichen Nichts erhalten
bleibt und gelernt hat, die Tiefe und Kraft jener kurzen, aber
bedeutungsvollen Worte: „Außer mir könnt ihr nichts tun",
zu verstehen. Nur dann, wenn wir in Christo bleiben, kann
der lebendige Saft des Weinstocks uns durchdringen und gesunde Triebe, grüne Blätter und gute Früchte hervorbringen.
211
(Vergl. Joh 15). Im WeLnstock bleiben, das ist das große Geheimnis unserer Kraft. „Gesegnet ist der Mann, der auf Jehova
vertraut, und dessen Vertrauen Jehova ist! Und er wird sein
wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und am Bache seine
Wurzeln ausstreckt und sich nicht fürchtet, wenn die Hitze
kommt. Und sein Laub ist grün, und im Jahre der Dürre ist er
unbekümmert und er hört nicht auf, Frucht zu tragen" (Jer 17,
7. 8).
Doch kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Je eingehender wir das Verfahren des Herrn mit Gideon betrachten, um so
mehr müssen wir erstaunen über die wunderbare Weise, in der
Er ihn für seine spätere Tätigkeit zubereitet. Gleich allen Dienern Gottes, zu welchen Zeiten sie auch gelebt haben mögen,
hatte Gideon eine geheime Erziehung durchzumachen, ehe er
fähig war, öffentlich aufzutreten. Der Charakter und die Dauer
der Erziehung mag in den einzelnen Fällen verschieden sein;
wir können aber mit Bestimmtheit behaupten, daß alle, die
von Gott in einem öffentlichen Dienst gebraucht werden sollen,
in der Zurückgezogenheit von Ihm belehrt sein müssen. Es ist
ein verhängnisvoller Fehler, wenn jemand an die Öffentlichkeit
tritt, ohne genügend dazu ausgerüstet zu sein; und solche Ausrüstung kann nur in dem Geheimnis der göttlichen Gegenwart
gewonnen werden. Nur in der verborgenen Zurückgezogenheit
mit Gott werden Gefäße gefüllt und Werkzeuge für Seinen
Dienst fähig gemacht.
Möchten wir dies nie vergessen! Niemand kann in einem
öffentlichen Werk Fortschritte machen ohne diese geheime
Unterweisung in der Schule Christi. Sie verleiht dem Charakter
Tiefe, Festigkeit und doch Zartheit. Man wird stets finden, daß
sich da, wo jemand ohne diese göttliche Vorbereitung ans Werk
geht, Schwäche und Unbeständigkeit zeigt. Vielleicht mögen
solche oberflächlichen Charaktere für eine Zeitlang einen
scheinbar größeren Eifer an den Tag legen, als jene, die in der
Schule Christi erzogen worden sind; aber der Eifer wird bald
vergehen. Nichts wird bestehen, was nicht das direkte Resultat
persönlicher Gemeinschaft mit Gott und einer geheimen Erziehung in Seiner Gegenwart ist. Wir finden hierfür ein treffendes Beispiel in der Geschichte Gideons. Er mußte offenbar
212
durch tiefe Seelenübungen gehen, ehe er den ersten Schritt in
die Öffentlichkeit tat, ja, ehe er das Banner des Zeugnisses im
Hause seines Vaters aufrichtete. Er mußte mit sich selbst, mit
seinem persönlichen Zustande und mit seinem eigenen Herzen
beginnen.
„Und Jehova sprach zu ihm: Ich werde mit dir sein, und du
wirst Midian schlagen wie einen Mann. Und er sprach zu Ihm:
Wenn ich doch Gnade gefunden habe in deinen Augen, so gib
mir ein Zeichen, daß du es bist, der mit mir redet. Weiche doch
nicht von hinnen, bis ich zu dir komme und meine Gabe herausbringe und dir vorsetze. Und Er sprach: Ich will bleiben, bis
du wiederkommst. Da ging Gideon hinein und bereitete ein
Ziegenböcklein zu und ungesäuerte Kuchen aus einen Epha
Mehl; das Fleisch tat er in einen Korb, und die Brühe tat er in
einen Topf, und er brachte es zu ihm heraus unter die Terebinthe und setzte es vor. Und der Engel Jehovas sprach zu ihm:
Nimm das Fleisch und die ungesäuerten Kuchen und lege es
hin auf diesen Felsen da, und die Brühe gieße aus. Und er tat
also. Und der Engel Jehovas streckte das Ende des Stabes aus,
der in seiner Hand war, und berührte das Fleisch und die ungesäuerten Kuchen; da stieg Feuer auf aus dem Felsen und verzehrte das Fleisch und die ungesäuerten Kuchen. Und der Engel
Jehovas verschwand aus seinen Augen. Da 9ah Gideon, daß es
der Engel Jehovas war, und Gideon sprach: Ach, Herr, Jehova!
Dieweil ich den Engel Jehovas gesehen habe von Angesicht zu
Angesicht! Und Jehova sprach zu ihm: Friede dir! fürchte dich
nicht, du wirst nicht sterben" (Ri 6,16—23 -
Wir haben hier einen Abschnitt in der Erziehung und Vorbereitung Gideons erreicht, der von tiefem Interesse ist. Er wird
berufen, praktisch in jene große Wahrheit einzutreten, welche
für jeden Diener Gottes von großer Bedeutung ist und sich in
den Worten ausgedrückt findet: „Wenn ich schwach bin, dann
bin ich stark". Dies ist eine köstliche Wahrheit; sie bildet ein
unerläßliches Element in der Erziehung aller Diener Christi.
Niemand möge sich einbilden, daß er je im Werke des Herrn
gebraucht werden oder Fortschritte im göttlichen Leben machen
könne, wenn er nicht in geringerem oder größerem Maße in
diesen unschätzbaren Grundsatz eingetreten ist. Da, wo er
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nicht gekannt und nicht verwirklicht wird, wird sich sicher Ungebeugtheit, Ungebrochenheit und eigene Tätigkeit in der
einen oder anderen Form zeigen. Wenn aber jemand in der
Gegenwart Gottes gelernt hat zu sagen: „Wenn ich schwach
bin, dann bin ich stark" — wenn die Natur einmal auf der
Waage des göttlichen Heiligtums gewogen ist, so wird sich
immer mehr oder weniger Gebrochenheit, Demut und Sanftmut
des Geistes finden; aber nicht nur das, ein solcher wird auch ein
weites Herz besitzen, er wird zu jedem guten Werke bereit und
fähig sein, sich über jene kleinlichen und selbstsüchtigen Überlegungen zu erheben, die das Werk Gottes oft in so trauriger
Weise hindern. Kurz, das Herz muß zuerst gebrochen, dann
wiederhergestellt und ungeteilt Christo und Seinem gesegneten
Dienste übergeben werden. Wenn wir unser Auge an der
langen Reihe der Arbeiter Christi vorübergleiten lassen, werden
wir die Wahrheit des Gesagten bestätigt finden. Moses, Tosua,
David, Jesaia, Jeremia, Hesekiel und Daniel in den Zeiten des
Alten Testaments, Petrus, Paulus und Johannes in den neutestamentlichen Tagen, alle stehen vor uns als lebendige Beweise
des Wertes gebrochener Werkzeuge. Alle diese treuen Knechte
Gottes mußten gebrochen werden, um wiederhergestellt, geleert, um gefüllt werden zu können — sie mußten lernen, daß
sie aus sich selbst nichts tun konnten, um dann in der Kraft
Christi fähig zu sein, alles zu tun.
Auch Gideon mußte die Wahrheit dieses Grundsatzes an sich
erfahren. Seinem demütigen Ausruf: „Ach, Herr Jehova"! folgten die Worte: „Friede dir! fürchte dich nicht!" und jetzt war
er fähig, mit seinem Werk zu beginnen. Er war dem Engel
Gottes von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt worden,
und er hatte gelernt, daß er in sich selbst durchaus keine Kraft
besaß, sondern daß alle seine Quellen in Gott gefunden werden
mußten. Welch eine köstliche Unterweisung für den Sohn
Joas und für uns alle! eine Unterweisung, die nicht in den Schulen und Hörsälen dieser Welt gelernt werden kann, sondern
allein in der Stille des Heiligtums Gottes.
Was war nun die erste Handlung Gideons, nachdem seine
Befürchtungen zum Schweigen gebracht und seine Seele mit
göttlichem Frieden erfüllt war? Er baute einen Altar. „Und
Gideon baute daselbst Jehova einen Altar und nannte ihn:
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Jehova Schalom. Bis auf diesen Tag ist er noch zu Ophra der
Abieseriter" (V. 24). Er nimmt den glücklichen Platz eines
Anbeters ein, und seine Anbetung wird gekennzeichnet durch
die Offenbarung des göttlichen Charakters. Er nennt seinen
Altar: „Jehova Schalom" — „der Herr (ist) Friede". Er war
durch schmerzliche und tiefe Seelenübungen hindurchgegangen
— Übungen, die nur solche verstehen können, die von Gott zu
einem hervorragenden Platz unter den Sairagen berufen sind.
Er fühlte den Verfall von allem, was ihn umgab. Er fühlte den
traurigen, demütigenden Zustand seines geliebten Volkes. Er
fühlte seine eigene Kleinheit, ja sein völliges Nichts. Wie konnte
er Israel erretten? Wer war fähig für so große Dinge? Wer in
etwa die Mühen, die Sorgen und Kümmernisse kennt, die mit
dem öffentlichen Dienst Christi und mit dem Zeugnis für
Seinen Namen in bösen Tagen verbunden sind, wird auch etwas
verstehen von den schmerzlichen Übungen der Seele Gideons,
von dem Druck, der auf seinem Herzen lastete, als er unter
dem Schatten der Terebinthe seines Vaters stand und von dort
aus die Gefahren und die Verantwortlichkeit betrachtete, die
mit seinem Auftrage in Verbindung standen. Ein solcher wird
auch in etwa die Bedeutung der Worte verstehen, die einst
aus dem Munde eines Mannes kamen, der wohl am meisten in
der Schule Christi erfahren war: „Wir selbst aber hatten das
Urteil des Todes in uns selbst, auf daß unser Vertrauen nicht
auf uns selbst wäre, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt" (2. Kor 1, 9).
Nachdem Gideon so in der Schule Gottes die völlige Ohnmacht seiner Natur kennengelernt hat, wird er in seinen Dienst
eingeführt. Dabei ist es bemerkenswert, wo er ihn zu beginnen hatte. „Und es geschah in selbiger Nacht, da sprach Jehova
zu ihm: Nimm den Farren deines Vaters, und zwar den zweiten
Farren von sieben Jahren" — Jehova wußte genau, wie viele
Farren Joas hatte, und kannte auch das Alter eines jeden —
„und reiße nieder den Altar Baals, der deinem Vater gehört,
und die Aschera, die bei demselben ist, haue um. Und baue Jehova, deinem Gott, einen Altar auf dem Gipfel dieser Feste mit
der Zurüstung und nimm den zweiten Farren und opfere ein
Brandopfer mit dem Holze der Aschera, die du umhauen wirst"
(V. 25. 26).
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Wir sehen hier, daß Gideon seinen Dienst zu Hause zu beginnen hatte. Er wurde berufen, das Zeugnis im Schoß seiner
Familie, in der Mitte des Hauses seines Vaters aufzurichten.
Dies ist von höchstem Interesse und von großer praktischer
Bedeutung, Wir empfangen eine Unterweisung, für die wir
alle unsere Ohren öffnen und die wir auf unsere Herzen anwenden sollten. Ein Zeugnis muß zu Hause seinen Anfang
nehmen. Es wird nie einen guten Erfolg haben, in ein öffentliches Werk einzutreten, wenn unsere persönlichen und häuslichen Wege anders sind, als sie sein sollten. Es ist ganz nutzlos,
den Altar Baals vor der Öffentlichkeit niederzureißen, wenn
ein gleicher Altar zu Hause stehen bleibt.
Wir alle sind berufen, zunächst in unserem häuslichen Kreis
wahre Frömmigkeit und Treue zu offenbaren. Nichts ist trauriger, als Personen zu begegnen, die sich inmitten ihrer Mitarbeiter oder Mitchristen durch eine hohe, geistliche Sprache
auszeichnen, durch eine Sprache, die einen dazu verleiten sollte,
sie weit über den gewöhnlichen Zustand der Christen zu stellen,
die aber in ihrem häuslichen Leben, in ihrem persönlichen Verhalten weit davon entfernt sind, denen gegenüber ein Zeugnis
für Christum abzulegen, mit welchen sie tagtäglich in Berührung kommen. Solches Verhalten ist beklagenswert. Es verunehrt den Herrn, betrübt den Heiligen Geist und dient jungen
Gläubigen oft zum Anstoß und Ärgernis; es gibt dem Feinde
Gelegenheit, in schmähender Weise von uns zu sprechen, und
muß in den Herzen unserer Brüder Ungewißheit und Zweifel,
uns betreffend, hervorrufen.
Sicherlich sollte es in dieser Beziehung anders unter uns
stehen. Gerade die, welche uns am meisten sehen, sollten auch
am meisten von Christo in uns entdecken; die uns am besten
kennen, sollten auch am besten wissen, daß wir Christo angehören. Aber ach! wie oft ist das Gegenteil der Fall! Wie oft
geschieht es, daß gerade der häusliche Kreis der Platz ist, wo
wir am wenigsten die lieblichen Züge eines christlichen Charakters zur Schau tragen! Der Gatte oder die Gattin, die Eltern
oder die Kinder, der Bruder oder die Schwester, der Herr oder
der Knecht sind es gerade, vor deren Augen oft am wenigsten
die Früchte eines göttlichen Lebens entfaltet werden. Gerade
im Privatleben kommen alle unsere schwachen Seiten, unsere
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Sonderlichkeiten und Eigenheiten, unsere törichten Neigungen
und sündigen Leidenschaften zum Vorschein, wir aber sollten
gerade da die Gnade des Herrn am getreuesten erkennen lassen.
Mein lieber christlicher Leser, lassen wir uns nicht abwenden
von dem Wort des Tadels und der Ermahnung! Es mag nicht
angenehm sein, aher es ist sicher heilsam. Es mag dem Fleische
nicht gefallen, aber es ist gesund für die Seele. Wenn wir uns
unseren Brüdern hilfreich erweisen oder den gemeinsamen
Feind siegreich bekämpfen wollen, so müssen wir, wie Gideon,
zu Hause beginnen. Ohne Zweifel ist ein solches Zeugnis im
Hause mit Schwierigkeiten verknüpft. Es ist z. B. für ein Kind
oft sehr schwer, gegen die Weltlichkeit des Vaters oder der
Mutter oder auch der ganzen Familie Zeugnis abzulegen. Wenn
aber Demut des Herzens und einfache Abhängigkeit von Gott
da sind, dann hält Er uns aufrecht und führt uns wunderbar
hindurch. Jedoch ist vor allen Dingen Entschiedenheit erforderlich. Der ganze Kampf wird oft durch eine einzige treue Handlung, durch ein entschiedenes Wort gewonnen.
Wenn aber andererseits Schwäche und Unentschlossenheit im
Herzen ist, wenn man mit der Wahrheit Gottes spielt, wenn
man die möglichen Folgen ängstlich berechnet und die wahrscheinlichen Resultate abwägt, so bekommt sicher der Feind die
Oberhand und das Zeugnis geht völlig verloren. Gott ist mit
allen, die für Ihn tätig sind. Das ist das große Geheimnis ihrer
Erfolge; doch wenn das Auge nicht einfältig ist, so kann es
keinen wirklichen Fortschritt und keine göttlichen Resultate
geben. Dies ist es, worin so viele von uns fehlen. Wir sind nicht
ganz entschieden für Christum; unser Herz schlägt nicht allein
für Ihn. Und daher gibt es kein Resultat für Gott und keinen
Einfluß auf andere. Wir können uns nicht vorstellen, welche
großen Dinge durch ein einziges unterwürfiges Herz, durch eine
ernste und entschiedene Seele vollführt werden können. Ein
solches Herz kann von Gott benutzt werden, um ein Banner
des Zeugnisses aufzurichten, um welches sich Tausende scharen,
die selbst nie den Mut oder die Energie gehabt haben würden,
ein solches Banner zu entfalten.
Blicken wir auf Gideon. Er war für Gott tätig, und Gott war
mit Ihm. „Und Gideon nahm zehn Männer von seinen Knechten und tat, so wie Jehova zu ihm geredet hatte. Und es geschah,
217
da er sich vor dem Hause seines Vaters und vor den Leuten der
Stadt fürchtete, es bei Tage zu tun, so tat er es bei .Nacht. Und
als die Leute der Stadt des Morgens früh aufstanden, da war
der Altar des Baal umgerissen und die Aschera, die bei demselben war, umgehauen, und der zweite Farren war als Brandopfer auf dem erbauten Altar geopfert. Und sie sprachen einer
zum anderen: Wer hat diese Sache getan? Und sie forschten
und fragten, und man sprach: Gideon, der Sohn des Joas, hat
das getan. Da sprachen die Leute der Stadt zu Joas: Gib deinen
Sohn heraus, daß er sterbe, weil er den Altar des Baal umgerissen, und weil er die Aschera, die bei demselben war, umgehauen hat" (V. 27—29)!
Das war ein Schlag, der die ganze Anbetung des Baal mit
vernichtender Gewalt traf und sie völlig zerstörte. Wir werden
uns kaum eine Vorstellung davon machen können, was es den
Sohn Joas gekostet haben mag, das Gebot Jehovas auszuführen; allein die Gnade Gottes befähigte ihn dazu. Sicher tat er
es mit Furcht und Zittern, aber er tat es. Er führte einen mächtigen Hieb gegen das ganze götzendienerische System, und
siehe da, es zerfiel in Staub vor seinen Füßen. Ein halbes Werk
hätte nichts genützt. Es hätte nichts geholfen, wenn Gideon
etwa hier und da einen Stein aus dem Götzenaltar herausgebrochen hätte; das ganze Bauwerk mußte von Grund aus zerstört und der Götze selbst in den Staub geworfen werden. Es
gibt nichts, wir wiederholen es, das einer völligen Entschiedenheit, einer unerschütterlichen Treue für Christum, koste es, was
es wolle, gleichkäme. Wäre Gideon weniger entschieden gewesen, hätte er in seiner Handlungsweise nicht diese Festigkeit
zur Schau getragen, so würde sein Vater wohl nie so völlig
gewonnen worden sein. Ein solches Verfahren mit Baal war
nötig, um einen einsichtsvollen Menschen zu überzeugen, daß
die Anbetung eines solchen Götzen eine Schande und ein Betrug
sei. „Und Joas sprach zu allen, die bei ihm standen: Wollt ihr
für den Baal rechten, oder wollt ihr ihn retten? Wer für ihn
rechtet, der soll getötet werden bis zum Morgen. Wenn er ein
Gott ist, so rechte er für sich selbst, weil man seinen Altar
urngerissen hat. Und man nannte ihn am selbigen Tage JerubBaal, indem man sprach: der Baal rechte mit ihm, weil er seinen
Altar umgerissen hat" (V. 30. 31).
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Das war eine einfache Schlußfolgerung: „Wenn er ein Gott
ist, so rechte er für sich selbst". Das kühne Vorgehen Gideons
hatte die Sache zur Entscheidung gebracht. Entweder war Baal
eine Wirklichkeit oder ein schändliches Trugbild. War er eine
Wirklichkeit, so mochte er für sich selbst streiten. War er ein
Trugbild, wer würde dann daran denken, für ihn zu streiten?
Nichts konnte einfacher sein. Die Tat Gideons war von herrlichem Erfolg gekrönt. Die Anbetung Baals war vernichtet und
stattdessen die Anbetung Jehovas Elohim aufgerichtet. Das
Werk in der Seele Gideons nahm einen raschen, aber wirklichen
Fortgang. Er wurde geführt von Kraft zu Kraft. Als zum ersten
Mal die Stimme Jehovas an sein Ohr schlug, da hätte er gewiß
nicht daran gedacht, daß er in so kurzer Zeit einen so entscheidenden Schritt tun würde. Wenn ihm jemand gesagt hätte:
„In wenigen Stunden wirst du inmitten des Hauses deines
Vaters den Baalsdienst vernichten", so würde er es nicht geglaubt haben. Doch der Herr leitete ihn, Schritt für Schritt,
gnädig, aber sicher vorwärts; und je mehr das himmlische Licht
Eindruck auf seine Seele machte, desto größer wurde sein Mut
und sein Vertrauen.
Der Herr handelt immer so mit Seinen Dienern. Er erwartet
nicht von ihnen, daß sie laufen sollen, bevor sie gehen gelernt
haben. Aber wenn das Herz wahrhaftig und die Absichten aufrichtig sind, so gibt der Herr in Seiner Gnade die nötige Kraft,
wenn der Augenblick zum Handeln gekommen ist. Er räumt
Berge von Schwierigkeiten hinweg, verjagt jede dunkle und
schwere Wolke, befestigt das Herz und umgürtet die Lenden
unserer Gesinnung, so daß der Schwächste mit Riesenkraft ausgerüstet und das furchtsame Herz mit Mut und mit Lob und
Dank erfüllt wird. Zu diesem allem liefert die interessante Geschichte Gideons einen lebendigen Beweis. Kaum hatte er den
Altar Baals umgerissen, so wurde er berufen, die Heere der
Midianiter zu bekämpfen. „Und ganz Midian und Amalek und
die Söhne des Ostens versammelten sich allzumal und zogen
herüber und lagerten im Tal Jisreel. Und der Geist Jehovas
kam über Gideon, und er stieß in die Posaune, und die Abieseriter wurden gerufen, ihm nachzufolgen. Und er sandte Boten
durch ganz Manasse, und auch sie wurden gerufen, ihm nachzufolgen; und er sandte Boten durch Äser und durch Sebulon
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und durch Naphthali, und sie zogen herauf ihnen entgegen"
(V. 33-35)-
Mit einem Schlage ist alles wie umgewandelt. Das Werk, das
im Herzen Gideons begonnen hatte, dehnte sich weit über die
Länge und Breite des ganzen Landes aus. Der Geist des Herrn
entfaltet Seine mächtige Energie, und Hunderte und Tausende
erwachen und scharen sich um das Banner, das die Hand des
Glaubens entrollt hat. Jedoch scheint es, daß der Glaube Gideons in diesem Augenblick einer neuen Befestigung bedurfte.
Vielleicht wurde sein Herz durch den Anblick der mächtigen
Heere der Unbeschnittenen eingeschüchtert; sein Mut verließ
ihn, und er forderte ein neues Zeichen von dem Herrn. „Und
Gideon sprach zu Gott: Wenn du Israel durch meine Hand
retten wallst, wie du geredet hast . . ." Ach! das arme Herz
setzte sein ungläubiges „Wenn" dem Worte Gottes, der doch
nicht lügen kann, gerade entgegen. „Siehe, ich lege ein Wollvließ auf die Tenne; wenn Tau auf dem Vließe allein sein wird
und auf dem ganzen Boden Trockenheit, so werde ich erkennen,
daß du Israel durch meine Hand retten wirst, so wie du geredet
hast" (V. 36. 37).
Wie wunderbar! Und doch brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn wir unsere eigenen Herzen ein wenig kennen.
Das arme menschliche Herz muß etwas haben außer dem bloßen
Wort des lebendigen Gottes. Es begehrt ein Zeichen — etwas,
was das Auge sehen kann. Das Wort Gottes ist nicht genügend
für die ungläubige Natur. Doch wie unergründlich ist auf der
anderen Seite die Gnade Gottes! Ohne ein Wort des Tadels
begegnet Er der Schwachheit Seines armen Dieners: „Und es
geschah also. Und er stand am anderen Morgen früh auf und
drückte das Vließ aus und preßte Tau aus dem Vließe, eine
Schale voll W'asser" (V. 38). Welch eine herablassende Gnade!
Statt das ungläubige „Wenn" Gideons mit Strenge zurückzuweisen, befestigt Gott gnädiglich seinen wankenden Glauben.
Jedoch dies genügte Gideon noch nicht. Er bittet noch um
eine zweite Bestätigung. „Und Gideon sprach zu Gott: Dein
Zorn entbrenne nicht wider mich, und ich will nur noch diesmal
reden! Laß mich es doch nur noch «diesmal mit dem Vließe versuchen. Möge doch Trockenheit sein auf dem Vließe allein,
und auf dem ganzen Boden sei Tau. Und Gott tat also in sel220
biger Nacht, und es war Trockenheit auf dem Vließe allein, und
auf dem ganzen Boden war Tau" (V. 39. 40). So handelt
die überströmende Gnade und unermüdliche Geduld des Gottes,
mit dem wir es zu tun haben. Ewig sei Sein heiliger Name gepriesen ! Wer wollte Ihm nicht vertrauen, Ihn nicht lieben und
Ihm nicht dienen?
„Und Jerub-Baal, das ist Gideon, und alles Volk, das mit ihm
war, machten sich früh auf, und sie lagerten sich an der Quelle
Harod; das Lager Midians aber war nordwärts von ihm, nach
dem Hügel More hin, im Tale. Und Jehova sprach zu Gideon:
Des Volkes, das bei dir ist, ist zu viel, als daß ich Midian in
ihre Hand geben sollte, damit Israel sich nicht wider mich
rühme und spreche: Meine Hand hat mich gerettet" (Kap. 7.
1. 2)! Der laute Schall der Posaune Gideons hatte eine zahlreiche und ansehnliche Schar um ihn versammelt; aber diese
Schar mußte geprüft werden. Es ist etwas anderes, durch den
Eifer und die Energie eines ernsten Dieners Christi angeregt zu
werden, oder jene moralischen Eigenschaften zu besitzen, die
allein einen Menschen befähigen können, selbst ein ernster
Diener zu sein. Der Spur eines unterwürfigen Mannes Gottes
zu folgen und sich durch seinen Glauben und seine Energie
leiten zu lassen, ist etwas ganz anderes, als selbst mit Gott zu
wandeln und sich in der Kraft eines persönlichen Glaubens auf
Ihn zu stützen. Dies verdient unsere ernste Beachtung. Es ist
immer Gefahr da, daß wir bloße Nachahmer des Glaubens
anderer sind, daß wir ihrem Beispiel folgen, ohne ihre geistliche Kraft zu besitzen. Wir sollten uns stets davor hüten. Laßt
uns einfältig, demütig und wahr sein. Wir mögen sehr klein,
unser Wirkungskreis mag beschränkt und unser Pfad ein zurückgezogener Pfad sein; dies macht jedoch gar nichts aus, vorausgesetzt, daß wir das sind, wozu die Gnade uns gemacht hat,
daß wir den uns vom Herrn angewiesenen Platz einnehmen und
den Pfad wandeln, den Er vor uns geöffnet hat. Es ist durchaus
nicht nötig, daß wir eine hervorragende Stellung bekleiden;
aber es ist absolut notwendig, daß wir wahr und demütig, gehorsam und abhängig sind. So kann unser Gott uns gebrauchen,
ohne befürchten zu müssen, daß wir uns selbst rühmen werden,
und wir sind ruhig und voll Friede und Glück. Es gibt nichts
köstlicheres für einen treuen Diener Christi, als sich auf jenem
verborgenen, schattigen Pfade zu befinden, wo das eigene Ich
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gänzlich aus dem Auge verloren und das herrliche Licht des
Angesichts Gottes genossen wird — wo die Gedanken der Menschen nicht wichtig sind, während der Beifall Christi für die
Seele alles ist.
Wir dürfen nie unser Vertrauen auf das Fleisch setzen. Es
wird selbst den Dienst Christi zu einer Gelegenheit machen,
um sich zu erhöhen. Es wird den Namen Dessen, Der Sich
Selbst völlig erniedrigte, benutzen, um aus sich etwas zu
machen. So ist das Fleisch, und so sind wir in uns selbst.
Törichte, sich selbst erhebende Geschöpfe, die immer bereit
sind, sich zu rühmen, während sie bekennen, nichts zu sein und
nichts anderes zu verdienen als das unauslöschliche Feuer der
Hölle. Brauchen wir uns über die Prüfung der Gefährten Gideons zu verwundern? Sicherlich nicht. Der Dienst Christi ist eine
sehr ernste und heilige Sache, und alle, die an ihm teilnehmen
wollen, müssen frei von Selbstvertrauen sein, von sich selbst
völlig entleert; aber nicht nur das, sie müssen sich auch mit
unerschütterlichem Vertrauen auf den lebendigen Gott stützen.
Das sind die großen Eigenschaften, die den Charakter des
wahren Dieners Christi ausmachen sollten. Doch kehren wir zu
unserer Erzählung zurück.
„Des Volkes, das bei dir ist, ist zu viel, als daß ich Midian in
ihre Hand geben sollte . . . Und nun rufe doch vor den Ohren
des Volkes aus und sprich: Wer furchtsam und verzagt ist,
kehre um und wende sich zurück von dem Gebirge Gdlead. Da
kehrten von dem Volke zweiundzwanzigtausend um, und zehntausend blieben übrig" (V. 2. 3). Das Heer Gideons wurde hier
der ersten großen Probe unterworfen, einer Probe, die bestimmt
war, das Maß des einfachen Vertrauens eines jeden Herzens
auf Jehova zu offenbaren. Ein furchtsames Herz ist nicht geschickt für den Tag der Schlacht, ein zweifelnder Geist kann
nicht in dem Kampfe bestehen. Diesem Grundsatz begegnen wir
in 5. Mo 20, 8: „Und die Vorsteher sollen weiter zum Volke
reden und sprechen: Wer ist der Mann, der sich fürchtet und
verzagten Herzens ist? er gehe und kehre nach seinem Hause
zurück, damit nicht das Herz seiner Brüder verzagt werde wie
sein Herz". Verzagtheit ist außerordentlich ansteckend. Sie verbreitet sich mit Windeseile. Sie schwächt den Arm, der den
Schild tragen soll, und lähmt die Hand, die das Schwert schwingen sollte. Was uns allein vor diesem Übel schützen kann, ist
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ein einfältiges, kindliches Vertrauen auf Gott und Sein Wort
und eine wahre persönliche Bekanntschaft mit Ihm. Wir müssen
Gott in einer solchen Weise kennen, daß Sein Wort alles für
uns ist, und daß wir mit Ihm allein wandeln und in der dunkelsten Stunde allein bei Ihm ausharren können.
Es ist sehr belehrend für das Herz, zu sehen, welche Wirkung
diese erste Probe auf das Heer Gideons ausübte. Sie lichtete
seine Reihen in erstaunlicher Weise. „Da kehrten von dem Volk
zweiundzwanzigtausend um, und zehntausend blieben übrig".
Das war eine ernste Verringerung. Doch es ist weit besser, zehntausend zu haben, die auf Gott vertrauen können, als zehntausend mal zehntausend, die es nicht können. Was nützen
zahllose Scharen, wenn sie nicht von einem lebendigen Glauben
beseelt sind? Durchaus nichts. Es ist verhältnismäßig leicht, sich
um ein Banner zu scharen, das eine starke Hand aufgepflanzt
hat, aber eine ganz andere Sache ist es, in dem wirklichen
Kampf in persönlicher Energie standzuhalten. Hierzu ist nur
ein echter, wahrer Glaube imstande. Sobald daher die Frage
erhoben wird: „Wer kann auf Gott vertrauen?" werden wir
stets sehen, daß die ansehnlichen Reihen bloßer Bekenner sich
schnell lichten.
Doch die Gefährten Gideons wurden noch einer zweiten
Probe unterworfen. „Und Jehova sprach zu Gideon: Noch ist
des Volkes zu viel, führe sie hinab ans Wasser, daß ich sie dir
daselbst läutere; und es soll geschehen, von wem ich dir sagen
werde: dieser soll mit dir ziehen, der soll mit dir ziehen. Und
jeder, von dem ich dir sagen werde: dieser soll nicht mit dir
ziehen, der soll nicht ziehen. Und er führte das Volk ans Wasser
hinab. Und Jehova sprach zu Gideon: Jeder, der mit seiner
Zunge von dem Wasser leckt, wie ein Hund leckt, den stelle
besonders, und auch jeden, der sich auf seine Knie niederläßt,
um zu trinken. Und die Zahl derer, welche mit ihrer Hand zu
ihrem Munde leckten, war dreihundert Mann; und das ganze
übrige Volk hatte sich auf seine Knie niedergelassen, um
Wasser zu trinken. Und Jehova sprach zu Gideon: Durch die
dreihundert Mann, die geleckt haben, will ich euch retten und
Midian in deine Hand geben, das übrige Volk aber soll gehen,
ein jeder an seinen Ort" (Kap. 7, 4—7).
Hier begegnen wir einer zweiten großen moralischen Eigenschaft, welche stets diejenigen charakterisieren muß, die an
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einem bösen Tage für Gott und für Sein Volk tätig sein wollen.
Sie müssen nicht allein Vertrauen auf Gott besitzen, sondern
auch bereit sein, sich selbst ganz aufzugeben. Das ist ein allgemeiner Grundsatz im Dienste Christi. Es handelt sich nicht
um die Frage, ob ich ein Kind Gottes bin, sondern darum, ob
ich ein tauglicher Diener Christi bin. Die einunddreißigtausend
siebenhundert, die von dem Heere Gideons weggeschickt wurden, waren ebensogut Israeliten, wie auch die übrigbleibenden
dreihundert, aber sie waren nicht geeignet für den Augenblick
des Kampfes; sie waren nicht die rechten Leute für die Stunde
der Entscheidung. Und weshalb nicht? Weil sie nicht auf Gott
vertrauen und sich selbst nicht ganz aufgeben konnten. Sie
waren voll von Furcht, während der Glaube sie hätte erfüllen
sollen. Der Gegenstand, der ihre Herzen beschäftigte, war nicht
der Kampf, sondern die Erfrischung auf dem Wege. Welch ein
ernster Gedanke! Es gab Hunderttausende von wahren Israeliten, von wahren Gliedern des Bundes, den Jehova mit Seinem
Volk gemacht hatte, und dennoch waren unter ihnen nur dreihundert Männer, die für den Tag des Kampfes von Gott fähig
und geeignet erachtet wurden. Unter tausend befand sich noch
nicht einer, der imstande war, Gott zu vertrauen und sich selbst
zu verleugnen.
Ist es in unseren Tagen nicht ähnlich? Obwohl wir jetzt viel
mehr Licht und Vorrechte besitzen als Gideon und seine Gefährten, so ist doch so wenig Bereitwilligkeit vorhanden, den
Pfad des Dienstes und Kampfes zu betreten, zu dem wir berufen sind. Es herrscht unter uns ein beklagenswerter Mangel
an wahrem Vertrauen auf den lebendigen Gott und an wahrer
Selbstverleugnung. Gott wird nicht praktisch gekannt und das
eigene Ich wird erhoben und wertgehalten. Daher sind wir so
wenig geschickt für den Kampf und ohne Kraft am Tage der
Schlacht. Es ist etwas anderes, errettet zu sein, oder als ein
Kriegsmann zu kämpfen. Es ist etwas anderes, der Vergebung
seiner Sünden gewiß zu sein, oder unsere Schwerter geschärft
und unsere Schilde erhoben zu haben. Zwischen dem Reden über
die Schlacht und der Beteiligung an ihr besteht ein großer Unterschied. Ach! es ist sehr zu fürchten, daß, wenn die zweifache
Probe, der Israel in den Tagen Gideons unterzogen wurde, in
diesem Augenblick auf alle angewendet würde, welche bekennen, Christo anzugehören, das praktische Resultat sich nur
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wenig von dem damaligen unterscheiden würde. Was wir
nötig haben, sind Männer des Glaubens, Männer, deren Herzen
befestigt und deren Augen einfältig sind, die keine Zeit haben
für etwas anderes, als für Christum und Seine Sache.
Doch wenden wir uns wieder zu unserem Gegenstande. Der
Schluß von Kapitel 7 des Buches der Richter zeigt uns Gideon
und seine Gefährten im Besitz des vollen Sieges. „Das Gerstenbrot" und „die zerbrochenen Krüge" vernichteten die ganze
Macht der Midianiter und Amalekiter, obgleich diese „lagen
im Tale, wie die Heuschrecken an Menge, und ihrer Kamele war
keine Zahl, wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist, an
Menge" (V. 12). Gott war mit dem Gerstenbrote und den zerbrochenen Krügen, wie Er stets mit denen sein wird, die bereit
sind, den niedrigsten Platz einzunehmen, nichts zu sein und
Ihn zu ihrem „alles in allem" zu machen, auf Ihn zu vertrauen
und sich selbst völlig zu vergessen. Möchten wir uns stets daran
erinnern, daß dies der große Grundsatz in jedem Werke und in
jedem Kampfe ist! Ohne Ihn können wir nie Erfolg haben; mit
Ihm wird der Sieg uns nie fehlen. Es macht nichts aus, wie groß
die Schwierigkeiten oder die Zahl und die Macht unserer Feinde
ist — alles muß verschwinden in der Gegenwart des lebendigen
Gottes.
Doch das ist noch nicht alles. Ein festes Vertrauen auf Gott
und eine wahre Selbstverleugnung sind nicht nur das Geheimnis des Sieges über äußere Feinde, sondern auch der Überwindung und Entwaffnung neidischer und mißgünstiger Brüder, obgleich diese oft viel schwieriger zu bekämpfen sind, als
offene Feinde. Kaum hatte Gideon den Sieg über die Unbeschnittenen errungen, als er berufen wurde, der kleinlichen und
verächtlichen Eifersucht seiner Brüder zu begegnen. „Und die
Männer von Ephraim sprachen zu ihm: Was ist das für eine
Sache, die du uns getan, daß du uns nicht gerufen hast, als du
hinzogest, wider Midian zu streiten? Und sie zankten heftig
mit ihm" (Ri 8, 1). Was für ein trauriges, unwürdiges Benehmen, und wie ungerecht die Beschuldigung ! Hatten sie nicht den
Schall der Posaune vernommen, die Israel zum Kampf aufforderte? Hatten sie nicht gehört, daß das Banner Gideons entfaltet worden war? Weshalb waren sie nicht die ersten auf dem
Kampfplatz gewesen? Es war eine leichte Sache, nach Beendigung des Kampfes zu erscheinen, um die Beute zu nehmen, und
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dann mit dem Mann zu rechten, der das Werkzeug Gottes zu
ihrer Befreiung gewesen war.
Doch wir wollen nicht länger bei dem traurigen Benehmen
der Männer von Ephraim verweilen, sondern lieber sehen, in
wie herrlicher Weise Gideon ihren ungerechten Anklagen begegnete. „Und er sprach zu ihnen: Was habe ich nun getan im
Vergleich mit euch? Ist nicht die Nachlese Ephraims besser, als
die Weinlese Abiesers? In eure Hand hat Gott die Fürsten
Midians, Oreb und Seeb gegeben; und was habe ich tun können im Vergleich mit euch? Da ließ ihr Zorn von ihm ab, als
er dieses Wort redete" (V. 2. 3). Das ist die richtige Weise, um
neidische und eifersüchtige Brüder zu überwinden. Das Gerstenbrot und die zerbrochenen Krüge konnten sowohl eifersüchtige Ephraimiten, als auch feindliche Midianiter besiegen.
Ein demütiger Geist, der sich selbst in den Hintergrund stellt,
ist das große Geheimnis des Sieges über Neid und Eifersucht in
all ihren häßlichen Formen. Es ist schwierig, ja unmöglich, mit
einem Menschen zu streiten, der sich in wahrer Selbsterniedrigung in den Staub niederbeugt. „Was habe ich tun können im
Vergleich mit euch?" Das ist die Sprache eines Mannes, der
verstanden hatte, was es bedeutet, sich selbst zu vergessen. Und
wir können sicher sein, daß eine solche Sprache stets den Neid
und die Eifersucht des selbstzufriedensten Menschen entwaffnen wird. Möchten wir mehr und mehr diese Wahrheit verstehen !
Die Schlußszene der interessanten Geschichte Gideons ist
ebenfalls voll von Belehrung für jeden Diener Christi. Sie belehrt uns, daß es weit leichter ist, einen Sieg zu erringen, als
den richtigen Gebrauch davon zu machen, weit leichter, eine
Stellung zu erreichen, als sie in der rechten Weise zu behaupten.
„Und die Männer von Israel sprachen zu Gideon: Herrsche
über uns, sowohl du, als auch dein Sohn und deines Sohnes
Sohn; denn du hast uns aus der Hand Midians gerettet. Und
Gideon sprach zu ihnen: ich will nicht über euch herrschen, und
nicht mein Sohn soll über euch herrschen; Jehova soll über euch
herrschen" (V. 22. 23). So weit war alles sehr schön. Es stand in
völliger Übereinstimmung mit der bisherigen Selbstverleugnung Gideons. Jeder Diener Christi wird stets suchen, die
Seelen mit seinem Herrn, nicht aber mit 9ich selbst zu verbinden. Gideon wünschte Jehova um keinen Preis Seinen Platz als
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Herrscher über Israel zu nehmen. Doch ach! in das Böse, vor
dem er in der einen Form zurückschreckte, fiel er in einer anderen. „Und Gideon sprach zu ihnen: Eine Bitte will ich von euch
erbitten: gebet mir ein jeglicher die Ohrringe seiner Beute;
(denn sie hatten goldene Ohrringe, weil sie Ismaeliter waren).
Und sie sprachen: Gern wollen wir sie geben, und sie breiteten
ein Oberkleid aus und warfen darauf ein jeder die Ohrringe
seiner Beute . . . Und Gideon machte daraus ein Ephod und
stellte es in seiner Stadt auf, in Ophra. Und ganz Israel hurte
demselben dort nach, und es wurde Gideon und seinem Hause
zum Fallstrick" (V. 24—27).
So ist der Mensch, selbst der beste, wenn er sich selbst überlassen wird. Derselbe Mann, der seine Brüder soeben zu einem
glänzenden Sieg über Midian geführt hatte, verleitete sie jetzt
zu dem traurigsten Götzendienst. Die Ohrringe der Ismaeliter
taten, was deren Schwerter nicht zu tun vermocht hatten; und
die Liebeszeichen der Kinder Israel erwiesen sich als weit gefährlicher, als das Gezänk der Männer von Ephraim. Während
das Gezänk der Männer von Ephraim Gideon Gelegenheit gab,
einen lieblichen Geist der Selbstlosigkeit zu offenbaren, wurden
die Ohrringe und Liebeszeichen der Kinder Israel zu einem
Fallstrick für ihn und sein Haus. Hätte Gideon die Ohrringe
zurückgewiesen, wie er den Thron ausschlug, so würde es für
ihn und seine Brüder zum besten gewesen sein; doch der Teufel
legte eine Schlinge vor seine Füße, in die er selbst fiel und zugleich alle seine Brüder mit hineinzog. Möchten wir uns alle
durch den Fall Gideons warnen und durch seine Siege ermuntern lassen!
Gedanke
Es ist ein großer Unterschied, ob ich demütig, oder ob ich gedemütigt bin vor Gott. Ich werde vor Gott gedemütigt, weil ich
nicht demütig gewesen bin. Ich werde gedemütigt wegen meiner
Sünde. Wenn ich demütig gewesen wäre, so würde mich die
Gnade vor der Sünde bewahrt haben. Denn „Gott widersteht
dem Hochmütigen, dem Demütigen aber gibt er Gnade". Der
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wahre Platz der Demut ist die Gegenwart Gottes. Erst wenn
ich mich aus Seiner Gegenwart entferne, bin ich in Gefahr,
hochmütig zu werden. Ich glaube nicht, daß die wahre Demut
darin besteht, schlecht von sich zu denken. Wahrhaft demütig
bin ich dann, wenn ich gar nicht an mich selbst denke, und das
ist es, was unseren eigenliebigen Herzen so schwer fällt.
Die beiden kleinen Hörner
in Daniel 7 und 8
Die wichtigen Personen, die bestimmt sind, in den Schlußtagen des Christentums und des jüdischen Abfalls eine Rolle
zu spielen, werden oft miteinander verwechselt. Das Verständnis der göttlichen Prophezeiungen wird dadurch ungemein erschwert. Was wir vor allen Dingen bei dem Studium des prophetischen Teiles des Wortes Gottes nötig haben, ist, daß wir
uns unserer völligen Unwissenheit bewußt sind und auf Gott
warten, auf Seine Leitung und Erleuchtung. Die genaue Unterscheidung der beiden Hörner in Daniel 7 und 8 wird uns außerordentlich nützlich sein, um die allgemeine Lage der Dinge am
Ende dieses Zeitalters, sowie viele interessante prophetische
Einzelheiten zu erkennen und richtig zu verstehen.
Kapitel 7 schildert die Geschichte der vier aufeinander folgenden Weltreiche; es umfaßt den ganzen Zeitraum von dem politischen Verfall Judas bis zu der zweiten Ankunft des Herrn.
Umfangreiche Bände sind über die alten Reiche, das babylonische, medo-persische und griechische geschrieben worden,
während der Geist Gottes jedem dieser Mächte in dem genannten Kapitel nur einen einzigen Vers widmet. Jedoch hat er in
diesen Versen (4. 5. 6) die Hauptmomente, die wir wissen müssen, zusammengefaßt, und wir finden in den langen, gelehrten
Abhandlungen der Geschichtsschreiber wesentlich nichts anderes, als in den wenigen Worten der genannten Verse.
Das Kapitel handelt jedoch hauptsächlich von dem vierten
Tier, das „schrecklich und furchtbar und sehr stark" war (V. 7),
und dessen Repräsentant (Pilatus) den Herrn Jesum dem Willen der Juden überlieferte. Das Reich wird in zehn Königreiche
geteilt (V. 24). Aus der Mitte der zehn Hörner oder zehn Könige
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erhebt sich ein elfter König, „das kleine Hörn", vernichtet drei
der vorhandenen Könige und gelangt allmählich zu einer solchen Bedeutung und Macht, daß es endlich die ganze Gewalt
des Tieres in sich vereinigt und das Haupt oder der Leiter des
Reiches wird. Die Verlängerung der Dauer des Reiches, seine
Größe und Ausdehnung, sowie sein endliches Gericht verdankt
es moralisch diesem grausamen Verfolger der Heiligen und verwegenen Lästerer Gottes.
Der hier beschriebene Zustand des römischen Reiches ist
ohne Zweifel zukünftig. Denn so lange das römische Reich bestanden hat, gab es niemals eine Zeit, wo die oberste Gewalt
von zehn Königen zugleich ausgeübt wurde. Und als die barbarischen Horden um die Mitte des fünften Jahrhunderts mit
unwiderstehlicher Gewalt in Italien eindrangen, ging das gewaltige Reich in Trümmer, und die Folge davon war Europa,
wie es gegenwärtig eingerichtet ist. Eine Menge unabhängiger
Reiche bildete sich aus den Bruchstücken des ungeheuren Kolosses. Entspricht aber dies den Anforderungen der wichtigen
Stelle, die uns augenblicklich beschäftigt? Ist das der Zustand,
von dem hier die Rede ist? Sicherlich nicht. Wann aber wird
dieser Zustand eintreten? Das römische Reich besteht doch nicht
mehr? Allerdings nicht. Jedoch es wird wieder erstehen. Gott
versichert uns in Seinem Wort, daß es wiederhergestellt werden
wird, und zwar durch satanischen Einfluß. Karl der Große und
Napoleon I. versuchten die Wiederherstellung des römischen
Reiches, aber vergebens, Gottes Zeit war noch nicht gekommen.
Aber sie wird kommen. Wir lesen in Offb 17, 8: „Das Tier,
welches du sähest, war und ist nicht und wird aus dem Abgrunde heraufsteigen". Keiner, der mit dem Inhalt des Buches
der Offenbarung ein wenig vertraut ist, bestreitet es, daß wir
unter jenem Tier das römische Reich zu verstehen haben, welches war, nicht ist (sein gegenwärtiger Zustand) und aufsteigen
wird aus dem Abgrunde. Satan selbst wird es wieder ins Leben
rufen. Nach seiner Teilung in zehn Königreiche wird „das kleine
Hörn", ein von Satan beeinflußter und mit teuflischer Gewalt
ausgerüsteter Mensch, aus der Mitte der Könige sich erheben
und den Thron der Welt einnehmen. Er wird der große politische Leiter und das Haupt der Nationen im Westen sein. Dies
kleine Hörn ist daher weder mit dem Antichristen, noch mit
dem kleinen Hörn in Daniel 8 zu verwechseln.
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Der Schauplatz der Tätigkeit des kleinen Horns in Daniel 8
ist nicht der Westen, sondern der Osten. Die allgemeine Bedeutung des 8. Kapitels ist einfach und klar. Der doppeltgehörnte Widder (V. 3. 20) ist ein Bild des medo-persischen Reiches. Er dehnt, von Osten kommend, seine Eroberungen nach
Westen, Norden und Süden aus, erkämpft große Siege, unterwirft Königreiche und handelt in stolzem Eigenwillen. Dann
wird unsere Aufmerksamkeit auf einen Ziegenbock gelenkt, der
von Westen kommt und „ein ansehnliches Hörn zwischen seinen Augen hat". Wer ist diese Macht, die mit der persischen
zusammentrifft und nach erbittertem Kampf den mächtigen
Beherrscher des Ostens vernichtet? Gabriels Erklärung ist kurz
und deutlich: „Und der zottige Ziegenbock ist der König von
Griechenland; und das große Hörn, das zwischen seinen Augen
war, ist der erste König" (V. 21). Die Geschichte ist an ihrem
Platze sicher von großem Nutzen; aber wenn man behauptet,
sie sei nötig zum Verständnis der Schrift, wenn man sie einführen will als die Erklärerin des Wortes Gottes, so sollten wir
sowohl den Grundsatz, als auch die Erklärung sogleich als
völlig falsch und den Geist Gottes entehrend verwerfen, denn
Er ist allein imstande, die „Dinge Gottes" zu erforschen, und
Er ist zugleich die Macht, durch die sie uns mitgeteilt und von
uns angenommen werden können (Vergl. 1. Kor 2, 9—16). Die
Bibel wäre wirklich für den größten Teil der Menschheit ein
versiegeltes Buch, wenn sie durch das ungewisse Licht der Geschichte beurteilt und erklärt werden müßte. Nach den einfachen, aber herrlichen Worten des Herrn in Joh 14 können die
Prophezeiungen Daniels, die Gesichte Hesekiels und die
Offenbarungen des Johannes durch ein und dieselbe Macht
verstanden werden, und diese Macht ist der Heilige Geist.
Die schnellen und wütenden Angriffe Alexanders des Großen, jenes berühmten Staatsmannes und Feldherrn, werden uns
in lebendiger Weise durch einige wenige energische Züge der
göttlichen Feder vor Augen geführt, und zwar nicht nach dem
Eintritt der geschilderten Ereignisse, sondern eine beträchtliche
Zeit vor dem Erscheinen des persischen oder griechischen Reiches. Wie im Fluge durcheilte Alexander die ausgedehnten
Reiche des Ostens und unterwarf sie seiner Herrschaft. „Und
der Ziegenbock wurde groß über die Maßen, und als er stark
geworden war, zerbrach das große Hörn, und vier ansehnliche
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Hörner wuchsen an seiner Statt nach den vier Winden
des Himmels hin" (V. 8). Auf dem Gipfelpunkt seiner
Macht, als eine eroberte Welt zu seinen Füßen lag, als
Könige und Fürsten, vom Ganges bis zum Mittelländischen
Meer, sich seinem Szepter unterworfen hatten und Krone
und Reich aus seiner Hand empfingen, als in unglaublich
kurzer Zeit ein Reich errichtet worden war, das in bezug
auf Macht und Ausdehnung unvergleichlich dastand, wurde
Alexander plötzlich vom Tode dahingerafft. Er starb in der
Blüte seines Lebens, kaum 32 Jahre alt. Seine Generale, die sich
nach dem Tode ihres großen Meisters um die Herrschaft stritten, besaßen nicht die Fähigkeit, ein so gewaltiges Reich zusammenzuhalten. Es zerfiel in Stücke. Vier Königreiche entstanden an seiner Statt. Zwei von ihnen nehmen eine wichtige
Stelle in der prophetischen Zukunft ein. Dies sind das syrische
und ägyptische Reich, deren Herrscher als Könige des Nordens
und Könige des Südens in der Schrift häufig erwähnt werden
(vergl. Dan 11). Diese Bezeichnung ist charakteristisch. Jerusalem und Judäa bilden in den Handlungen und Ratschlüssen
Gottes bezüglich der Erde stets den Mittelpunkt, und von dort
aus wird alles gerechnet. Wohl durchschreitet jetzt der Türke
mit stolzem Schritt die Straßen jener wunderbaren Stadt, die
der Herr so sehr liebte und über die Er Tränen vergoß, und der
Heide blickt mit verächtlichem Lächeln auf den armen Juden
herab, der an „dem Ort der Klage" weinend im Staube liegt.
Aber es kommen andere Zeiten. Gott hat für Sein zerstreutes
Volk etwas Besseres vorgesehen. Herrliche Dinge sind über
Zion prophezeit; Gott hat Sein Auge und Sein Herz auf dieses
Land und Volk gerichtet „beständig" (5. Mo 11, 12; 1. Kö 9, 3).
Machen wir Jerusalem zu unserem Standpunkte, so werden wir
über die Bedeutung der Bezeichnungen „König des Nordens"
usw. keinen Augenblick mehr im Zweifel sein.
Im 9. und 10. Verse unseres Kapitels sehen wir aus einem
der vier Hörner des Ziegenbocks ein „kleines Hörn" hervorkommen, das „ausnehmend groß wurde gegen Süden und
gegen Osten und gegen die Zierde" (Judäa). Es vernichtet einen
Teil der bürgerlichen und religiösen Leiter der Juden, „von dem
Heer des Himmels und von den Sternen", und „warf die Wahrheit zu Boden" (V. 12). Wer ist dieser schreckliche und grausame Feind der Juden? Ich glaube, daß sich diese Prophezeiung
231
in ganz bestimmter Weise auf Antiochus Epiphanes, einen der
Könige des Nordens oder Syriens, bezieht, dessen Haß gegen
die Juden keine Grenzen kannte. Was ihm in Vers g und 10
und am Schluß von Vers 12 zugeschrieben wird, hat seine Erfüllung in der Geschichte bereits gefunden. Gabriel gibt indessen dem Propheten in seiner Erklärung zu verstehen, daß
„das Gesicht auf die Zeit des Endes geht". Es soll verstanden
werden in dem gegenwärtigen Augenblick (V. 16), aber seine
völlige und endliche Erfüllung wird es zur Zeit des Endes finden
(V. 17).
In Vers 23 wird von einem König gesprochen, der das Gegenbild des Antiochus ist. Der Charakter und die Taten dieses
Königs, „frechen Angesichts", werden uns in Vers 23—25 genau
mitgeteilt. Ebenso wird in Jes 10 von ihm als dem Assyrer und
in Jes 28 als der überflutenden Geißel gesprochen. Er ist der
König des Nordens, der große politische Feind der Juden in den
letzten Tagen. Weitere Nachrichten über diesen König sowohl
als auch über den König des Südens finden wir im 11. Kapitel.
Judäa war stets den Angriffen dieser beiden Könige ausgesetzt,
und es befand sich gewöhnlich in dem Besitz des einen oder
anderen von ihnen. Die Wiedererscheinung dieser Königreiche,
ihre gegenseitige Feindschaft, ihren gemeinschaftlichen Haß
gegen den Antichristen, der zur Zeit des Endes König in Judäa
sein wird, schildert uns ausführlich das 11. Kapitel, und zwar
vom 36. Verse an.
Das kleine Hörn in Daniel 8 ist also der Leiter der östlichen
Mächte, während das Hörn von Kap. 7 das Haupt des westlichen oder römischen Reiches vorbildet. Die westlichen Mächte
werden mit den Juden als Volk in Verbindung stehen und ihm,
wenigstens eine Zeitlang, freundlich gesinnt sein. Die nordöstlichen Mächte dagegen werden darauf aus sein, Israel als
Volk gänzlich zu vernichten. Im 8. Kapitel finden wir weder
eine Anspielung auf das Haupt der westlichen Mächte, noch auf
die vier Weltreiche im allgemeinen. Das ist der Inhalt des 7.
Kapitels und teilweise der Offenbarun