Inhaltsverzeichnis 1882 | |
„Siehe, er betet" Apg. 9,11 | 3 |
Manasse | 17 |
Vorträge über die Sendschreiben | |
an die sieben Versammlungen | 23 |
Gestorben und auferweckt | 80 |
Das Kämmerlein, der Kampfplatz des Glaubens | 90 |
„Wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt"? | 92 |
Bist du arm oder reich? | 96 |
Der Unterschied zwischen dem Ratschluss Gottes | |
und den Wegen Seiner Regierung | 99 |
Gewissheit | 136 |
Und darin? | 138 |
„Was ist mit dir, du Schläfer"2 | 142 |
Erklärung | 145 |
Warum sind wir so schwach? | 146 |
Sicherheit, Gewissheit und Genuss | 148 |
Ein sicherer Ankerplatz | 164 |
Gedanken | 167 |
Betrachtungen über den Brief an die Römer | 168 |
Gedanken | 213 |
Der Geist als Siegel und Unterpfand | 215 |
Maria am Grabe | 220 |
„Und ihr seid Menschen gleich, | 223 |
die auf ihren Herrn warten" | |
„Bleibet in mir und ich in euch" | 226 |
Was ist die Vergebung im Evangelium? | 235 |
Ein kurzes Wort über das Abendmahl des Herrn . . | 241 |
Seite
„Siehe, er betet" 3
Manasse 17
Vorträge über die Sendschreiben
an die sieben Versammlungen 23
Gestorben und auferweckt 80
Das Kämmerlein, der Kampfplatz des Glaubens ... . 90
„Wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt" ? .. . 92
Bist du arm oder reich? 96
Der Unterschied zwischen dem Ratschluß Gottes
und den Wegen Seiner Regierung 99
Gewißheit 136
Und dann? 138
„Was ist mit dir, du Schläfer"? 142
Erklärung 145
Warum sind wir so schwach? 146
» Sicherheit, Gewißheit und Genuß 148
Ein sicherer Ankerplatz 164
Gedanken 167
i Betrachtungen über den Brief an die Römer 168
Gedanken 213
Der Geist als Siegel und Unterpfand 215
Maria am Grabe 220
„Und ihr seid Menschen gleich,
die auf ihren Herrn warten"! 223
„Bleibet in mir und ich in euch" 226
Was ist die Vergebung im Evangelium? 235
Ein kurzes Wort über das Abendmahl des Herrn ... . 241
1882 Manasse (2. Chronika 33, 1-20)
Wenn wir die Geschichte Manasses, des Königs von Juda, lesen, muß unser Herz mit Lob und Dank gegen Gott erfüllt werden; denn wir sehen in ihr eine treffende Erfüllung der Worte des Apostels: „Wo aber die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden". Doch während wir auf der einen Seite die Gnade des Herrn bewundern und anbeten müssen, werden wir auf der anderen erschrecken bei dem Anblick so trauriger Sünden, begangen durch eine Person, welche die besten Umgebungen, die größten Vorrechte, das klarste Licht und deshalb die geringste Entschuldigung hatte. Wir lernen in Manasses Geschichte zwei Dinge. Zunächst, daß die besten Umgebungen und größten Vorrechte das Herz eines Menschen nicht verändern, und dann, daß die traurigsten Sünden nicht imstande sind, in dem Herzen Gottes einen Wechsel hervorzubringen oder den Ausfluß Seiner Gnade zu hindern. Mag der Mensch sein, was er will, mag er sich in dem traurigsten Lichte offenbaren, dennoch bleibt Gott stets, was Er ist: „Licht und Liebe"; „barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und von großer Güte" (ps 103, 8); „ein Gott der Vergebung" (Neh 9, 17). Alle diese Eigenschaften Gottes treten in der vor uns liegenden Geschichte hell ans Licht. Wir haben, mit einem Wort, ein alttestamentliches Gemälde von dem Herzen des Menschen und von dem Herzen Gottes.
Manasse hatte das Vorrecht, einen frommen Vater zu haben, von dem die Schrift sagt: „Er tat, was recht war in den Augen Jehovas, nach allem, was sein Vater David getan hatte" (2. Chron 29, 2). Ohne Zweifel hatte Hiskia seinem jugendlichen Sohn oft von dem Gott Israels erzählt, der „ihn und die Bewohner von Jerusalem aus der Hand . . . aller gerettet und sie ringsum geschützt hatte" (2. Chron 32, 22). Belehrt über die
17
wahre Anbetung Jehovas, umgeben von den täglichen Ausübungen des Gottesdienstes, beeinflußt von einem frommen Vater, bewahrt und gesegnet mit dem bevorzugten Volke Gottes, so begann die Geschichte Manasses. Trotz diesem allem aber blieb sein Herz unberührt, „arglistig, mehr als alles, und verderbt" (Jer 17, 9). Die Gnade Gottes machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, und sobald er sich selbst überlassen war, verfiel er in die schrecklichsten und erniedrigendsten Sünden. Welch eine ernste Warnung!
Ach! wie viele, vielleicht auch manche Leser dieser Zeilen, haben fromme, gottesfürchtige Eltern gehabt, während sie selbst bis heute noch in ihren Sünden vorangegangen sind! Obwohl sie christlich auferzogen wurden, sind sie bis heute noch Christo fremd geblieben; obwohl sie unter das Gehör des Wortes Gottes gebracht und eingeladen wurden, sich mit Gott versöhnen zu lassen, sind sie nie in Wahrheit zu Jesu gekommen. Umstrickt von den Banden Satans und der Welt, die Sünde und die Finsternis mehr liebend als das Licht, wandern sie gleichgültig und guter Dinge auf dem breiten Wege einher. Aber ach! was wird ihr Ende sein? „Das Ende dieser Dinge ist der Tod" (Röm 6,21). Und dann? Das Gericht vor dem großen, weißen Thron. Und worin besteht dies Gericht? In dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt. Welch ein ernster, erschreckender Gedanke! 0 mein lieber, unbekehrter Leser, stehe einen Augenblick still und laß deinen Blick zurückgehen über dein vergangenes Leben! Wie viele, ja unzählige Sünden und Vergehungen tauchen da vor deinem Geistesauge auf! Sie alle rufen dir mit Donnerstimme zu: „Verloren! verloren! einem ewigen Gericht verfallen!" Aber nicht nur das. Zahlreiche Gelegenheiten kommen in dein Gedächtnis zurück, wo Gott ernstlich mit dir geredet und an dein Herz angeklopft hat. Du erinnerst dich, wie da dein Gewissen beunruhigt war und dich verklagte, wie du es aber auf alle Weise einzuschläfern und seine Stimme zu betäuben suchtest, bis es wirklich nach und nach wieder ruhig wurde und dich nicht weiter belästigte. 0 mein lieber Freund, wenn es heute wieder seine Stimme hören läßt, so suche sie nicht wieder durch die Vergnügungen und Freuden dieser Welt zu ersticken. Denke daran, daß heute die Zeit der Annehmung und der Tag des Heils ist, und daß Gottes Güte und Langmut einmal aufhören; möchte die Güte Gottes
18
dich zur Buße leiten, so lange es noch Zeit ist und Gott dir Vergebung deiner Sünden schenken will!
Wie schon bemerkt, verübte Manasse, sobald sein Vater gestorben war, die schrecklichsten Greuel. Er erbaute Götzenaltäre, bückte sich vor allem Heer des Himmels, ließ seine Kinder durchs Feuer gehen, trieb Gaukelei und Zeichendeuterei, bestellte Totenbeschwörer und Zauberer und stellte ein geschnitztes Bild an der geweihten Stätte der Anbetung des Gottes Israels, in dem Tempel auf. Und um seinen Missetaten die Krone aufzusetzen, „vergoß Manasse auch sehr viel unschuldiges Blut, bis er Jerusalem damit erfüllte von einem Ende bis zum anderen" (2. Kön 21, 16). Welch eine entsetzliche Liste von Verbrechen: Götzendienst, Zauberei und Mord! Und nicht nur verunreinigte sich Manasse selbst mit allen diesen Dingen, sondern er verführte auch seine Untertanen zum Abfall von Gott und zu allerlei Schandtaten. „Aber Manasse verleitete Juda und die Bewohner von Jerusalem, mehr Böses zu tun als die Nationen, welche Jehova vor den Kindern Israel vertilgt hatte" (V. 9).
Wahrlich, ein trauriges, finsteres Gemälde! Und leider müssen wir sagen, daß die Geschichte Manasses gerade in unseren Tagen ein häufiges Gegenbild findet. Wie manches Kind christlicher Eltern wirft sich, nachdem es das Elternhaus verlassen hat, der Welt und der Sünde in die offenen Arme! Es hat nicht selten den Anschein, als ob es die Zeit, die es unter der sorgenden Leitung der Eltern und unter ihrem wachsamen Auge zugebracht hat, wieder einholen müsse. In die zahllosen Schlingen Satans fallend, führt es ein traurigeres Leben, als selbst viele Kinder ungläubiger Eltern, die wenig oder nie von ihrem verderbten Zustand und der Notwendigkeit einer Errettung gehört haben. Da es stets Herz und Ohr vor der freundlichen Stimme Gottes verschlossen hat, so gibt Er es für eine Zeit dahin, um die Früchte des Weges der Sünde zu ernten. Ach! welch eine furchtbare Verantwortlichkeit ladet ein solches Kind auf sich! Nicht nur erfüllt es das Elternhaus mit tiefer Betrübnis und nagendem Kummer — denn was könnte für das liebende Herz eines christlichen Vaters, einer christlichen Mutter schmerzlicher sein, als ihr Kind auf der Bahn der Sünde unaufhaltsam einherschreiten zu sehen? — sondern es wendet auch
19
dem Gott, dessen Liebe es von Jugend auf so offenbarlich genossen hat, den Rücken und tritt Seine Liebe mit Füßen. Welch einem schrecklichen Gericht eilt es entgegen, wenn es nicht umkehrt von seinen bösen Wegen! Oh, möchten diese Zeilen, wenn sie irgendeinem solchen abgeirrten Kinde in die Hände fallen sollten, ihm ein lauter Mahnruf sein, einmal stillzustehen auf dem Wege und zu sich selbst zu kommen, um, wie der verlorene Sohn, nach Erkenntnis seines traurigen Zustandes, mit wahrer Reue und aufrichtigem Bekenntnis zu dem Vater zurückzukehren, den es so tief betrübt und beleidigt hat. Wenn schon ein irdischer Vater bereit ist, den gebeugt heimkehrenden Sohn aufzunehmen, wie viel mehr ist es die Freude Gottes, jeden Sünder in Gnaden zu erretten, der mit zerknirschtem Herzen und den Worten auf seinen Lippen: „ich habe gesündigt...; ich bin nicht würdig, dein Sohn zu heißen!" zu Ihm kommt. Es ist Freude im ganzen Himmel, Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Doch kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Gott handelt in großer Gnade und Langmut mit Manasse. Er ließ nicht sogleich das Gericht über ihn kommen. Er redete in Freundlichkeit zu ihm und zu seinem Volke, um ihn auf diese Weise zur Besinnung zu bringen, „aber sie merkten nicht darauf" (V. 10). Es ist bewunderungswürdig, zu sehen, wie Gott sich mit dem schuldigen König und seinen bösen Gefährten in aller Geduld beschäftigt. Es ist nicht Seine Freude, zu richten. Er ist langsam zum Zorn, aber stets bereit zu segnen. Doch Manasse war entschlossen, auf seinem bösen Pfade zu verharren, und mit ihm das Volk. Sie verhärteten ihren Nacken, sie wollten nicht hören auf die freundliche Stimme Jehovas. „Und Jehova, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen durch seine Boten, früh sich aufmachend und sendend, denn er erbarmte sich seines Volkes und seiner Wohnung. Aber sie verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und äfften seine Propheten, bis der Grimm Jehovas über sein Volk stieg, daß keine Heilung mehr war" (2. Chron 36, 15. 16).
Gleichst du hierin dem gottlosen König und seinen Gesinnungsgenossen, mein lieber Leser? Ist Gott auch schon so mit dir beschäftigt gewesen? Hat Er versucht, durch Sein Wort dein Herz und Gewissen zu erreichen? Hat Er Seine Boten an dich
20
gesandt, um dich zur Umkehr aufzufordern und dir Seine überströmende Gnade vorzustellen? Sicher, Er hat es auf die eine oder andere Weise getan. Aber wie hast du dich demgegenüber verhalten? Hast du auf Seine Stimme gehorcht, oder hast du sie verächtlich von dir gewiesen? Hast du auf das Wort Seiner Boten geachtet und es in dein Herz aufgenommen, oder hast du sie verspottet und ihre Warnungen lachend in den Wind geschlagen? Siehe, es ist die Liebe und die Güte Gottes, die dich zur Buße leiten will. Hüte dich, daß nicht Sein Zorn über dich komme! Willst du nicht der Einladung Gottes folgen und dich vor Seinem Worte beugen, so muß das Gericht dich ereilen. Und erinnere dich, daß es ein ewiges Gericht ist, um so schrecklicher für dich, weil du so lange Gelegenheit gehabt hast, ihm zu entfliehen.
Da Manasse nicht auf die Stimme Jehovas durch den Mund seiner Boten horchen wollte, mußte Gott lauter reden. Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe. Es ist der Wunsch und die Freude Seines Herzens, zu segnen, und wer wird Ihn daran hindern? „Da ließ Jehova die Heerobersten des Königs von Assyrien über sie kommen;
und sie nahmen Manasse gefangen und banden ihn mit ehernen Fesseln und führten ihn nach Babel" (V. 11). Gott weiß das Gewissen zu erreichen. Er kann den Menschen zwingen, zu hören, auch wenn er nicht will. Wahrlich, ein wunderbarer Gott ist unser Gott! „Denn in einer Weise redet Gott und in zweien, ohne daß man es beachtet — ... um den Menschen von seinem Tun abzuwenden . . . daß er seine Seele zurückhalte von der Grube, und sein Leben vom Rennen ins Geschoß. Auch wird er gezüchtigt mit Schmerzen auf seinem Lager . . . und seine Seele nähert sich der Grube und sein Leben den Würgern" (Hiob 33, 14—22). Gott weiß einen jeden zu finden. Niemand ist vor Ihm verborgen. Welch ein tröstlicher Gedanke ist dies für das Herz solcher Eltern, deren Kinder sich auf den Weg der Sünde gewandt haben. Befinden sie sich auch außer ihrem Bereich — Gott kennt sie, und Er ist mächtig, auch das härteste Herz zu schmelzen und den stolzesten Sinn zu beugen.
In seiner Drangsal fängt Manasse an, seiner Sünden zu gedenken und sich an den Gott zu erinnern. Den er verachtet und zum Zorn gereizt hat. Sein Gewissen erwacht und ruft
21
ihm mit überwältigender Macht seine unzähligen Missetaten ins Gedächtnis zurück. Zugleich treten vor sein erleuchtetes Auge die Tage seiner frühesten Jugend, in denen er an der Seite eines gottesfürchtigen Vaters seine Knie vor dem einen wahren und lebendigen Gott gebeugt hat. Er bricht zusammen;
völlig zerknirscht fällt er nieder, und über seine Lippen strömt ein offenes Bekenntnis seiner großen Schuld. „Und als er bedrängt war, flehte er Jehova, seinen Gott, an und demütigte sich sehr vor dem Gott seiner Väter und betete zu ihm" (V. 12). Alles ist jetzt verändert. Der einst so stolze und gottlose König tut Buße in Sack und Asche. Der früher fremden Götzen Altäre gebaut und geopfert hatte, liegt im Staube vor dem Gott seiner Väter und „betet". Wird Gott ihn erhören, ihn, der so lange Jahre Seine Botschaften der Liebe verachtet und Ihn Selbst auf die schrecklichste Weise verhöhnt hat? Wird Er nicht sagen:
„In den guten Tagen hast du meiner vergessen und nicht auf meine Stimme hören wollen, und jetzt ernte, was du gesät hast?" 0 Wunder der Gnade! Gott hört auf die Stimme des einstigen Verächters. „Und Er ließ sich von ihm erbitten und erhörte sein Flehen und brachte ihn zurück nach Jerusalem in sein Königreich" (V. 13). Ja, Er ist „ein gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und von großer Güte, und der sich des Übels gereuen läßt" (Jona 4, 2). Jetzt erkannte Manasse, daß Jehova in Wahrheit Gott ist, und „er tat die Götter der Fremde hinweg und das Gleichnis aus dem Hause Jehovas und alle Altäre, die er auf dem Berge des Hauses Jehovas und in Jerusalem gebaut hatte, und er warf sie hinaus außerhalb der Stadt. Und er baute den Altar Jehovas wieder auf und opferte auf demselben Friedens- und Dankopfer und er befahl Juda, daß sie Jehova, dem Gott Israels, dienen sollten" (V. 15. 16).
Welch eine völlige und gesegnete Veränderung! Manasse konnte jetzt nicht nur selbst Dank- und Friedensopfer darbringen, sondern er konnte auch andere auffordern, diesem großen und gnädigen Gott zu dienen. Gott hatte sein Ziel bei ihm erreicht. Manasse hatte Ihn und sich kennen gelernt, obwohl auf schweren Wegen. Sein ganzes Wesen war jetzt verändert. Er konnte „vor den Menschen singen und sagen: Ich hatte gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es ward mir nicht vergolten; er hat meine Seele erlöst, daß sie nicht in die
22
Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichts" (Hiob 33, 27. 28). Und es war ihm genug, die vergangenen Tage in Sünde und Schande gelebt zu haben; es gab jetzt nur noch einen Gegenstand für ihn, das war der Gott Israels und Seine wunderbare Güte. Ihm zu dienen und Ihn zu loben, das bildete fortan seine erste Beschäftigung. — Möchte es auch unsere Beschäftigung sein, so viele wir den Herrn kennen!
Vorträge über die Sendschreiben an die sieben Versammlungen
Fortsetzung
Philadelphia. — Werfen wir jetzt einen Rückblick auf den
allgemeinen Entwicklungsgang der ersten Versammlungen, so
entdecken wir zunächst den Rückschritt, dann sehen wir, wie
Satan sie vom Wege ablenkt, und endlich folgen Warnungen.
Hier in Philadelphia wird ein Überrest ermuntert. Was die
Getreuen hier kennzeichnet, ist, daß sie, obwohl sie im Besitz
einer nur kleinen Kraft sind, in inniger Verbindung mit dem
Herrn Jesu Christo selbst stehen. Das Kennzeichen der Väter
in Christo besteht, wie wir in dem ersten Brief des Johannes
lesen, darin, daß sie Den kennen, Der von Anfang ist. So ist
auch hier in Philadelphia allerdings nur eine kleine Kraft da,
aber der Name des Herrn wird nicht verleugnet. Das Sendschreiben an diese Versammlung, die Grundlage der ihr gemachten Eröffnungen, steht in Verbindung mit Christo. Es
handelt sich um Ihn Selbst, nicht um Macht. Aber wenn auch
alles im Verfall ist, wie in dem Brief des Johannes, wo es heißt,
daß schon viele Antichristen geworden seien (Kap. 2, 18), so
gibt es dennoch auch solche, welche fähig sind, die Verführer
zu unterscheiden; denn „der aus Gott Geborene bewahrt sich,
und der Böse tastet ihn nicht an". In dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit einer Wiederherstellung der Kirche hinsichtlich
23
einer offenbaren Macht ist es die Bewahrung des Wortes des
Ausharrens Christi, was die Versammlung in Philadelphia
kennzeichnet; und der Name des „Heiligen" und des „Wahrhaftigen'" ist ihr in ganz besonderer Weise aufgedrückt. In der
Art und Weise, wie Christus sich hier darstellt, findet sich
keine Macht, wie vorher in Sardes, wohl aber die unfehlbare
Gewißheit darüber, was Er in Seinem Charakter ist und darüber, was Er gesagt hat — Er, der „Heilige" und der „Wahrhaftige". Durch diese beiden Dinge können wir alles beurteilen.
Die Gläubigen sollten, da alles um sie her in einem schlechten
Zustande war, an der Einfalt, die in Christo ist, festhalten,
wie Johannes in seinem Brief sagt: „Dieser ist der wahrhaftige
Gott und das ewige Leben". Er und seine Mitapostel hatten
das ewige Leben in ihren Seelen empfangen, sie hatten Ihn
mit ihren Händen betastet und durch den Glauben angeschaut,
so daß sie bezeugen konnten, wer dieser „Wahrhaftige" war,
und auch zu sagen vermochten: „Dies ist der Heilige"; denn
Er ist nicht nur im Besitz der Macht, sondern Er ist auch der
Heilige.
Beachten wir ferner, daß die Charakterzüge Christi, die uns
hier vor Augen gestellt werden, keinen Teil der Herrlichkeit
Christi bilden, wie sie im ersten Kapitel der Offenbarung beschrieben wird, sondern daß sie sich auf Seinen moralischen
Charakter beziehen; und diesen Charakter weiß der im Glauben geübte Heilige zu der Zeit, auf welche sich das Sendschreiben bezieht, zu unterscheiden. Die Heiligen, von denen
hier die Rede ist, hatten das „Wort des Ausharrens Christi"
bewahrt, und wenn das Wort Gottes als solches geschätzt
wird, dann ist es der Charakter Christi Selbst, der die Seele
beherrscht. Seine Vorschriften erhalten Autorität für uns, und
Er leitet persönlich die Neigungen unserer Herzen; das Auge
ist einfältig und der Leib voll von Licht. So war es z. B. bei
Maria, als der Augenblick des Hingangs des Herrn herannahte.
Das Wort Gottes verbindet die Seele mit Christo, so wie Er
war und wie Er ist; es gibt uns einen geschriebenen Christus.
So lesen wir z. B. in Mt 5: „Glückselig die Armen im Geiste!"
— und wer war so arm im Geiste wie Christus? „Glückselig,
die reinen Herzens sind!'' — wer war so rein wie Er? „Glückselig die Friedensstifter!" — Er war der große Friedensstifter,
ja, der Fürst des Friedens Selbst.
24
Zunächst handelt es sich natürlich darum, Ihn als den lebendigen Christus zum Heil der Seele zu besitzen; hernach empfangen wir durch das geschriebene Wort das geistliche Verständnis von dem, was dieser Christus ist, indem das geschriebene Wort der einfache Ausdruck von Christo Selbst ist,
von Dem, der das Bild Gottes war, der „Fleisch ward und
wohnte unter uns, und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit". Und wenn wir so das Zeugnis
empfangen, das der Heilige Geist von Christo ablegt, dann
klammert sich das Herz an Ihn, als den „Heiligen" und „Wahrhaftigen". So beherrscht der Christus, wie wir Ihn im Worte
finden, unser Herz; wir möchten nicht ohne diesen geschriebenen Christus sein, oder uns von Ihm entfernen. Diese lebendige Verbindung mit einem lebendigen Christus ist unser einziger Schutz gegen solche, die uns verführen wollen. Ein heiliger Christus, in Dem wir die Wahrheit besitzen, ist die gesegnete, starke, moralische Burg der Seele, während ein mit
der Welt vermengtes und lebloses Christentum nichts gegen
die Verführung vermag, und die bekennende Kirche aus diesem Grunde unfähig ist, den einfachen Pfad zu unterscheiden.
Wenn unter den Christen nicht Glauben genug vorhanden ist,
um ohne die Welt voranzugehen, und deshalb allenthalben
Vermengung mit der Welt stattfindet, dann ist für den Treuen
ein heiliger und wahrhaftiger Christus der sichere Leiter und
die Stütze der Seele.
Dem Timotheus sagt Paulus: „und weil du von Kind auf die
Heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu
machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu
ist". Und gewiß kann es keine bessere Erkenntnis geben, als
die Erkenntnis Christi. Um diese handelt es sich hauptsächlich
im Brief des Johannes; der Vater in Christo hat „den erkannt,
der von Anfang ist"; er kann sagen, was der wahre Christus
ist, er kennt den Heiligen und Wahrhaftigen. Nicht Entwicklung tut not, sondern die Rückkehr zu der Einfalt in Christo,
Ihn wahrhaftig zu kennen, Der im Anfang geoffenbart wurde,
Ihn, Der von Anfang war. Wenn deshalb meine Seele mit dem
Christus des geschriebenen Wortes vereinigt ist, so ist der
Christus, den ich hienieden geliebt habe, Derselbe, Dessen
Ankunft ich zu meiner Aufnahme erwarte.
25
Das schöne Bild, das hier von dem Herrn entworfen wird,
ist ein anderes als das Bild des ersten Kapitels: „Seine Augen
wie eine Feuerflamme, und seine Füße gleich glänzendem
Kupfer, als glühten sie im Ofen" — fest, unwandelbar, ein verzehrendes Feuer im Gericht, so ist Er dort geoffenbart. Das
Bild aber, das der Versammlung von Philadelphia von Ihm
gegeben wird, steht in Verbindung mit Seinem moralischen
Charakter, wie wir ihn in dem geschriebenen Wort finden: Er
ist „der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel des David
hat, der da öffnet, und niemand wird schließen und schließt,
und niemand wird öffnen". Christus forscht hier nicht nach
Kraft in den Heiligen; Er zeigt Sich uns vielmehr in Seinem
eigenen, persönlichen und besonderen Dienst, Er hält Selbst
den „Schlüssel" in Seiner Hand, und dies gibt uns Vertrauen.
Wenn sich auch schäumende Wogen um uns her auftürmen
und die Predigt des Evangeliums untersagt zu werden droht,
so wissen wir dennoch, daß alles in Seiner Hand ist. Ich wünsche vielleicht, daß das Evangelium in dem einen oder anderen
Lande gepredigt werden möchte, allein die Hindernisse scheinen zu zahlreich und zu groß zu sein; da ist es denn mein
Trost, daß Christus den Schlüssel hat, und daß die ganze Macht
Gottes zu Seiner Verfügung steht. Etwas ähnliches finden wir
in Joh 10 in den Worten: „Diesem tut der Türhüter auf". Als
Jesus Selbst auf dieser Erde auftrat, wie uns dies in den Evangelien mitgeteilt wird, da war niemand imstande, Sein Zeugnis
zu hindern. Alle Mächte der Erde, die Pharisäer, die Gesetzgelehrten, die Hohenpriester, die Landpfleger, Pilatus und Herodes (diese Füchse), konnten kein einziges armes Schaf hindern, die Stimme des guten Hirten in den Tagen Seines Fleisches zu hören. So ist es auch heute noch, denn „Jesus Christus
ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit". Dies ist unsere
Zuversicht bei der Predigt des Evangeliums; denn trotz aller
Freiheit, die wir in unserem so hoch begünstigten Lande genießen, könnten wir dennoch auf kein einziges Jahr länger rechnen, wenn wir nicht die einfache Verheißung besäßen: „Ich
habe eine geöffnete Tür vor dir gegeben, die niemand zu
schließen vermag". So kann ich auch ohne Furcht in irgendein
anderes Land gehen, wie schwierig auch dessen äußere Verhältnisse liegen mögen, sobald ich sehe, daß Gott eine offene Tür
vor mir gegeben hat. Selbstredend müssen wir warten, bis der
26
Herr die Zeit für gekommen hält, die Tür zu öffnen. So sehen
wir z. B. bei Paulus, daß es ihm zu einer gewissen Zeit nicht
erlaubt wurde, das Wort in Asien zu reden, während wir ihn
später drei Jahre lang dort tätig finden, und der Herr Sich so
zu Seiner Arbeit bekannte, daß ganz Klein-Asien, in dessen
Hauptstadt Ephesus er eine Versammlung gründete, das Wort
Gottes hörte. Wir werden uns ohne Zweifel damit zufriedengeben müssen, im Glauben uns auf den Arm Dessen zu stützen, Der den Schlüssel hat, und unsere Seelen durch unser Ausharren zu gewinnen; denn stets werden Umstände vorhanden
sein, die unseren Glauben üben, und Gott wird diese erlauben,
um uns zu beweisen, daß wir nichts ohne Ihn tun können. Wir
werden dann entdecken, daß wir keine Kraft haben/
daß Gott
aber nadi Seiner eigenen Kraft unserer Schwachheit zu Hilfe
kommt, weil Er nicht anders kann, als dem Glauben, den Er
gegeben hat, zu antworten: „Ich habe eine geöffnete Tür vor
dir gegeben, die niemand zu schließen vermag". Dieses Wort:
„die niemand zu schließen vermag", hat mir oft große Zuversicht gegeben. Es ist eine köstliche Ermunterung, daß, wenn
Christus eine Tür geöffnet hat, niemand sie schließen kann,
weder Menschen, noch Teufel, noch böse Geister; und selbst
wenn wir nicht genug Kraft haben, die geöffnete Tür aufzustoßen, so ist sie doch für uns geöffnet. Die ganze Versammlung ist schwach, so schwach wie möglich, und zwar in einem
schlimmen Sinne; denn was für einen Glauben besitzen wir?
Wenn wir hören von einem kleinen Glauben, so zeigt Gott uns
Seine Macht. Aber wo hört man unter uns von der Kraft und
der Energie des Glaubens?
„Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, so
will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung".
Das besiegelt unsere Sicherheit und unsere Kraft. Es ist das
Ausharren Christi, denn auch Er wartet auf das Reich: „fortan
wartend, bis seine Feinde gelegt sind zum Schemel seiner
Füße". Wir warten wie Er und mit Ihm; aber hier ist es das
Wort des Ausharrens. Dieses Wort ist unser Gewährsmann
und unsere Sicherheit; Er führt uns durch das Wort in dieselbe Gesinnung und in denselben Geist ein, in dem Er Selbst
wartet, getrennt von der Welt und mit Ihm eins in derselben
Hoffnung, derselben Freude und demselben Glück, keine Ruhe
27
findend, bis auch Er Seine Ruhe gefunden hat. — Das Wort
leitet unsere Gedanken, indem es uns Seine Gedanken mitteilt
und uns in dieselbe Erwartung einführt, die Er hat. Möchten
wir nur in diesen letzten gefährlichen Zeiten das Wort des
Ausharrens Christi festhalten! Unsere Kraft gegen den Widersacher ist die Erkenntnis, die wir von Christo Selbst haben,
nicht in Seiner kirchlichen Macht, sondern indem wir Ihn
kennen als den Heiligen und Wahrhaftigen, indem wir warten
wie Er, von der Welt getrennt, indem wir Sein Wort bewahren
und für Ihn leben, wissend, daß Er uns aus der Versuchung,
die über die Welt hereinzubrechen droht, herausnimmt. Mittlerweile ist trotz allem die geöffnete Tür des Dienstes unser
Teil.
Indem wir so mit Ihm verbunden sind, haben wir dasselbe
Teil wie Er. Da wir im Geiste nicht auf der Erde wohnen, sondern mit Ihm warten, läßt Er uns nicht durch die Stunde der
Versuchung hindurchgehen, welche alle sichten wird, die ihre
Heimat hier auf Erden haben. Die Menschen dieser Welt werden durch die Macht des Feindes und die Drangsal, die von
seiten Gottes über sie kommt, in Bestürzung geraten; für diejenigen unter den Seinigen aber, die an dieser Welt hängen,
wird Er die Welt so zur Qual machen, daß sie nicht länger damit verbunden bleiben können. Diesem allem entrinnt der
Heilige von Philadelphia; er kann seine Augen zum Himmel
und zu dem himmlischen Christus erheben, Dem er angehört,
und das mit Ihm verbundene Herz weiß, daß Christus es nicht
täuschen wird, sondern daß Er, sobald Er Sich erhebt, um
Seinen Platz der Welt gegenüber einzunehmen und Seine
Macht gegen sie zu offenbaren, Seine Geliebten zu Sich nehmen
wird, auf daß sie bei Ihm seien, der Hoffnung gemäß, die Er
ihnen gegeben hat. Halten wir uns nur einfach an das geschriebene Wort Gottes, so können wir vor aller Macht unserer
Gegner standhalten; nicht als ob wir ihre Gegner wären, Gott
wolle uns davor bewahren! Aber in unserem Herzen möge
das Bewußtsein lebendig sein, daß der Herr uns anerkennt;
mögen wir mit unseren Herzen uns so in der Nähe Gottes
befinden, daß wir Sein Wort, eben weil es Sein Wort ist, zu
unserem Führer nehmen! Dann wird die Macht Christi, diese
Seine Kraft, in unserer Schwachheit vollbracht werden. Was
die wahren Heiligen in der gegenwärtigen Zeit charakterisiert,
28
ist das geschriebene Wort Gottes, das dem Herzen den Charakter und den Namen Christi als Wahrheit und Heiligkeit
mitteilt. Indem sie so in Gemeinschaft mit Dem wandeln,
welcher „der Heilige und der Wahrhaftige" ist, sind sie geborgen.
„Siehe, ich gebe aus der Synagoge des Satans von denen,
welche sagen, daß sie Juden seien, und sind es nicht, sondern
lügen; siehe, ich werde sie zwingen, daß sie kommen und sich
niederwerfen vor deinen Füßen und erkennen, daß ich dich
geliebt habe". Hier begegnen wir Personen, die einen entgegengesetzten Charakter tragen, und der Herr spricht sehr
deutlich über sie. Er schont sie in keiner Weise: sie sind die
Synagoge Satans. Worauf machten diese Juden Anspruch? Sie
beriefen sich auf alles, was ihnen äußerlich ein religiöses Recht
zum Regieren, zum Befehlen in Sachen der Wahrheit gab,
nämlich auf das Alter und die von Gott eingesetzten Satzungen, die ihnen wirklich anvertraut und der Beweis waren, daß
sie das wahre und einzige Volk Gottes, das von Gott eingesetzte Priestertum bildeten. Sie machten Anspruch darauf, die
einzigen berechtigten Verwalter der Segnungen Gottes und im
Besitz Seiner Aussprüche zu sein; sie behaupteten auch, Eifer
für Gott zu haben. Außer ihnen besaß niemand diese Vorrechte. Wo sollte man also anders das ewige Leben finden?
Doch wenn die Autorität Christi im Herzen anerkannt wird,
dann gilt das Wort: „Dies habe ich euch geschrieben, auf daß
ihr wisset, daß ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubet an den
Namen des Sohnes Gottes". Wenn Gott uns das ewige Leben
in Christo gegeben hat, so bedürfen wir derjenigen nicht, die
sich anmaßen, die ausschließlichen Verwalter des ewigen Lebens zu sein; wir können auch nicht gestatten, daß irgend
etwas zwischen uns und Ihn trete und uns von Ihm trenne;
wir können nicht von Christo weggehen, und den wahren
Christus haben wir im Worte gefunden, noch von etwas anderem reden, als von dem, was wir gesehen und gehört haben.
Wer mich anderswo hinführen möchte, den kann ich mit Leichtigkeit als der Synagoge Satans angehörend erkennen. Es mag
sein, daß solche Personen jetzt Erfolge haben; ich aber will
mit Christo warten und das Wort bewahren, worin Er mich
anweist, mit Ihm zu warten, bis Er kommt und die Segnung
und die Herrlichkeit offenbart.
29
Wenn Gott uns nun das ewige Leben gegeben hat, so sollten
wir uns in gar keine Erörterungen mit denen einlassen, die der
Synagoge Satans angehören, als ob sie irgendein Recht von
Gott hätten, denn sie haben keins; vielmehr haben wir zu
beurteilen, ob wir ihnen oder Gott Gehorsam schuldig sind.
Wir haben den „Heiligen und den Wahrhaftigen", und „das
Geheimnis Jehovas ist für die, welche ihn fürchten". Die Heiligen in Philadelphia sollten nicht mit dieser Synagoge Satans
streiten; und obwohl sie nur eine kleine Kraft und kein Ansehen hatten, so sollten sie dennoch ihre Seelen durch ihr Ausharren gewinnen, weil Christus Seine Liebe zu ihnen angesichts ihrer Gegner offenbaren wollte. Die Synagoge Satans
war eine Religion des Fleisches, die sich auf äußere Dinge, auf
alles, was die Natur als religiös für sich in Anspruch nehmen
kann, auf Werke, Satzungen und dergleichen stützte, indem
ihre Bekenner den Platz der Juden, wie sie zur Zeit des Apostels Paulus auftraten, einnahmen und behaupteten. Heutzutage ist es in geistlicher Beziehung noch genau so. Aber: „Ich
werde machen, daß sie . . . erkennen,daß ich diel: geliebt habe".
Der griechische Text legt besonderen Nachdruck auf die Wörtchen „ich" und „dich". Die Frage ist jetzt einfach: Ist mir
Christus genug? Ist die Anerkennung von Seiten Christi für
mich ein genügender Beweggrund, mein Betragen zu leiten?
Wenn diese Anerkennung nicht genügt, um eine Seele zu befriedigen, so kann diese Seele niemals richtig wandeln.
„Ich komme bald, halte fest, was du hast", nämlich „das
Wort meines Ausharrens". Der Herr sagt gleichsam: „Ich
warte, und ihr müßt warten". Er wartet, bis Seine Feinde gelegt sind zum Schemel Seiner Füße. Anstatt unsere Bequemlichkeit zu suchen, haben wir zu warten, bis Er auf den Schauplatz tritt, gleichwie Er stets wartete, bis Sein Vater eingriff,
und wie Er jetzt wartet, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner
Füße gelegt werden. Ich möchte an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, welchen hervorragenden Platz das Wort
mein in diesem Sendschreiben hat. Wir sehen darin die praktische Einsmachung der Gläubigen mit dem „Heiligen und
Wahrhaftigen"; wir, die wir mit Ihm warten, verworfen von
denen, die alle Satzungen und das Alter für sich haben, werden Mitteilnehmer Seiner Herrlichkeit sein. Das Wort mein
30
steht in besonderer Weise in Verbindung mit allem, was in
der Herrlichkeit ist. Ihr wäret schwach im Zeugnis hienieden,
aber ihr habt „das Wort meines Ausharrens" bewahrt, und
ihr werdet eine „Säule" der Kraft sein „in dem Tempel meines
Gottes". Ich will auf euch schreiben den Namen meines Gottes
und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalem,
das aus dem Himmel herniederkommt von meinem Gott, und
meinen neuen Namen. Diese Einsmacrvung mit Christo im
Ausharren, ja in allem, ist voll des höchsten Interesses und
der tiefsten Belehrung.
Der Herr gebe uns Gnade, in der Kraft des Geistes zu wandeln! Er gebe uns, daß unsere Herzen so auf Ihn gerichtet
seien, wie Er als der Heilige und Wahrhaftige geoffenbart ist,
indem wir das Wort Seines Ausharrens bewahren, damit Seine
Anerkennung unsere ewige Belohnung sei! Möge Er uns getrennt erhalten von der Welt, über die Er zum Gericht kommen wird! Wie ganz anders ist es, etwas zu erwarten, das
gleich einem gezückten Schwert über dem Haupte hängt, oder
aber Christum so zu kennen, Ihn so völlig als den Gegenstand
unserer Wünsche und unserer Liebe zu besitzen, daß, wenn
Er sagt: „Ja, ich komme bald!" die unmittelbare Antwort
unserer Herzen ist: „Amen! Komm, Herr Jesu!"
Wir haben uns am vorigen Abend die allgemeinen Charakterzüge der Versammlung zu Philadelphia vergegenwärtigt, so
weit es nötig war, um den Zusammenhang dieser Versammlung mit der vorigen (Sardes) zu zeigen. Mit des Herrn Hilfe
werden wir heute die Einzelheiten der Versammlung von Philadelphia betrachten. Da ist zunächst als ein Hauptzug hervorzuheben, daß es sich in diesem Sendschreiben um eine besondere Segnung handelt, einem besonderen Bedürfnis gegenüber.
Nachdem wir in den vorhergehenden Versammlungen die Entfaltung des schrecklichen Bösen gesehen, haben, finden wir
jetzt bei Philadelphia nur Barmherzigkeit und Segnung.
Es ist sehr köstlich, zu bemerken, daß Gott Sein Volk, so
arm und schwach es auch sein mag, selbst wenn die Getreuen
sich auf einen Überrest von einzelnen Personen beschränken,
nie vergißt. Sein Auge ruht stets auf ihnen, um ihnen aus
Seinen eigenen Hilfsquellen darzureichen, wie und wann sie
es bedürfen, in einer Zeit, wo alles um sie her so dunkel wie
31
möglich ist. Wenn beide, Kirche und Welt, sich in einer Finsternis befinden, daß man sie mit Händen greifen kann, so
besitzen die wenigen Getreuen am meisten „Licht in dem
Herrn". Denn das Leben des Glaubens wird stets durch die
treue Gnade Christi in einer Weise genährt und unterstützt,
die im Verhältnis steht zu der Macht, die sich dem Glauben
entgegenstellt, und zu den Schwierigkeiten, die es durchzumachen gibt. Es ist eine andere Frage, in welchem Maße der
Herr Sich in dieser Zeit des Verfalls Seines Volkes als Zeugnis
bedienen kann; dies wird Seine Weisheit entscheiden. Ein
Beispiel hiervon sehen wir in Israel, wie wir dies schon früher
bemerkten. Die Sünde des Volkes bei Gelegenheit der Aufstellung des goldenen Kalbes fand ihre Antwort in der inneren
geistlichen Kraft bei Mose, als er das Zelt außerhalb des Lagers
aufschlug. Und als späterhin der Baalsdienst öffentlich anerkannt und eingeführt war, erweckte Gott Elias und Elisa mit
gewaltigen äußeren Offenbarungen der Macht, während die
siebentausend Getreuen damals von Gott verborgen waren.
Der Herr mag es nicht für gut finden, das, was gefehlt hat, mit
der äußeren Ehre des Zeugnisses zu bekleiden; aber Er verleiht die nötige Gnade und die innere Macht des Lebens, um
die einzelne Seele zu unterstützen, und diese Gnade, die im
Blick auf die jetzigen Heiligen von dem verherrlichten Haupte
zur Erhaltung des Leibes auf Erden ausströmt, kann nie fehlen.
So mögen z. B. jene Gaben in der Versammlung, die zuweilen
„Wundergaben" genannt werden — wie Sprachen, Gaben der
Heilungen usw. — und die der Versammlung als ein Zeugnis für
die Welt und als Zeichen für die Ungläubigen gegeben waren,
verschwunden sein; aber die Gaben, die zur Erhaltung der
Glieder des Leibes von dem Haupte herabfließen, können nie
zurückgezogen werden; „denn niemand hat jemals sein eigenes
Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pflegt es, gleichwie auch
der Christus die Versammlung".
Im Brief an die Epheser, wo die Versammlung in besonderer
Weise als der Leib Christi dargestellt ist, wird von den Gaben
gesagt, daß sie der Versammlung „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des
Leibes Christi" gegeben sind. Hier werden die Wundergaben
mit keinem Worte erwähnt, während wir im Korintherbrief von
„Gaben der Heilungen", „Arten von Sprachen", „Auslegung
32
der Sprachen" usw. lesen. Wir finden also in der Schrift zwei
bestimmt unterschiedene Arten von Gaben, zunächst die Wundergaben, d. h. öffentliche Zeichen, die der Versammlung zum
äußeren Zeugnis gegeben waren, damit eine ungläubige Welt
dadurch angezogen werde; und dann jene Gaben, die von dem
Haupt zur Ernährung des Leibes ausströmen. Diese Ernährung
muß stets fortdauern, sei es in Verbindung mit einem äußerlichen Zeugnis, oder daß sie unmittelbar von Christo Selbst
durch die Wirksamkeit Seiner Gnade ausgehe; nie aber wird
diese von dem Haupt ausströmende Gnade fehlen. Und gerade
dies ist es, was in der Versammlung von Philadelphia zutagetritt; denn was sie kennzeichnet, ist Schwachheit, ein offenbarer Mangel an Kraft, aber ein um so näheres Verhältnis zu
Ihm, der die Kraft ist, ein höherer Grad von Liebe zu dem
Herrn, eine größere Innigkeit der Gemeinschaft und endlich
ein viel bestimmteres Einssein mit Ihm in den ihr gegebenen
Verheißungen.
Die Versammlung zu Philadelphia ist gekennzeichnet durch
ihre Schwachheit, ohne daß der Herr jedoch einen Tadel für sie
hat. Und wir müssen uns stets daran erinnern, mag Gott durch
äußerliche Entfaltung Seiner Macht, durch Gaben der Heilungen, durch Sprachen und dergleichen der Welt gegenüber ein
Zeugnis geben, oder mögen diese alle aufgehört haben — daß
in dem Bewußtsein der Schwachheit stets eine hinlängliche
Kraft liegt, vorausgesetzt, daß es mit dem Glauben vermischt
ist. Das Herz mag bei diesem Bewußtsein der Schwachheit
beklommen sein, ohne daß gerade Unglauben zugrundeliegt.
In dem Herrn Jesu war dies Bewußtsein der traurigen Szene
um Ihn her in hohem Maße vorhanden, und Er gab dem in
den Worten Ausdruck: „Jetzt ist meine Seele bestürzt, und
was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde!" Aber
gerade dieses Gefühl war es, das Ihn unmittelbar mit Seinem
Vater verband.
Bei uns ist es leider nur zu oft der Fall, daß wir uns so sehr
mit den traurigen Umständen um uns her einlassen und unsere
Seelen mit den Gegenständen der Trauer beschäftigen, daß wir
in Gefahr kommen, zu zweifeln, ob Gott auch imstande sei, in
dieser Not zu helfen. Statt zu sagen: „Bei der Menge meiner
Gedanken in meinem Innern erfüllten deine Tröstungen meine
33
Seele mit Wonne", sind wir in der Menge unserer Gedanken
nur damit beschäftigt, zu ratschlagen, was zu tun ist; und indem wir so auf die Umstände blicken, sowie auf das, was wir
in uns finden, und uns damit beschäftigten, lassen wir Gott
ganz aus dem Spiel. So handelte der Herr Jesus aber nie. Sobald die Stunde der Angst vor Seine Seele trat, rief Er aus:
„Vater, rette mich aus dieser Stunde!" Wenn wir uns in einer
anderen Weise mit unserer Schwachheit beschäftigen, als daß
wir dadurch zu dem unmittelbaren Gefühl der Kraft Gottes
gebracht werden, in welcher Er mit uns und für uns ist, so ist
es Unglauben. Zudem liegt unsere Kraft nicht in dem Gefühl
der Größe der Gaben und Offenbarungen Gottes; denn Zeichen und Wunder teilen keine innere Kraft mit. Wohl können
sie uns in Zeiten der Prüfung Sein Wort bestätigen, nie aber
verleihen sie innere Kraft. Es ist sehr wichtig, dies recht zu
verstehen. Nehmen wir als Beispiel den Apostel Paulus. Er
wurde in den dritten Himmel entrückt und hörte dort
Worte, welche der Mensch nicht sagen darf. Dies war etwas
Außerordentliches, und die Seele des Paulus fand ohne
Zweifel in der Erinnerung daran eine Art von Halt in den
mannigfachen Prüfungen seines Weges; aber innere Kraft verlieh es ihm nicht. Im Gegenteil, sein Fleisch würde sich, ohne
die allmächtige Bewahrung Gottes, erhoben haben, und das ist
nicht Kraft. Als er aber etwas empfing, das ihn zum Bewußtsein seiner eigenen Schwachheit brachte, da konnte sich die
Kraft Gottes geltend machen. Und so verhält es sich mit uns;
unsere Herzen sind so trügerisch, und unser Fleisch ist so
schlecht, daß, wenn wir nicht darüber wachten, wir alles mißbrauchen würden, was Gott uns kundmacht. Wir brauchen
uns nicht bei der Frage aufzuhalten, worin jener „Dorn im
Fleische" für Paulus bestand, obwohl man oft aus bloßer Neugierde viel darüber nachgeforscht hat; es ist für uns von viel
größerer Bedeutung, zu bemerken, daß jeder von uns einen
besonderen Dorn haben wird, je nach der Gefahr, der er ausgesetzt ist. So viel wissen wir aus Gal 4, 13. 14, daß es etwas
war, was ihn dem Fleische nach verächtlich machen konnte,
und so in seinem Dienste eine fühlbare Schwachheit hervorrief. Deshalb schrie Paulus dreimal zum Herrn, daß Er es wegnehmen möchte, aber der Herr antwortete ihm: „Meine Gnade
genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht".
34
Paulus mußte diese Schwachheit fühlen, um zu lernen, wo die
wahre Kraft war; und dann konnte er sich seiner Schwachheit
rühmen, auf daß die Kraft Christi in ihm wohnte, wie er sagt:
„Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark". Der Blick auf
Gott verleiht immer Kraft; wenn aber unser Geist bei seiner
Schwachheit stehen bleibt, statt sie vor Gott zu bringen, dann
ist das Unglauben. Schwierigkeiten mögen sich erheben, und
Gott mag gestatten, daß mancherlei kommt, was unsere
Schwachheit an den Tag bringt; allein der einfache Weg des
Glaubens besteht darin, daß wir vorangehen, ohne im voraus
zu untersuchen, was wir zu tun haben, indem wir auf die
Hilfe rechnen, die wir nötig haben und auch finden werden,
sobald es an der Zeit ist. Im Bewußtsein unseres eigenen
Nichts sind wir glücklich, uns selbst vergessen zu dürfen, und
dann wird Christus alles für die Seele. Wenn wir den einfachen Weg des Gehorsams verfolgen in dem, was uns zu tun
obliegt, dann ist wirkliche Kraft für uns vorhanden, worin
auch die Prüfung bestehen mag. So verhielt es sich mit David,
als er kämpfen mußte. Er sagte zu Saul: „Jehova, der mich
errettet hat aus den Klauen des Löwen und aus den Klauen des
Bären, er wird mich aus der Hand dieses Philisters erretten".
Für David war es nicht wichtig, ob es sich um den Löwen, den
Bären, oder den Riesen der Philister handelte; das alles war
für ihn gleich, denn in sich selbst war er ebenso schwach dem
einen wie dem anderen gegenüber; doch er geht ruhig voran
und tut seine Pflicht, in der vollen Gewißheit, daß Gott mit
ihm sein werde. Das ist Glauben. Einen völligen Gegensatz
hierzu finden wir in dem Unglauben der von Mose ausgesandten Kundschafter. Sie sagten zitternd, daß sie wie Heuschrekken gewesen seien in den Augen ihrer Feinde, und vergaßen
so völlig, was Gott für sie war. Sie stellten sich selbst den
Kindern Enaks gegenüber, statt diese Gott gegenüberzustellen.
Sehe ich aber einfach auf den Herrn, so „vermag ich alles in
dem, der mich kräftigt". Wenn die Schwierigkeiten kommen,
dann sollte unser Blick nicht auf uns, sondern in dem Bewußtsein, daß wir nichts als Schwachheit sind, einfach auf den Herrn
gerichtet sein, in welchem alle Kraft für uns ist.
In Philadelphia sehen wir offenbare Schwachheit, zugleich
aber auch Treue. Es kann scheinbar eine große Kraft vorhan35
den sein und dennoch ist es nichts als Schwachheit; es kann,
wie der Heilige Geist zu den Korinthern sagt, die Gabe, mit den
Sprachen der Menschen und der Engel zu reden, das Verständnis aller Geheimnisse und alle Erkenntnis vorhanden sein,
und doch zugleich die allergrößte Schwachheit herrschen, weil
dies alles nicht in Gemeinschaft mit Gott ausgeübt wurde. Es
gibt keinen gefährlicheren Zustand, als wenn die äußere Kundgebung von Kraft die innere Verbindung und Gemeinschaft
der Seele mit Gott überschreitet; das innere Leben muß in
Übereinstimmung sein mit der äußeren Entfaltung der Kraft.
„Dieses sagt der Heilige, der Wahrhaftige". Wir sehen hier
in Philadelphia den Herrn in Seinem moralischen Charakter,
nicht aber in Seiner persönlichen Macht als Sohn Gottes. Sein
Charakter als „der Heilige, der Wahrhaftige" ist der Maßstab
des Gerichts über alles, was mit Ihm nicht übereinstimmt; zugleich aber paßt Er sich auch als solcher in Gnade der Lage und
den Bedürfnissen Seiner Getreuen an und gibt ihnen durch
Seine Wahrheit die Fähigkeit des Urteils, die Sicherheit des
Herzens und das Vertrauen. Ihm stehen auch zu Gunsten der
Versammlung solche Mittel zu Gebote, daß, wenn Er eine Tür
öffnet, niemand zu schließen, und wenn Er sie schließt, niemand zu öffnen vermag. Wir finden hier also zweierlei: Zunächst ist Er für alle, die Ihm vertrauen, der Heilige und der
Wahrhaftige; und dann besitzt Er, obwohl wir hier nicht die
wirkliche Entfaltung der Gewalt sehen, den Schlüssel der Gewalt, wie Jehova von Eljakim zu Schebna (Jes 22, 22) sagt:
„Und ich werde den Schlüssel des Hauses Davids auf seine
Schulter legen, er wird öffnen und niemand wird schließen,
und er wird schließen und niemand wird öffnen". Wo sich
also jene Schwachheit findet, ermuntert Er die Versammlung,
auf Ihn, den Heiligen, den Wahrhaftigen, zu blicken und Ihm
zu vertrauen; und wo Sein Recht, zu öffnen und zu schließen,
der Stützpunkt der Seele ist, wo dieses Vertrauen auf Seine
Person, diese Gleichförmigkeit mit Seinem Charakter vorhanden ist, da ist die Versammlung in völliger Sicherheit. Was
sich auch ereignen möge, selbst wenn die Macht des Menschen
und des Satan bis zum äußersten ginge — ruhe ich in Christo,
der vollkommen wahrhaftig ist, und hat Er eine Tür vor mir
geöffnet, so kann weder Mensch noch Teufel sie schließen.
36
Diese Stellung der Versammlung zu Philadelphia hat eine
überraschende Ähnlichkeit mit der Stellung des Herrn, als Er
hienieden war: Alles suchte vor Ihm die Tür zu versdiließen:
Pilatus, Herodes, Schriftgelehrte, Pharisäer und das ganze Volk
der Juden. Auch befand Er sich, gleich der Versammlung in
Philadelphia, inmitten einer Ordnung von Dingen, die Gott
einst eingesetzt hatte, die aber in gänzlichen Verfall geraten
war; denn zur Zeit Christi war keine Bundeslade da, kein Urim
und Thummim, keine Schechinah (die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes im Tempel); alles, was die sichtbare Entfaltung der
Macht und des Zeugnisses ausgemacht hatte, war verschwunden, und statt daß Jehova in Jerusalem einen Thron gehabt
hätte, waren die Juden selbst unter die Macht der Nationen
geraten, waren Sklaven eines menschlichen Thrones geworden.
Gerade dieses Verhältnis machte die Frage der Pharisäer und
Herodianer: „Was denkst du: Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer
zu geben oder nicht?" so überaus spitzfindig. Hätte der Herr
mit „nein" geantwortet, so würde Er damit die Strafe Gottes
wegen ihrer Sünden geleugnet haben; hätte Er ihre Frage
bejaht, so würde das einem Aufgeben Seiner Rechte als Messias
gleichgekommen sein. Doch Er erkannte ihre Bosheit, und Seine
Antwort ließ sie verstummen. Ihre Bedeutung war: Da ihr euch
wegen eurer Sünden unter diese Herrschaft gebracht habt, so
müßt ihr euch jetzt deren Gesetzen unterwerfen. Er erklärt damit nicht allein, daß die Gewalten, welche sind, von Gott verordnet sind, und wir uns ihnen als solchen zu unterwerfen
haben, sondern hier in dem Fall Israels würde Er, wenn Er
anders geantwortet hätte, verneint haben, daß die Strafe Gottes
wegen ihrer Sünden über sie gekommen war, wie geschrieben
steht: „Siehe, wir sind heute Knechte . . . um unserer Sünden
willen".
Der Herr Selbst unterwarf Sich der Entrichtung der Tempelsteuer. Aber wenn auch Israel — als Volk — Gott gegenüber
nicht treu geblieben war, so konnte doch Gott Seine Treue
gegen das Volk nicht verleugnen; denn Sein Geist wohnte in
ihrer Mitte (vergl. Haggai 2, 5). Deshalb gab es auch einen
kleinen Überrest in Israel, wie z. B. Hanna und Simeon, der auf
die Erlösung in Israel wartete. Es herrschte also ein Zustand
gänzlicher Finsternis in Israel, und als Der, welcher das Licht
war, erschien, wurde Er alsbald verworfen. Aber war nun die
37
Tür vor Ihm verschlossen? Nein, — sondern: „diesem tut der
Türhüter auf" (Joh 10, 3). Christus ging durch die Tür in den
Schafhof ein und stieg nicht wie die, welche vor Ihm diesen
Platz beansprucht hatten, anderswo hinüber. Er betrat, indem
Er in göttlicher Macht wirkte, den von Gott bezeichneten Weg,
und niemand konnte die Tür vor Ihm verschließen. Ebenso hat
Gott auch uns den Weg bezeichnet; Christus sagt von Sich
Selbst: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich eingeht, so
wird er errettet werden".
Alles was unsere Stellung mit Christo, als einem Beispiel
und Muster, verbindet, ist in Wahrheit eine Segnung für uns.
Hat es wohl je einen Menschen gegeben, der in allem eine so
unwandelbare, demütige Treue Gott gegenüber bewies, wie Er?
Vergleichen wir z. B. Seinen niedrigen Pfad mit dem Pfad des
Elias. Elias übte seinen Dienst mit großer äußerlicher Machtentfaltung aus, indem er Feuer vom Himmel herabfallen ließ,
um die Propheten Baals zu vernichten; und er meinte, er sei
allein Gott treu geblieben, während Gott noch siebentausend
kannte, die ihre Knie vor Baal nicht gebeugt hatten; aber Elias
hatte sie nicht entdeckt. Christus dagegen war zufrieden, nichts
zu sein in einer Welt, wo der Mensch alles war und wo Gott
ausgeschlossen war; Er ließ es über Sich ergehen, als Auskehricht der Welt behandelt zu werden. Und doch gab es zu gleicher Zeit kein einziges verlorenes Schaf vom Hause Israel,
(mochte es auch der verworfenste Sünder, das Weib von Samaria, die Ehebrecherin, oder ein Zöllner sein) das Seine Stimme,
die Stimme des guten Hirten, nicht erreicht, oder das Sein Auge
nicht entdeckt hätte. Deshalb stellt Er, kraft dieser Seiner Erniedrigung, alle, die jetzt nur jene „kleine Kraft" besitzen, an
denselben Platz, den Er eingenommen hat; und gleichwie der
Türhüter Ihm aufgetan hat, so tut Er jetzt auch ihnen die Tür
auf, die niemand zu schließen vermag.
Wir warten auf die Herrlichkeit: „die Herrlichkeit, die du mir
gegeben hast, habe ich ihnen gegeben"; aber während wir so
warten, müssen wir einen Schauplatz durchschreiten, der gleichsam die Überschrift „Ikabod" (Nicht-Herrlichkeit; vergl. 1.
Sam 4, 21) trägt. Das Zeugnis der gegenwärtigen Verwaltung
ist, was seine öffentliche Macht anlangt, dahin, um nie wiederhergestellt zu werden. Was der Herr jetzt Seinen Heiligen einschärft, ist, daß sie nicht denken sollen, daß ein Übel, wie das38
jenige von Thyatira und Sardes, je wieder geordnet werden
könne. Er sagt nur: „Ich komme bald; halte fest, was du hast,
auf daß niemand deine Krone nehme"; das heißt: Bewahre das
Wort meines Ausharrens, bis ich komme. Wir befinden uns
also in Umständen, die denen des Herrn ähnlich sind, und wenn
Er sagt: „Ich komme bald", so geschieht dies, um unsere Stellung der Seinigen um so ähnlicher zu machen, eine Stellung, die,
wenn sie mit Prüfungen und Demütigungen verbunden ist, eine
sehr segensreiche ist, indem sie der Stellung völlig gleicht, die
Jesus einnahm und welche dieselbe Verheißung hat: eine geöffnete Tür, die niemand zu schließen vermag. Der Glaube ist
nötig für die gegenwärtige Zeit. Es handelt sich nicht um viel
Kraft; was wir am meisten bedürfen, ist mehr Ähnlichkeit mit
der Stellung Christi.
Dann gibt es noch etwas anderes, was der Versammlung zu
Philadelphia eigentümlich ist. Der Herr beschäftigt Sich nicht
damit, ihre Werke zu prüfen, sondern Er stellt die Herzen dieser Armen und Schwachen zufrieden mit dem Bewußtsein, daß
Er sie kennt. Bei den früheren Versammlungen war es anders;
dort hob Er stets den Charakter ihrer Werke hervor. So sagt Er
zu Sardes: „Ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor
meinem Gott". Für uns aber genügt es, zu wissen, daß Er unsere Werke kennt. Welch ein Trost ist das für uns! Ach! wenn
wir nach Vollkommenheit zu suchen hätten, wie schwer würde
es uns werden, Rechnung abzulegen! Die gegenwärtige Verwirrung, der schwache Glaube, alles das würde uns verzagt
machen; denn unsere Werke entsprechen in Wirklichkeit durchaus nicht der empfangenen Gnade. Wohl ist viel Tätigkeit vorhanden, viel, was von Seiten des Menschen Beifall finden kann;
wenn wir aber den allgemeinen Charakter des Dienstes betrachten, wie schwer ist es dann, etwas zu finden, das Gottes
Beifall haben könnte. Im Blick auf den allgemeinen Zustand der
Dinge um uns her und denjenigen der Versammlung Gottes
Selbst würden unsere Herzen ganz und gar verzagen müssen,
wenn wir unsere Zuflucht nicht zu der gesegneten Wahrheit
nehmen könnten, daß Christus alles weiß.
Doch sagt der Herr, daß gar nichts bei ihnen vorhanden sei?
O nein; Er sagt: „Du hast mein Wort bewahrt". Das, was
Christum charakterisierte, muß auch das Kennzeichen der Versammlung Gottes sein. Christus konnte sagen: „In meinem
39
Herzen habe ich dein Wort bewahrt", und dies ist auch das
besondere Kennzeichen der Treue in den letzten Tagen. Paulus
schreibt an Timotheus, daß in den letzten Tagen schwere Zeiten
kommen und eine schreckliche Form der Gottseligkeit ohne
Kraft vorhanden sein würde — denn schon damals war das
Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam — und daß „böse Menschen und Gaukler im Bösen fortschreiten" würden. Den einzigen Schutz gegen dieses Übel bezeichnet der Apostel mit den
Worten: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt
hast, und weil du von Kind auf die Heiligen Schriften kennst",
— jenes einfache, geschriebene Wort, das wir die Bibel nennen
und das er von Jugend auf gelesen hatte. Die Sicherheit sollte
nicht in der Kundgebung äußerer Macht, noch in Zeichen und
Wundern bestehen, sondern einfach und allein in dem geschriebenen Wort. Dies war das Mittel der Segnung, dies die von
Timotheus anerkannte Autorität. Selbstverständlich war die
Gnade Gottes zu seiner Bekehrung notwendig gewesen.
Ich erwähne dies hier, weil das treue Festhalten an dem Wort,
an der unbedingten Autorität des Wortes Gottes Selbst, in diesen letzten Tagen die einzige Sicherheit bietet. Das war es, was
Timotheus als Kind in den Schriften gefunden hatte; und diesem war natürlich das hinzugefügt worden, was er von den
gleichfalls inspirierten Aposteln gelernt hatte, und was auf
diese Weise für ihn zu einer gekannten und unmittelbar göttlichen Autorität in einer Person wurde — „du weißt", sagt der
Apostel, „von wem du gelernt hast" — und was seitdem für
uns das geschriebene Wort geworden ist. Dieses geschriebene
Wort Gottes ist es, in dem für uns durch die Gnade alle Sicherheit liegt.
Der Herr sagt nicht zu Philadelphia: „Ihr habt Kraft", wohl
aber: „ihr habt mein Wort bewahrt"; auch sagt Er nicht: „ihr
habt mich unter diesem oder jenem Charakter gekannt", sondern: „ihr habt „meinen Namen nicht verleugnet". Der Name
des Herrn bedeutet immer die Offenbarung dessen, was Er ist.
Der Herr sagt hier gleichsam: Da du an mir festgehalten hast,
so wie ich mich geoffenbart habe, so will ich machen, daß die,
welche einen falschen Namen und falsche Ansprüche haben,
„kommen und sich niederwerfen vor deinen Füßen und erkennen, daß ich dich geliebt habe".
40
i
Hier sehen wir die beiden Charaktere einander gegenübergestellt. Beachten wir auch den Nachdruck, der auf dem Worte
„mein" liegt. Ich bin berufen, mich auf das Wort Christi zu
stützen. „Mein Wort" sagt Er; es ist das Wort Christi Selbst,
die persönliche Gemeinschaft mit Ihm Selbst, nicht das Wort
der Kirche. Würde ich z. B. das Wort der Kirche annehmen, so
schriebe ich dadurch der Kirche Autorität zu; ist es aber das
Wort Christi, das ich annehme, so besitze ich die Autorität
Christi Selbst, und durch dieses Wort muß ich alles, auch wenn
es die Kirche selbst betrifft, beurteilen. Das Wort Christi verbindet uns mit Ihm, mit Seinem Namen und mit Seiner Person,
und beides ist für uns ganz besonders nötig, um uns in den
Stand zu setzen, den verführerischen Mächten zu widerstehen,
welche, wie wir wissen, ein Charakterzug dieser letzten Tage
sind; wie geschrieben steht: „Böse Menschen aber und Gaukler
werden im Bösen fortschreiten"; und: „dieses habe ich euch von
denen geschrieben, die euch verführen."
Wenn es sich um den allgemeinen Charakter der Zeiten handelt, so wissen wir, daß wir jetzt eine verführerische Macht zu
erwarten haben. Ein bestimmter, persönlicher Antichrist wird
erscheinen, um diese Macht der Verführung in ganz besonderer
Weise zu offenbaren; aber „auch jetzt sind viele Antichristen
geworden", und deshalb haben wir „für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen". Wenn der, dessen
Ankunft nach der Wirksamkeit Satans ist, in aller Macht und
Zeichen und Wundern der Lüge diejenigen betrügen wird, die
verloren gehen, „darum daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht
annahmen, damit sie errettet würden", so tut es uns not, an
dem festzuhalten, was uns vor ihm, der als ein Engel des Lichts
erscheint, allein bewahren kann; die aber, welche die Liebe zur
Wahrheit nicht angenommen haben, werden in seinen Schlingen gefangen werden. Und diesen Schutz besitzen wir in dem
Worte Christi Selbst, indem wir das Wort Seines Ausharrens
bewahren und Seinen Namen nicht verleugnen. Dies muß eine
persönliche Sache sein; denn da die verführerische Macht vorhanden ist, so sind die Zeiten, in denen wir leben, „schwere
Zeiten", nicht wegen offener Verfolgungen oder ähnlicher
Schwierigkeiten, sondern weil unsere Herzen, gleichwie Eva
durch die Lisf der Schlange verführt wurde, in Gefahr stehen,
verderbt und von der Einfalt, die in Christo ist, abgewandt zu
41
werden. Und ich wiederhole noch einmal, daß der einzige Schutz
gegen die List und Macht Satans nicht in unserer Kraft besteht
— denn wir sind die Schwachheit selbst: „du hast eine kleine
Kraft", sondern darin, daß jede einzelne Seele persönlich an
dem geschriebenen Worte Christi festhält und Seinen Namen
nicht verleugnet.
Es scheint nicht viel zu sein, wenn von den Gläubigen zu
Philadelphia gesagt wird, daß sie Sein Wort bewahrt und Seinen Namen nicht verleugnet haben; sie hatten wahrlich nicht
viel getan. Allein wenn dieses von ihnen gesagt werden konnte
zu einer Zeit, da die verführerische Macht des Bösen vorhanden
war, so war damit alles gesagt. Sie bewahrten das geschriebene
Wort, als alles um sie her darauf hinarbeitete, es beiseitezusetzen; sie verleugneten den Namen Christi nicht, während er
auf allen Seiten verleugnet wurde. In den Augen Gottes ist es
nicht etwas Großes, Feuer vom Himmel herabfallen zu lassen,
wie Elias dies tat, sondern treu zu sein inmitten der uns umgebenden Untreue. So schien es auch nicht viel zu sein, wenn
von den siebentausend, die sich dem groben Baalsdienst nicht
angeschlossen hatten, gesagt wurde: „sie haben ihre Knie nicht
vor dem Baal gebeugt"; in Wahrheit aber hieß dies alles zu ihren
Gunsten sagen, da ihre ganze Umgebung sich willig vor Baal in
den Staub beugte. So wurde auch die Kirche Gottes im Anfang
in Macht aufgerichtet, aber bald wurde das Unkraut in Menge
unter den Weizen gesät. Das Kennzeichen der Getreuen besteht
nun darin, daß sie, wenn die verführerische Macht des Bösen
hereinbricht, sich durch sie nicht verführen und mit fortreißen
lassen. Es besteht nicht in der Kundgebung äußerer Macht, sondern in der Treue im Wandel mit Gott inmitten des Bösen. In
der Versammlung zu Philadelphia war diese Treue im Wandel
vorhanden, und sie verlieh den Getreuen innere Kraft, obwohl
keine äußere Macht-Entfaltung vorhanden war.
„Siehe, ich gebe aus der Synagoge des Satans von denen,
welche sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern lügen".
Hier wird diese persönliche Treue in einem verborgenen Wandel mit Gott denen gegenübergestellt die einem festgestellten
System anhingen, dem es an Formen und an Ansehen im
Fleische nicht fehlte. Diese rühmten sich, Juden zu sein, und
unternahmen es, das wieder aufzurichten, was äußerlich das
Volk Gottes gekennzeichnet hatte; aber sie berücksichtigten
42
nicht, daß Gott etwas „Neues" aufgerichtet hatte, welches das
Herz auf die Probe stellt. Sie verwarfen das Wort Gottes nicht
(ebensowenig wie die Juden es taten), aber sie ließen sich nicht
durch dieses Wort leiten. Die Juden erkannten die Schriften an,
aber sie verwarfen Christum und töteten Ihn; wie Jesus Selbst
sagte: „Sie werden euch aus der Synagoge ausschließen". Und
•de taten dies in der Meinung, Gott damit einen Dienst zu erweisen. „Es kommt aber die Stunde, daß jeder, der euch tötet,
meinen wird, Gott einen Dienst darzubringen". Dies war aber
nichts anderes, als die Verwerfung des von Gott gesandten
Lichts: „Und dies werden sie tun, weil sie weder den Vater noch
mich erkannt haben" (Joh 16, 2. 3). Eine althergebrachte Wahrheit, die in der Welt Anerkennung gefunden hat und deshalb
als orthodox bezeichnet wird, kann das Herz nicht auf die Probe
stellen; sie verleiht der Natur Ansehen und verschafft Achtung.
Wenn die Religion mir Anerkennung verschafft, statt das Herz
in der Übung des Glaubens auf die Probe zu stellen, so kann
ich versichert sein, daß es nicht die Religion Gottes ist. Es mag
bis zu einem gewissen Grade die Wahrheit sein, aber es ist
nicht der Glaube an Gott. So setzten jene Juden den Namen
und das Wort Christi beiseite für Dinge, auf die sie sich stützen
konnten, während es kein Herz für Christum mehr gab. Überlieferungen, Satzungen, die Väter usw., das waren die Dinge,
die sie liebten, aber nicht das Wort Christi. Allerdings waren
die Juden das Volk Gottes gewesen, aber sie hatten den Namen
Christi verworfen und mit Füßen getreten. Und dies ist es, was
jetzt den ganzen Unterschied ausmacht. Seitdem Christus geoffenbart worden ist, erwartet Gott einen unbedingten Gehorsam gegen Seinen Sohn. Ein treues Anhangen an Christo ist
jetzt alles.
„Ich werde sie zwingen, daß sie kommen und sich niederwerfen vor deinen Füßen und erkennen, daß ich dich geliebt
habe". Gott erkannte die, welche jenes religiöse Altertum für
sich in Anspruch nahmen, nicht als Sein Volk an. Das Einzige,
was für sie blieb, war, zu erkennen, daß Christus diesen armen,
verachteten Überrest geliebt hatte. „Ich werde sie zwingen, daß
sie erkennen, daß ich dich geliebt habe". Hieraus ersehen wir,
was das Herz befriedigen soll; es ist nicht die gegenwärtige
Anerkennung von Seiten derer, die vorgeben, Gott zu kennen,
während sie Ihn in ihren Werken verleugnen, sondern das stille,
43
feste Vertrauen, daß es von Christo geliebt ist. Darin wird das
Herz auf die Probe gestellt. Suchst du gegenwärtigen Genuß,
schöne Gemälde für deine Sinne, das, was den Geschmack befriedigen und die Einbildungskraft nähren kann; wünschest du
Menschen zu gewinnen und etwas vom „ehrwürdigen Altertum" zu haben, so wisse, daß Christus in keinem dieser Dinge
ist. „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit", und Er Selbst ist die Wahrheit, „der Heilige und Wahrhaftige". Und wenn die Liebe zu Jesu als etwas Gegenwärtiges
unsere Seelen erfüllt, so haben wir in Ihm alles, was wir bedürfen.
Man hört oft die Frage: Was ist Wahrheit? In den Augen
aller, die so fragen, mögen die obengenannten Ansprüche Gewicht haben. Die Synagoge Satans kann eine alte, geachtete
Religion sein, voll von Anziehungskraft und von allem, was
Autorität über das Fleisch hat, und sie wird von allen angenommen, die dem Pilatus gleichen, welcher fragte: was ist Wahrheit? — der dann aber Jesum, der die Wahrheit ist, kreuzigte,
um den Priestern der damaligen Zeit zu gefallen. Der Charakter
dieser letzten Tage ist eben der, daß die Menschen immer die
Wahrheit suchen, aber nie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Ich habe nicht nötig zu fragen: Was ist Wahrheit? wenn
ich die Wahrheit besitze. Was jemand sucht, das hat er noch
nicht. Ein Mensch, der stets die Wahrheit sucht, bekennt damit,
daß er sie noch nicht besitzt. Christus hat gesagt: „Ich bin die
Wahrheit"; Er ist der Mittelpunkt aller Wahrheit und die
Grundlage von allem, was uns mit Gott verbindet. Ein Ungläubiger wird in bezug auf alles Zweifel erheben, aber nichts Gewisses aufstellen können. Wir bedürfen aber etwas Gewisses,
und sobald wir die Person Christi haben, besitzen wir die
Wahrheit. „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene
Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht".
Wenn ich wissen will, was Gott ist und was der Mensch ist, so
habe ich in Christo ein vollkommenes Bild von dem, was Gott
für den Menschen ist und was Christus, als Mensch, für Gott
ist. Alles findet sich in Christo. Sicherlich haben wir in dieser
Erkenntnis zu wachsen. Ein Herz, das Christum besitzt, braucht
die Synagoge Satans nicht. Ein jeder, der Sein Zeugnis angenommen hat, hat versiegelt, daß Gott wahrhaftig ist; die Seele,
die dies weiß, wird auf die einfachste Weise vor dem Bösen
44
bewahrt. Ich habe ebensowohl Gnade wie Wahrheit empfangen: „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum
geworden". Als ich in der Lüge lebte/
war es die Gnade, welche
die Wahrheit in meine Seele brachte; und was braucht die
Seele mehr? Wohl empfindet sie Schmerz, weil der Schauplatz,
den sie durchpilgert, verunreinigt ist; aber sie ist nicht mehr in
Ungewißheit darüber, was ihr Teil ist, sie hat alles in Christo
gefunden. Es braucht zu der verborgenen Segnung nichts mehr
hinzugefügt zu werden. „Ich werde sie zwingen, daß sie kommen und sich niederwerfen vor deinen Füßen und erkennen,
daß ich dich geliebt habe". Wir kennen diese Liebe jetzt schon,
doch nicht als ob wir sie verdient hätten, denn alles ist Gnade;
aber wir genießen sie jetzt durch die Gegenwart Christi. Wir
kennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus,
sowie die Liebe des Vaters nach den Worten des Herrn: „Ich
habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun,
auf daß die Liebe, womit du mich geliebt hast, in ihnen sei
und ich in ihnen". Die Welt weiß es jetzt nicht, aber an jenem
Tage wird sie erkennen, daß der Vater uns geliebt hat, gleichwie
Er Seinen Sohn geliebt hat. Wenn das Herz diese Liebe Christi
versteht, ruht es in ihr; es ist zufrieden, in der Gegenwart
die Liebe Christi zu genießen, wenn auch seine Umgebung
nichts davon versteht. Der Herr ist jetzt in mancherlei Weise
bemüht, unsere Herzen von allem, was uns hier umgibt, zu entwöhnen, damit wir in dem Zeugnis Seiner persönlichen Liebe
zu uns das finden möchten, was unseren Glauben stärkt, das
Gewissen befestigt und das Herz leitet. Christus sagt: „Ich bin
der Hirte", und dies berechtigt das Schaf, Ihm zu folgen. Als
Er auf Erden war, bestand die jüdische Haushaltung noch; Gott
hatte sie eingesetzt, und niemand war ermächtigt, aus dem
jüdischen System auszutreten, bis Christus dies tat; dann aber
hatte das Herz, das sich zu Christo hingezogen und mit Ihm
verbunden fühlte, den besonderen Befehl, ebenfalls aus diesem
bestehenden System hinaus und zu Ihm hinzugehen: „dem
Lamme zu folgen, wohin irgend es geht".
In dem Sendschreiben an die Versammlung zu Philadelphia
finden wir die Verheißung, die der Hoffnung der Getreuen, bei
Christo in der Herrlichkeit zu sein, begegnet. Indem sie sich
einsmachen mit Ihm in Seiner Stellung, werden sie auch einsgemacht mit Ihm Selbst und mit dem Worte Seines Ausharrens.
45
Nicht die ganze Kirche war eines Sinnes mit den Gläubigen in
Philadelphia, auch genossen diese noch nicht das völlige Resultat Seiner Liebe, insofern sie Christum noch nicht persönlich
und völlig bei sich hatten. Aber wenn die Liebe Christi die
Richtschnur meines Verhaltens ist, dann wünscht mein Herz,
Christum bei sich zu haben; denn wenn wir jemanden lieben,
so wünschen wir sicherlich, bei ihm zu sein. Ist aber Christus
in unseren Herzen, dann bewahren wir das Wort Seines Ausharrens. Es ist allerdings eine Zeit der Prüfung, der Sichtung,
der Reinigung, der Übung, aber wir müssen warten. Beachten
wir, wie dieses gesegnete Einssein und die Verbindung mit Ihm
beständig betont wird. Es heißt nicht einfach: das Wort des
Ausharrens, sondern „meines Ausharrens". Und weshalb? Weil
Christus noch wartet (siehe Ps 110). Dies bestimmt unser ganzes Verhalten; denn wenn Christus wartet, so müssen auch wir
noch warten. Christus verharrt in einem Zustande des Wartens,
sozusagen in der Übung des Ausharrens, bis zu der vom Vater
bestimmten Zeit. Dies ist auch, wie ich nicht zweifle, der Sinn
Seiner Worte, wenn Er sagt: „Von . . . jener Stunde weiß niemand, sondern nur der Vater".
Christus hat alles getan, was für Seine Freunde nötig war,
um sie Gott darzustellen, und Er hat Sich zur Rechten Gottes
gesetzt, „fortan wartend, bis seine Feinde gelegt sind zum
Schemel seiner Füße". Christus wartet, bis Er alle Seine Freunde gesammelt hat, bevor Er auf der Erde gegen Seine Feinde in
Tätigkeit tritt. Deshalb liegt für uns in dem Ausdruck: „mein
Ausharren" gerade das, was wir bedürfen; denn wir erwarten
den Tag, von welchem Christus zu uns sagt: „Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen . . ." (Joh 14).
Die ganze Schöpfung um uns her seufzt in der Erwartung
dieses Tages, und auch wir selbst seufzen in uns selbst, indem
wir die Erlösung des Leibes erwarten. Aber bis dahin ist alles
in Unordnung. Wo sind die Juden, die immer noch „Geliebten
um der Väter willen?" Sie irren heimatlos auf der ganzen Erde
umher, ohne Priester, ohne Teraphim, ohne alles; sie sind wie
ein verdorrter Baum, wie eine Eiche, wenn sie ihre Blätter abgeworfen hat (Jes 6, 13), obwohl der Herr unter ihnen wirkt.
Blicke ich auf die Welt, so ist alles Sünde und Elend; betrachte
ich die ganze Schöpfung, sie seufzt; und von dem, was sich
Kirche nennt, höre ich den allgemeinen Ausruf: „Wer wird uns
46
das Gute schauen lassen?" — Wer fühlt sich befriedigt durch
irgend etwas, was es auch sei? Ich rede nicht von dem Gefühl
der Unzufriedenheit im schlechten Sinne; aber es gibt nichts,
worin die Seele Ruhe finden könnte, gleichviel, welches System
man auch ins Auge fassen mag. Das allgemeine Gefühl ist, daß
die Grundfesten der Welt wanken. Wohl mag der Rabe ausfliegen und sich auf einen schwimmenden Leichnam niederlassen; die Taube aber findet nirgends Ruhe für ihren Fuß, als nur
in der Arche. Was haben wir inmitten der dichten Finsternis
der Nacht, was unseren müden Seelen Ruhe geben könnte?
Nichts als die gewisse Erwartung der Ankunft des glänzenden
Morgensterns,
Bis wann wird Christus warten, um das Gericht auszuüben?
Sobald Er Seine Freunde zu Sich genommen hat, wird Er Sich
mit Seinem richterlichen Charakter bekleiden; ich meine nicht,
daß Er dann alle Seine Feinde mit einem Schlage vernichten
wird; aber wenn dieser Augenblick gekommen ist, wird Er
Seine große Macht übernehmen. Vor allem aber wartet Er darauf, daß die, welche mit Ihm teilhaben, auch bei Ihm und Ihm
gleich sind. Wir sind „zuvorbestimmt", Seinem „Bilde gleichförmig zu sein" (Röm 8, 29). Und wenn Er einst Seine Braut
bei Sich haben wird in Seiner Herrlichkeit, dann wird Er „von
der Mühsal seiner Seele Frucht sehen und sich sättigen". Wenn
der Starke, der als Haupt mit Seinen Gliedern zu einem Körper
vereinigte Christus, dieser geheimnisvolle Mensch, das männliche Kind von Offb 12, in Tätigkeit treten soll, muß Er zuvor
vollständig sein; natürlich ist Er dies Seinem Wesen nach schon
in Sich Selbst, aber noch nicht als das Haupt über alles, welches
der Versammlung, Seinem Leihe, gegeben ist. Das Haupt und
der Leib müssen vereinigt sein, ehe Er unter diesem Titel vor
der Welt auftreten kann; denn das Haupt ohne den Leib bildet
nicht den vollständigen Menschen, den Christus, Der nach den
Ratschlüssen Gottes als Der, Der alles in allem erfüllt, erscheinen wird, um das Gericht auszuüben. Deshalb muß die Versammlung, als der Leib, mit Christo, als dem Haupte, im Himmel vereinigt, also zu Ihm aufgenommen sein, ehe Christus
zum Gericht erscheinen kann.
Was ist nun das große Hindernis, das der völligen Segnung
der Versammlung im Wege steht? Von Anfang an hat sich alles
verderbt: Adam — der Mensch vor der Flut — Noah — der
47
Mensch unter dem Gesetz — und wenn wir auf das Christentum blicken, wieviel Unkraut ist unter den Weizen gesät worden! Betrachten wir endlich das Priestertum, so sehen wir, daß
es unter dem Einfluß Satans den Platz Christi und unserer Verbindung mit Ihm einnimmt. Wenn dies alles zur Zeit des gänzlichen Abfalls seinen Höhepunkt erreicht haben wird, dann
wird die Tätigkeit der richterlichen Macht beginnen, um das
Böse hinwegzutun. Die erste Handlung dieser Macht wird, nachdem Christus mit Seinem Leibe vereinigt ist, darin bestehen,
daß Satan mit seinen Engeln aus dem Himmel ausgeworfen
wird (Offb 12, 9), um nie wieder dort gesehen zu werden. Auf
die Erde geworfen, wird der Teufel große Wut haben, „da er
weiß, daß er wenig Zeit hat"; in seinem Zorn wird er seinen
Charakter als der große Widersacher des Herrn Jesu Christi in
seiner höchsten Entfaltung zeigen, indem er alles wider Ihn
aufwiegelt. Allein der Herr wird dann mit Seinen Heiligen kommen, um das Gericht auf Erden auszuführen. Er muß die Dinge
dadurch zurechtbringen, daß Er das Böse hinwegtut. Und sobald Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt sind, führt
Er die Fülle der Segnung herbei. Ich wiederhole jedoch noch einmal, daß das Gericht erst nach der Vereinigung der Versammlung mit Christo erfolgen wird. Der geheimnisvolle Mensch
muß erst in dem oben angedeuteten Sinn vollendet sein, ehe Er
das Gericht ausführen kann. Sobald dies aber geschehen ist,
nimmt Christus einen ganz neuen Charakter an. Bis zu dem
Augenblick, da Er uns in die Herrlichkeit einführt, wird Er als
Heiland dargestellt; und selbst nach der Aufnahme der Versammlung wird ohne Zweifel wieder ein geretteter Überrest
vorhanden sein. Dann aber ist die Zeit der Annehmung vorüber, und Christus „richtet und führt Krieg in Gerechtigkeit".
Und wenn Er so erscheinen wird, werden wir völlig verstehen,
warum es jetzt das „Wort Seines Ausharrens" ist; denn bis dahin, daß Er Seine große Macht übernimmt und regiert, sind wir
nach Herz und Sinn in dem Worte Seines Ausharrens mit Ihm
verbunden. Und die besondere Segnung, die für uns darin liegt,
ist, daß wir mit Christo Selbst vereinigt sind und in allen Dingen vollkommen das gleiche Los haben, wie Er Selbst. Ohne im
geringsten die göttliche Herrlichkeit Seiner Person anzutasten,
können wir sagen, daß Christus, als Mensch, in Seinem Charakter als Diener, warten muß, bis es Gott gefällt, alles unter
48
Seine Füße zu legen, und dies ist, wie ich nicht zweifle und bereits angedeutet habe, der Sinn der Worte: „Von jenem Tage
aber oder der Stunde weiß niemand, weder die Engel, noch der
Sohn, sondern nur der Vater" (Mk 13, 32). Indem wir so mit
Christo verbunden sind und Seine stete Liebe als das Teil besitzen, das unsere Seele völlig befriedigt, ziehen wir vor, zu
warten und das Glück mit Ihm zu empfangen, als vor Ihm. Eine
vollkommene Verbindung mit Christo Selbst ist es, was die
Versammlung Gottes charakterisiert; sie ist nicht nur gesegnet,
sondern mit Dem verbunden, Welcher segnet. Wir sind Seine
Braut; dies ist unser besonderer Platz, und wenn wir in unseren
Gedanken oder unserem Herzen nach einen niedrigeren Platz
einnehmen, so entfernen wir uns von der vollen Kraft der Gedanken der Liebe Gottes über uns und von dem, was Christus
nach diesen Gedanken für uns ist.
Was auch von Christo in bezug auf den Tag der Herrlichkeit
gesagt werden mag, wir finden die Versammlung in allem mit
Ihm verbunden. In Seinem Melchisedek-Charakter z. B. nimmt
Er als König den höchsten Platz der Autorität und als Priester
den nächsten in der Anbetung ein; so sind auch wir zu Königen
und Priestern gemacht. Eva wurde dem Adam in der Herrschaft
beigesellt; aber außer ihr gab es nichts in der ganzen Schöpfung, das diesen Platz hätte einnehmen können, wie geschrieben
steht: „Für Adam fand er keine Hilfe seines Gleichen". Als
aber Eva zu Adam gebracht wurde, konnte er sagen: „Diese
ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleische". Jetzt war eine Gehilfin für ihn gefunden. Ebenso ist es mit dem Herrn und der Versammlung; auch Er kann
sagen: „Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und
Fleisch von meinem Fleische", und Er kann sich erfreuen und
Seine Wonne finden in dem, was Seine eigene Liebe hervorgebracht hat.
Möge uns der Herr davor bewahren, daß wir eine geringere
Stellung einehmen, als diese, denn sie ist unser wahrer Platz!
Möchte Er uns das tiefe und bleibende Gefühl schenken, daß
wir auf diese Weise in eine völlige und gesegnete Verbindung
mit Ihm gebracht sind; denn das Herz Christi könnte durch
nichts anderes befriedigt sein, und unser Herz sollte es ebenso
wenig sein. Es handelt sich nicht um unsere Würdigkeit, (denn
in uns selbst, als im Fleische, sind wir nichts als elende Sünder)
49
sondern es handelt sich um die Liebe Christi. Die wahre Demut
besteht nicht darin, daß wir schlecht von uns denken, sondern
daß wir gar nicht an uns denken; aber es ist viel schwerer, sich
ganz zu vergessen, als selbst schlecht von sich zu denken. Wenn
wir nicht demütig sind, so müssen wir gedemütigt werden.
„Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, so will
auch ich dich bewahren" usw. Beachten wir, daß der Herr nicht
sagt: wenn du meine Anerkennung hast, daß du einige Kraft
besitzest, sondern daß du „das Wort meines Ausharrens" bewahrst; wenn ich dich kenne, als vereinigt mit mir selbst, so
„werde ich dich bewahren" usw. So verbindet Er uns mit Sich
Selbst, so arm und schwach wir auch sein mögen, gleichwie die
Klippendächse nur ein nicht kräftiges Volk sind und doch ihr
Haus auf den Felsen setzen (Spr 30, 26). „So werde auch ich
dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den
ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, die auf
der Erde wohnen". Welch ein Trost liegt in diesen Worten hinsichtlich alles dessen, was kommen wird! Es handelt sich keineswegs um Kraft, sondern darum, bewahrt zu werden vor
einer schrecklichen Zeit, die kommen soll, um „die zu versuchen,
die auf der Erde wohnen". Diese letzten Worte bezeichnen den
moralischen Zustand einer Klasse von Personen. Hat Gott denn
Wohlgefallen daran, Sein Volk in Trübsal zu bringen? Sicherlich nicht; Er wünscht nicht, uns in Versuchung zu führen. Aber
wenn wir uns in eine Stellung begeben haben, in der wir mit
denen vermengt sind, die auf der Erde wohnen, so muß auf uns
eingewirkt werden, um uns von dem loszumachen, was dieser
schrecklichen Stunde der Versuchung entgegengeht. In der gegenwärtigen Zeit wir das Evangelium verkündigt, und durch dieses werden Seelen aus der Welt herausgeführt, und alle Gedanken, Gefühle, Wünsche und Neigungen der Heiligen sollten auf
den Tag der Herrlichkeit gerichtet sein. Wenn sie sich in der
Stellung des Ausharrens Christi befinden, so haben sie nicht
nötig, wie die Welt gerichtet zu werden; sind sie aber mit der
Welt vermengt, so müssen sie auch die Trübsale der Stunde
der Versuchung teilen, welche kommen wird, um die zu versuchen, die auf der Erde wohnen; oder sie müssen vorher praktisch gesichtet werden, um sie von der Welt zu trennen. Die
Zeit wird kommen, wo das Tier die im Himmel Wohnenden
lästern wird, aber es wird sie nicht anzutasten vermögen.
50
Wenn wir unseren himmlischen Charakter kennen, so werden wir dadurch zu Fremdlingen und Pilgrimen auf der Erde,
statt hier zu wohnen und hier unser Teil zu suchen; alle aber,
die hier ansässig sind, müssen durch diese Stunde der Versuchung hindurchgehen, welche die versuchen wird, die auf der
Erde wohnen. Wir dürfen das hier Gesagte jedoch nicht mit der
Trübsal verwechseln, von der in Mt 24 die Rede ist; denn diese
Zeit der Drangsal beschränkt sich auf Jerusalem, wie wir in
jeremia lesen: „Es ist eine Zeit der Drangsal für Jakob; doch
wird er aus ihr gerettet werden". Hier aber ist es „die Stunde
der Versuchung, die überden ganzen Erdkreis kommen wird, um
zu versuchen, die auf der Erde wohnen". Die, welche jetzt das
Wort des Ausharrens Christi bewahren, wird Er vor jener
Stunde bewahren. Wenn der Herr jetzt bei ihnen eine Frucht
findet, wie sie durch diese Versuchung hervorgebracht werden
soll, dann bedürfen sie der Versuchung nicht.
„Ich komme bald". Wie ermunternd sind diese Worte! Es ist,
als ob der Herr sagte: Ihr müßt fortfahren, mein Los im Ausharren und unter dem Kreuz zu teilen, wenn ihr meine Herrlichkeit teilen wollt; aber: „Ich komme bald". Seine Ankunft
wird hier nicht, wie es Sardes gegenüber geschieht, wie die
eines Diebes in der Nacht vorgestellt. Was der Herr jetzt der
Versammlung ans Herz zu legen wünscht, ist, daß Seine Ankunft ganz nahe ist. Er bestimmt den Augenblick nicht, aber Er
weist auf Seine Ankunft hin als ihren Trost, ihre Freude und
Hoffnung, und lenkt dadurch das Herz auf Seine eigene Person;
denn es handelt sich nicht so sehr darum, daß Er bald kommt,
als daß Er Selbst kommt: „Ich, Jesus" usw. Wenn das Herz die
Liebe Gottes genießt, welch ein Trost ist es dann, in Ihm Selbst
zu ruhen, wie wir es am Ende dieses Buches sehen! Nachdem
Christus die Blicke der Versammlung auf alles hingelenkt hat,
was Er auf Erden zu tun beabsichtigt, führt Er ihr Herz zu Sich
Selbst zurück: „Ich, Jesus".
Der besondere Charakterzug der Versammlung in Philadelphia ist ihre unmittelbare Verbindung mit Ihm: es ist Christus Selbst, Welcher kommt. Weder die Erkenntnis noch die
Prophezeiung können das Herz befriedigen; aber der Gedanke,
daß Christus kommt, um die Seinigen zu Sich zu nehmen., ist
die gesegnete Hoffnung aller, die durch die Gnade mit Ihm verbunden sind. Die Prophezeiung hat Bezug auf die Ankunft
51
Christi auf der Erde; aber die eigentliche und köstliche Hoffnung dessen, der durch den Glauben mit Ihm verbunden ist,
besteht darin, zu Ihm zu gehen. Sicher habe ich alle Ehrfurcht
vor den Mitteilungen Gottes, die das kommende Gericht ankündigen; aber diese rufen nicht die Gefühle des Herzens für
Ihn hervor. Die Ratschlüsse Gottes über Jerusalem, Babylon
und andere Gegenstände, wovon die prophetischen Schriften
zeugen, sind überaus wichtig und lehrreich für unseren Geist;
aber die Gefühle des Herzens werden nicht in Tätigkeit gesetzt
durch die Kenntnis davon, was das Los Babylons, des Antichristen usw. sein wird. Ich liebe Christum, und deshalb sehne
ich mich danach, Ihn zu sehen: die Prophezeiungen über das
kommende Gericht aber verbinden das Herz und den Geist
nicht mit der Person des Herrn Jesu.
Auf die Ankündigung der baldigen Ankunft des Herrn folgt
dann die Ermahnung: „Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme". Oh, möchte der Herr uns geben,
Sein Wort zu bewahren und Ihn jeden Augenblick zu erwarten!
Wenn es dem Teufel gelänge, uns die Hoffnung Seiner Ankunft, als einer Sache, die wir jeden Augenblick erwarten dürfen, zu rauben, so würde uns dadurch unsere Krone genommen
werden. Weder Mensch noch Teufel kann uns etwas nehmen,
wenn nur das lebendige Bewußtsein des Glaubens in unseren
Herzen ist, das uns mit der jeden Augenblick zu erwartenden
Ankunft des Herrn Jesu Christi verbindet. Wenn wir dies Bewußtsein verlieren, dann verlieren wir unsere geistliche Kraft;
alles aber, was uns diese Kraft in unserer Verbindung mit
Christo raubt, führt uns zum Verlust unserer Krone. Und, geliebte Brüder, unser Weg führt uns jetzt durch Dinge aller Art,
die geeignet sind, uns unsere Krone zu rauben, Dinge, die den
Glauben an das Kommen Jesu auf die Probe und es selbst in
Frage stellen können.
In dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen sehen wir, daß
sie alle schläfrig wurden und einschliefen, die klugen sowohl
als die törichten; und um Mitternacht, als der Ruf erscholl:
„Siehe, der Bräutigam!" da standen sie alle auf und schmückten ihre Lampen. In dieser Hinsicht war also kein Unterschied
zwischen ihnen; nur daß die einen das ö l des Geistes hatten,
die anderen nicht. Aber zwischen dem Ertönen des Rufes und
der wirklichen Ankunft des Bräutigams war Zeit genug, um
52
die Lampen, die kein ö l hatten, erlöschen zu lassen, und so
bestand der wahre Unterschied zwischen den Jungfrauen in
dem Vorrat des Öls, den die einen hatten, die anderen aber
nicht. Wäre der Bräutigam Selbst der erste Gedanke in den
Herzen der törichten Jungfrauen gewesen, so hätten sie an das
Licht gedacht, das Er bei Seiner Ankunft nötig haben würde.
Aber sie dachten an etwas anderes; sie waren zufrieden damit,
in der Gesellschaft der anderen Jungfrauen zu sein, und dafür
genügten der Anzug und die Lampen ohne öl. Aber ach! ohne
das ö l konnten sie ihre Lampen nicht für ihren Herrn brennend
erhalten, bis Er kam. Doch gab es auch solche, die bereit waren,
Ihn zu empfangen. Als „der Bräutigam kam", gingen die, welche bereit waren, mit Ihm ein zur Hochzeit, „und die Tür ward
verschlosesn". So ist es auch jetzt. Der Ruf ist erschollen, und
zwischen dieser Zeit und der wirklichen Ankunft des Bräutigams
prüft uns der Herr, um zu sehen, ob unsere Herzen wirklich
auf Ihn gerichtet sind oder nicht.
Kaum bleibt uns heute Abend noch Zeit genug, um die in
Vers 12 enthaltene Verheißung zu betrachten. „Wer überwindet, den werde ich zu einer Säule machen in dem Tempel meines
Gottes usw." Wir sehen hier, wie genau alle Verheißungen in
Verbindung stehen mit der Zeit der Herrlichkeit, dem „neuen
Jerusalem"; das Herz wird hier zu seinem eigentlichen Wohnplatz erhoben. Nehmen wir den Platz von Bewohnern des Himmels ein, während wir auf dieser Erde wandeln? Es ist bemerkenswert, wie ganz und gar die Heiligen mit dem himmlischen
Jerusalem, ihrer ewigen Wohnung, verbunden sind. „Wer überwindet", der wird in dem Tempel Gottes sein — im Gegensatz
zu der Synagoge Satans — im vollen Genuß der Dinge Gottes,
nachdem jeder Ratschluß Seiner Liebe völlig ausgeführt worden
ist. „Den werde ich zu einer Säule machen". Er mag schwach
gewesen sein auf der Erde, während die bekennende Kirche
groß war, aber ihren Platz, den sie nach den Gedanken Gottes
einnehmen sollte, als „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit",
nicht einnahm; dort aber wird er sogar die Säule der Kraft sein,
ja, der Kraft Gottes Selbst, weil er der Macht der Verführung
gegenüber fest geblieben ist.
Es ist bemerkenswert, daß sich der Ausdruck „mein Gott"
hier so oft wiederholt; wir sehen daraus, wie Christus die Seinigen stets mit Sich Selbst in Verbindung bringt. Er war einst
53
dem Anschein nach der Schwache auf dieser Erde, und Er sagt:
„Ich bin verworfen worden, und ihr habt diesen Platz der Verwerfung mit mir geteilt; aber ich kenne die, welche mir treu
gewesen sind, und ich gehe zu meinem Vater und zu eurem
Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott". Er ist der Geduldige, Der für die Ihm gebührende Herrlichkeit des Vaters Zeit
abwartet, und wir nehmen teil an Seiner Geduld. „Ich will auf
ihn schreiben den Namen meines Gottes", d. h. des Gottes, wie
Christus als Mensch Ihn kennt. Dieser Name wird den Getreuen öffentlich aufgedrückt sein; denn sie haben Seinen Namen
hienieden nicht verleugnet. „Und den Namen der Stadt meines
Gottes", jener Stadt, die sie im Glauben erwarteten, sie ist ihr
Wohnort. Abraham erwartete die Stadt, deren Baumeister und
Schöpfer Gott ist. Sogar als das Fleisch eine irdische Stadt hier
gebaut hatte, suchten jene für sich selbst eine himmlische. Dieses himmlische Bürgerrecht in der Stadt des Gottes unseres
Herrn Jesu Christi/
des Fremdlings hienieden, wird dann dem
Getreuen aufgeprägt sein. Der Mensch kann jetzt, wenn er danach trachtet, eine feste kirchliche Einrichtung haben; aber sie
ist nicht nach Gottes Wort. Wenn es ihm aber genügt, jetzt einfach mit Christo zu wandeln, indem er wartet, bis Gott eine
Stadt als die Seinige anerkennt (die Stadt meines Gottes), so
wird er dann an ihr teilhaben. Sie kommt von Gott aus dem
Himmel hernieder. Wenn ein Fürst aus seinem Lande vertrieben ist, fühlen sich seine Anhänger, solange er abwesend ist,
als Fremdlinge im Lande. So verhält es sich jetzt mit dem Christen; er gehört Christo an und ist „ein Sohn des Tages"; er
wartet auf Christum und auf den Tag Seiner Erscheinung.
„Meinen neuen Namen", nicht Seinen alten Namen als Messias, sondern den wunderbaren, neuen Namen, den Er als Resultat einer durch Ihn vollbrachten himmlischen Erlösung angenommen hat. Wir werden dann das Feste und Beständige
haben, worauf wir jetzt in gewissem Sinne verzichten müssen.
Möchte der Herr uns zu verstehen geben, was es heißt, wirklich
mit Ihm Selbst verbunden zu sein, und möchten wir den gesegneten Ratschluß Gottes über uns kennen, wie er in den Worten
ausgedrückt ist: „auf daß er in den kommenden Zeitaltern den
überschwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns
erwiese in Christo Jesu!" Er hat uns mit dem Gegenstand Seiner unbegrenzten und ewigen Wonne verbunden; denn wir
54
sind Glieder Seines Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinen
Gebeinen, und deshalb haben wir das Teil und die Vorrechte
Jesu Selbst. Möchte Gott unsere Herzen unbefleckt von diesem
bösen, gegenwärtigen Zeitlauf und in der Frische der Liebe zu
Ihm erhalten! Dies aber ist nur dann möglich, wenn wir in der
Gemeinschaft mit Christo bleiben. Unser Teil in Ihm und die
Kostbarkeit Seines Namens zu kennen, das gibt Mut und Kraft,
um Sein Wort zu bewahren und Seinen Namen nicht zu verleugnen.
Laodicäa. — Es war meine Absicht, unsere Betrachtungen
über die sieben Sendschreiben am vorigen Abend zu Ende zu
bringen. Doch bedaure ich nicht, daß die Zeit dazu nicht ausreichte, denn ich fühle tief die Wichtigkeit dieses letzten Sendschreibens, des an Laodicäa, das uns noch einmal Gelegenheit
geben wird, einen Rückblick auf das zu werfen, was wir an der
Hand des Zeugnisses des göttlichen Wortes in bezug auf die
Ankunft des Herrn Jesu Christi bereits betrachtet haben. Wir
sehen in diesem Sendschreiben, daß die Versammlung in Laodicäa mit einem endgültigen und vollständigen Gericht bedroht
wird, dem zu entgehen unmöglich ist. Indessen hat das Böse in
ihr noch nicht seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht; denn in
diesem Fall würde es nutzlos sein, sie zu warnen. Wie an die
sechs vorhergehenden Versammlungen, so wird auch an Laodicäa das Wort gerichtet als an eine Versammlung Gottes, d. h.
sie befindet sich vor Gott in der Stellung eines von Ihm anerkannten Zeugnisses gegenüber der Welt; und als solche wird
sie mit der Verwerfung bedroht. Dies ist im Blick auf andere
Teile der Heiligen Schrift von Bedeutung. Wir finden hier nicht
die Geschichte bereits erfüllter Tatsachen, sondern es wird in
warnender und drohender Weise etwas angekündigt, was sich
noch vollziehen soll; das Sendschreiben trägt mithin einen prophetischen Charakter. Und in Obereinstimmung mit dem richterlichen Gepräge des ganzen Buches der Offenbarung finden
wir auch in den Sendschreiben an die Versammlungen das Gericht über die bekennende Kirche, entsprechend der Stellung,
die sie vor dem Auge Gottes einnimmt. Hier möchte ich noch
einmal daran erinnern, daß es sich hier nicht um das Werk der
Gnade Gottes, als solches, handelt; auch ist nicht von Christo,
dem Haupte des Leibes, als der Quelle der Gnade für Seine
Glieder, die Rede, noch von dem Werke des Geistes Gottes;
55
denn dieses kann nie ein Gegenstand des Gerichts sein. Was
hier vorgestellt wird, ist der Zustand der Kirche, die auf dem
Boden der Verantwortlichkeit vor Gott steht, sowie die daraus
hervorgehenden Wege, die Er sie in der Hoffnung auf Frucht
führt.
Ferner sind diese Sendschreiben nicht an einzelne, sondern
an Versammlungen gerichtet; dennoch enthalten sie vieles
höchst Wichtige für jene einzelnen Personen, deren Ohr durch
die Belehrung des Heiligen Geistes geöffnet ist. So sind
die Verheißungen an die einzelnen gerichtet, „an den, der überwindet" inmitten schwieriger Umstände; im ganzen aber hat
der Herr es mit der Gesamtheit zu tun. Es handelt sich daher
nicht um die Darreichung des Geistes der Gnade von Seiten des
Hauptes, noch um die Unterweisung des Geistes der Liebe von
seiten des Vaters, Der sich an die Kinder im Hause wendet;
denn dies würde voraussetzen, daß sich die Kirche in einem
gesunden und Gott wohlgefälligen Zustande befände, so daß
sie Anweisungen empfangen könnte, die diesem Zustande, sowie dem Zwecke, zu dem sie in die Stellung der Kirche berufen
ist, entsprächen. Das was wir in dem Sendschreiben an Laodicäa finden, läßt sich nicht auf einzelne anwenden. Wohl können Warnungen an einzelne in der Versammlung Gottes gerichtet werden, während „der Törichte hindurch geht und Strafe
leiden wird"; aber hier finden wir nicht einfache Warnungen,
sondern es wird ein völliges Hinwegtun angekündigt, und dies
kann sich nie auf die Heiligen Gottes beziehen. „Weil du lau
bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus
meinem Munde". Es ist das Hinwegtun des äußeren, bekennenden Körpers, der als solcher den Namen „Kirche" trägt.
„Und dem Engel der Versammlung in Laodicäa schreibe:
Dieses sagt der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der
Anfang der Schöpfung Gottes". Der Charakter, der hier Christo beigelegt wird, ist bemerkenswert. In den letzten drei Sendschreiben sahen wir, daß Christus, wenn man so sagen darf,
jene Charakterzüge beiseite ließ, unter welchen Er im ersten
Kapitel vor unsere Augen trat, und wir fanden, daß stets eine
neue und besondere Offenbarung von Ihm gegeben wurde, je
nach den Umständen der Versammlung, an die sich das Sendschreiben richtete. Es sind nicht dieselben Charakterzüge, die
Johannes im Gesicht erblickt hatte und die mit den Dingen, die
56
er „gesehen", in Verbindung standen, sondern es handelt sich
um „das, was ist"; und dies befindet sich in einem neuen Zustand, verschieden von dem, in dem es einst, in seinem ursprünglichen Verhältnis mit Christo, war. Demzufolge wird
auch Christus in einer neuen, den Bedürfnissen der Versammlung angepaßten Weise geoffenbart.
In Philadelphia wurde Christus nicht unter demselben Charakter gekannt, wie in Thyatira — als „Sohn über sein Haus";
es mußten jener Versammlung für ihre besonderen Bedürfnisse
neue Charakterzüge des Herrn geoffenbart werden. Von dieser
Zeit an, ja schon seit der Zeit des völligen Abweichens der
Kirche von ihrer ursprünglichen Stellung wird ihr das Kommen
des Herrn vor Augen gestellt. Die Heiligen konnten hinfort
nicht mehr auf die Wiederherstellung der Kirche, als eines bekennenden Ganzen, hoffen, und deshalb wird ihnen das Kommen des Herrn als ihre einzige Zuflucht vorgestellt, damit der
treue Überrest Ihn erwarten und in Christo, wenn auch alles
wich, das finden möchte, was er nötig hatte als Stützpunkt und
als Gegenstand seines Vertrauens. Die, welche persönlichen
Glauben an Jesum hatten, konnten dem allgemeinen Strom der
Gedanken der Kirche nicht folgen; würden sie es getan haben,
dann hätten sie sich mit Jesabel oder mit Sardes auf eine Linie
gestellt, wobei Sardes den Namen hatte, daß es lebe, in Wirklichkeit aber tot war. Der Glaube bedarf einer besonderen Stütze, wenn der Gläubige vor den Versuchungen der „Synagoge
Satans" bewahrt bleiben soll. Die gewöhnliche Gnade genügt,
so lange sich die Kirche an ihrem richtigen Platz befindet; sobald sie den aber verläßt, wird eine außergewöhnliche Gnade
nötig, um die Gläubigen aufrechtzuerhalten. Wo ein JesabelZustand vorhanden ist, da reicht der gewöhnliche Glaube nicht
aus; Christus und die Lüge können nicht zusammengehen. Auch
wenn die Kirche den Namen hat, daß sie lebe, während sie tot
ist, muß ich etwas Besonderes haben, um das Leben in mir zu
erhalten. Mag es sich deshalb handeln um die verführerische
Jesabel*), um das verderbliche Babylon, oder um Laodicäa, das
nahe daran ist, aus dem Munde des Herrn ausgespien zu werden, so kann ich mich mit dem moralischen Zustand der Dinge
nicht zufriedengeben, und ich werde einer besondern Gnade
*) Jesabel ist die Quelle des Bösen innerhalb der Kirche; Babylon verdirbt die
Welt; Laodicäa selbst wird als wertlos ausgespien.
57
bedürfen, die diesem Zustande entspricht (der übrigens nur
durch ein geistliches Herz richtig beurteilt wird) weil er nicht
das naturgemäße Verhältnis zwischen Christus und der Versammlung als solcher ist. Selbstverständlich haben wir zu allen
Zeiten die erhaltende und stützende Gnade Gottes nötig, wir
wissen alle, daß wir ohne sie nicht einen Schritt tun können.
Wir alle haben diese Gnade nötig. Wenn aber das, was den
Namen der Kirche Gottes trägt, dem Fluch nahe ist und im Begriff steht, ausgespien zu werden, dann ist ein doppeltes Maß
und ein besonderer Charakter der Gnade notwendig, um die
Getreuen auf dem schmalen und oft einsamen Pfad aufrechtzuerhalten, auf dem zu wandeln sie berufen sind. Und bemerken
wir hier, daß, wenn die Dinge bis zu dem philadelphischen Zustand gediehen sind, wo wenig Kraft vorhanden ist, aber das
Wort Christi bewahrt und Sein Name nicht verleugnet wird,
daß dann die Ankunft des Herrn zum Trost der Getreuen eingeführt und mit dem bisherigen Gegenstand, der Kirche, abgebrochen wird. Denn obwohl in Laodicäa die bekennende Kirche
der Form nach noch besteht, so ist sie doch endgültig verworfen, und es wird bedingungslos erklärt, daß Christus sie aus
Seinem Munde ausspeien werde. Das Gericht ist noch nicht
vollzogen, aber es ist gewiß und wird auch als gewiß betrachtet.
Der Grund, weshalb nach Philadelphia das Kommen des Herrn
nicht mehr erwähnt wird, ist, daß jede Hoffnung für das Ganze
moralisch verschwunden und alles ein Gegenstand des Gerichts
geworden ist, so daß der Herr Sich in Laodicäa als draußen
stehend darstellt: „Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an".
Wenn es noch Heilige innerhalb gibt, so kommt für sie doch
das Zeugnis von außen, d. h. von außerhalb des Schauplatzes,
zu dem sie gehören. In Philadelphia beschäftigt Sich der Herr
nicht mehr mit den Heiligen in der Absicht, sie in einem Platz
des Zeugnisses zu erhalten; denn die bekennende Kirche befand
sich entweder in dem Zustande des Verderbens (Jesabel) oder
in dem des Todes (Sardes), so daß sie gleich der Welt gerichtet
werden muß. Nur der Überrest besaß das Zeugnis, indem er
das Wort des Ausharrens Christi bewahrte, und er wird getröstet durch die Zusicherung, daß Christus bald kommen werde.
Bis dahin sollten die Getreuen zufrieden sein mit dem Bewußtsein, daß die Synagoge Satans alsdann erkennen würde, daß
Christus sie geliebt habe.
58
In der Versammlung zu Philadelphia wurde der Ankunft
Christi der ihr gebührende Platz gegeben. Vom Gesichtspunkt
der Kirche aus kommt Christus für sie. Er sagt: „Ich komme
für euch", und es ist die Hoffnung der Versammlung, Ihn selbst
zu sehen. „Ihr" und „ich", so sagt Er gleichsam, „wir müssen
zusammen sein". Dies bildet den besonderen Charakter der
Hoffnung der Kirche und ihrer vollendeten Freude. Deshalb
sagt der Herr in Offb 22, nachdem die ganze Prophezeiung
vollendet ist: „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch
diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen. Ich bin . . .
der glänzende Morgenstern"; und sobald Er Selbst Sich so vorstellt, wird der Ruf wach: „Komm!"*) „Der Geist und die Braut
sagen: Komm!" und dann antwortet Er mit der tröstlichen Versicherung: „Ja, ich komme bald!" wprauf die Versammlung
wieder Ihm entgegenruft: „Amen; komm, Herr Jesus!"
Hieraus geht deutlich hervor, daß die Ankunft des Herrn zur
Aufnahme der Versammlung eine Begebenheit zwischen Ihm
und ihr allein ist. Nicht so wird es mit dem Überrest Israels
sein; denn um diesen in seinen Platz auf der Erde einführen zu
können, ist die Ausübung des Gerichts notwendig. Und wirklich wird das Kommen des Herrn auf die Erde von der Ausübung des Gerichts begleitet sein, indem „alle Ärgernisse und
die das Gesetzlose tun, aus seinem Reiche zusammengelesen
werden" (Mt 13, 41). Die Befreiung des Überrests Israels erfordert es, daß die Ankunft des Herrn mit der Vollziehung dieses
Gerichts verbunden ist, denn es ist unmöglich, daß Israel seiner
Segnungen teilhaftig werde, bevor dieses Gericht stattgefunden
hat. Dies erklärt uns das Schreien nach Rache, das wir durchgehend in den Psalmen finden, wie z. B. in Psalm 94: „Gott der
Rache,Jehova,Gott der Rache, strahle hervor!" Für uns braucht
Leine Rache geübt zu werden, um uns in den Genuß der Segnungen mit Christo einzuführen; Gott hat uns in jeder Hinsicht
Gnade zuteil werden lassen, und wir haben es nur mit der
Gnade zu tun. Ich harre nicht auf den Herrn, damit Er komme
und mich an meinen Feinden räche, sondern ich erwarte Ihn,
um Ihm in der Luft entgegengerückt zu werden. Wo sich in der
Schrift der Ruf nach Rache in Verbindung mit der Ankunft des
*) Wenn Er die Welt warnt, so sagt Er nicht: „Siehe, ich komme bald."
59
Herrn auf der Erde findet, da ist es nicht die Sprache der Versammlung Gottes, sondern die Sprache des Überrestes Israels.
So lesen wir auch in Ps 68, 23: „Auf daß du deinen Fuß in Blut
badest, die Zunge deiner Hunde von den Feinden ihr Teil habe".
Solche Gedanken beschäftigen meine Seele nicht, wenn ich an
die Begegnung mit Jesu in der Luft denke. Hat mein Herz sich,
durch die Gnade, der Gnade des Lammes übergeben, so stehe
ich in keinerlei Verbindung mit dem, was dem Zorn des Lammes ausgesetzt sein wird. Er ist es, Den ich erwarte, und zwar
einzig und allein um Seiner Selbst willen. Ferner lesen wir in
Jes 60, 12, wo die Zeit der kommenden Segnungen Israels beschrieben wird: „Die Nation und das Königreich, welche dir
nicht dienen wollen, werden untergehen", während von dem
neuen Jerusalem gesagt wird: „Die Blätter des Baumes sind zur
Heilung der Nationen" (Offb 22). Israel ist der Schauplatz der
gerechten Gerichte Gottes, die Versammlung dagegen der Schauplatz Seiner unumschränkten Gnade; und diesen Platz verläßt
sie nie, denn niemals schreit sie, als Versammlung, nach Rache.
Wohl wird sie die Gerechtigkeit der Rache sehen, wenn Gott
das Blut derer, die gelitten haben, rächen wird, und sie wird
sich freuen, daß das Verderben weggetan ist; aber ihr wahres
Teil besteht darin, bei Christo zu sein. Die Erde wird durch das
Gericht befreit werden; unser Teil aber ist es, dem Herrn in der
Luft zu begegnen und allezeit bei Ihm zu sein.
Nachdem der Versammlung von Philadelphia das Kommen
des Herrn, als das ihr zugehörige Teil, angekündigt worden ist,
wird diese gesegnete Hoffnung nicht mehr erwähnt. Wir finden
deshalb in dem Sendschreiben an die Versammlung zu Laodicäa
nichts, was sich auf die Ankunft des Herrn bezöge, obwohl
diese immer wahr bleibt; aber sie wird dieser Versammlung
nicht vor Augen gestellt. Hier handelt es sich um etwas anderes;
es tritt der prophetische Charakter mehr hervor, indem der Herr
von dem redet, was als Gericht über Laodicäa kommen wird.
Er steht im Begriff, die Kirche selbst zu richten. Indessen dürfen
wir nicht vergessen, daß es stets die bekennende Kirche ist, von
der Er redet, das, was den Platz der Kirche Gottes, als das Zeugnis für Gott in dieser Welt, einnimmt. Beachten wir auch den
besonderen Charakter, mit dem Sich Christus hier bekleidet.
Wenn die Kirche, dieses Gefäß des Zeugnisses für Gott, dem
Herrn zum Ekel geworden und von Ihm beiseitegesetzt ist,
60
dann erscheint der Herr Selbst als „der Amen, der treue und
wahrhaftige Zeuge", und zwar nicht so sehr in der Würde
Seiner Person, wie sie uns im ersten Kapitel beschrieben wird,
sondern als der „treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der
Schöpfung Gottes"; Er erscheint, um den Platz dessen einzunehmen, was als Gottes Zeuge auf der Erde so ganz und gar
seinen Zweck verfehlt hat.
Im Brief des Jakobus sehen wir, daß wir (die Versammlung)
nach dem Willen Gottes „eine gewisse Erstlingsfrucht Seiner
Geschöpfe" sein sollen. Diesen Platz wird die Versammlung in
der wiederhergestellten Schöpfung einnehmen; doch schon jetzt
ist sie berufen, ihren besonderen Platz zu haben, indem sie die
Erstlinge des Geistes besitzt. Aber in ihrer Stellung des Zeugnisses betrachtet, hat sie ganz und gar gefehlt; sie hat diesen
Platz der Erstlingsfrüchte Seiner Geschöpfe nicht in der Kraft
des Heiligen Geistes festgehalten. Denn worin bestehen die
Früchte des Geistes? „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe,
Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue,
Sanftmut, Enthaltsamkeit" (Gal 5, 22). Entdeckt man diese
Früchte in der bekennenden Kirche? Nein; und dies ist der Beweis, daß sie nicht diese „gewisse Erstlingsfrucht" von Gottes
Geschöpfen ist; sie nimmt den Platz über dem gegenwärtigen
Zustand der Schöpfung oder der sie umgebenden Welt durchaus nicht ein. Nehmen wir an, es käme jemand von China nach
London. Würde er wohl jene Früchte des Geistes in der bekennenden Kirche sehen? Würde er nicht im Gegenteil überall die
gleiche Habsucht, die gleiche Liebe zur Welt finden wie in seinem Vaterlande? Er könnte mit allem Recht ausrufen: „Ich
kann in ganz China alles tun, was auch die Christen in London
(sogar wahre Christen) tun, obwohl es in London auf eine bessere und feinere Weise geschehen mag, als in meiner Heimat".
Tatsächlich geschieht das, was die Namenchristen in London
tun, auch in China, vielleicht mit etwas weniger Bequemlichkeit
für das Fleisch, aber dem Herzen nach eben so vollständig.
Ich glaube nicht, daß die bekennende Kirche schon zu der vollen Reife des schließlichen Zustandes von Laodicäa gelangt ist;
sonst würde es nutzlos sein, sie zu warnen. Gott hält noch die
Zügel in Seiner Hand und gestattet nicht, daß das Böse sich in
seiner vollendeten Gestalt entfalte. Dem Grundsatz nach war
61
das Böse ebensogut in Ephesus vorhanden, sobald die Versammlung ihre erste Liebe verlassen hatte; aber wir sehen es
erst in seiner völligen Entfaltung in dem Zustand von Laodicäa,
wenn Christus das Ganze aus Seinem Munde ausspeit. Doch ich
erinnere noch einmal daran, daß es die bekennende Kirche ist,
die so ausgespien wird, nicht aber die Versammlung des lebendigen Gottes, der Leib und die Braut Christi. Auch besteht dieses Gericht nicht in dem bloßen Wegtun des Leuchters; ein weit
schrecklicheres Gericht steht der bekennenden Kirche bevor.
Wenn von ihr nicht mehr gesagt werden kann: „Sie sind nicht
von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin", so wird
sie, anstatt der Gegenstand der Wonne Christi zu sein, zu
einem Gegenstande des Abscheus für Ihn: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Munde".
Nichts kann ernster sein, als die Stellung, die ein solches Urteil von seiten des Herrn über die bekennende Kirche wachrufen
wird. Wir finden hierin zugleich einen neuen, beachtenswerten
Beweis von der Aufeinanderfolge und dem im Bösen fortschreitenden Charakter dieser Versammlungen. Abgesehen von den
besonderen Wirkungen der Gnade im einzelnen, geht es mit
der bekennenden Kirche immer tiefer abwärts, bis sie endlich
in einen Zustand gelangt, der den Herrn zwingt, sie aus Seinem
Munde auszuspeien, und dann wird eine Tür im Himmel aufgetan, und Johannes wird im Geiste dahin entrückt (Offb 4).
Hierauf beginnt das Gericht der Welt und die Einführung des
Eingeborenen in Sein irdisches Erbteil.
Sobald Laodicäa ausgespien ist, ist Gott mit der Kirche als
einem Zeugnis zu Ende, und Christus tritt als der „treue und
wahrhaftige Zeuge" Gottes an ihre Stelle. Er stellt Sich als derjenige dar, Der das tut, was die Kirche hätte tun sollen. Christus ist das große Amen auf alle Verheißungen Gottes; die Kirche hätte zeigen sollen, daß diese Verheißungen Ja und Amen
sind in Christo Jesu; aber sie ist nicht fähig dazu gewesen; sie
hat es unterlassen, ihr Amen auf Gottes Verheißungen zu setzen. „Amen" bedeutet: Es geschehe! oder: es werde befestigt!
So lesen wir in Jes 7, 9: „Wenn ihr nicht glaubet, werdet ihr,
fürwahr, keinen Bestand haben". Für die Wörter „glauben"
und „Bestand haben" ist im Hebräischen beide Male das Zeitwort „amen" gebraucht. Somit bedeutet jene Stelle: Wenn ihr
meine Verheißungen nicht bestätigt (d. i. nicht glaubt), werdet
62
ihr nicht bestätigt werden. Selbstverständlich ist es unmöglich,
daß Gott Seinen Ratschlüssen in Christo untreu werden könnte; deshalb wird die Versammlung, der Leib Christi, mit ihrem
Haupte in der Herrlichkeit sein. Handelt es sich aber um das
Zeugnis auf der Erde, so hat sicherlich die Kirche nicht durch ihr
Verhalten ihr Amen zu den Verheißungen Gottes in Christo
gesagt. Sie war bestimmt, die Kraft ihrer himmlischen Berufung zu offenbaren; aber sie hat in ihrem Wandel dem, was
Gott bestimmt hat, nicht entsprochen. Wir sehen sie nicht dieses himmlische Zeugnis durch den Heiligen Geist ablegen, und
da Gott nicht ohne Zeugnis sein kann, so stellt Sich Christus
alsbald Selbst als „der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge",
dar — als der, welcher alle Verheißungen und Weissagungen
besiegeln wird, und der als „der treue und wahrhaftige Zeuge,
der Anfang der Schöpfung Gottes", das große Amen auf alles
setzt. Die bekennende Kirche ist völlig in Verfall geraten; sie
umschließt in ihren weiten Grenzen eine große Menge von Personen, die nie bekehrt waren, die wohl den Namen Christi
tragen, ohne jedoch das Leben Christi zu besitzen. Indessen
nahm der Abfall seinen Anfang in der wahren Kirche; durch
sie wurde das Verderben eingeführt, als sie ihre „erste Liebe"
verließ. Die weitere Folge war, daß die Welt hineinkam, wie
Gott sagt: „Ferner habe ich gesehen... an der Stätte des Rechts,
da war die Gesetzlosigkeit". Man hat oft gesagt: „Je schöner
und besser die Dinge sind, die dem Verderben anheimfallen,
um so schlimmer zeigt sich das Verderben". So gibt es auch auf
der ganzen Erde wahrlich nichts, was Gott so schnurstracks entgegengesetzt wäre, wie die bekennende Christenheit.
„Der Anfang der Schöpfung Gottes". Christus erscheint hier
als der gesegnete Zeuge der Tatsache, daß Gott die Schöpfung
Seinem eigenen Willen gemäß wiederherstellen wird, und zwar
wird Christus Selbst das Haupt und der Mittelpunkt der Schöpfung sein (vergl. Spr 8). Es handelt sich hier nicht, wie bei Philadelphia, um die Verheißung, daß Christus kommen wird, um
die Versammlung zu Sich zu nehmen; sondern Christus Selbst
nimmt den Platz eines vollkommenen Zeugnisses für Gott ein
und erscheint als der Erfüller aller jener Verheißungen Gottes,
von welchen die Kirche hätte die Offenbarung sein sollen. Unter
diesem Charakter tritt Christus gleichsam an die Stelle der
Kirche in der Offenbarung der unfehlbaren Ratschlüsse und
63
Verheißungen Gottes. Wenn die Kirche unwiderruflich beiseitegesetzt ist, so bleibt der wahrhaftige und treue Zeuge, und das
wird die Stütze der Getreuen bilden; ihr Glaube wird dadurch
aufrechterhalten, selbst wenn sich das Böse wie eine Flut erhebt. Dies ist der sichere Boden, den nichts erschüttern kann,
die Kraft, auf die sich die Seele zu stützen vermag, selbst wenn
die Kraft nicht mehr bestehen sollte; denn das Vertrauen auf
Ihn kann allein der Seele Kraft verleihen.
Wir kommen jetzt zu dem allgemeinen Zeugnis des Wortes
Gottes hinsichtlich des gänzlichen Verfalls und der darauf folgenden Beseitigung dessen, was für Ihn ein Zeugnis hätte sein
sollen, so daß die Ehre, die Macht und die Herrlichkeit Christo
allein zufallen. Der Mensch als solcher ist in dem, was ihm anvertraut worden ist, nicht treu gewesen; aber dann sehen wir
Christum, den wahren Menschen, in den Ratschlüssen Gottes
hervortreten (siehe Ps 8). Alles, was den Namen, den Titel und
die Autorität Gottes auf der Erde getragen hat, wird nach dem
göttlichen Ausspruch völlig hinweggetan werden.
So wurde z. B. die Macht von sciten Gottes in die Hände des
Menschen gelegt, und dieser wurde dadurch in gewissem Sinn
zum Stellvertreter Gottes auf der Erde gemacht, so daß wir, als
Christen, die Gewalten, welche sind, anzuerkennen und uns
ihnen zu unterwerfen haben, weil sie „von Gott verordnet"
sind. „Er hat jene Götter genannt, zu welchen das Wort Gottes
geschah" (Joh 10, 35). „Doch wie ein Mensch werdet ihr sterben, und wie einer der Fürsten werdet ihr fallen" (Ps 82, 7),
Was ist nun das Resultat, wenn Gott „in der Mitte dieser Götter richtet?" Es zeigt sich, daß sie ganz und gar gefehlt haben,
imd das unmittelbare Gericht Gottes wird vollzogen. Handelt
es sich um die äußere Gewalt in den Händen des Menschen, so
sehen wir, daß der kleine Stein, der ohne Hände losgerissen
wird, das große Bild der Gewalt der Nationen schlägt, und es
wird wie Spreu der Sommertennen, der Wind führt sie hinweg,
und keine Stätte wird für sie gefunden" (Dan 2). Christus
nimmt dann, dem Ratschluß Gottes gemäß, die ganze Macht
des Reiches in Seine Hände.
Bewunderungswürdig ist die Geduld, die Gott den Fortschritten des Bösen gegenüber an den Tag legt, wie diese in dem
großen Bilde Daniels angedeutet werden. Der Mißbrauch der
Macht in Babylon offenbarte sich auf dreierlei Weise, und zwar
64
in Form der drei aufeinanderfolgenden Stufen des Bösen: Götzendienst, Gottlosigkeit und Abfall, verbunden mit Selbsterhöhung. Zunächst sehen wir den Götzendienst in Nebukadnezar,
der in den Ebenen von Dura ein goldenes Bild aufrichten ließ
und seinen Untertanen befahl, es anzubeten. Sein Zweck war,
durch einen, allen seinen Völkern gemeinsamen religiösen Einfluß Einigkeit herzustellen. Der Gottlosigkeit begegnen wir in
Belsazar, der die heiligen Gefäße des Tempels Gottes auf
schreckliche Weise entweihte. Der völlige Abfall endlich zeigt
sich in Darius, der sich selbst an die Stelle Gottes setzte. Dies
alles trägt Gott in großer Langmut, bis sich schließlich die Macht
zu entschiedener und offener Empörung wider Christum erhebt.
Dann aber ist die Langmut Gottes zu Ende. In der Macht des
Steines, der ohne Hände losgerissen wird, zermalmt Er alles,
wie man Töpfergefäße zerschmeißt. Hierauf wächst der Stein
zu einem gewaltigen Berge an, der die ganze Erde ausfüllt. So
sehen wir, wie die Macht, die dem Menschen gegeben war, damit er sie zur Ehre Gottes gebrauche, in seiner Hand sich verderbt und endlich gegen Gott angewendet wird. Aber dann
endet die Macht der Nationen, um Christo, dem großen Gefäß
der Macht und Ehre Gottes, Platz zu machen.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Kinder Israel unter dem
Gesetz. Sie haben nicht nur gefehlt, und sind auf den Stein
gefallen und zerschmettert worden, sondern es wird auch der
unreine Geist des Götzendienstes, der von ihnen ausgefahren
war, sieben andere Geister, böser als er selbst, mit sich bringen
und wieder in sie fahren, um sie dann dieser Vollendung der
Bosheit zu unterwerfen, so daß ihr letzter Zustand ärger sein
wird als der erste. Das Böse wird immer mehr in ihnen reifen,
bis sie sich schließlich dem Götzendienst, und der Gottlosigkeit
dem Abfall öffentlich anschließen werden; dann aber wird Gott
sie als Nation aufgeben, und nur ein Überrest wird erhalten
bleiben. Demselben Abfall begegnen wir im Hause Davids.
Was nun die Kirche Gottes betrifft, so ist es viel schwerer,
zu denken, daß sie völlig und endgültig verworfen werden wird;
selbstverständlich rede ich nur von der bekennenden Kirche. Es
ist eine ernste Wahrheit, daß das Böse, wenn es einmal eingedrungen ist, stets zunimmt und wächst, bis das Gericht hereinbricht; und es ist beachtenswert, daß dieses Gericht nicht eher
65
vollzogen wird, als bis das Böse zu seiner vollen Reife gediehen
ist. — „Die Ungerechtigkeit der Amoriter ist bis hierher noch
nicht voll". — Dieser Grundsatz wird in dem Gleichnis vom Unkraut klar und deutlich dargestellt. Das Unkraut wurde im Anfang ausgestreut, aber es sollte nicht sogleich ausgerottet werden: Unkraut und Weizen sollten zusammen wachsen bis zur
Ernte. Der Herr erklärt auf diese Weise ausdrücklich, daß das
Böse im Anfang eingedrungen ist und bis zur Ausübung des
Gerichts immer mehr heranreifen wird. Es handelt sich hier
nicht um einzelne, noch darum, ob aller Weizen auf den Speicher gesammelt wird (was selbstverständlich der Fall sein wird),
sondern um die Tatsache, daß das öffentliche Zeugnis verdorben worden ist. Die Saat im Felde wurde verdorben, und dieses
Übel kann der Mensch nicht entfernen, weil er nicht befugt ist,
zu richten und deshalb auch nicht befugt ist, diesem Zustand
abzuhelfen. Überdies sind wir berufen, in Gnade zu handeln
und nicht das Unkraut auszureißen.
Aus dem zweiten Brief an die Thessalonicher ersehen wir,
daß schon in den Tagen der Apostel das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam war, aber ihrer vollen Entfaltung stand noch
etwas im Wege. Dieselbe Gesetzlosigkeit wirkt immer noch,
selbst in unseren Tagen — „nur ist jetzt der, welcher zurückhält, bis er aus dem Wege ist"; und das Böse wird fortwirken,
bis der offenbare Abfall und Aufruhr die Vollziehung des Gerichts herbeiführen wird. Nehmen wir jetzt das Buch der Offenbarung zur Hand, so finden wir in ihm in großen Zügen ein
einfaches und klares Zeugnis darüber, was das Ende der ganzen
gegenwärtigen Verwaltung sein wird: „Und ich sah aus dem
Munde des Drachen und aus dem Munde des Tieres und aus
dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister kommen, wie Frösche" (Offb 16, 13). Man mag über die Bedeutung
dieser Frösche streiten; das eine aber ist klar, daß sie eine Macht
des Bösen vorstellen, welche zu den Königen des ganzen Erdkreises ausgeht, sie zu versammeln zu dem Kriege jenes großen
Tages Gottes, des Allmächtigen, um wider Gott zu streiten.
So reift alles bis zur völligen Entfaltung des Bösen heran, und
wenn die Gesetzlosigkeit ihren Höhepunkt erreicht hat, „geht
eine starke Stimme aus von dem Thron, welche spricht: Es ist
geschehen" (Offb 16,17), worauf unmittelbar das Gericht folgt.
66
Obwohl dies seine direkte Anwendung findet auf die bekennende Kirche, so liegt doch auch etwas darin, das sich unmittelbar an unsere Gewissen wendet.
Bevor jener mit der Macht und Regierung Christi in Verbindung stehende Zustand der vollkommenen Segnung eingeführt
wird, sehen wir alle die verschiedenen Formen des Bösen dem
einen gemeinsamen Gericht entgegenreifen. Der Mensch zunächst muß in seinem Charakter offener Widersetzlichkeit, indem er sich selbst zu Gott macht, gerichtet werden. Israel sodann verbindet sich mit der Macht des Abfalls, kehrt zum Götzendienst zurück, aus dem Abraham, sein Vater, herausgenommen worden war, und macht sich eins mit den aufrührerischen
Nationen, indem es sagt: „Wir haben keinen König, als nur den
Kaiser". Deshalb muß es, da es sich selbst durch seine Sünden
dem Kaiser verkauft hat, zu diesem zurückkehren, sich mit den
Nationen im Bösen verbinden und endlich mit ihnen gerichtet
werden, während nur ein auserwählter Überrest die Segnung
ererbt. Den völligen Abfall und das Gericht Israels, als Nation,
beschreibt Jesaia mit den Worten: „Die Schweinefleisch essen
und Greuel und Mäuse: allzumal werden sie ein Ende nehmen,
spricht Jehova" (Jes 66, 17). Dann sehen wir die babylonische
Verderbnis des Christentums; der Charakter Babylons ist götzendienerisches Verderben. Es wird ebenfalls zerstört werden.
Alles Böse wird zu jener Zeit seinen Gipfelpunkt erreicht haben:
das Weib, das auf dem scharlachroten Tier sitzt, die Mutter der
Huren, das Endresultat der Verführung Jesabels; das Tier, die
Darstellung der Macht; der falsche Prophet; der Mensch in
Aufruhr und Widersetzlichkeit; das Christentum im Zustande
des völligen Abfalls; das Wort Gottes verworfen, das Gesetz
verlassen, die Gnade verachtet — alle diese verschiedenen Formen des Bösen werden sich zusammenfinden und zur Zeit des
Endes gemeinschaftlich demselben Gericht anheimfallen. Das
Böse wird auf diese Weise vollständig aus dem Wege geschafft
werden und nur das Gute wird übrigbleiben.
Ist nun die bekennende Kirdie von diesem Gericht ausgeschlossen? Sicherlich nicht. Wenn auch der Weizen auf dem
Speicher in Sicherheit gebracht werden wird, so können wir
doch, wenn wir anders das Wort Gottes zu unserem Führer
nehmen, keinen Augenblick dem Gedanken Raum geben, daß
67
die bekennende Kirche von diesem allgemeinen Gericht ausgenommen sein wird. Judas z. B. schreibt an die Heiligen: „Ich
war genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen". Und
warum dies ? Weil „gewisse Menschen sich nebeneingeschlichen
haben . . . Gottlose, welche die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und unseren alleinigen Gebieter und
Herrn Jesus Christus verleugnen .. . Es hat aber auch Henoch,
der siebente von Adam, von diesen geweissagt, und gesagt:
„Siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen wider alle und völlig zu überführen alle ihre Gottlosen von all ihren Werken der Gottlosigkeit"
(V. 3. 4. 14. 15). Wo aber befanden sich diese falschen Brüder?
In der Versammlung Gottes; denn Judas sagt von ihnen: „Diese
sind Flecken bei euren Liebesmahlen, indem sie ohne Furcht
Festessen mit euch halten". Sie befanden sich nicht unter den
Juden, noch unter den Nationen, sondern inmitten der Versammlung Gottes Selbst; und sie verdarben sie, indem sie mit
den Gläubigen Festessen hielten ohne Furcht, und sich selbst
weideten. Gott hat in Seiner großen Gnade erlaubt, daß jede
mögliche Quelle und Form des Bösen klar zutage trat, bevor der
Kanon der Heiligen Schrift geschlossen wurde, damit wir hinsichtlich alles Bösen, sobald es hervortritt, das Urteil des geschriebenen Wortes hätten. Ohne dieses wären wir nicht fähig,
die äußerst feinen Fäden des Geheimnisses der Gesetzlosigkeit,
das jetzt wirksam ist, zu entdecken; aber im Besitz des geschriebenen Wortes sind wir berufen, als Gottes Kinder alles nach
dem Wort zu beurteilen, und zwar nach dem Worte allein.
Weiter lesen wir in 2. Tim 3: „Dies aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere Zeiten sein werden, denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer" usw.; ihre falsche Frömmigkeit gibt sich darin kund, daß
sie „das Vergnügen mehr lieben als Gott", sowie darin, daß sie
„eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen". Und es ist zu beachten, daß hier nicht nur von dem Judaismus die Rede ist, obwohl dessen Geist wirksam sein mag.
Auch wird noch hinzugefügt: „Böse Menschen aber und Gaukler werden im Bösen fortschreiten, indem sie verführen und
verführt werden". Nachdem dann der Apostel die verschiedenen Charakterzüge der falschen Brüder, „die sich in die Häuser
68
schleichen", hervorgehoben hat — Charakterzüge, die auch dazu
dienen, uns in unserer Beurteilung zu leiten — schließt er mit
den Worten an Timotheus: „Du aber bleibe in dem, was du
gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist, da du weißt,
von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die heiligen
Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur
Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu ist". Denn
„alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur
Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der
Gerechtigkeit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu
jedem guten Werke völlig geschickt". Aus diesen Unterweisungen, die Paulus an sein geliebtes Kind im Glauben richtet, lernen wir also, daß in diesen Tagen der wachsenden Gesetzlosigkeit die heiligen Schriften für den Menschen Gottes den einzigen, vollkommen sicheren Schutz bilden, und zwar indem sie
gebraucht werden in der einfachen und gottseligen Weise, wie
Timotheus und seine fromme Mutter und Großmutter sie erforscht hatten. Es waren dieselben heiligen Schriften, die er von
Jugend auf gelesen hatte. Keiner Autorität noch Macht, wenn
sie nicht in Verbindung steht mit dem einfachen, geschriebenen
Worte Gottes, kann sich der Gläubige als seinem Führer anvertrauen.
Aus den angeführten Stellen sehen wir, daß die unmittelbare
Veranlassung, der Gegenstand und die innere Quelle der kommenden schrecklichen Gerichte die bekennende Kirche selbst ist.
Sie hätte das Zeugnis Gottes auf der Erde sein sollen, der Brief
Christi, gekannt und gelesen von allen Menschen; da sie sich
aber völlig verderbt hat, ist sie es gerade, die in erster Linie
und endgültig den Zorn Gottes herbeiführt. Geliebte Freunde!
es ist von außergewöhnlichem Ernst, sich sagen zu müssen, daß
nicht nur Israel und Babylon dem Gericht anheimfallen werden,
sondern daß auch, nach dem Worte Gottes, die bekennende
Kirche dies Los treffen wird. Ich verstehe hier unter dem Wort
„Kirche" die ganze Christenheit, alles, was bekennt, den
Namen Christi zu tragen. Wir finden dasselbe Zeugnis im
ersten Brief des Johannes: „Jetzt sind auch viele Antichristen
geworden". Ich zweifle nicht daran, daß der Antichrist aus den
Juden hervorkommen und eine völlige Offenbarung jenes antichristischen Geistes sein wird, der jetzt schon den Vater und
Sohn leugnet, und leugnet, daß Jesus der Christus ist. Es ist
69
ein schrecklicher Gedanke, daß dieser Abfall einen religiösen
Charakter trägt. Das Kennzeichen der „vielen Antichristen"
besteht in der Verleugnung der christlichen Wahrheit; und obwohl ein völliger Abfall sich offenbaren wird, so wird es doch
immer ein Abfall von den Lehren des Christentums sein. Ach,
wie bald ist dieser Geist des Abfalls eingedrungen! Wie bald
mußte der Apostel sagen: „Alle suchen das Ihrige, nicht das,
was Jesu Christi ist!" Möchte der Herr in Seiner Gnade die
Augen Seiner Heiligen öffnen, damit sie die Natur und den
wahren Charakter dieser letzten bösen Tage erkennen und daran gedenken, daß Gott wohl lange Zeit Geduld beweisen kann
und bewiesen hat, um Seelen zu erretten, und daß in diesem
Sinne „die Langmut des Herrn für Errettung zu achten ist", daß
aber Sein Gericht, wenn auch verzögert, doch nicht aufgehoben
ist. Denn das Wort aus Seinem eigenen Munde bezeugt es uns,
und das einzige Heilmittel für das gegenwärtige Übel ist das
Gericht.
Wie wir gesehen haben, drangen von Anfang an die Grundsätze des Verderbens in die Kirche ein, und das Zeugnis für
Gott verschwand. Das Unkraut wurde gesät und so die Saat im
Acker verdorben. Das Geheimnis der Gesetzlosigkeit begann,
sich wirksam zu erweisen. In dem Sendschreiben an Laodicäa
schreibt der Herr den doppelten Charakter des Bösen, das Er
in dieser Versammlung vorfand, den bösen Grundsätzen zu,
die im Anfang eingedrungen waren. Der Zweck, weshalb die
Saat ausgestreut war, war gänzlich verfehlt worden, denn statt
ein Zeugnis für Gott zu sein, sagt die Kirche: „Ich bin reich und
bin reich geworden und bedarf nichts". Zwei Dinge von besonderer Bedeutung kennzeichnen diese Versammlung in Laodicäa;
zunächst maßt sie sich an, in sich selbst große geistliche Reichtümer zu besitzen, und dann ist im Blick auf Christum ihr Zustand „weder kalt noch warm". So finden wir auf der einen
Seite große Anmaßung und auf der anderen nur die Form, aber
nicht die Kraft des Lebens: „Du bist weder kalt noch warm".
Es ist zwar kein entschiedener Haß gegen Christum vorhanden,
aber auch kein entschiedener Eifer für Ihn. Die Kirche geht
äußerlich in Bequemlichkeit und Weltförmigkeit voran, während sie zugleich auf große geistliche Reichtümer Anspruch
macht. Dies ist ein sicheres Zeichen der Armut; denn da, wo
man sich rühmt, in sich seihst die Reichtümer Gottes zu besit70
zen, kann man stets mit Sicherheit darauf rechnen, der Armut
zu begegnen, weil diese Reichtümer in Christo allein zu finden
sind. Wenn die Kirche sagt: „Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts", so rühmt sie sich, Reichtümer in sich
selbst zu besitzen, und macht auf diese Weise sich statt Christum zum Gefäß der Gnade. Aber indem sie dieses tut, besiegelt sie weder durch ihr „Amen" die Verheißungen Gottes in
Jesu, noch ist sie ein wahrhaftiges und treues Zeugnis für Gott.
Sie hört auf, dies zu sein, sobald sie den Blick von Christo als
der einzigen Quelle abwendet und sich selbst für das Gefäß der
Reichtümer hält; ja, sie wird dann notwendigerweise zu einem
falschen Zeugnis. Sobald ich sage: die Kirche ist dieses oder
jenes, oder: die Kirche ist es, worauf ich blicke, und nicht Christus, wird mein Auge völlig von Christo ab- und auf die Kirche
hingewendet. Ich betrachte dann nicht mehr Christum, sondern
die Kirche, wie sehr ich auch vorgeben mag, Ihn zu ehren. Es
handelt sich hierbei nicht um die Treue Gottes, sondern um
unsere Fehler. Dies festzuhalten ist von höchster Wichtigkeit,
da es uns vor Täuschung bewahren kann.
Die Gläubigen in Philadelphia machten nicht den vollen Gebrauch von allen den Segnungen, die ihnen in Christo zugehörten; sie hatten nur eine kleine Kraft, und alles, was der
Herr von ihnen sagen konnte, war, daß sie Sein Wort bewahrt
und Seinen Namen nicht verleugnet hatten. Da aber die Versammlung ihre Armut fühlte, so fand Christus Seine Freude an
ihr und konnte sagen: „Ich bin für euch, und ich komme für
euch". „Ich werde die, welche aus der Synagoge des Satan sind,
zwingen, daß sie erkennen, daß ich dich geliebt habe". Sobald
aber die Kirche sich anmaßt, reich zu sein in sich selbst, sobald
sie Reichtümer für sich in Anspruch nimmt und sich mit ihnen
Anerkennung verschafft, wird sie, statt der Gegenstand der
Wonne Christi zu sein, Ihm zum Ekel, so daß Er ihr droht:
„. . . so werde ich dich ausspeieri aus meinem Munde". Bei
einem Blick auf die bekennende Kirche unserer Tage sehen wir,
daß sie immer mehr in diesen Zustand hineinkommt, reich zu
sein in sich selbst. Wenn ich finde, daß nur eine kleine Kraft
vorhanden ist, daß aber das Wort bewahrt und der Name
Christi nicht verleugnet wird, dann kann ich sagen: „Freuet
euch! der Herr kommt bald". Denn anzuerkennen, daß ich arm
bin und nur wenig Kraft besitze, ist nicht Unglaube gegen
71
Christum; wenn ich, um Kraft zu haben, mich auf Ihn stütze,
weil ich mich selbst kraftlos fühle, so ist das nicht, daß ich verleugne, was ich in dem Herrn habe, sondern ich offenbare den
Charakter des Leibes, der seine Fülle in dem Haupte findet. Sobald ich aber sehe, daß eine Versammlung dem Gedanken
Raum gibt, diese Fülle und diese Reichtümer in sich selbst zu
haben, so kann ich ihr zurufen: Ihr seid auf dem Wege nach
Laodicäa, dessen Ende ist, aus dem Munde Christi ausgespien
zu werden. Die Versammlung zu Laodicäa glaubte, alles in sich
selbst zu haben und nichts zu bedürfen, aber dies bewies nur,
wie völlig unwissend sie hinsichtlich ihres wahren Zustandes
vor Gott war. „Weil du sagst: Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts und weißt nicht, daß du der Elende
und Jämmerliche und arm und blind und bloß bist. Ich rate dir,
Gold von mir zu kaufen, geläutert im Feuer, auf daß du reich
werdest, und weiße Kleider, auf daß du bekleidet werdest und
die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe,
deine Augen zu salben, auf daß du sehen mögest".
Da die Versammlung in Laodicäa diese Dinge nicht bei dem
Herrn suchte, so fehlten sie ihr alle. „Gold" bedeutet die göttliche Gerechtigkeit im Gegensatz zu der menschlichen und bezeichnet die Stellung und die Reichtümer der Heiligen, sowie
die Grundlage, auf der sie stehen. Die „weißen Kleider" sind
die Werke der Heiligen, die Früchte ihres Glaubens an die göttliche Gerechtigkeit, die aus dem Besitz dieser Gerechtigkeit hervorgehen. Menschliche Gerechtigkeit ist gänzlich verschieden
von den Gerechtigkeiten der Heiligen, die der Ausfluß solcher
Herzen sind, die durch die göttliche Gerechtigkeit befreit sind.
Bei einem indischen Fakir oder einem türkischen Derwisch finden wir eine Menge von Werken, aber nichts, was auf die Erlösung gegründet wäre. Die Werke des Geistes sind der Ausfluß des Geistes, welcher der Seele als Siegel der göttlichen Gerechtigkeit gegeben ist; diese heiligen Werke sind die Früchte
des Heiligen Geistes in uns, jene „weißen Kleider", an denen es
in Laodicäa gänzlich mangelte. Denn da die göttliche Gerechtigkeit fehlte, so konnte unmöglich eine praktische geistliche Gerechtigkeit vorhanden sein, wie in Offb 19, 8 gesagt ist: „Die
feine Leinwand sind die Gerechtigkeiten der Heiligen". Auch
fehlte ihnen die „Augensalbe"; sie waren für die Dinge Gottes
so blind, wie die Natur es nur sein kann; sie hatten durchaus
72
kein geistliches Verständnis und doch sagten sie: „Wir sehen".
Deshalb bleibt ihre Sünde. Da sie so weder göttliche Gerechtigkeit, noch die daraus hervorgehenden Früchte des Geistes besaßen und noch im Zustand natürlicher Blindheit verharrten,
fehlte ihnen alles. Anmaßung war in Oberfluß da, aber nichts,
was vor Gott Anerkennung finden kann; alles war bloßer
Schein.
Gleichwohl bricht der Herr noch nicht jede Verbindung mit
Laodicäa ab; aber Er spricht zu der Versammlung als außerhalb
von ihr stehend. Denn wenn die bekennende Kirche dahin
gekommen ist, praktischerweise eine jüdische Stellung einzunehmen, so nimmt der Herr Seinen Standpunkt draußen und
ruft den einzelnen Seelen, die sich innerhalb derselben befinden, zu: „Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört" . . . Der Herr wünscht die Aufmerksamkeit auf Sich zu lenken; Er begehrt Einlaß; Er kündigt der
Kirche an, was ihr bevorsteht: das gewisse Gericht; doch bis zu
dessen Vollziehung kann Er nicht anders, als fortfahren, Seine
kostbare Gnade auszuüben. Die Gegenstände dieser Gnade
sind jedoch jetzt einzelne Personen, da die Kirche aufgegeben
ist — „wenn jemand . . . die Tür auftut, zu dem will ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir"; das
heißt: nur ein solcher wird Gemeinschaft mit mir haben.
„Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem
Throne zu sitzen". Auf den ersten Blick scheint dies eine große
Verheißung zu sein; ich glaube aber, daß es die geringste der
in den Sendschreiben ausgesprochenen Verheißungen ist, da sie
nur von einem Platz in der himmlischen Herrlichkeit redet, nicht
aber von einer besonderen Verbindung mit Christo, wie dies in
der Verheißung an Pergamus und selbst an die Getreuen in
Sardes und Thyatira der Fall war. Die Freude einer persönlichen Vertraulichkeit, dies ausschließliche Teil der Braut, wird
hier nicht als Beweggrund vorgestellt. Mit Christo zu regieren,
ist nur ein öffentliches Zeichen der Belohnung und der Herrlichkeit; etwas ganz anderes aber ist die innige Vertraulichkeit,
die durch „das verborgene Manna" und „den weißen Stein"
ausgedrückt wird. Die, welche das Anklopfen gehört und dem
durch die Gnade Folge geleistet haben, gehen in die himmlische
Herrlichkeit ein; sie haben überwunden, und der Lohn, der
darin besteht, mit Ihm auf Seinem Thron zu sitzen, kann ihnen
73
deshalb nicht ausbleiben. Auch haben sie Teil an der ersten
Auferstehung und somit Teil an der Herrschaft mit dem Christus. Indessen kann man von den beiden Zeugen in Offb 11
dasselbe sagen. „Sie stiegen in den Himmel hinauf . . . und es
schauten sie ihre Feinde". Sie sitzen auf Thronen; sie erhalten
ihre Belohnung, die sich aber darauf beschränkt, daß sie einen
Platz in der Herrlichkeit haben; dagegen hören wir nichts von
der philadelphischen Innigkeit der Beziehungen, von einer besonderen Wonne, die Christus darin findet, die geliebte Versammlung bei Sich zu haben, und welche die Versammlung
ihrerseits genießt in dem Besitz ihres geliebten Herrn. Immerhin aber haben sie ihren Platz in der Herrlichkeit.
Das feierliche Zeugnis des Herrn, daß die bekennende Kirche
aus Seinem Munde ausgespien werden soll, sollte unsere Herzen mit weit mehr Betrübnis erfüllen, als der Gedanke an das
Gericht über die Welt; denn für das Herz hat es einen viel
schrecklicheren Charakter, als selbst das Gericht über den Antichristen, weil es etwas betrifft, das den Abscheu Christi erregt,
das Ihn anekelt, da es früher in einer äußeren Verbindung mit
Ihm gestanden hat. Und wie wichtig ist dies, wenn wir bedenken, daß wir mitten darin leben! Wenn ich von der bekennenden Kirche unserer Tage rede, so verstehe ich darunter das, was
man gewöhnlich die Christenheit nennt, was den Namen
Christi trägt, während es ihn in den Werken verleugnet. Gerade das, was einst bekannt hat, in Verbindung mit Ihm zu
stehen, wird von dem Herzen, dem Geiste und dem Wesen
Christi, als Seinen Abscheu erregend, völlig verworfen.
Der Judaismus und das Namenchristentum werden am Ende
weit mehr miteinander verbunden sein, als man im allgemeinen
denkt. Das Lamm mit den zwei Hörnern, der falsche Prophet
der Offenbarung, wird seine Macht zu Gunsten des römischen
Kaisers verwenden. Von Anfang an trug das Verderbnis in der
Kirche diesen doppelten Charakter; zunächst des Götzendienstes, der Anbetung der Engel usw. und dann des Judaismus. So
lesen wir z. B. im Kolosserbrief: „Sehet zu, daß nicht jemand
sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie und
eitlen Betrug". „So richte euch nun niemand über Speise oder
Trank oder in Ansehung eines Festes oder Neumondes oder
von Sabbathen . . . Laßt niemand euch um den Kampfpreis
bringen, der seinen eigenen Willen tut in Demut und Anbetung
74
der Engel" (Kol 2, 8. 6. 18). Die Galater beobachteten, von den
Juden überredet, „Tage und Monate und Zeiten und Jahre".
Von jeher war die Neigung vorhanden, das Christentum mit
dem Judentum zu vereinigen. Nachdem aber das Judentum von
Gott beiseitegesetzt ist, ist es um kein Haar besser als das
Heidentum (vgl. Gal 4, 8—10). Eine Religion des Fleisches, eine
heidnische Anbetung der Engel, Philosophie und eitler Betrug
einerseits, und das Judentum, das Tage, Monate und Jahre beobachtet, andererseits, drangen von Anfang an in die Kirche ein
und veranlaSten den Apostel Paulus, die Gläubigen vor der
Rückkehr zu den armseligen Elementen der Welt und vor dem
jüdischen Joch zu warnen, von dem sie befreit worden waren.
So schreibt er an die Galater: „Da ihr Gott erkannt habt . . .
wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen
Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?"
Gott hatte in Israel dem Fleische Gelegenheit gegeben, zu
zeigen, daß nichts Gutes in ihm wohnt; Er hatte den Juden
gestattet, der Richtung einer jeden menschlichen Religion zu
folgen; indem Er ihnen das Gesetz, Satzungen, reiche Kleider,
prächtige Gebäude, Posaunenschall und dergleichen gab. Aber
dann kam Christus, und „Er ist des Gesetzes Ende, jeglichem
Glaubenden zur Gerechtigkeit". Durch diese Gerechtigkeit
waren die Galater von ihrer heidnischen Unwissenheit und
ihren falschen Göttern befreit worden; aber sie wandten sich
wieder zurück, denn indem sie die jüdischen Grundsätze annahmen, kehrten sie — als wenn sie noch im Fleische in der
Welt lebten — tatsächlich zu ihrem alten Heidentum zurück,
dessen Wesen die Religion des Fleisches ist. Als Vorbilder
konnte Gott die jüdischen Anordnungen benutzen, um den
Menschen auf die Probe zu stellen, bis der verheißene Same
gekommen wäre; nachdem dieser aber gekommen ist, haben
diese Formen denselben Charakter, wie diejenigen des Heidentums; beide sind ganz und gar „ohne Gott" und dienen nur der
Gerechtigkeit des Fleisches, das alles eifrig benutzt, was ihm
einen schönen Anschein geben kann. Diese Flut des Verderbens, die von Anfang an in die Kirche eingedrungen ist — die
Rückkehr zu den armseligen Elementen, die Religiosität des
Fleisches, die in Zeremonien und Satzungen ihre Ruhe findet
und alles andere eher sucht, als Augensalbe — wird bis ans
Ende stetig zunehmen. Die Grundsätze einer solchen Religion
75
sind überall die gleichen, und so wird sie sich mit dem verbinden, was der Form nach das Judentum ist; ebenso wird sich
das Judentum seinerseits am Ende mit dieser Religion in dem
Charakter des ausgeprägtesten Götzendienstes vereinigen. Die
falsche Religiosität unserer Tage hat den Charakter des Judentums; man begnügt sich damit, die Form der Gottseligkeit zu
haben, ohne ihre Kraft zu besitzen.
Dieser Grundsatz des babylonischen Götzendienstes ist es,
der am Ende durch das Tier herrschen wird. Der Geist des Unglaubens wird alles annehmen, das Judentum sowohl als das
babylonische System, nur nicht die Wahrheit, und die Folge
wird sein, daß die ungläubigen Juden durch die babylonische
Macht verführt werden. Diese wird im Osten die Formen des
Judentums annehmen, während im Westen die Formen des
babylonischen Götzendienstes unverhüllt hervortreten wird.
Wie überaus ernst ist der Gedanke, daß diese Welt, durch die
wir gehen, der Schauplatz solcher Ereignisse sein wird! Wie
sehr der Mensch sich jetzt auch dieser bekennenden Kirche rühmen mag, am Ende wird sie dennoch aus dem Munde Christi
ausgespien werden, — sie, die sich anmaßt, die volle Macht des
Heiligen Geistes zu besitzen, während ihr alles mangelt, was
Christum in Seinem Wert anerkennt, dagegen sich selbst allen
Wert beimißt und sich dadurch Anerkennung verschafft.
Möge uns der Herr in der Stellung von Philadelphia bewahren, so daß wir, wenn auch die Kraft gar klein ist, das Wort
Seines Ausharrens bewahren! Möge Er uns erhalten in dem
empfundenen Genuß unserer vollkommenen Verbindung mit
Ihm, der eine offene Tür vor uns gegeben hat und der sie offen
halten wird, bis Er kommt, um uns zu Sich aufzunehmen!
Anhang
Die vorstehenden Betrachtungen sind Auszüge aus einer
Reihe von Vorträgen und hatten die praktische Erbauung der
Heiligen Gottes zum Zweck. Es ist deshalb in ihnen nicht die
Rede von den verschiedenen aufeinanderfolgenden Zuständen
der Kirche, auf die der moralische Zustand einer jeden der sieben Versammlungen seine Anwendung findet. Zur Ausfüllung
dieser Lücke mögen die nachfolgenden kurzen Bemerkungen
dienen.
76
Der Leser wird sich erinnern, daß wir in den Sendschreiben
niemals der wirkenden Macht des Geistes Gottes, welche die
Quelle der Segnung der Versammlung ist, begegnen, sondern
daß es sich in ihnen vielmehr stets um die Form oder den Zustand der bekennenden Kirche handelt, nachdem diese Macht
des Geistes wirksam gewesen und die Verantwortlichkeit des
Menschen eingetreten ist. Es mag sich ein gewisses Maß von
Segnung oder eine große Strafbarkeit vorfinden, aber nie kann
die wirkende Macht des Heiligen Geistes Gegenstand des Gerichts sein.
Schon die erste Versammlung (Ephesus) zeigt das Abweichen
der Gläubigen von ihrem ersten gesegneten Zustand, den die
Macht des Heiligen Geistes hervorgebracht hatte. Dieser Umstand bezeichnet hinlänglich den Zeitabschnitt, auf den sich das
Sendschreiben bezieht. Zugleich deutet es in allgemeiner Weise
das Endergebnis an, das für die ganze bekennende Kirche daraus hervorgehen muß, daß sie die erste Liebe verlassen hat. Die
Kirche wird hier betrachtet als ein von Gott in der Welt aufgerichtetes System, als ein Licht in der Welt, nicht aber in ihrer
vollkommen sicheren Stellung, als der wahre, lebendige Leib
Christi, der nach der Kraft der Erlösung durch die unfehlbare
Macht Christi sichergestellt ist.
Die Kirche verließ ihre erste Liebe, und dies bewies, daß der
Mensch in der Segnung, unter die Gott ihn gestellt hatte, nicht
geblieben war. Der Herr kündigt nun der Kirche, in ihrer Stellung in der Welt betrachtet, an, daß sie hinweggetan werden
würde, wenn sie nicht zu ihren ersten Werken zurückkehre.
Das also war schon ihr Zustand in den Tagen der Apostel unmittelbar nach ihrer Gründung. — So ist der Mensch. — Das an
Ephesus gerichtete Schreiben spricht von Verantwortlichkeit im
Blick auf die der Kirche zuteil gewordene Gabe des Heiligen
Geistes, redet von ihrem Verfall und droht ihr an, sie hinwegzutun, wenn sie nicht zu ihrem ersten Zustand zurückkehrt. Sie
wird ermahnt, die ersten Werke zu tun, des Werkes des Heiligen Geistes zu gedenken, wie es sich im Anfang in ihrer Mitte
geoffenbart hatte. Wohl war noch manches Gute in Ephesus
vorhanden; unter anderem konnten sie die Bösen nicht ertragen
und verurteilten die, die sich anmaßten, mit Autorität zu lehren; in Wirklichkeit aber hatte sich ihr Herz von Christo entfernt.
77
Dieser Zustand führte bald Trübsale für die Kirche herbei,
wenn auch nur für eine beschränkte Zeit (Smyrna). Die Armen
der Herde, die Getreuen, wurden den verleumderischen Anklagen derer ausgesetzt, die vorgaben, ein wohlbegründetes Recht
zu haben, sich Gottes Volk zu nennen; zugleich kamen Verfolgungen von außen über sie. Dieser Zustand dauerte von
Nero bis auf Diokletian.
Nach diesem charakterisierte ein anderer Zustand der Dinge
die Kirche. Sie war durch die Verfolgung hindurchgegangen,
und manche hatten als treue Märtyrer ihr Leben gelassen. Die
Welt, ihr irdischer Wohnort, hatte sich als ihre Feindin erwiesen. Jetzt aber drangen Lehren in die Kirche ein, die sie zur
Verbindung mit der Welt führten; sie wurde dahin gebracht,
Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen (Pergamus). Das
gleiche hat einst Balaam Israel gegenüber getan. Da er es als
Feind nicht verfluchen noch verderben konnte, gab er als angeblicher Freund Israels dem Feind Ratschläge zum Verderben
Israels. Auch wurden Lehren in der Kirche verbreitet, die zu
bösen Werken führten, welche die Verletzung unmittelbarer,
moralischer Bande guthießen, Es ergeht deshalb der Ruf an die
persönlich Treuen, die sich inmitten dieses Bösen befanden, es
zu verlassen. Dieser Zustand kennzeichnete die Kirche seit den
Tagen Konstantins; obwohl er sich schon früher eingeschlichen
hatte, entwickelte er sich doch erst von diesem Zeitpunkt an zu
einem bestimmten System. Das Papsttum begann, innerhalb
der bekennenden Kirche die Mutter von Kindern zu werden.
Dies sehen wir deutlich in Thyatira. Jesabel ist nicht einfach
eine Prophetin, welche die Knechte Gottes verführt, wie es die
taten, welche die Lehre Balaams hatten, sondern sie ist die
Mutter von Kindern. Alle, die sich mit ihr verbanden, sollten
in große Drangsal kommen, ihre Kinder aber einem völligen
Gericht anheimfallen. Schon hier wird die Aufforderung: „wer
ein Ohr hat, höre", erst ausgesprochen, nachdem die „übrigen,
die in Thyatira" sind, von der Masse unterschieden sind. In den
drei ersten Sendschreiben richtet sich die Aufforderung an den
ganzen Körper. Hernach aber, nachdem alle Buße verweigert
und deshalb jede Hoffnung auf Wiederherstellung des Körpers,
als eines Ganzen, verloren ist, wird die Ankunft Christi und
die gänzliche Veränderung der gegenwärtigen Verwaltung den
Heiligen als ihre Hoffnung vorgestellt. Meines Erachtens schließt
78
hier die allgemeine prophetische Geschichte des bekennenden
Körpers in seiner Gesamtheit.
Zunächst folgt jetzt der Protestantismus, ich sage nicht die
Reformation, als ein Werk der Macht Gottes mittels des Heiligen Geistes, sondern der Protestantismus als das große öffentliche Resultat dieses Werkes unter den Menschen, inmitten der
bekennenden Christenheit. Christus wird deshalb hier von
neuem als Der vorgestellt, Der alles für die Kirche in Seiner
Hand hält. Was die Kirche selbst betrifft, so hat sie den Namen, daß sie lebe, aber sie ist tot. Wir begegnen in Sardes nicht
der Prophetin Jesabel, welche Kinder des Verderbnisses, der
Hurerei und des Götzendienstes hervorbringt; sein Zustand
besteht vielmehr darin, daß es nicht dem entspricht, was es
empfangen und gehört hat. Es wird ihm daher angekündigt,
daß es bei der Ankunft Christi zum Gericht behandelt werden
wird wie die Welt (vgl. 1. Thess 5). Ich bemerke hier noch, daß
diese allgemeinen Zustände, welche die Kirche charakterisieren,
bis zum Ende ihren Fortgang haben; so der Zustand von Ephesus, Thyatira, Sardes, Philadelphia und selbstverständlich auch
von Laodicäa, obwohl einige dieser Zustände erst spät beginnen mögen.
Indessen sollte nicht alles in diesem Zustande von Sardes
bleiben. Eine Wiederherstellung der Kraft sollte zwar nicht
stattfinden — die sieben Geister und die sieben Sterne in der
Hand Christi dienten, wenn ich so reden darf, zu nichts anderem als zur Verurteilung — aber es sollte ein Häuflein von Getreuen da sein, welches das Wort Christi bewahrt und Seinen Namen nicht verleugnet, das allerdings nur eine kleine Kraft
besitzt, aber eine geöffnete Tür vor sich hat. Der Charakter Christi und nicht Seine Macht wird in dem Sendschreiben an
Philadelphia in den Vordergrund gestellt und der Heilige Geist bezeichnet Festigkeit, Gehorsam, Abhängigkeit und ein treues
Bekennen Christi als die Eigenschaften derer, die Christus einst darstellen wird als die, welche Er geliebt hat. Sie werden durch
die Zusicherung, daß Er bald kommt, gestärkt und getröstet.
Nach der Offenbarung dieser Verachteten von Philadelphia wird uns in Laodicäa gezeigt, was das Ende des allgemeinen,
bekennenden Körpers sein wird. Sein Zustand kennzeichnet sich nicht so sehr durch das Verderben Jesabels, als durch eine
abscheuerregende Lauheit, eine hohe Meinung von sich selbst und seinem vermeintlichen Reichtum, während in Wahrheit
göttliche Gerechtigkeit, geistliche Unterscheidung und die Früchte eines geistlichen Charakters völlig fehlen. Die in diesem Zustand befindliche Kirche wird aus dem Munde Christi ausgespien werden. Das ist das Ende der bekennenden Welt,
insoweit sie sich von Jesabel unterscheidet. So geben uns die sieben Sendschreiben in großen Zügen die Geschichte der bekennenden Kirche von den Tagen der Apostel bis dahin, wo sie gänzlich verworfen oder durch Gott gerichtet wird. Dieses Gericht wurde schon Ephesus angekündigt, es wird aber erst ausgeführt werden in Jesabel und Laodicäa, nachdem Gott eine bewunderungswürdige Geduld bewiesen hat.
Schließlich nimmt Christus in dem Charakter, unter dem Er Sich in dem Sendschreiben an Laodicäa ankündigt, den Platz des Zeugnisses ein,
das die Kirche nicht vermocht hat, aufrechtzuerhalten. —Möchte
der Herr uns allen die Gnade schenken, in der gegenwärtigen
Zeit einen wahrhaft philadelphischen Charakter zu erweisen.
Gestorben und auferweckt
In Form eines Zwiegesprächs
Bist Du errettet?
Ich hoffe es einst zu werden.
Soll ich diese Antwort so verstehen, daß Du noch nicht errettet bist?
Ich denke, daß niemand das Recht hat, etwas bestimmt zu
behaupten, was erst am Tage des Gerichts offenbar werden
wird.
Ganz recht; aber was willst Du auf Worte erwidern, wie:
„Dies habe ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr
ewiges Leben habt, die ihr glaubet an den Namen des Sohnes
Gottes"; „wir wissen, daß wir aus Gott sind"; „wir wissen,
daß wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind" (1. Joh
5, 13. 19; 3, 14)? Dies sind Worte, die der Heilige Geist durch
den Mund des Apostels Johannes zu den Gläubigen jener Zeit
redete.
80
Ich muß gestehen, daß ich um eine Antwort verlegen bin;
und wirklich, wenn meine Errettung abhängig ist von dem bestimmten Bewußtsein, daß ich das ewige Leben besitze, dann
bin ich nicht errettet.
Du verstehst mich falsch. Eine Tatsache hängt nicht von der
Kenntnis ab, die ich von ihr habe, wohl aber die Kenntnis von
dem Vorhandensein der Tatsache; oder mit anderen Worten:
Wenn jemand errettet ist, so darf man erwarten, daß er dies
mit Bestimmtheit weiß, obwohl niemals die vollkommenste
Erkenntnis jemanden erretten kann. Nur der Glaube an das
Blut Jesu Christi ist dazu imstande. Ich habe jene Verse deshalb
angeführt, weil Du zu verstehen gabst, man könne vor dem
Tage des Gerichts nicht wissen, ob man errettet sei, während
der Apostel behauptet, daß die Personen, an die er schrieb und
die damals auf der Erde lebten, errettet waren und dies auch
wußten. Da nun die Schrift ebensowohl für uns wie für jene
geschrieben ist, so folgt daraus, daß auch heute noch jedes Kind
Gottes die Gewißheit seiner Errettung haben kann.
Ich sehe ein, daß diese Gewißheit sehr wünschenswert ist
und ihr Besitz mich sehr glücklich machen würde. Aber sage
mir, warum dringst Du so sehr darauf, daß ich diese Gewißheit
erlange?
Weil ich weiß, daß, so lange dieser Punkt nicht geordnet ist,
das kostbare Werk Christi von Dir nicht verstanden wird, und
Du Dir es nicht zugeeignet hast.
Aber ich glaube an Christum.
Daran zweifle ich nicht; aber es gibt Tausende und Millionen
in der Christenheit, die auch bekennen, zu glauben, die aber
dennoch nicht errettet sind.
Das ist wahr, aber ich glaube, daß Christus für Sünder gestorben ist.
Auch das glaubt der größte Teil der Christenheit, und darum
hält die Christenheit so streng auf die Feier des Karfreitags.
Das ist bei den meisten zur bloßen Gewohnheitssache geworden; aber ich versichere Dir, daß ich es aufrichtig meine. Ich
weiß, daß ich ein Sünder bin, daß ich nötig habe, errettet zu
werden, und ich weiß, daß nur Christus es ist, Der mich erretten
kann. Wenn ich je errettet werde, so ist es Sein Werk, und nicht
meins; darüber bin ich völlig klar.
81
Ich glaube, daß Du es aufrichtig meinst, ja noch mehr: Wenn
ich Dich nicht für ein Kind Gottes hielte, würde ich nicht in
dieser Weise mit Dir reden.
Glaubst Du denn, daß ich errettet bin?
Würde es eine Beruhigung für Dich sein, wenn ich es glaubte?
In gewisser Beziehung, ja. Du sprichst so überzeugend und
führst Stellen an, auf die ich unmöglich antworten kann, so daß
ich Deiner Meinung unwillkürlich einiges Gewicht beilegen
muß.
Ach! mein lieber Freund, meine Gedanken über Dich sind
von geringer Wichtigkeit und können Dir keinen wahren Frieden geben. Dein Glaube darf nicht auf meinen Worten, sondern einzig und allein auf dem Wort Gottes ruhen. Und nun
höre, was der Herr Jesus sagt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt
hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er
ist aus dem Tode in das Leben übergegangen" (Joh 5, 24).
Könnte es etwas Einfacheres und Bestimmteres geben als diese
Erklärung?
Wahrlich, diese Worte sind so klar, daß ich anfange, mich
vor mir selbst zu schämen.
Das freut mich aufrichtig; und da Du mir so viel bekannt
hast, so will ich Dir ein Geheimnis mitteilen, das Dich persönlich betrifft und von dem Du mir nichts gesagt hast.
Und was sollte das sein?
Höre mir zu: Du findest in Dir selbst viele Mängel, Unvollkommenheiten, Widersprüche und dergleichen, und so oft Du
bestimmt sagen willst: „ich bin errettet", stellt sich dies alles
vor Deine Augen und verurteilt Dich.
Ja, Du hast Recht.
Noch mehr: es gibt eine Menge von mehr oder weniger
starken Vorurteilen und Widersprüchen in Dir, die Du nicht
loswerden kannst. Und selbst wenn Du wüßtest, wie Du sie
loswerden könntest, würdest Du Dich dennoch bedenken, ob
Du sie, nachdem sie Dir bekannt und lieb geworden sind, rückhaltlos fahren lassen solltest. Ist es nicht so?
Ich muß bekennen, daß Deine Worte meinen Zustand klar
kennzeichnen. Ich hätte es nicht gewagt, ihn vor mir selbst,
noch weniger vor Dir einzugestehen; aber da Du jetzt mein Geheimnis erraten hast, so sage mir, was ich machen soll. Seit
82
mehreren Monaten lastet es auf mir wie ein schwerer Druck.
Zuweilen glaube ich, errettet zu sein; wenn ich dann aber auf
mein Verhalten blicke, gerate ich wieder in die größte Verwirrung. Ich schäme mich, es sagen zu müssen, aber ich habe zu
verschiedenen Malen eine Unterhaltung mit Dir angeknüpft, in
der Hoffnung, Dich in jener Gewißheit, die Du besitzest, die
mir aber noch fehlt, wankend zu machen. Das war schlecht, ich
fühle es; aber da wir einmal an dieser Sache sind, so ist es
besser, ich gestehe alles ein.
Du tust recht daran, denn nichts erleichtert das Gewissen
mehr, als ein aufrichtiges Bekenntnis; nur sollen wir vor allen
Dingen Gott bekennen. Johannes sagt in bezug darauf: „Wenn
wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er
uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit".
Ich bin überzeugt, daß alles, was Du mir sagst, wahr ist, da
Du mich stets auf Gottes Wort hinweisest, und ich fühle, daß
Gott an mich gedenkt und mich liebt, da Er sonst Seinen Sohn
nicht für mich hingegeben haben würde. Was mich aufhält, sind
meine verkehrten Wege. Ich kann nicht vor Gott meine Knie
beugen, nachdem ich vielleicht soeben erst zornig oder ungeduldig gewesen bin. Ich würde mich für einen Heuchler halten,
wenn ich es täte.
Ich meine nun, daß gerade dann der passende Augenblick
gekommen wäre, um Dich vor Gott niederzuwerfen.
In gewissem Sinne, ja. Aber wenn ich nun niederknie und
um Vergebung bitte, weil ich mich vergessen habe, indem ich
mir bewußt bin, daß ich mein letztes Versprechen, besser zu
handeln, nicht gehalten habe und außerdem von vornherein
weiß, daß ich auch meine neuen Versprechungen, trotz aller Anstrengung, sie zu halten, brechen werde, bevor der Tag vergeht
— sieht es dann nicht wie Hohn aus, wenn ich noch bete? Und
dennoch kann ich andererseits nicht ehrlich sagen, daß ich errettet bin, wenn ich das Gebet vernachlässige.
Mein lieber Freund, ich fühle tief mit Dir, da ich das Bittere
einer solchen Stellung an mir selbst erfahren habe. Aber, Gott
sei Dank! ich kann Dir den Weg der Befreiung zeigen, der Dir
nicht nur für einige Augenblicke Erleichterung, sondern eine
vollkommene Freiheit zu geben vermag. Zunächst hast Du bis
heute ganz irrige Vorstellungen über das Werk Christi und
83
über Deine eigene Stellung gehabt. Obwohl Du weißt, daß Du
von Natur ein Sünder und tot in Übertretungen und Sünden
bist, hast Du dennoch geglaubt, Christus sei gekommen und
am Kreuz gestorben, um Dich, den Sünder, fähig zu machen,
Deinen Zustand zu verbessern und Werke der Gerechtigkeit
statt der bisherigen Werke der Ungerechtigkeit zu tun. Du hast
gemeint, ein schlechter Baum könne durch geschickte Behandlung dahin gebracht werden, daß er gute Früchte trage. Du hast
die Tatsache völlig aus dem Auge verloren, daß der Mensch als
Kind des ersten Adam durchaus verderbt ist, und hast vergessen, daß Gott erklärt hat, Du müßtest von neuem geboren
werden. Wenn eine solche allmähliche Vervollkommnung der
alten Natur möglich wäre, dann würde eine neue Geburt nicht
nötig sein. Du hast gerade wie Nikodemus gedacht: „Wie kann
ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?" Aber wenn Gott
sagt, daß eine neue Geburt notwendig sei, so ist es offenbar,
daß Er an die Verbesserung der alten Natur nicht denkt. Was
vom Fleische geboren ist, ist Fleisch. Man kann es ausbilden
und verfeinern; es kann religiös, moralisch und ehrbar sein, ja
es kann das Christentum angenommen haben, getauft sein und
von Zeit zu Zeit das Abendmahl empfangen — es kann alle
diese Dinge nach seinen Gedanken angenommen haben und
ausüben, aber dennoch hat es nicht einen einzigen Schritt über
das Fleisch hinaus gemacht, und das Wort Gottes sagt: „Die
aber, welche im Fleische sind, können Gott nicht gefallen"
(Röm 8, 8).
Wenn das wahr ist, und es scheint die Wahrheit zu sein, wer
kann dann errettet werden?
Jeder, der von neuem geboren ist, ist errettet.
Aber ich habe bisher gemeint, ich sei von neuem geboren.
Ich habe an Jesum, den erhöhten Sohn des Menschen, geglaubt,
und Er Selbst versichert mir in Seinem Wort, daß alle, die an
Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.
Ich glaube in Wahrheit an Ihn. Ich habe keine andere Zuflucht,
keine andere Hoffnung. Kann ich nun nicht sagen, daß ich von
neuem geboren bin?
Sicher kannst Du dies sagen, und ich danke Gott, daß Er
unsere Unterhaltung dazu dienen läßt, Deinen Glauben so deutlich ans Licht zu stellen. Ich freue mich, in Deiner Seele eine
göttliche Grundlage zu finden, auf der weitergebaut werden
84
kann, und wenn Du nur Deine vorgefaßten Meinungen fahren
lassen und mit Unterwürfigkeit auf das Wort Gottes lausdien
willst, so wirst Du bald Deine wahre Stellung vor Gott erkennen, und alles Übrige wird Dir dann klar und einfach werden.
— Ich beginne mit dem Throne Gottes.
Wie? mit dem Throne Gottes? Ich hätte geglaubt, Du würdest von dem Kreuze ausgehen.
Ja, wenn der Herr Jesus noch an dem Kreuze hinge. Aber Er
hat mit dem Kreuz abgeschlossen, so gesegnet die Folgen des
dort vollbrachten Werkes auch sein mögen. Er hat dort die
Frage der Sünde in Ordnung gebracht, eine Frage, die für den
Gläubigen nicht wieder aufgeworfen werden kann. Dort hat Er
die Heiligkeit des Charakters Gottes aufrechtgehalten, indem
Er, der Sohn Gottes, der Reine und Heilige, ein Opfer wurde,
um die Schöpfung von der häßlichen Befleckung der Sünde zu
reinigen. Dort wurde von Ihm die Schranke weggenommen, die
den Strom der Liebe und der Gnade Gottes zurückhielt. Dieser
Strom war zwar von jeher bereit, zu fließen, wurde aber bis
dahin zurückgehalten, weil Gott infolge Seiner unbeflecklichen
Heiligkeit und Gerechtigkeit Seiner Liebe nicht freien Lauf lassen konnte, Er hätte dann die Augen vor der Sünde verschließen müssen, was gerade das Gegenteil von allem gewesen wäre,
was Gott ist. Auf dem Kreuz machte Jesus nicht nur alles wieder
gut, was der Mensch unter der Leitung Satans verdorben hat,
sondern Er vollbrachte auch ein Werk, durch das Gott völlig
verherrlicht wurde, und zwar in einer Weise, die man nur ermessen kann nach dem Wert und der Vorzüglichkeit Dessen,
Der dort am Kreuze starb. Durch alle Zeitalter der Ewigkeit
hindurch wird das auf Golgatha vollbrachte Werk in hervorragender Weise die Bewunderung und Anbetung aller Erlösten
wachrufen, und es wird die höchste Herrlichkeit Dessen bilden,
Welcher der Gott der Herrlichkeit ist. Doch vor allem möchte
ich Deine Aufmerksamkeit auf die Auferstehung des Herrn
richten, eine Wahrheit, deren Tragweite man fast gänzlich aus
dem Auge verloren hat, wodurch die Herrlichkeit des Kreuzes
verdunkelt wird, gerade so wie eine Wolke den Glanz der Sonne verdunkelt. Durch die Auferstehung erhalten alle die kostbaren Resultate des Werkes Christi gleichsam erst ihre Wirksamkeit und Gültigkeit, wie denn der Apostel Paulus zu den
Korinthern sagt: „Wenn Christus nicht auferstanden ist, so ist
85
euer Glaube eitel, ihr seid noch in euren Sünden" (1. Kor 15,
17). Ehe Christus starb, rief Er aus: „Es ist vollbracht" (Joh 19,
30). Das Werk, das der Vater Ihm zu tun gegeben hatte, war
vollendet. Köstlich für uns, doch noch köstlicher für Gott! In
der Auferstehung nun sehen wir Ihn, als den Erstgeborenen,
als das Haupt der neuen Schöpfung (Kol 1, 18). Nachdem Er
durch den Tod gegangen ist und für immer die Frage der Sünde
in Ordnung gebracht hat, hat Er Seinen Platz auf dem Throne
Gottes eingenommen, und dort ist jetzt der Ausgangspunkt für
jeden Gläubigen. Setzt dieses das Kreuz beiseite?
Nein, durchaus nicht. Aber alles, was Du sagst, ist völlig neu
für mich, so neu, daß ich es kaum zu fassen vermag.
Natürlich; alles ist neu in der neuen Schöpfung. Du bist an
die alte Schöpfung gewohnt gewesen und nie über das Kreuz
hinaus gekommen. Das Kreuz bildete gleichsam den Abschluß
der alten Schöpfung, das Ende des ersten Bandes, wenn ich
einen bildlichen Ausdruck gebrauchen darf. Der zweite Band
beginnt mit der Auferstehung Jesu aus den Toten am ersten
Tage der Woche. Sobald der Herr das Grab verlassen hatte,
konnte Er die Maria Magdalena mit der Botschaft an die Jünger senden: „Gehe hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen:
Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott".
Wo ist denn die Sünde?
Sie ist gerichtet und hinweggetan (Röm 8, 3 ; 2. Kor 5, 21).
Wo aber ist das Fleisch geblieben?
Es ist gekreuzigt samt seinen Leidenschaften und Lüsten
(Gal 5, 24).
Wo ist denn der Tod?
Sowohl der Tod ist zunichtegemacht (2. Tim 1, 10) als auch
„der, welcher die Macht des Todes hat, das ist der Teufel"
(Hebr 2, 14).
Wo aber bin ich?
In Christo; gestorben und auferweckt mit Ihm (Kol2,12.13;
3, 1—4), versetzt in Christo Jesu in die himmlischen örter
(Eph 2, 6). „Daher, wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue
Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden" (2. Kor 5, 17).
86
Wie herrlich ist das! Das Alte vergangen, alles neu geworden! Wie wunderbar! Aber sage mir: Wie kommt es, daß diese
köstlichen Wahrheiten nicht allgemein bekannt sind?
Die Einführung menschlicher Gedanken und Meinungen an
Stelle des klaren Wortes Gottes hat eine falsche, unvollkommene und ungenügende Lehre hervorgebracht. Im Anfang war
es nicht so.
Wie? Predigten denn die Apostel nicht das Kreuz?
Ganz gewiß; aber sie taten noch mehr als das. Da das Werk
des Kreuzes eine vollbrachte Tatsache war, wurde die Auferstehung der Hauptgegenstand ihrer Predigten. Sie „verkündigten die Auferstehung der Toten im Namen Jesu" (Apg 4, 2);
„sie gaben mit großer Kraft Zeugnis von der Auferstehung des
Herrn Jesu" (Apg 4, 33). Die Athener sagten von dem Apostel
Paulus: „Er scheint ein Verkündiger fremder Götter zu sein;
weil er ihnen das Evangelium von Jesu und der Auferstehung
verkündigte" (Apg 17, 18). „Und als sie von der Auferstehung
aus den Toten hörten, spotteten die einen, und die anderen
sprachen: wir wollen dich darüber nochmals hören" (Apg 17,
32). Aus diesen Stellen, die ich leicht vervielfältigen könnte,
siehst du, daß die Auferstehung die hervorragende Wahrheit
war, welche die Apostel verkündigten.
Aber sie verkündigten doch auch die Kreuzigung?
Allerdings; aber beachte wohl den Gegensatz. Der Mensch
tötete Jesum auf der Erde, Gott aber erhob Ihn zu Seiner Rechten in die himmlischen örte r und machte Ihn zum Herrn und
Christus (Apg 2, 36).
Vergib mir, wenn ich so zähe an dem Kreuze festzuhalten
scheine. Aber hast Du nicht soeben gesagt, daß das Kreuz das
Ende der alten Schöpfung sei?
Du kannst in betreff des Kreuzes nie zu unnachgiebig sein.
Ohne das am Kreuz vollbrachte kostbare Werk wären wir, Du
und ich, noch tot in unseren Sünden, noch unter dem gerechten
Zorn Gottes und ständen noch in der Erwartung der Verdammnis der Hölle. Ohne das Kreuz wäre Gott in der Schöpfung entehrt geblieben; aber jetzt ist Er durch das Kreuz unermeßlich
verherrlicht worden, und dies ist eine Tatsache von unendlich
größerer Bedeutung, als unsere Errettung, obgleich durch die
Weisheit und Gnade Gottes diese beiden Dinge miteinander
verbunden sind, das eine ist mittels des anderen vollbracht
87
worden. Wenn ich nun sage, das Kreuz habe der alten Schöpfung ein Ende gemacht, so spreche ich davon als von dem Platz,
wo der Mensch seinen Heiland gekreuzigt hat. Wir dürfen
jedoch nicht vergessen, daß der bestimmte Ratschluß und die
Vorkenntnis Gottes sich gegen diese Bosheit des Menschen
vorgesehen hatten; denn während der Mensch als Mensch sein
eigenes Verderben besiegelte, indem er Jesum an das Kreuz
nagelte, machte Gott aus diesem Kreuz die Grundlage, auf der
Er die neue Schöpfung aufrichten konnte; und die Auferstehung ist der offenbare Beweis davon. Ein Mensch kann nicht
auferstehen, wenn er nicht vorher tot gewesen ist.
Das verstehe ich; aber war ich denn tot?
Das Wort Gottes sagt, daß der Mensch tot ist in Vergehungen und Sünden (Eph 2, 1); aber durch den Glauben an Den,
Den Gott aus den Toten auferweckt hat, bist Du jetzt auferweckt, wie der Apostel in Kol 2, 12 sagt: „Mit ihm begraben in
der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch
den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den
Toten auf erweckt hat" (vgl. auch Joh 5, 24. 25).
Bezieht sich diese Stelle denn nicht auf die Taufe?
Allerdings; aber die Taufe ist nur das äußere Sinnbild eines
unsichtbaren Aktes, der aber ebenso wirklich, ja noch wirklicher ist als das, was wir sehen. Die sichtbare Handlung stellt
die unsichtbare des Glaubens vor. Der Herr Selbst setzte dieses
Sinnbild ein, und es ist ebenso schön wie einfach. Wir sehen
darin, wie der Herr in Seiner zärtlichen Sorge für uns Sich an
unsere große Unfähigkeit, die göttlichen Dinge zu verstehen,
erinnert hat, indem Er uns dieses Bild gab, um uns dadurch
dessen Wesen und Inhalt verständlicher zu machen. Und wie
köstlich ist es, daß Gott uns stets in diesem neuen Zustande,
als auf erweckt mit Christo, betrachtet! Er sieht uns nicht mehr
in unserem alten Zustand, sondern vollendet in Ihm.
Aber nun erlaube mir noch die eine Frage: Was habe ich zu
tun, wenn jetzt noch Sünden vorkommen?
Sie gehören der alten Schöpfung an, und sie werden Dir, da
Du im Lichte Gottes stehst, ebenso verabscheuungswürdig erscheinen, wie sie es vor Gott sind.
Aber wird Gott nicht ihretwegen Rechenschaft von mir fordern?
88
Sicherlich; aber es besteht ein großer Unterschied zwischen
der Rechenschaft, die Du als Erlöster, als Heiliger zu geben
hast, und der Rechenschaft, die Du als ein Sünder oder als ein
Verlorener schuldig wärest.
Ich werde also niemals mehr als ein Sünder vor Gott gestellt
werden?
Niemals. Was Deine Stellung anbetrifft, so bist Du vor Gott
stets als ein Heiliger, als ein Glied Christi, ein Kind der neuen
Schöpfung, rein, fleckenlos, heilig und tadellos.
Demnach hätte ich zwei Naturen, eine, die vom Fleische geboren ist, unrein, befleckt, sündig und der Erde angehörend,
und eine andere, die von Gott geboren ist, rein, heilig, unbefleckt und dem. Himmel angehörend.
Ja, die erste gehört der alten, die zweite der neuen Schöpfung
an. Die erste wurde von Satan verderbt, die zweite ist die Frucht
des Werkes Christi. Die erste ist befleckt durch den Ungehorsam, die zweite ist uns durch einen vollkommenen Gehorsam
zuteil geworden.
Aber wie wird diese neue Natur erhalten?
Durch den Heiligen Geist, der ausdrücklich zu diesem Zweck
und als Folge der Auferstehung Christi vom Himmel herniedergesandt worden ist. Er ist das lebendige Band, das unsere neue
Natur hienieden mit Christo verbindet, Der zur Rechten Gottes
sitzt. Jede Handlung, die wir persönlich als geistliche Menschen
begehen, wird von dem Heiligen Geist, Der uns mit Christo
verbindet, geleitet und beaufsichtigt.
Aber ist nicht die alte Natur ein großes Hindernis für uns?
Wirkt nicht Satan auf die alte Natur ein, wie der Heilige Geist
auf die neue?
Ganz recht.
Aber dann muß ich noch einmal fragen: Wenn nun meine
neue Natur die Handlungen der alten verabscheut, Handlungen, welche gewisse Personen Mängel nennen können, die ich
aber ihrem wahren Namen nach Sünde nennen muß, sage mir,
was soll ich denn mit diesen häßlichen Sünden anfangen?
Bekenne sie Gott. Verbirg Ihm nichts. Das Blut Jesu Christi,
das Dich einmal gereinigt hat, hat eine ewige Wirkung. Sein
Werk kann nie wiederholt werden, es ist ein für allemal auf
dem Kreuz vollbracht worden; aber Er fährt fort, uns auch
praktisch rein zu erhalten; Er ist es, Der unsere Füße wäscht.
„Wer gebadet, d. h. von neuem geboren ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist ganz rein"
(Joh 13, 10). Das Bekenntnis erhält die Seele in der wahren Abhängigkeit von Gott, und anstatt sich selbst zu rechtfertigen,
rechtfertigt sie Gott in betreff der begangenen Sünden. Was Gott von Dir erwartet, ist, daß Du Deine Sünde richtest als
Sünde, und zwar nach Seinem eigenen Urteil über sie; denn Er hat Dir eine neue Natur gegeben, welche fähig ist, die Sünde zu
hassen, wie Er sie haßt. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und
reinigt uns von aller Ungerechtigkeit" (1. Joh 1, 9).
Oh, ich verstehe jetzt, was Du sagen willst; aber ich fürchte, daß ich noch wenig von den herrlichen Wahrheiten, die Du mir
mitgeteilt hast, wirklich in meinem Innern aufgenommen habe. „Wer hat, dem wird gegeben werden, auf daß er mehr habe".
Erwäge mit einem aufrichtigen Herzen die Wahrheiten, die Du heute gehört hast, und handle furchtlos danach. Schenke den
Einflüsterungen Satans oder seiner Werkzeuge, die Dir sagen wollen, daß es Anmaßung sei, jene Wahrheiten anzunehmen,
oder daß Du eine zu gute Meinung von Dir selbst habest usw., kein Gehör, sondern vergessend, was dahinten, und Dich ausstreckend nach dem, was vorne ist, jage, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in
Christo Jesu (Phil 3, 14).
Ja, das wünsche ich. Der Herr wolle mir Gnade geben, es auszuführen! Du hast mich wirklich sehr glücklich gemacht.
„Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesum Christum" (1. Kor 15, 57)!
Das Kämmerlein, der Kampfplatz des Glaubens (1. Samuel 17)
David war in der geheimen Schule Gottes für den öffentlichen Dienst vorbereitet worden. Gott wird jeden, den Er in
Seinem öffentlichen Dienst gebrauchen will, im geheimen dazu
vorbereiten. In der Wüste hatte David die Hilfsquellen kennengelernt, die der Glaube in Gott besitzt. Er hatte den Löwen und
den Bären erschlagen.
90
Sind unsere Fehler nicht deshalb so mannigfaltig, weil wir so
wenig im geheimen mit dem lebendigen Gott verkehren? Unsere Stärke besteht darin, daß wir in Gemeinschaft mit Ihm wandeln. David war bereits durch allerlei Prüfungen hindurchgegangen und hatte den Gott kennengelernt, auf Den er vertraute.
In der Wüste war etwas vorgegangen zwischen seiner Seele und
Gott. Und wo, geliebte Freunde, lernt der Gläubige den Sieg
gewinnen? Ich glaube da, wo kein Auge als dasjenige Gottes
ihn sieht. In der stillen Zurückgezogenheit der Kammer, allein
mit Gott, lernt er sich selbst erkennen, sich verleugnen und sein
Kreuz aufnehmen; dort zeigt ihm Gott Seinen Weg, und alle
Einbildungen schwinden; alles, was „sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes" (2. Kor 10,5), kommt ins Licht und wird verurteilt. Die Kammer ist der große Kampfplatz des Glaubens.
Dort muß der Feind überwunden werden. Jeder, der viel im
geheimen mit Gott verkehrt, kann keine fleischlichen Waffen
gebrauchen, und dies zeigt uns, wie wichtig es ist, aus der Gegenwart des lebendigen Gottes hervor in unseren Dienst zu
treten. Dann werden wir fähig sein, alle Anmaßungen des
Fleisches niederzuhalten. Es ist wahrlich ein trauriger Anblick,
wenn ein Gläubiger, gehüllt in die Waffen der Welt, in dem
Namen des Herrn zu kämpfen versucht.
David konnte zu Saul sagen: „Jehova, der mich aus den Klauen des Löwen und aus den Klauen des Bären errettet hat,
er wird mich aus der Hand dieses Philisters erretten" (V. 37). Er wußte, daß vor Gott das eine so leicht war, wie das andere.
Wenn wir in Seiner Gemeinschaft sind, dann blicken wir nicht auf die Schwierigkeiten unseres Weges; denn was sind alle
Schwierigkeiten für Ihn? Der Glaube mißt jede Schwierigkeit nach der Macht Gottes ab, und dann wird der Berg zur Ebene.
Wir denken oft, daß in geringfügigen Dingen etwas weniger als die Allmacht Gottes genüge, und gerade dann kommen wir
zu Fall. Sobald ich vergesse, durch den Glauben Gott in alle meine Wege zu bringen, werde ich in den kleinsten Dingen
straucheln und fallen. Abraham konnte seine Familie und seines Vaters Haus verlassen und auf den Befehl Gottes ausziehen,
nicht wissend, wohin er komme; sobald er aber eine Schwierigkeit nach seinen eigenen Gedanken und in seiner Weisheit abwog und nach Ägypten hinabzog, fiel er aus einem Fehler in den anderen.
Ist der Glaube in uns wirksam, so erkennen wir unsere eigene Schwachheit und erfahren, daß nichts Geringeres als die
Macht Gottes uns befähigen kann, in irgendeiner Sache zu überwinden. Auf diese Weise ist der Glaube nicht gleichgültig
gegen die Gefahr, da er weiß, was wir sind, aber er schreckt auch vor keiner Gefahr zurück, da er weiß, was Gott ist.
„Wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?" (Hebräer 12, 7)
Wir müssen uns wohl hüten, „Glaubensproben", so wertvoll und unentbehrlich sie auch für unsere Erziehung sind, mit der
„Zucht" zu verwechseln. Im Grunde bildet das ganze Leben eines treuen Gläubigen eine fortgesetzte Prüfung seines Glaubens. Gott unterwirft den Glauben, den Er uns gegeben hat, mancherlei Übungen, die alle diesen Glauben stärken sollen,
wie der Wind die Wurzeln der Bäume befestigt. Diese Übungen sollen zur Ehre und zum Lobe des Gebers alles Glaubens, des
Spenders jeder Prüfung mitwirken. Niemals prüft Gott die ungläubigen Kinder der Welt. Das Kreuz Christi war das Endergebnis der letzten Probe, auf die das Geschlecht des ersten Adam gestellt wurde. Jetzt prüft Er nur den Glauben, nur Seine
Kinder. „Und du, Jehova der Heerscharen, der du den Gerechten prüfest, Nieren und Herz siehst" (Jer 20, 12). Für uns
Christen ist jede Prüfung, wenn wir anders in Unabhängigkeit von dem Fleische nach dem Geiste wandeln, eine Gelegenheit,
um die Wahrheit des Wortes zu bezeugen: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben". Der Herr Jesus, Der uns zum Vater
geführt hat, kann nicht anders, als den bis ans Ende erretten, der sich Ihm in allen Dingen übergibt.
Es gibt zwei Gründe, um welcher willen Gott uns noch in der Welt läßt, nachdem wir Sein eigen geworden sind: unsere Erziehung und unser Dienst inmitten der Versuchungen und Fallstricke des christlichen Lebens. Hat man diese Gründe erkannt, so sind sie wohl geeignet, uns wachsam und eifrig für Sein Zeugnis und hingebend in bezug auf Seine Verherrlichung zu machen.
Um uns zu erziehen, hält Gott uns in Seiner väterlichen Schule, in Seiner geduldigen, werten Zucht. Er will, daß wir
wachsen in Seiner Erkenntnis, in dem vertrauten Umgang mit Ihm; mit einem Wort, Er will uns fähig machen, Ihn zu verehren und Ihm in gesegneter Weise zu dienen. Während der Christ hier weilt, befindet er sich in der Schule Gottes, seines
Vaters, und dies ist die Schule des Heiligen Geistes: „Denn so
viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne
Gottes" (Röm 8, 14); und: „Ich sage aber: Wandelt im Geiste,
und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Denn
das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das
Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, auf daß ihr
nicht das tuet, was ihr wollt" (Gal 5,16. 17).
Wären wir immer aufmerksam auf die Leitung des Heiligen
Geistes durch das Wort und Ihm unterworfen, so würde der
Vater nie gezwungen sein, durch die Umstände einzugreifen,
und noch weniger die Rute zu gebrauchen; nichtsdestoweniger
wirken alle diese Dinge zusammengenommen zu unserem Besten. Wenn wir die Schule Gottes verlassen, so treten wir in die
Herrlichkeit ein, die wir mit Bestimmtheit erwarten. Es ist wahr,
daß wir diese Herrlichkeit schon jetzt im Angesicht Jesu Christi
im Glauben durch Geist und Wort genießen; aber dann wird es
in Wirklichkeit der Fall sein, wir werden sie tatsächlich besitzen in den Wohnungen des Vaters und in Seiner Gegenwart.
Doch fragen wir uns: Ist es wirklich schon hienieden unsere
Freude, dieses wahre, ewige Glück im Glauben zu genießen?
Ist es der Fall, so besitzen wir gewissermaßen schon den Himmel auf der Erde. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach
demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den
Herrn, den Geist" (2. Kor 3, 18).
Nun aber sind Schule und Erziehung unzertrennlich mit der
Zucht verbunden; denn in der Schule des Herrn ist außer dem
Unterricht auch die Rute nötig (Hebr 12, 11). Wichtig ist, daß
wir uns niemals entmutigen oder gar erbittern lassen, wenn es
uns an einer Antwort auf gewisse Fragen fehlt, die unter jungen Schülern nicht ungewöhnlich sind, wie z. B.: Was hat der
Herr mit mir vor? Weshalb führt Er mich gerade so? Warum
93
alle diese Umstände und Schwierigkeiten? — Ich will versuchen, im Folgenden zu zeigen, woher diese Fragen entstehen
und wie sie in der Gegenwart Gottes zu beantworten sind.
Unser Gott ist außerordentlich gnädig und langmütig. Zunächst läßt Er Warnungen in ungemein verschiedener Gestalt
an uns gelangen (vgl. Hiob 33, 14 u. f.) wenn wir Neigung
zeigen, einen verkehrten Weg einzuschlagen. Vernachlässigen
oder verachten wir diese Warnungen, so folgen Verweise; Dornen, Hecken, Gräben, Hindernisse aller Art stellen sich uns in
den Weg und durchkreuzen unsere Pläne, und wir können uns
glücklich schätzen, wenn wir, dadurch aufmerksam gemacht,
stillstehen und umkehren in heiliger Hast, um, wenn möglich,
die verlorene Zeit wieder einzuholen. Verharren wir aber als
unfolgsame Kinder trotz allem auf unserem schlechten Weg, so
folgen die Gerichte, oder, wenn man will, die Strafen verschiedenen Grades. Ihr Zweck ist, uns in die Gegenwart Gottes, in
die Abhängigkeit von Ihm zurückzuführen und uns Kraft zu
geben, um uns zunächst selbst zu richten und dann zu bekennen und von unseren Übertretungen abzulassen. „Wer vollkommen wandelt, wird gerettet werden; wer aber verkehrt auf
zwei Wegen geht, wird auf einmal fallen" (Spr 28, 18). „Wer
seine Übertretung verbirgt, wird kein Gelingen haben; wer sie
aber bekennt und läßt, wird Barmherzigkeit erlangen" (Spr 28,
13). „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und
gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von
aller Ungerechtigkeit" (1. Joh 1, 9). „Bekennet denn einander
die Vergehungen und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet; das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel" (Jak 5,
16). Lassen wir uns aber auch durch die Gerichte nicht weisen
und sind am Rande des Verderbens, am Abgrunde angekommen, so muß Gott uns gleichsam zu feinem Staub zermalmen.
Was Gottesfurcht und Glaube, was Warnungen und Gerichte
nicht zustande gebracht haben, müssen dann die Umstände bewirken. Aber ach! wie viele liebe Kinder Gottes bleiben bei
dem allem unempfindlich und gefühllos und gehen in Gleichgültigkeit und Weltliebe auf dem einmal eingeschlagenen Pfad
vorwärts! Aber der Vater kann sie nicht verderben lassen, weil
sie Pflanzen sind, die Er Selbst gepflanzt hat. Es bleibt ihm
endlich nichts anderes übrig, als die Unverbesserlichen aus der
Schule zu jagen, d. h. sie durch den leiblichen, frühzeitigen Tod
94
hinwegzunehmen. „Deshalb sind viele unter euch schwach und
krank und ein gut Teil entschlafen" (1. Kor 11, 30). „Wenn
jemand seinen Bruder sündigen sieht, eine Sünde nicht zum
Tode, .. . es gibt Sünde zum Tode; . . . und es gibt Sünde nicht
zum Tode" (1. Joh 5, 16. 17). Der Geist zwar wird gerettet am
Tage des Herrn Jesu, aber alle Hoffnung auf Fortschritte und
Wachstum sind vernichtet, ebenso die Freude und der Ruhm,
Gott zu dienen auf der Erde und Zeugnis von Seiner Gnade abzulegen. Welch eine traurige Sache! Für die Ewigkeit eine Frucht
zu sein, die vor der Reife, zu der sie bestimmt war, gepflückt
ist. Ich bezweifle nicht, daß jeder Gerettete dort oben im Lichte
vollkommen glücklich sein und Gott die Ehre geben wird für
Seine Führungen in bezug auf alle Seine Kinder, folglich auch
auf sich selbst. Aber die lautere und vollkommene Gnade Gottes des Vaters muß stets in Heiligkeit und Gerechtigkeit mit
allem handeln, was zu Seinem Hause gehört; und wie keine
Schule möglich ist ohne Regel und Zucht, so müssen auch die
unverbesserlichen Schüler von dem Herrn gerichtet und gezüchtigt werden, damit sie nicht dem Gericht der Welt anheimfallen. Und werden sie nicht, einmal gerettet, in der Herrlichkeit von tiefer Dankbarkeit durchdrungen sein?
Im Anfang ist gesagt worden, daß es zwei Gründe gebe, um
derentwillen Gott Seine Auserwählten auf der Erde lasse, nachdem Er sie durch den Sohn zu Sich gezogen hat: Erziehung und
Dienst. Ich denke, daß moralisch der Dienst auf die Schule, von
der wir oben gesprochen haben, folgt, wie die Meisterschaft auf
die Lehrzeit. Der kindliche Dienst läßt weder Eigenliebe, noch
Übertretung, noch eigenen Willen zu. Dienen wir wirklich Gott,
so muß die Welt notwendigerweise es sehen. Dieser tägliche
Dienst, verbunden mit dem öffentlichen gemeinschaftlichen
Gottesdienst, bildet das, was wir das Zeugnis nennen. Gott
bildet, erzieht und bewahrt hier die Seinigen, damit sie vor der
Welt Zeugen Seiner Ehre und Seiner Gnade in Dem seien, den
die Welt gekreuzigt hat.
Für uns handelt es sich stets darum, unsere festen Beziehungen, als. aus Gott geboren, als der göttlichen Natur teilhaftig, zu
pflegen. Außer Christo können wir nichts tun, höchstens tote
Werke, die völlig wertlos sind und durch Sein Blut ausgelöscht
werden mußten. Beachten wir deshalb die Worte des Herrn:
„Bleibet in mir! Bleibet in meiner Liebe!"
95
Bist du arm oder reich?
Wenn ich die obige Frage an dich richtete, mein lieber Leser,
mit Bezug auf deine Stellung in der menschlichen Gesellschaft,
so würdest du mir vielleicht mit Recht erwidern: „Darauf ist
schwer zu antworten, denn ich kann nicht sagen, daß ich reich
bin, aber auch nicht, daß ich arm bin". Die meisten Menschen
in dieser Welt gehören weder zu den Reichen, noch zu den
wirklich Armen. Sobald ich aber diese Frage im Blick auf den
Zustand deiner Seele vor Gott stelle, brauchst du mir die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Denn so viele Klassen es auch in
der menschlichen Gesellschaft geben mag, im Blick auf die Ewigkeit gibt es doch nur zwei. Gott kennt nur zwei Klassen oder
Arten von Menschen auf dieser Erde, nämlich Reiche und
Arme, oder Lebendige und Tote, Errettete und Verlorene. Dies
geht deutlich aus den Worten hervor, die wir in 1. Joh 5, 12
finden: „Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht."
Hieraus sehen wir, daß der Besitz des Lebens abhängig ist
von dem Besitz Jesu, des Sohnes Gottes. Wer Ihn hat, hat das
Leben und ist deshalb reich; wer Ihn nicht hat, hat das Leben
nicht und ist arm. Dies ist eine sehr wichtige Wahrheit. Hast du
schon einmal ernstlich darüber nachgedacht, mein Leser? Hast
du dich schon gefragt: „Besitze ich Jesum?" Das ist eine Frage,
die völlig verschieden von derjenigen ist, die man sich gewöhnlich stellt. Im allgemeinen fragt man sich: „Habe ich viele Sünden getan?" Und die Folge davon ist, daß die meisten Menschen, in dem Bewußtsein, daß sie keine Diebe, Hurer, Trunkenbolde und dergleichen sind, mit einem gewissen Gefühl der
Zufriedenheit mit sich selbst ihren Weg fortsetzen und sich mit
der Hoffnung schmeicheln, einmal für ewig gerettet zu werden.
Vielleicht hast du es bis heute auch so gemacht. Da ich nun
weiß, daß jene Hoffnung eitel ist und jene Gedanken dem
Worte Gottes widerstreiten, so komme ich mit diesen Zeilen zu
dir. Du selbst wirst zugeben, daß es schrecklich sein würde,
wenn du beim Eintritt in die Ewigkeit erkennen müßtest, daß
du dich betrogen und mit einer falschen Hoffnung beruhigt
hättest. Denn dann ist es zu spät, um noch errettet zu werden.
96
Und es ist doch wahrlich keine geringfügige Sache, für ewig
verloren und außerhalb der Gemeinschaft Gottes zu sein. Oh,
beachte deshalb sorgfältig die Worte Gottes!
Gott sagt: „Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn
Gottes nicht hat, hat das Leben nicht". Du bist vielleicht ein sehr
braver, rechtschaffener und ehrbarer Mensch; vielleicht kann dir
niemand Vorwürfe machen in bezug. auf dein Leben und deinen
Wandel. Das ist anerkennenswert und macht dich in den Augen
deiner Mitmenschen liebenswürdig. Aber so anerkennenswert
es auch sein mag, es macht dich doch nicht passend für den
Himmel; es befähigt dich nicht, ohne Furcht vor dem Richterstuhl Christi zu erscheinen. Vor diesem Richterstuhl wird
nicht nur danach gefragt, wie viele Sünden du getan hast,
sondern die wichtigste Frage ist, ob du arm oder reich, tot
oder lebendig bist, ob du Jesum, den Sohn Gottes, als deinen
Erretter besitzest, oder nicht. Wohl ist es wahr, daß die Sünden,
die der Mensch getan hat, seine Strafe erschweren oder vermindern, aber das hat nichts mit dem Besitz des Lebens zu tun. Was
hilft es, wenn ein Verbrecher sich vor dem Richter darauf beruft, daß es viele gibt, die noch größere Missetaten begangen
haben als er? Dadurch erlangt er keine Freisprechung. Und was
würde es dir helfen, wenn du vor dem Richterstuhl Christi
wirklich beweisen könntest, daß du von allen deinen Mitmenschen am wenigsten gesündigt hättest, wenn du das Leben nicht
besäßest? Nehmen wir an, du wärest wirklich der bravste aller
Menschen, so bist du doch, ohne Jesum, ohne das Leben, tot
in Sünden und Vergehungen. Mag auch äußerlich ein großer
Unterschied zwischen dir und einem Dieb, einem Mörder oder
Trunkenbold bestehen, so ist doch in dieser Hinsicht kein Unterschied. Ohne den Herrn Jesum hast du ebensowenig das
Leben und bist deshalb ebensowenig passend für den Himmel
wie jene. Das Wort Gottes sagt, daß es keinen Unterschied
gibt, sobald der natürliche Zustand der Seele vor Gott in Frage
kommt. Alle sind von Natur Sünder; alle sind verloren und
haben das Leben nicht. Alle aber, die Jesum besitzen, haben das
Leben; denn Er Selbst sagt: „Ich bin das Leben", und: „Wer an
mich glaubt, hat das ewige Leben". Deshalb frage ich dich noch
einmal: Bist du arm oder reich?
Vielleicht zögerst du darauf zu antworten. Ich weiß, es ist
nicht leicht, zu bekennen, daß man arm ist; es fällt dem Hoch97
mut des Menschen so schwer, zu erkennen, daß er verloren ist
und eines Erretters bedarf. Aber ich bitte dich, mein lieber
Leser, erwäge jene Frage ernstlich. Von ihrer Beantwortung
hängt dein ewiges Wohl und Wehe ab. Weigerst du dich, jetzt
eine Antwort zu geben, so mußt du es einst tun. Und was ist
wohl besser, hier seine Armut und sein Verderben zu bekennen, um dann durch Jesum errettet und für ewig glücklich gemacht zu werden, oder mit einer falschen Hoffnung in die
Ewigkeit hinüberzugehen und dann das Urteil der Verdammnis
zu vernehmen? Gehe deshalb nicht in Gleichgültigkeit weiter
voran! Höre auf, zu messen und abzuwägen, wie viele Sünden
du getan hast, und frage dich mit allem Ernst: „Habe ich
Jesum?" Es mag peinlich und demütigend für dich sein, dich
selbst als arm und verloren zu erkennen, aber es ist der einzige Weg, um reich zu werden und Errettung zu finden.
Fragst du nun mit aufrichtigem Bedürfnis: Wie gelangt man
denn zu diesem Reichtum? so gibt es eine herrliche Antwort für
dich. Höre, was der Apostel Paulus zu den Korinthern sagt:
„Ihr kennet die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, daß er, da
er reich war, um euretwillen arm wurde, auf daß ihr durch
seine Armut reich würdet" (2. Kor 8, 9). Siehe, Er, der Herr der
Herrlichkeit, ist gekommen aus dem Schöße des Vaters, hat Sich
all Seiner Herrlichkeit entäußert und ist freiwillig in unser Elend
herabgestiegen. Er hat der Sünde wegen den schrecklichen Kreuzestod erduldet und das ganze Gericht eines heiligen und gerechten Gottes über die Sünde ertragen. Und jetzt, nachdem
Sein Werk vollbracht ist, ladet Er dich ein, zu Ihm deine Zuflucht zu nehmen. Er ist gekommen, um solchen Verlorenen wie
wir, du und ich von Natur sind, aus freier, unverdienter Gnade
das Leben zu geben, um uns, die wir nichts besitzen als Sünden,
in Seinem Blute völlig reinzuwaschen und uns Seines Reichtums teilhaftig zu machen. Folge deshalb Seiner Einladung,
komme zu Ihm in deiner ganzen Armut und Blöße, glaube an
Ihn mit Aufrichtigkeit deines Herzens, und Er wird dich bekleiden mit dem Kleide der göttlichen Gerechtigkeit. Du wirst
erfahren, daß Er das Leben ist und auch das Leben mitteilt, und
du wirst, wenn du in Wahrheit an Ihn glaubst, nicht lange in
Ungewißheit bleiben, ob du lebst oder nicht; denn das Leben,
das Er gibt, bleibt nicht verborgen, weder vor dir selbst, noch
vor den Augen anderer. Und wenn dann an dich die Frage ge98
richtet wird: Bist du arm oder reich? so wirst du mit ganzem
Herzen antworten können: Ich war arm, aber jetzt bin ich unendlich reich gemacht durch Den, Der für mich arm geworden
ist.
Der Unterschied zwischen dem Ratschluß
Gottes und den Wegen Seiner Regierung
oder
Stellung und Verantwortlichkeit
Bei einem Blick auf die große Zahl der Kinder Gottes, die
sich in dieser letzten Zeit auf der Erde befinden, drängt sich
einem aufmerksamen, von Gott geleiteten Beobachter die Überzeugung auf, daß im allgemeinen unter ihnen eine beklagenswerte Unklarheit über ihre Stellung in Christo herrscht, und
daß in ihrem Wandel eine sehr mangelhafte Übereinstimmung
mit den Wegen Gottes besteht. Naturgemäß entsteht die Frage:
Woher kommt diese Erscheinung? Sie hat einerseits ihren
Grund in der mangelhaften Erkenntnis des Ratschlusses Gottes,
und andererseits in der großen Untreue, mit der die vorhandene Erkenntnis im täglichen Leben verwertet und auf den
praktischen Wandel angewendet wird. Gott hat uns Seinen
Ratschluß nicht nur mitgeteilt, weil wir dessen Gegenstände
sind, sondern damit wir auch im Lichte der darin geoffenbarten
herrlichen Stellung wandeln sollen. Die Kirche hätte das ihr
anvertraute Geheimnis bewahren sollen; aber stattdessen hat
sie es, wie einst Simson der Delila, der Welt verraten und ist
infolgedessen geblendet worden und in Gefangenschaft gekommen, um schließlich in dem Untergang der Feinde des
Herrn ihren eigenen Untergang zu finden. Nichts kann geeigneter sein, um einerseits Beschämung und Selbstgericht bei uns
wachzurufen, und andererseits uns in Übereinstimmung mit
den Wegen Gottes zu bewahren, als das Bewußtsein unserer
Stellung nach dem Ratschluß Gottes. Um in dem Volke Israel
99
ein Gefühl seines traurigen Zustandes zu wecken, mußte der
Prophet Hesekiel ihm das Haus, die zukünftige Wohnung der
Herrlichkeit Jehovas zeigen: „Du, Menschensohn, berichte dem
Hause Israel über dieses Haus, damit sie sich ihrer Missetaten
schämen und den Bau messen. Und wenn sie sich alles dessen
schämen, was sie getan haben, so zeige ihnen die Form des
Hauses und seine Einrichtung und seine Ausgänge und seine
Eingänge und alle seine Formen und alle seine Satzungen und
alle seine Formen und alle seine Gesetze und schreibe es vor
ihren Augen auf, damit sie seine ganze Form und alle seine
Satzungen behalten und sie tun" (Hes 43, 10. 11). Man kann
niemals richtige Begriffe und Gedanken über die Kirche haben,
wenn man nicht versteht, was sie nach dem Ratschluß Gottes
ist; und ebensowenig kann ein Christ seinen wahren Platz
nach den Gedanken Gottes hienieden einnehmen, wenn ihm
das Bewußtsein seiner Stellung in Christo mangelt. Der allgemeine Zweck der Wege, die Gott mit uns geht, ist, uns in
die praktische Übereinstimmung mit Seinem Ratschluß zu bringen; denn nur dann sind wir es auch mit Gott Selbst, und insofern sind die Wege Gottes und Sein Ratschluß in vollkommener Harmonie miteinander. Der Unterschied zwischen den
beiden besteht darin, daß Gott in dem zuletzt Gesagten in unumschränkter Gnade handelt, während in dem ersten alles von
unserer Verantwortlichkeit abhängt. In Seinem Ratschluß handelt Gott frei und unabhängig für die Seinen, so schwach ihr
Zustand auch sein mag; alles ist unvermischte Gnade, deren
Fülle um so überströmender erscheint, je elender jener Zustand
ist. Gefaßt vor Grundlegung der Welt schließt er die Erlösung
und die Herrlichkeit in sich ein, hat aber mit unserer Pilgrimschaft und der damit verbundenen Verantwortlichkeit nichts
zu tun. In den Wegen Seiner Regierung hingegen beschäftigt
Sich Gott mit unserem praktischen Verhalten, indem Er „ohne
Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk" (1. Petr 1,
17). Aber auch diese Wege sind schließlich ein Beweis Seiner
vollkommenen Liebe zu uns; denn „wenn wir gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht
mit der Welt verurteilt werden" (1. Kor 11, 32).
Doch laßt uns etwas näher auf diese beiden Gegenstände
eingehen. Richten wir zunächst unseren Blick auf die Gegenstände des Ratschlusses Gottes.
100
Der erste Gegenstand, der eigentliche Mittelpunkt aller Ratschlüsse Gottes, ist Christus. In Ihm allein konnten und können sie ihre Erfüllung finden, mögen sie sich auf das himmlische Volk Gottes, die Kirche, oder auf Sein irdisches Volk,
Israel, oder auf die Nationen beziehen. Wir lesen deshalb auch:
„Jehova besaß mich im Anfang seines Weges, vor seinen
Werken, von jeher usw." (Spr 8, 22—31). In Christo war die
Erfüllung dieser Ratschlüsse gesichert, selbst für den Fall, daß
das Verderben in dem Maße eindringen würde, wie es tatsächlich eingedrungen ist. Nichts ist imstande, Gott in der Ausführung von dem aufzuhalten, was Er Sich vorgesetzt hat:
weder die Macht des Feindes, noch der hoffnungslos verlorene
Zustand des Menschen, auch nicht die alles verheerende Macht
des Verderbens, das die Sünde in die Schöpfung eingeführt
hat. Und weshalb nicht? Weil Er Seinen Vorsatz von Ewigkeit
her „in Christo" gefaßt hat (Eph 3, 11). In Ihm war für alles
Vorsorge getroffen, was der Ausführung dieses Vorsatzes
irgendwie hindernd in den Weg treten konnte. Oder sollte
Gott nicht gewußt haben, als Er Seinen Vorsatz faßte und ehe
Er „Seinen Weg" antrat, daß das Verderben kommen würde?
Ohne Zweifel wußte Er es. Als Er die Himmel bereitete und
die Grundfesten der Erde legte, stand alles, was sich dort ereignen würde, vor Seinen Augen. Er überblickte im voraus
den ganzen Schauplatz der Verwüstung und Zerstörung, des
Jammers und Elendes, den Schauplatz der Herabwürdigung
Seines Namens, Seiner Herrlichkeit, Seiner Heiligkeit und Majestät, mit einem Worte das, was Seinem Vorsatze durchaus
entgegengesetzt war. Er sah aber noch mehr. Er sah das vor
Grundlegung der Welt zuvorerkannte Lamm, ohne Fehl und
ohne Flecken, das durch die Erlösung die Erfüllung Seines Vorsatzes herbeiführen sollte, und zwar angesichts und inmitten
jenes traurigen Schauplatzes, so daß dieser selbst zu einem
Anlaß wurde, die Herrlichkeit Gottes nur noch völliger und
glorreicher zu entfalten (1. Petr 1, 19. 20). Christus stand vor
Seinen Augen, und darum konnte Er „Seinen Weg" antreten
und die Grundfesten der Erde legen usw. „Als er die Himmel
feststellte, war ich da, als er einen Kreis abmaß über der
Fläche der Tiefe .. . als er die Grundfesten der Erde feststellte:
da war ich Schoßkind bei ihm, und war Tag für Tag seine
Wonne, vor ihm mich ergötzend allezeit usw." (Spr. 8).
101
Demgemäß mußte Christus in verschiedener Hinsicht der Mittelpunkt und der Gegenstand der Ratschlüsse Gottes sein. Das
erste Kapitel des Kolosserbriefes zeigt Ihn uns in diesen verschiedenen Herrlichkeiten Seiner Person. Er ist zunächst der
Sohn Gottes, „der Sohn Seiner Liebe". Dies ist der erste Charakter Seiner persönlichen Herrlichkeit von Ewigkeit her, der
wesentliche Mittelpunkt aller Seiner übrigen Herrlichkeiten.
Von Ewigkeit her hatte Er Seinen Platz im Schöße des Vaters
und war der Gegenstand Seiner Wonne und Seiner innigsten
Zuneigungen. Dann ist Er „das Bild des unsichtbaren Gottes".
Er ist als Sohn Gottes in Seiner eigenen Person, in Seiner
Natur, die vollkommene Darstellung Gottes vor den Menschen
und vor dem ganzen Weltall, „denn in ihm wohnt die ganze
Fülle der Gottheit leibhaftig". Und da Er zugleich Mensch ist,
so ist Gott in dieser Gestalt gesehen worden von den Engeln
und von uns. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter
uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) . . . Niemand hat
Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters
Schoß ist, der hat ihn kundgemacht" (Joh 1, 14. 18). Ferner
gebührt Ihm nach den ewigen Ratschlüssen Gottes der erste
Platz in der Schöpfung. Er ist der „Erstgeborene aller Schöpfung*). Denn durch ihn sind alle Dinge geschaffen worden, die
in den Himmeln und die auf der Erde, die sichtbaren und die
unsichtbaren, es seien Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten usw." (Kol 1, 15. 16). Gott handelte in
Christo, als Er das Weltall schuf. Alles was besteht, ist durch
Ihn und für Ihn geschaffen; und mit Recht ist Er schon aus
diesem Grunde der Erbe von allem. „Den er gesetzt hat zum
Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat
usw." (Hebr 1, 2). „Im Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang
bei Gott. Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward
auch nicht eines, das geworden ist" (Joh 1, 1—3). Welch eine
wunderbare Person! Er, Der nicht hatte, wo Er Sein Haupt
hinlegen konnte, und Der Sich, um das Lösegeld für uns zu
werden, völlig erniedrigte, war der Schöpfer des Weltalls, der
*) Diese Worte bezeichnen nicht den Anfang Christi zu irgendeiner Zeit,
sondern enthalten, wie dies aus dem folgenden deutlich hervorgeht, den Titel,
der Ihm, als Schöpfer aller Dinge, zukommt.
102
Sohn Gottes! Und Er ist der Mensch, den Gott verherrlicht und
nach Seinem Ratschluß über alle Werke Seiner Hände gesetzt
hat (Psalm 8). Alle Dinge sind durch Ihn und notwendigerweise auch für Ihn geschaffen. Und obgleich Ihm jetzt noch
nicht alles unterworfen ist, so wird dennoch der Vorsatz Gottes
erfüllt werden, wie uns dies in den Worten des Apostels geoffenbart ist: „für die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles
unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das,
was in den Himmeln, und das, was auf der Erde ist''' (Ephl, 10).
Indessen müssen wir zwischen dem ewigen und dem zeitlichen Ratschluß unterscheiden. Sicher ist Christus der Mittelpunkt von beiden. Der Unterschied besteht darin, daß in dem
ersten die Kirche mit Christo verbunden ist, während in dem
zweiten Israel und in untergeordneter Weise die Nationen mit
Ihm in Verbindung stehen. Der erste ist gefaßt vor Grundlegung der Welt, der zweite von Gründung der Welt an (Eph
1, 4; Mt 25, 34). Die Segnungen und Herrlichkeiten des ersten
sind ihrer Natur nach geistlich und ewig, diejenigen des zweiten zeitlich und irdisch. Durch ihre Verbindung mit Christo
teilt die Kirche mit Ihm alle Herrlichkeiten (soweit eine geschaffene Kreatur dies vermag), die Ihm nach dem ewigen Ratschluß Gottes zugehören, und wozu alle ihre einzelnen Glieder
schon vor Grundlegung der Welt auserwählt sind. Diese Herrlichkeiten werden schon im tausendjährigen Reich teilweise
geoffenbart sein und geschaut werden, allein das völlige und
schließliche Resultat jenes ewigen Ratschlusses wird, da er
lange vor und gänzlich außerhalb dieser Schöpfung gefaßt ist,
erst dann ans Licht treten, wenn diese Erde und dieser Himmel
samt den mit ihnen verbundenen irdischen Systemen verschwunden sind. Das, was vor Grundlegung der Welt in den
Gedanken Gottes bestand, was in den mannigfaltigen Vorbildern des Alten Testaments, wie z. B. in Adam und Eva,
Isaak und Rebekka, gesehen wurde, und was sich gleich einem
goldenen Faden durch die ganze Geschichte der Wege Gottes
hindurchzieht, der Ratschluß Gottes in bezug auf Christum
und die Kirche, wird als vollendete Tatsache in seiner ganzen
Schönheit erst auf der neuen Erde gesehen werden. Dort wird
selbst das, was der Tempel inmitten des irdischen Volkes Gottes vorbildlich darstellte, seine tatsächliche Verwirklichung fin103
den. Dort wird die Kirche in ihrer ewigen Verbindung mit dem
Lamme, als Sein Weib, und zugleich als die „Hütte Gottes bei
den Menschen" geschaut werden. Die letzteren dagegen werden ohne Ausnahme „Sein Volk" genannt, weil auf der neuen
Erde der Unterschied zwischen Israel und den Nationen aufgehoben ist (vgl. Offb 21, 1—8). Das Verhältnis der Kirche zu
Christo ist ein ewiges, durch alle Zeitalter fortbestehendes,
während dasjenige Israels, als des irdischen Volkes Gottes, vorübergehend ist. Darum ist gesagt: „Ihm sei die Herrlichkeit in
der Versammlung in Christo Jesu, auf alle Geschlechter des
Zeitalters der Zeitalter hin" (Eph 3, 21).
Diese Erde ist also der Schauplatz der Entfaltung des Ratschlusses Gottes in bezug auf Christum und Israel samt den
Nationen. Israel und das Land Palästina bilden den Mittelpunkt
dieses Schauplatzes. „Als der Höchste den Nationen das Erbteil
austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da
stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder
Israel" (5. Mo 32, 8). Dies wird seine vollständige Erfüllung im
tausendjährigen Reich finden. Vor dessen Beginn findet der
große Gerichtstag der Nationen statt, wo der Herr sie voneinander scheiden wird, wie der Hirte die Schafe von den Böcken
scheidet. Die Schafe, d. h. die Geretteten aus den Nationen,
gehen ein in die Segnungen des Reiches. Zu ihnen sagt der
Herr: „Kommet her, Gesegnete meines Vaters, ererbet das
Reich, das euch bereitet ist von Gründung der Welt an" (Mt
25, 34). Im Vorübergehen möchte ich bemerken, daß das Verhalten, das die Nationen gegen das Volk Israel während der
Zeit der letzten Drangsal an den Tag gelegt haben, bei diesem
Gericht entscheidend sein wird. „Wahrlich, ich sage euch: insofern ihr es einem der geringsten dieser meiner Brüder getan
habt (dem gläubigen Überrest aus Israel), habt ihr es mir getan". Indessen wird, obwohl die geretteten Nationen in jenem
herrlichen Reich mit Israel gesegnet sein werden, der gläubige
Überrest aus Israel den ersten Platz darin einnehmen, und
Jerusalem wird den Mittelpunkt der Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn auf der Erde bilden. „Seid fröhlich, ihr Nationen, mit seinem Volke" (Röm 15, 10). „Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses Jehovas feststehen auf dem Gipfel der Berge und erhaben sein
über die Hügel, und alle Nationen werden zu ihm strömen.
104
Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und
laßt uns hinaufziehen zum Berge Jehovas, zum Hause des
Gottes Jakobs! . . . Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen,
und das Wort Jehovas von Jerusalem" (Jes 2, 2—4). Das ganze
Hohelied und die Kapitel 49, 60, 62, 65 und 66 des Propheten
Jesaja und viele andere Stellen beschreiben die Herrlichkeit des
Jerusalems jener Tage. Sie ist „die Stadt des großen Königs"
(Mt 5, 35). „Und der Name der Stadt soll von nun an heißen:
Jehova daselbst" (Hes 48, 35). „In jener Zeit wird man Jerusalem den Thron Jehovas nennen, und alle Nationen werden
sich zu ihr versammeln wegen des Namens Jehovas in Jerusalem usw." (Jer 3, 17). Von ihr wird sich die Herrlichkeit des
Herrn ausbreiten über die ganze Erde, wie geschrieben steht:
„So wahr ich lebe, soll von der Herrlichkeit Jehovas erfüllt
werden die ganze Erde" (4. Mo 14, 21). „Aus Zion, der Schönheit Vollendung, ist Gott hervorgestrahlt" (Ps 50, 2). „Es
kommt die Zeit, alle Nationen und Sprachen zu versammeln;
und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen" (Jes
66, 18). „Denn die Erde wird voll werden von der Erkenntnis
der Herrlichkeit Jehovas, wie die Wasser den Meeresgrund
bedecken" (Hab 2, 14).
Wie schon oben vorübergehend bemerkt ist, wird während
der glückseligen Zeitalter des tausendjährigen Reichs auch die
Herrlichkeit der Kirche angesichts des ganzen Weltalls geoffenbart sein, obwohl sie ihrem Ursprung, ihrem Charakter und
ihrer Natur nach durchaus himmlisch ist. Sie wird mit Christo
in der Herrlichkeit erscheinen, die Er bei dem Vater hatte, ehe
die Welt war. „Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast,
habe ich ihnen gegeben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir
eins sind. Ich in ihnen und du in mir, auf daß sie in eins vollendet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast"
(Joh 17, 22. 23). „Es ist noch nicht geoffenbart worden, was
wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es geoffenbart werden
wird, wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen,
wie er ist" (1. Joh 3, 2). In den beiden letzten Kapiteln der Offenbarung haben wir die sinnbildliche Beschreibung dieser Herrlichkeit. Es ist die „Herrlichkeit Gottes", die alsdann in ihrem
vollen Glanz und in ungetrübter Klarheit von der Kirche ausstrahlen wird. Die ganze Schönheit und Vollkommenheit Chri105
sti wird sich in ihr widerspiegeln, denn sie ist „Sein Leib, von
seinem Fleische und von seinen Gebeinen" (Eph 5, 30).
Wir finden also im tausendjährigen Reich die beiden großen
Gegenstände der Ratschlüsse Gottes miteinander verbunden:
die Kirche in der Entfaltung ihrer himmlischen Herrlichkeit,
und Jerusalem auf der Erde in der Entfaltung seiner irdischen
Herrlichkeit, und in Verbindung damit die Herrlichkeit der
ganzen Schöpfung. „Denn auch die Schöpfung wird freigemacht
werden von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit
der Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8, 21). „Und der
Wolf wird bei dem Lamme weilen, und der Pardel bei dem
Böcklein lagern, und das Kalb und der junge Löwe und das
Mastvieh werden zusammen sein, und ein kleiner Knabe wird
sie treiben . . . Und der Säugling wird spielen an dem Loch
der Natter, und das entwöhnte Kind seine Hand ausstrecken
nach der Höhle des Basilisken usw." (Jes 11). Welch ein wunderbares Schauspiel! Die Herrlichkeit der Kirche, die Herrlichkeit Israels und die aus beiden gleichsam hervorgehende Herrlichkeit der ganzen, von der Knechtschaft befreiten Schöpfung,
ja alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist, befindet
sich in einer bewunderungswürdigen Harmonie, obwohl jedes
wieder in seiner besonderen Weise und in seinem besonderen
Bereich glänzt. Doch der Mittelpunkt von allem ist Christus.
Alles ist unter Ihm, als dem Haupte, vereinigt und zusammengebracht, und die Kirche nimmt als Seine Miterbin mit Ihm
den ersten Platz ein.
Wir kommen jetzt zu der zweiten Herrlichkeit Christi, zu
der Herrlichkeit der Erlösung. Er ist, wie wir gesehen haben,
der Sohn Gottes, das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung; alle Dinge sind durch Ihn und darum auch für Ihn geschaffen. Aber Er ist auch der „Erstgeborene aus den Toten", der durch Seinen Tod am Kreuze die Erlösung vollbracht und in Seiner Auferstehung über den Tod
und die ganze Macht des Feindes triumphiert hat. Wohl war
die Schöpfung aus den Händen ihres Schöpfers rein hervorgegangen; aber dem Feinde war es durch die Sünde des Menschen gelungen, diesen samt der ganzen Schöpfung in ein Verderben zu stürzen, welches das ganze Weltall mit unendlichem
Weh erfüllte, und aus dem es, soweit es den Menschen betraf,
106
keinen Ausweg gab. Alle die herrlichen Ratschlüsse Gottes
schienen durch den Fall des Menschen mit einem Schlage vernichtet zu sein, und Seine ganze Herrlichkeit war der Schöpfung gegenüber in Frage gestellt. Die Schöpfung selbst wurde
in eine Stätte des Fluches, des Jammers und des Elends verwandelt, in eine düstere Szene des Todes, wo die Macht Satans
triumphierte. Aber gerade inmitten dieser schrecklichen Finsternis und dieser Schatten des Todes konnte die Herrlichkeit
der Erlösung in einem um so helleren Glänze strahlen. Er, der
Sohn Gottes, „der Sohn seiner Liebe", den Er „besaß im Anfang seines Weges", stieg freiwillig, aus Liebe und Gehorsam
gegen den Vater, und um Ihn zu verherrlichen, in die finsteren
Regionen des Todes und der Macht des Feindes hinab und
machte ihn zunichte, indem Er Sich seiner Macht unterwarf und
den Tod schmeckte; „auf daß er durch den Tod den zunichte
machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel"
(Hebr 2, 14). Aber Er hat nicht nur den Teufel selbst durch
Seinen Tod zunichte gemacht, sondern auch alle seine Werke.
„Hierzu ist der Sohn Gottes geoffenbart worden, auf daß er
die Werke des Teufels vernichte" (1. Joh 3, 8). In Seinem
Tode wurde ebensowohl eine Sühnung für unsere Sünden geschaffen, als auch das Gericht über alles, was wir von Natur
sind, ausgeübt. Er hat durch Seinen Tod die Gerechtigkeit,
Heiligkeit und Majestät Gottes in betreff unserer Sünden nicht
nur vollkommen befriedigt, sondern sie auch um so mehr verherrlicht, jemehr sie durch die Sünde mit Füßen getreten waren.
Alles, was Gott ist, Seine unendliche Weisheit, Seine unbefleckliche Gerechtigkeit und Wahrheit, sowie Seine unergründliche Gnade und Liebe gegen den verlorenen Sünder, alles
wurde in einer weit glorreicheren und vollkommeneren Weise
geoffenbart, als es jemals die Schöpfung in all ihrer ursprünglichen Schönheit vermocht hätte. „Er ist der Erstgeborene aus
den Toten", „der Anfang der Schöpfung Gottes"; Er ist der
Mensch, der in dem letzten Entscheidungskampf auf Golgatha
die Rechte Gottes trotz der Sünde und wider die Sünde wiederherstellte und den scheinbaren Triumph Satans zuschanden
machte, und zwar in einer Weise, die Gott angesichts des ganzen Weltalls vollkommen verherrlichte. Er ist der siegreiche
Mensch, Der Sich durch Sein Werk den Platz und die Macht des
Menschen in jener neuen Stellung erworben hat, die Gott in
107
Seinen Ratschlüssen für Ihn bestimmt hat. Er ist es, Der in
Seiner Person und kraft der Erlösung das Recht besitzt, die
Erfüllung dieser Ratschlüsse und somit alle jene Entfaltungen
der Herrlichkeit herbeizuführen, von welchen Er, „das geschlachtete Lamm", den Mittelpunkt bildet. Und der Augenblick ist nicht mehr fern, wo Er Sein Recht geltend machen
wird, und wo die Kirche — in der Herrlichkeit mit Ihm vereinigt — das neue Lied singen wird: „Du bist würdig, das Buch
zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft durch dein Blut aus jedem Geschlecht und Volk und Sprache und Nation . . ." wo
aus dem Munde von Myriaden von Engeln die Worte ertönen
werden: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist,
zu empfangen die Macht und Reichtum usw." und wo „jedes
Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde und unter der
Erde und auf dem Meere ist und alles, was in ihnen ist", anheben wird zu sagen: „Dem, der auf dem Throne sitzt, und
dem Lamme die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit
und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit" (Offb 5)!
Christus ist somit der erste Gegenstand der Ratschlüsse
Gottes, das Haupt und der Erbe aller Dinge, und zwar in doppelter Hinsicht: zunächst als Schöpfer und dann als Erlöser.
Nach diesen beiden Seiten hin hat sich die Herrlichkeit Gottes
entfaltet. Die Herrlichkeit Christi als Schöpfer ist, sozusagen,
naturgemäß Sein Teil, während Er die Herrlichkeit als Erlöser
durch Seinen Sieg über den Tod und die Macht des Feindes
erworben hat. Er besitzt alles als Mensch, und alles durch göttliche Macht. Aber in gewissem Sinn kann gesagt werden, daß
ein Teil Seiner Herrlichkeit von Seiner Gottheit, der andere
von Seinem Siege als Mensch abhängt; und diese Herrlichkeit
ist es, welche die Kirche, als Sein Leib und als Seine Braut, mit
Ihm teilen wird. Es ist Seine Herrlichkeit als Sohn des Menschen, als der zweite Adam, Dessen Herrschaft sich nicht allein
über die niedere Schöpfung, sondern auch über die Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen Örtern erstreckt. Gott
hat Ihn gesetzt zu Seiner Rechten in den himmlischen örtern
„über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen, und hat alles
108
seinen Füßen unterworfen" (Eph 1, 21). „welcher das Haupt
jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist" (Kol 2, 10; Hebr 2,
5—8). Zugleich ist Er, Der das Haupt über alles ist und das
ganze Weltall mit Seiner Herrlichkeit erfüllen wird, das Haupt
Seines Leibes, der Versammlung, die Ihn gleichsam vervollständigt. Denn ein Kopf ohne Leib ist ebenso unvollständig
wie ein Leib ohne Kopf. So ist die Versammlung Christo (und
Christus der Versammlung) gegeben, nicht daß sie das Haupt
sei, von dem die Leitung ausgeht, sondern um jenen geheimnisvollen Menschen — den Menschen der Ratschlüsse Gottes —
von dem Er das Haupt ist, zu vervollständigen. So lesen wir
in Eph 1, 22. 23, daß Gott „ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben hat, welche sein Leib ist, die Tülle dessen,
der alles in allem erfüllt". Welch eine köstliche Wahrheit! Die
Kirche ist ein Teil von Ihm, „der alles in allem erfüllt", von
Ihm, Der als der höchste Gegenstand der Ratschlüsse und
Wonne Gottes den Mittelpunkt aller Seiner Herrlichkeit bildet.
Sie ist so sehr die Fülle Christi, daß sie, betrachtet als Leib in
Verbindung mit ihrem Haupt, kurzweg „der Christus" genannt
wird (1. Kor 12, 12). Aber wie das Haupt nicht vollständig
sein kann ohne einen Leib, so erhält auch der Leib seinen
ganzen Wert und seine Bedeutung erst durch das Haupt. Das
Haupt ist es, das die ganze Person gleichsam kennzeichnet, so
daß in den Gliedern des Leibes eigentlich nur die Bedeutung
des Hauptes gesehen wird. Und tatsächlich wird in den einzelnen Gliedern der Kirche in ihrem vollendeten Zustande nur
das Bild Christi geschaut werden: „wo nicht ist Grieche und
Jude, Beschneidung und Vorhaut, Barbar, Scythe, Sklave,
Freier, sondern Christus alles und in allen" (Kol 3, 11). Dies
ist es, was Christus gesucht hat, und was Er nirgends finden
konnte außer in der Kirche. Gleichwie für den ersten Adam in
der ganzen Schöpfung keine Hilfe seines Gleichen gefunden
wurde außer in der Eva, die aus ihm entnommen war, so sieht
auch Christus in der Kirche Seines Gleichen: sie ist „von Seinem Fleische und von seinen Gebeinen" (Eph 5, 30), und darum der Gegenstand Seiner innigsten Zuneigungen; sie ist die
„sehr kostbare Perle", die Er gesucht und gefunden und gekauft hat, und wofür Er alles hingab, was Er hatte. Nicht, daß
sie diese Kostbarkeit von Natur besessen hätte; gerade das
Gegenteil war der Fall. Christus fand sie in dem Schmutz die109
ser Welt, wie einen „im Acker verborgenen Schatz"; aber Er
liebte sie, und darum gab Er Sich Selbst für sie hin, „auf daß
er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser
durch das Wort". Und gleichwie Gott die Eva bildete und sie
dann dem Adam gab, so wird auch der Christus Sich Selbst —
da Er Gott ist — die Kirche verherrlicht darstellen, „die nicht
Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß
sie heilig und tadellos sei". Seine unendliche Liebe zu der Kirche ist die Grundlage Seiner Verbindung mit ihr und der aus
dieser Verbindung für sie hervorgehenden Herrlichkeiten und
Segnungen. Sie ist durch die innigsten und stärksten Bande
mit Seinem Herzen verbunden, so daß Ihm nichts zu teuer war,
um es für sie hinzugeben, selbst als sie sich noch im Zustand
des tiefsten Elendes befand. Welch eine Liebe! Er, der Schöpfer und Erbe aller Dinge, der Gegenstand der Wonne des
Vaters, Er, Der die Fülle von allem ist und in Dem die Fülle der
Gottheit leibhaftig wohnt, Er mußte sie haben, Er wäre ohne
den Besitz der Versammlung nicht befriedigt gewesen. Seine
Liebe zu ihr findet erst dann ihre volle Befriedigung, wenn Er
sie in Seine Herrlichkeit eingeführt und ihr an allem Teil gegeben hat, was Er Selbst besitzt. Sie hat den ersten Platz in
Seinem Herzen, und darum nimmt sie auch in Verbindung mit
Ihm den ersten Platz in dem ewigen Ratschluß Gottes ein.
Indessen müssen wir stets festhalten, daß sie der Leib eines
verherrlichten Christus ist. Obwohl sie daher in den Gedanken Gottes schon vor Grundlegung der Welt bestand, so konnte
ihre Berufung doch nicht stattfinden, bevor Christus verherrlicht war. Bis dahin blieb sie ein in Gott verborgenes „Geheimnis". Gott trat erst dann mit Seinem ewigen Ratschluß
hervor, als durch die Verwerfung Christi alle Seine auf das
Gesetz gegründeten Beziehungen mit Israel, und die Beziehungen mit der Welt abgebrochen waren. Die Berufung der Kirche
ist deshalb, in Übereinstimmung mit diesem ewigen Ratschluß
und der Stellung ihres Hauptes, eine rein himmlische Sache,
die außerhalb aller irdischen Verbindung steht. Sobald Christus verherrlicht war, wurde der Heilige Geist herniedergesandt, um die einzelnen Glieder der Kirche aus der Welt zu
sammeln und sie zu einem Leibe zu vereinigen. Und erst nachdem das letzte Glied dem Leibe hinzugefügt und die Kirche
110
tatsächlich mit ihrem himmlischen Haupt in der Herrlichkeit
vereinigt ist, nimmt Gott Seine Beziehungen zu Israel und der
Welt wieder auf. Dies zeigt uns, wie alle Ratschlüsse Gottes
ihren eigentlichen Ausgangspunkt in Seinem ewigen Ratschluß
haben, der Christum und die Kirche zum Gegenstand hat.
Nachdem wir so in Kürze die Gegenstände des Ratschlusses
Gottes betrachtet haben, kommen wir jetzt zu dessen Natur
und Charakter.
Er ist göttlich in seinem Ursprung, seiner Ausführung und
seinem Ergebnis. Indem er seinen Ursprung in Gott Selbst hat,
ist er die völlige Offenbarung dessen, was Gott ist, sowie der
Gedanken, die von Ewigkeit her, vor Anbeginn der Schöpfung,
in Seinem Herzen verborgen waren. Nichts ist darin enthalten,
was nicht von Gott und in völliger Übereinstimmung mit Ihm
wäre. Er trägt von Anfang bis zu Ende das Gepräge der göttlichen Natur, der göttlichen Reinheit und Liebe. Infolgedessen
muß auch alles, was aus diesem Ratschluß hervorgeht, das
ganze Erlösungswerk Christi, sowie alles, was uns auf diesem
Grunde zuteil geworden ist: unsere Errettung, Versöhnung,
Rechtfertigung, unser Friede mit Gott, die persönliche Inwohnung des Heiligen Geistes, unsere Kindschaft, unsere Herrlichkeit und unsere geistlichen Segnungen, mit einem Wort,
unsere ganze Stellung in Christo denselben göttlichen,
ewigen und unveränderlichen Charakter tragen. Und wie der
Ursprung, so wird auch das Ergebnis dieses Ratschlusses, die
Kirche in ihrer Vollendung, in völliger Übereinstimmung mit
Gott sein. Sie wird „die Herrlichkeit Gottes" haben (Offb 21,
11). „Wie er uns auserwählt hat in ihm, daß wir heilig und
tadellos seien vor ihm in Liebe" (Eph 1, 4). Gleichwie Mose
das Heiligtum nach dem Muster machen mußte, das ihm auf
dem Berge gezeigt worden war (2. Mo 25, 40), so wird auch
die Kirche in ihrer Vollendung genau so dargestellt sein, wie
sie vor den Zeitaltern schon in dem Herzen und den Gedanken
Gottes, ihres großen Baumeisters, bestand. Ihr Ursprung und
Charakter sind göttlicher, himmlischer und ewiger Natur; sie
wird uns daher gezeigt als die heilige Stadt, die vom Himmel
herniederkommt, von Gott. Alles, was von Gott kommt, ist
heilig und seinem Ursprung und seiner Natur nach unbefleckbar. „Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn
111
sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen, weil er
aus Gott geboren ist" (1. Joh 3, 9). Alles, was wir in der Kirche Gottes sehen, ist aus Gott und das Resultat Seines Werkes. Sie ist daher, selbst wenn sie mit dem Maßstab der Gerechtigkeit Gottes gemessen wird, in jeder Beziehung vollkommen. Gott Selbst, Seine Gerechtigkeit, Reinheit, Heiligkeit, ja
alle Seine Herrlichkeit wird in ihr gesehen (Offb 21).
So vollkommen göttlich, wie der Ursprung und das Ergebnis dieses Ratschlusses ist, ist auch seine Ausführung, indem
wir in ihr die „mannigfaltige Weisheit Gottes", sowie Seine
unumschränkte Macht und Gnade erblicken. Wohl sah Gott
den Fall des Menschen voraus, aber darum war auch schon in
Seinem Ratschluß die Erlösung vorgesehen, in deren Folge
jener Ratschluß in einer Weise ausgeführt wird, welche die
Weisheit Seines Urhebers vor dem ganzen Weltall in ein glänzendes Licht stellt. „Auf daß jetzt den Fürstentümern und den
Gewalten in den himmlischen örtern durch die Versammlung
kundgetan werde die gar mannigfaltige Weisheit Gottes, nach
dem ewigen Vorsatz, den er gefaßt hat in Christo Jesu, unserem Herrn" (Eph 3, 10. 11). Die Engel staunen, wenn sie einen
Räuber, der am Kreuze endigte, einen Saulus, der mit glühendem Haß den Herrn verfolgte, eine Maria Magdalena, welche
sieben Teufel hatte, einen Petrus, der mit Fluchen und Schwören seinen Herrn verleugnete, oder alle jene, die tot waren in
Vergehungen und Sünden, weit über sich in einer Herrlichkeit
erblicken, „in welche Engel hineinzuschauen begehren" (1. Petr
1, 12). Die Sünde in allen ihren Formen des Unglaubens und
der Gottlosigkeit konnte den Ratschluß Gottes weder in seiner
Ausführung, noch in seinem Endergebnis aufhalten oder verändern; sie brachte nur um so mehr die göttliche Vollkommenheit seiner Natur und seines Charakters ans Licht, indem sie
die Veranlassung zu dessen völliger Entfaltung und zur Offenbarung unendlicher, bis dahin verborgen gebliebener Tiefen
Gottes wurde. Die überströmend gewordene Sünde rief eine
noch überschwenglichere Gnade hervor, eine Gnade, die einen
Menschen, der jedes Anrecht auf die Güte und die Segnungen
Gottes verloren hat, aus dem tiefsten Abgrunde des Verderbens zu den erhabensten Höhen der Herrlichkeit erhebt; eine
Gnade, an die der Mensch nie hätte denken können, ja deren
112
Voraussetzung von seiner Seite Vermessenheit gewesen wäre.
Wie durfte er, nachdem er gesündigt hatte, voraussetzen, daß
Gott Seinen Sohn für ihn dahingehen würde, um Ihn das
ganze Gewicht des göttlichen Zornes an seiner Statt treffen zu
lassen? Würde dies nicht einen Zustand verraten haben, der
noch weit schlimmer war als die begangenen Sünden? Ganz
gewiß. Aber wenn Gott daran dachte, für solche Elende, wie
wir sind, Seinen eigenen Sohn hinzugeben, so zeigt dies nur
die Vollkommenheit Seines Ratschlusses und die darin verborgenen Tiefen einer Liebe, Gnade, Weisheit und Macht, die uns
mit Erstaunen und Anbetung erfüllen und Ihn in einer Größe
und Erhabenheit zeigen, daß selbst der Unglaube Ihn rechtfertigen muß und das Mittel zur Verherrlichung Seiner wunderbaren Gnade wird.
Wie schrecklich die Sünde und wie unberechenbar ihre Folgen auch sein mögen, so führt Gott dennoch Seinen Ratschluß
aus, trotz der Sünde und wider die Sünde, indem Er in Seiner
unumschränkten Gnade Sich über sie erhebt. Mag die Macht
des Feindes noch so groß, mögen seine Anstrengungen noch so
gewaltig sein, Gott führt Seinen Vorsatz aus „nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in
dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte und
ihn zu seiner Rechten setzte in den himmlischen örtern, über
jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft
und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem
Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen" (Eph 1, 19—22).
Wenn die Gnadengaben und die Berufung Gottes „unbereubar" sind, dann ist es sicher auch Sein ewiger Ratschluß, dessen Resultat Ihn bezüglich der Sünde und angesichts des ganzen Weltalls gerechtfertigt und verherrlicht erscheinen und den
Mund des Widersachers verstummen läßt und das Loblied
aller Seiner Erlösten wachruft. „O Tiefe des Reichtums", ruft
der Apostel aus, „sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt,
oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von
ihm und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in
Ewigkeit! Amen" (Röm 11, 33-36).
113
Die Natur und der Charakter des göttlichen Ratschlusses
lassen uns verstehen, wie unabhängig er in jeder Beziehung
von der Wirksamkeit des Menschen ist. Denn wenn Gott keines „Mitberaters" bedurfte, so bedarf Er auch sicherlich keines Mitwirkers. Der Ratschluß ist in seinem Ursprung wie in
seiner Ausführung nur das Werk Gottes. Die Verantwortlichkeit des Menschen kommt dabei durchaus nicht in Betracht,
und darum ist auch von der Wüste oder der Pilgrimschaft dabei keine Rede. Gott tritt hervor, um zu zeigen, was Er ist. Die
Wüste dagegen hat ihren Platz in den Wegen Gottes und
offenbart uns, was der Mensch ist. Dies sehen wir vorbildlich
schon bei Israel. Gott sah das Volk in der Sklaverei Ägyptens
und kam, um Seinen Ratschluß betreffs des Volkes auszuführen, das heißt, um es zu retten und in ein gutes Land zu bringen. „Und Jehova sprach: Gesehen habe ich das Elend meines
Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner
Treiber habe ich gehört, denn ich kenne seine Schmerzen. Und
ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu
erretten und es aus diesem Lande hinauszuführen in ein gutes
und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig
fließt .. . Ich will euch aus dem Elend Ägyptens . . . hinausführen .. . in ein Land, das von Milch und Honig fließt" (2. Mo
3,7.8.17). „Ich bin Jehova, und werde euch herausführen unter
den Lastarbeiten der Ägypter hinweg, und werde euch erretten
aus ihrem Dienste und euch erlösen . . . Und ich werde euch in
das Land bringen, welches dem Abraham, Isaak und Jakob zu
geben ich meine Hand erhoben habe, und ich werde es euch
zum Besitztum geben, ich, Jehova" (2. Mo 6, 6—8). In diesen
Worten finden wir Erlösung und Herrlichkeit, aber nichts von
der Wüste. Die Wr
üste ist der Platz der Verantwortlichkeit und
bildet weder einen Teil des Ratschlusses, noch ist sie zu dessen
Ausführung nötig. Gott hätte Sein Volk, nachdem es das Rote
Meer durchschritten hatte, sofort nach Kanaan führen können.
Denn nicht die Wüste machte das Volk für den Besitz Kanaans
fähig, sondern einzig und allein die im Blute des Passahlammes und in dem Durchzug durch das Rote Meer vorgebildete
Erlösung. Und tatsächlich sang Israel an den Ufern des Roten
Meeres den Triumphgesang der vollkommenen Befreiung, indem es im Geiste in das ganze Ergebnis der vollbrachten Erlösung eintrat. „Du hast durch deine Güte geleitet das Volk,
114
das du erlöst, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner
heiligen Wohnung" (2. Mo 15, 13). Israel war am Ende der
Wüste nicht fähiger für den Besitz Kanaans, als es im Anfang
seiner Wanderung war, da es noch am Ufer des Roten Meeres
stand. Es war ein erlöstes Volk, ehe es noch im eigentlichen
Sinne des Wortes die Wüste betrat. Wenn man sagt, daß die
Erfahrungen der Wüste nötig seien, um uns für den Besitz der
Herrlichkeit passend und fähig zu machen, so leugnet man damit die göttliche Vollkommenheit des Ratschlusses oder wenigstens der Erlösung. Man versteht nicht die Natur und den
Charakter dieses Ratschlusses.
Wir lesen in Kol 1, 12: „Danksagend dem Vater, der uns
fähig gemacht zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem
Lichte, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und
versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe". Diese Stelle
findet ihre Anwendung nicht nur auf einzelne, geistlich geförderte und erfahrene Gläubige, sondern auf alle ohne Ausnahme.
Der jüngste und schwächste Gläubige ist ebenso für die Herrlichkeit fähig gemacht, wie der älteste und erfahrenste Christ.
Der Missetäter am Kreuze war, sobald er glaubte, ebenso passend, um in die Herrlichkeit einzugehen, wie der Apostel Paulus am Ende seiner langen, glorreichen Laufbahn, ja wie Christus Selbst. Und in der Tat ging er noch an demselben Tage
vom Kreuze unmittelbar in das Paradies hinüber: „Wahrlich,
ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradiese sein". Er
hatte nicht erst nötig, die Erfahrungen der Wüste zu machen.
Wir sprechen hier selbstverständlich nur von dem Ratschluß
als solchem, so wie Gott ihn in Christo gefaßt und ausgeführt
hat, nach welchem die Gläubigen bereits erlöst und zu Gott gebracht sind, und zwar in völliger Übereinstimmung mit Ihm.
„Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe"
(1. Petr 3, 18). Wir waren tot in unseren Vergehungen und
Sünden; „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen
seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in
den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, (durch Gnade seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen örtern
in Christo Jesu" (Eph 2). Wir sind so vollkommen errettet und
115
befreit, daß wir, gleich Israel an den Ufern des Roten Meeres,
jetzt schon den Triumphgesang der Befreiung anstimmen können. Aber diese Errettung ist, wie schon wiederholt bemerkt
wurde, ausgeführt außer uns in Christo. Ohne Zweifel geschieht ein Werk in uns, wenn der Heilige Geist uns von unserem Zustande überzeugt und uns in die Erkenntnis Christi und
Seines für uns vollbrachten Werkes einführt. Aber wir sprechen jetzt nur von dem Werk, das Gott nach Seinem Vorsatz
in Christo für alle Gläubige ohne Ausnahme vollbracht hat,
und durch das sie vollkommen errettet und befreit sind. Sie
sitzen schon in Christo in den himmlischen örtern und sind
demgemäß vor Gott nach der Vollkommenheit und Kostbarkeit der Person Christi und dem ganzen Wert Seines Opfers.
Sie können als Menschen in Christo nie mehr verlorengehen, auch
gibt es irgendwelche Verdammnis nicht mehr für sie. Wir führen zur Bestätigung des Gesagten noch einige Stellen an: „Denn
in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; und ihr
seid vollendet in ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums und
jeder Gewalt ist". „Denn durch ein Opfer hat er auf immerdar
vollkommen gemacht, die geheiligt werden". „Also ist jetzt
keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind". „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben am Tage des Gerichts, daß, gleichwie er ist,
auch wir sind in dieser Welt". „Meine Schafe hören meine
Stimme . . . und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen
nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand
rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als
alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben" (Kol 2, 9-15; Hebr 10, 14; Röm 8, 1; 1. Joh 4, 17; Joh
10, 27—29). Diese und noch viele andere Stellen bezeugen klar
und deutlich, daß die vollkommene Errettung und Stellung des
Gläubigen eine vor Gott bestehende Tatsache ist. Der Gläubige
ist so vollkommen gemacht, wie das Werk Christi ihn vollkommen machen kann, und selbstverständlich kann dem, was
vollkommen und vollendet ist, nichts mehr hinzugefügt werden. Welches Gericht oder welche Verdammnis könnte es noch
geben für den, der laut des Wortes Gottes so gerecht und
vollkommen ist, wie der Richter Selbst? Kann es für Christum
eine Verdammnis geben? Oder gibt es etwas auszusetzen an
der Gerechtigkeit Gottes? Und dieser Gerechtigkeit sind wir
116
teilhaftig geworden. „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für
uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor 5, 21). Unstreitig muß eine Stellung, die
das ewig vollgültige Werk Christi zur Grundlage hat, dieselbe
Dauer und Gütigkeit haben, wie dieses Werk selbst.
Zwar befinden wir uns noch hier in einem sterblichen Leibe,
aber der Heilige Geist, der infolge des vollbrachten Werkes
und der Verherrlichung Christi herabgesandt ist, hat Wohnung in uns gemacht; und Seine Gegenwart in uns ist die
Bestätigung der für uns vollbrachten Erlösung, der Tilgung
unserer Sünden, sowie unserer Annahme in Christo vor Gott.
Infolgedessen wird auch unser sterblicher Leib lebendig gemacht werden. „Wenn aber der Geist dessen, der Jesum aus
den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der
Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen
Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes" (Röm 8, 11). Dies wird bei der Ankunft des Herrn geschehen, und zwar in einem Nu, in einem Augenblick. „Siehe
ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem
Nu, in einem Augenblick" (1. Kor 15, 51—58). „Denn der Herr
selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom
Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen
usw." (1. Thess 4, 16. 17). „Denn unser Bürgertum ist in den
Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als
Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichfomigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit" (Phil 3, 20. 21). Der Ratschluß Gottes wird also bei
der Ankunft des Herrn auch bezüglich unseres Leibes erfüllt
werden, indem wir alsdann dem Leibe nach in die Stellung
versetzt werden, die wir jetzt schon dem Geiste nach in Christo haben; und die Ankunft des Herrn haben wir jeden Tag
zu erwarten.
Aber, könnte man fragen, wozu denn die Wüste, wenn sie
weder einen Teil des Ratschlusses bildet, noch zu seiner Ausführung nötig ist? Die Beantwortung dieser Frage führt uns
zur Betrachtung der Wege Gottes mit den Seinen. Wenn Gott
in Seinem Ratschluß zeigt, was Er für uns ist, so bietet die
117
Wüste uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir für Ihn sind. Die
Wüste ist der Platz der Verantwortlichkeit, die Seite des Menschen, wenn wir so sagen dürfen, wo das „Wenn" anfängt,
dem wir so häufig in dem Worte begegnen, und wodurch so
viele Christen beunruhigt werden, weil sie wegen Mangels an
Verständnis des Ratschlusses Gottes nicht befreit sind. Sie
unterscheiden nicht zwischen dem Ratschluß und der Regierung Gottes, zwischen der Stellung und der Verantwortlichkeit
des Gläubigen; sie sind betreffs ihrer Errettung in Zweifel
und Ungewißheit und daher unfähig, in Übereinstimmung mit
Gott zu wandeln. Andererseits ist es möglich, daß man alle
diese Wahrheiten versteht und zu unterscheiden weiß und
dennoch, aus Mangel an Treue und Wachsamkeit, nicht in
Übereinstimmung mit Gott wandelt.
Wie der Ratschluß Gottes, so tragen auch die Wege Seiner
Regierung den Stempel der göttlichen Vollkommenheit, Weisheit und Macht. „Gott — sein Weg ist vollkommen" (Ps 18,
30). So dunkel, unbegreiflich und unausforschlich die Regierungswege Gottes auch oft für uns sein mögen, so haben sie
doch in betreff der Gläubigen*) dieselbe Liebe zur Grundlage,
wie der Ratschluß Gottes, wie sie denn auch schließlich zu
dessen Erfüllung führen. Mögen sie deshalb auch noch so ernst
sein, ja oft sogar den Charakter des Gerichts tragen, so ist
doch bei ihrer Wahl die Liebe die alleinige Triebfeder. Derselbe Gott, Der uns nach Seinem Vorsatz zuvorerkannt und
zuvorbestimmt hat, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu
sein, ist es auch, Der in der nämlichen Liebe in Seinen Wegen
mit uns handelt. Selbst wenn Er richtet, bleibt Er immer der
Gott/Den wir als Vater anrufen. Unsere Stellung in Christo
wird dadurch nicht im entferntesten berührt. So wenig wie
durch Seinen Ratschluß die Wege Seiner Regierung entkräftet
werden, ebensowenig heben diese jenen auf. Beide stehen in
vollkommener Harmonie miteinander, obgleich sie dem Grundsatz ihrer Ausführung nach völlig verschieden sind.
Wir haben gesehen, wie Gott in der Ausführung Seines Ratschlusses in unumschränkter Gnade für uns und unabhängig
*) In betreff der Welt enden die Wege Gottes im Gericht, in der ewigen
Verdammnis.
118
von unserem Zustande handelt. Er hat uns vollkommen errettet in Christo, alles ist Sein Werk, und unsere Verantwortlichkeit kommt dabei nicht in Betracht. Handelt es sich aber um
die Wege Seiner Regierung, so hängt alles von der Verantwortlichkeit des Menschen ab. Gott handelt dann als Der, „welcher
einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: denen, die
mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit und Ehre und
Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; denen aber, die streitsüchtig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. Drangsal und Angst
über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt . . .
Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute
wirkt" (Röm 2, 7—10). Inwieweit der Mensch fähig ist, das
Gute zu tun, kommt hier nicht in Betracht; er ist verantwortlich, es zu tun, tut er es nicht, so wird Zorn und Grimm, Drangsal und Angst über ihn kommen. Das Wort: „Was irgend der
Mensch sät, das wird er auch ernten", behält als ein allgemeiner Grundsatz stets seine Gültigkeit, und soweit es Seine Regierung betrifft, weicht Gott nicht davon ab, wie unumschränkt
auch Seine Gnade sein mag, die Er auf der anderen Seite an
einem elenden, verlorenen Sünder offenbart. Im Blick auf die
christliche Verantwortlichkeit heißt es: „Wenn jemand nicht in
mir bleibt, der wird hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie
verbrennen" (Joh 15, 6). „Denn wenn ihr nach dem Fleische
lebet, so werdet ihr sterben" (Röm 8, 13). „Und euch . . . hat
er aber nun versöhnt . . . um euch heilig und tadellos und unsträflich vor sich hinzustellen, wenn ihr anders im Glauben
gegründet und fest bleibet" (Kol 1, 21—23). „Das Wort ist gewiß; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch
mitleben; wenn wir ausharren, so werden wir auch mitherrschen; wenn wir verleugnen, so wird auch er uns verleugnen;
wenn wir untreu sind — er bleibt treu, denn er kann sich selbst
nicht verleugnen" (2. Tim 2, 11—13).
Gott kann diese Verantwortlichkeit nicht aufheben, weder in
bezug auf den Menschen im allgemeinen, noch auch in bezug
auf den Gläubigen. Er richtet in Seiner Regierung „ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk" (1. Petr 1, 17). So
unumschränkt Er in der Ausübung der Gnade ist, wenn es sich
um Seinen Ratschluß handelt, so wenig kann Er Seine Gerech119
tigkeit und Heiligkeit in den Wegen Seiner Regierung aufgeben. Er kann nie die Sünde dulden, oder Er müßte aufhören,
Gott zu sein. Aber nein: „Er kann sich selbst nicht verleugnen". „Gerechtigkeit und Gericht sind seines Thrones Grundfeste" (Ps 97, 2). Selbst die Ausübung der Gnade kann nur
stattfinden aufgrund Seiner Gerechtigkeit, auf Grund des Todes Christi, des Ausdrucks der Gerechtigkeit und Heiligkeit
Gottes der Sünde gegenüber.
Viele Gläubige befinden sich nun in Zweifel und Ungewißheit betreffs ihrer Errettung. Dies hat zunächst seinen Grund
darin, daß sie von den Stellen, die auf die Verantwortlichkeit
bezug haben, eine falsche Anwendung machen. Sie behaupten
auf Grund dieser Stellen, ein Christ könne noch wie die Rebe
„hinausgeworfen" und „verleugnet" werden. Aber sie unterscheiden nicht zwischen Stellung und Verantwortlichkeit. Wie
groß auch die Verantwortlichkeit sein mag, so wird doch die
Stellung dadurch nicht im geringsten in Frage gestellt. Der
Gläubige ist ein für allemal, gleich Israel am Roten Meer, erlöst, errettet und mit Gott in Übereinstimmung gebracht. Israel
war und blieb das erlöste Volk Gottes selbst dann noch, als es
in trauriger Weise in der Wüste gefehlt und seiner Verantwortlichkeit nicht entsprochen hatte. „Nicht ein Mensch ist
Gott, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er gereue.
Sollte er gesprochen haben und es nicht tun, und sollte er geredet haben und es nicht aufrechthalten? Siehe, zu segnen
habe ich empfangen; und er hat gesegnet, und ich kann es nicht
wenden. Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht
kein Unrecht in Israel" (4. Mo 23). Das war das Zeugnis Gottes über Israel, und zwar in einem Augenblick, als es nicht, wie
am Roten Meer, den Triumphgesang der Befreiung anstimmt,
sondern als es klagend und murrend die Wüste durchzog. Der
Geist Gottes sagt nicht ohne Absicht: „Und Bileam richtete
sein Angesicht nach der Wüste . . ." (4. Mo 24). Und es ist
beachtenswert, daß dieses Zeugnis aus dem Munde des untreuen
Propheten Bileam kam, der so gern das Volk verflucht hätte,
um sich die Gunst Balaks zu erkaufen. Wohl züchtigte Gott
das Volk wegen seiner Widerspenstigkeit in ernster Weise;
aber wenn der Feind es verfluchen wollte, dann war es Gott,
Welcher rechtfertigte (Röm 8, 33). Und selbst in der gegen120
wältigen Zeit, wo Israel als Volk infolge der Verwerfung seines Messias unter dem Gericht Gottes ist, hört es nicht auf,
das geliebte und auserwählte Volk Gottes zu sein, und wird
aus diesem Grunde wiederhergestellt werden. „Gott hat sein
Volk nicht verstoßen, das er zuvorerkannt hat . . . Denn die
Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar" (Röm
11, 2. 29). Ebenso läßt die Frage der Verantwortlichkeit des
Gläubigen seine Stellung nach dem Ratschluß Gottes völlig
unberührt.
Was aber ist denn der Zweck der Wüste? Wir finden die
Antwort in 5. Mo 8, 2: „Und du sollst gedenken des ganzen
Weges, den Jehova, dein Gott, dich hat wandern lassen diese
vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen,
um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in deinem
Herzen ist, ob du seine Gebote beobachten würdest,
oder nicht". Die Erlösung des Volkes Gottes war so vollkommen, daß seiner Einführung in Kanaan ebensowenig im Wege
stand, wie der Einführung des Räubers am Kreuze in das Paradies. Dennoch gefiel es Gott, das Volk vierzig Jahre durch
die Wüste zu führen, um es zu versuchen, damit kund würde,
was in ihren Herzen war. Und das Resultat davon läßt uns
die Weisheit und den Zweck der Wege Gottes verstehen, während es zugleich zur ernsten Belehrung und Warnung für uns
dient. Es zeigt uns, warum das „Wenn", oder mit anderen
Worten, die Verantwortlichkeit eingeführt ist. Nicht etwa, um
den Ratschluß Gottes oder unsere Errettung als unsicher hinzustellen, sondern vielmehr um uns auf die Gefahr des Selbstbetrugs betreffs der Errettung aufmerksam zu machen. Im 10.
Kapitel des ersten Korinfherbriefes finden wir dies sehr deutlich ausgedrückt. Es heißt dort: „Denn ich will nicht, daß ihr
unkundig seid, Brüder, daß unsere Väter alle unter der Wolke
waren und alle durch das Meer hindurchgegangen sind, und
alle auf Moses getauft wurden in der Wolke und in dem
Meere, und alle dieselbe geistliche Speise aßen, und alle denselben geistlichen Trank tranken . . . An den meisten derselben
aber hatte Gott kein Wohlgefallen, denn sie sind in der Wüste
hingestreckt worden". Sollen diese Worte unsere Errettung
nach dem Ratschluß Gottes in Frage stellen? Gewiß nicht. Sie
wollen entschieden nicht sagen, daß man, einmal gerettet, wieder verlorengehen könne, sondern sind vielmehr ein Beweis,
121
daß man äußerlich mit dem erlösten Volke Gottes in Verbindung und seiner geistlichen Segnungen mitteilhaftig sein kann,
ohne wirklich gerettet zu sein. „Nicht aber, als ob das Wort
Gottes hinfällig geworden wäre; denn nicht alle, die aus Israel
sind, die sind Israel, auch nicht, weil sie Abrahams Same sind,
sind alle Kinder; sondern ,in Isaak wird dir ein Same genannt
werden'. Das ist: Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind
Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als
Samen gerechnet" (Röm 9, 6—8). Die Wüste offenbarte, daß
nicht alle Israeliten, die Ägypten verlassen hatten, wirklich
Kinder der Verheißung waren; und dasselbe, was hier von
Israel gesagt ist, gilt auch von der Christenheit. Denn „alle
diese Dinge widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der
Zeitalter gekommen ist. Daher, wer zu stehen sich dünkt, sehe
zu, daß er nicht falle" (1. Kor 10, 11. 12). Die Ermahnung bezweckt also, daß niemand sich selbst täusche, sondern volle
Gewißheit über seine Errettung erlange. Ach, wie viele leben
auch heute in dieser schrecklichen Selbsttäuschung dahin! Sie
glauben, genug getan zu haben, wenn sie sich von den rauschenden Vergnügungen der Welt und von groben Sünden
getrennt halten, mit den wahren Christen verkehren und mit
ihnen zum Tische des Herrn gehen. Aber sie betrügen sich
selbst auf verhängnisvolle Weise. Gleich der großen bekennenden Masse, die sorglos und gleichgültig auf dem breiten Weg
des Verderbens einhergeht, ohne sich um Gott und Gottes Wort
zu kümmern, sind auch sie bloß äußerlich dem Namen nach
mit Christo als dem Weinstock in Verbindung, ohne das Leben
aus Gott empfangen zu haben. Dennoch sind sie nach der Regierung Gottes verantwortlich für die Stellung, die sie einzunehmen bekennen, und werden, insofern sie sie nicht verwirklichen, „hinausgeworfen werden wie die Rebe". Ohne Zweifel
kann niemand als Christ wandeln, es sei denn, daß er den
Geist aus Gott empfangen habe, dennoch aber ist jeder, der
Christ zu sein bekennt, verantwortlich, auch als solcher zu
wandeln. „Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig,
selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat" (1. Joh 2, 6).
Alle Ermahnungen und Warnungen des Wortes Gottes, die
sich auf den christlichen Wandel beziehen, richten sich an alle
122
bekennenden Christen ohne Ausnahme, mögen sie bekehrt
oder unbekehrt sein; so ist es klar, daß es solche gibt, die hinausgeworfen oder verleugnet werden. Sie waren aber selbstverständlich nie wiedergeboren. In dieser Beziehung sind denn
auch die Warnungen gegeben, die wir in 1. Kor 10, dem Brief
Judas, 2. Petr 2, Hebr 12, 16 usw. finden, sowie in Stellen wie
die folgende: „Denn es ist unmöglich, diejenigen, welche einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische
Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes*), und
geschmeckt haben das gute Wort Gottes und die Wunderwerke
des zukünftigen Zeitalters und abgefallen sind, wiederum zur
Buße zu erneuern" (Hebr 6, 4—6). Solche Stellen können nie
auf wahre Christen angewendet werden, die wirklich das Leben
aus Gott besitzen; denn von ihnen sagt der Herr: „Sie gehen
nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand
rauben" (Joh 10). Ihre Stellung in Christo ist so unerschütterlich wie der Ratschluß Gottes, ja wie die Stellung Christi Selbst.
Um so ernster und feierlicher aber sind solche Warnungen für
die, welche sich mit andächtigen und frommen Gefühlen und
der äußerlichen Gemeinschaft mit den wahren Christen irgendwelcher Partei begnügen, ohne eine tatsächliche Veränderung
an ihrem Herzen erfahren zu haben. Sie haben noch nie ihren
verlorenen Zustand im Lichte Gottes wahrhaft erkannt und
haben noch nie in Angst ihres Herzens ausgerufen: „Was muß
ich tun, auf daß ich errettet werde?" Mögen sie bedenken, daß
auch die törichten Jungfrauen in Gemeinschaft mit den klugen
von der Welt ausgegangen waren dem Bräutigam entgegen,
und daß sie gleich diesen auch ihre Lampen, die äußeren Formen des Glaubens, besaßen. Aber auf die Probe gestellt dadurch, daß der Bräutigam verzog, zeigte sich bald ihr Mangel
an ö l — der Mangel des Lebens aus Gott; und ach! wie schrecklich wurden sie enttäuscht durch das ernste Wort aus dem
Munde des Herrn: „Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch
nicht" (Mt 25). So gibt es auch in der gegenwärtigen Zeit tau-
*) Dies will nicht sagen, daß die hier gemeinten Personen den Heiligen Geist
als persönlich in sich wohnend empfangen hatten, sondern sie waren dessen
teilhaftig geworden, insoweit die Offenbarungen des Geistes in der Versamm=
lung „einem jeden zum Nutzen gegeben sind" (1. Kor 12, 7). Diejenigen, welche
wirklich den Heiligen Geist empfangen haben, besitzen Ihn für ewig: „denn er
bleibt bei euch und wird in euch sein" (Joh 14, 17),
123
sende, welche die Wahrheit des Heils mit ihrem Verstände aufgefaßt haben, aber sie ist nie in ihr Herz und Gewissen eingedrungen, obwohl sie viel Religiosität und Frömmigkeit zur
Schau tragen mögen.
Andererseits gibt sich ein solcher Selbstbetrug auch vielfach
in großer Oberflächlichkeit und in dem leichtfertigen Mißbrauch
kund, den man mit der freien, unumschränkten Gnade treibt,
indem man sich ihrer rühmt, während man zugleich seinem
eigenen Willen folgt und den Lüsten seines Fleisches freien
Lauf läßt. Alle, die von einer solchen Gesinnung geleitet werden, mögen darüber zu reden wissen, aber sie gehen Tag für
Tag voran, ohne daß je ein ernstes Selbstgericht oder ein geistliches Bedürfnis des Herzens bei ihnen wahrzunehmen wäre.
Aber in so leichtfertiger Weise die Gnade mißbrauchen, heißt
nach dem Worte Gottes, sie in einen Grundsatz der Ausschweifung verkehren; und dies ist die Gottlosigkeit in ihrer verabscheuungswürdigsten Form, die notwendig das Gericht herbeiführen muß. Dennoch können sich auch solche vielleicht für
eine Zeitlang zu den wahren Christen halten, ohne daß sie sich
von ihnen in auffallender Weise unterscheiden, obwohl ihr
Zustand dem klaren Auge des geistlichen Christen nicht verborgen bleiben wird. Judas sagt in bezug auf diese Klasse von
Personen: „Denn gewisse Menschen haben sich nebeneingeschlichen, die schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor aufgezeichnet waren, Gottlose, welche die Gnade unseres Gottes in
Ausschweifung verkehren und unseren alleinigen Gebieter und
Herrn Jesus Christus verleugnen". Zweifellos ist hier von bloßen Bekennern die Rede, und doch heißt es weiter: „Diese sind
Flecken bei euren Liebesmahlen, indem sie mit euch Festessen
halten und sich selbst weiden; Wolken ohne Wasser usw." Sie
waren mit den wahren Christen in Gemeinschaft, ohne von
diesen so erkannt zu werden, wie sie das geistliche Auge des
Apostels erkannte. Wir sehen also auch hier, wie weit diese
Täuschung gehen kann, und wie nötig die diesbezüglichen Warnungen des Wortes sind. Denn so vollkommen die Errettung
ist, so groß ist auch die Gefahr, sich in eitlem Selbstbetrug,
gleich den törichten Jungfrauen, der freien Gnade zu rühmen,
ohne sie tatsächlich für das Herz zu besitzen und ihre heilbringende Wirkung auf Leben und Wandel erfahren zu haben.
(Tit 2, 11—14). Möchte sich deshalb jeder, so lange es noch
124
heute heißt, warnen lassen durch die ernsten Worte: „Wenn
aber jemand den Geist Christi nicht hat, der ist nicht sein"
(Röm 8, 9). „. . . wenn ihr anders in dem Glauben gegründet
und fest bleibet, und nicht abbewegt werdet von der Hoffnung
des Evangeliums" (Kol 1, 23). „Ich will euch aber, die ihr einmal alles wußtet, daran erinnern, daß der Herr, nachdem er das
Volk aus dem Lande Ägypten gerettet hatte zum anderenmal
die vertilgte, welche nicht geglaubt haben" (Judas5). „Fürchten
wir uns nun, daß nicht etwa, da eine Verheißung, in Seine
Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von euch zurückgeblieben zu sein scheine" „. . . auf daß nicht jemand nach
demselben Beispiel des Ungehorsams falle"; „denn wir, die wir
geglaubt haben, gehen in die Ruhe ein" (Hebr 4).
Indessen könnte jemand fragen: Kann denn nicht auch ein
wahrer Christ sich wieder vom Herrn abwenden und nach dem
Fleische leben? Leider ja, wenn er nicht wachsam ist. Aber in
diesem Fall haben wir es mit der Regierung Gottes zu tun,
denn Ihm kann das Verhalten und der Zustand der Seinigen
nicht gleichgültig sein. Er kann, wie schon bemerkt, Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit nicht aufgeben, selbst wenn es sich
um die Gegenstände Seiner Gnade handelt; in dieser Beziehung gilt vor Ihm kein Ansehen der Person. Aber dennoch sind
und bleiben sie die Gegenstände der in Seinem Ratschluß geoffenbarten Gnade, wie traurig ihr Zustand auch sein mag. Er
verschließt Sein Auge nicht vor diesem Zustand; vielmehr beschäftigt Er Sich mit ihnen in den Wegen Seiner Regierung,
damit sie ihren Wandel in Übereinstimmung mit Seinem Ratschluß als Menschen in Christo führen. Wir haben gesehen,
daß Christus, der auferstandene und verherrlichte Mensch zur
Rechten Gottes, der Ausdruck unserer Stellung vor Gott ist;
und Gott erwartet nichts weniger von uns, als daß unser Wandel dieser Stellung entspreche. Dies ist das Maß unserer Verantwortlichkeit, und nur durch einen solchen Wandel wird Gott
verherrlicht.
Leider verstehen viele Gläubige diese Stellung nicht, und
sind deshalb auch nicht imstande, ihr gemäß zu wandeln. Sie
sind nicht befreit und befinden sich unter dem Gesetz, vielleicht
ohne daß sie es selbst wissen und wollen. Wohl mögen sie den
aufrichtigen Wunsch haben, Gott wohlgefällig zu leben; aber
125
bei aller Anstrengung gelingt es ihnen nicht, so zu wandeln,
wie sie es nach ihrer neuen Natur möchten. Jedoch, je aufrichtiger sie sind, um so schneller werden sie kennenlernen, was
sie sind. Es mag viel Kampf und tiefe Übungen durchzumachen
geben, aber die Befreiung wird um so gründlicher sein. Sie
werden erkennen, daß ihr Zustand völlig verderbt ist, daß
nicht nur die Früchte schlecht sind, sondern daß der ganze
Baum nichts taugt. Und die fruchtlosen Anstrengungen zur
Selbstbesserung werden dem Bedürfnis, von einem gänzlich
unverbeserlichen Zustande befreit zu werden, Platz machen.
Die Befreiung besteht darin, daß dieser Zustand, daß Ich, die
Sünde, der alte Mensch hinweggetan ist, indem er sein Ende
in dem Tode Christi gefunden hat. Nicht nur sind meine Sünden auf Grund des Werkes Christi vergeben, sondern ich
selbst bin gestorben, als Christus starb. Ich existierte als Kind
des ersten Adam nicht mehr vor Gott, sondern ich bin vor Ihm
in Christo, dem zweiten Adam; Er ist mein Leben. „Ich bin
mit Christo gekreuzigt; und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich
durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal 2, 20;
Röm 6, 6).
Dann gibt es wieder solche, die vor Gott nicht aufrichtig
sind in betreff ihres Zustandes und sich mit dem Bewußtsein
der Vergebung ihrer Sünden begnügen. Ihr Verhalten wird
durch keinen höheren Beweggrund geleitet, als durch die
Furcht vor der Strafe, und sie kennen keinen anderen Zweck
des Werkes Christi, als daß sie dadurch in den Himmel kommen. An die Verherrlichung des Namens Jesu, als den einzigen Zweck des christlichen Lebens hienieden, denken sie
nicht. Daher ihre beklagenswerte Unwissenheit in betreff des
Wortes Gottes, daher der Mangel an geistlicher Energie und
Entschiedenheit in ihrem Wandel, selbst bezüglich der wenigen
Dinge, die sie erkannt haben; daher dann auch die traurige
Verblendung, in der sie z. B. den in Röm 7 beschriebenen Zustand als den regelrechten Zustand eines Christen bezeichnen,
während sie die Lehre von der wahren Stellung des Gläubigen
einen gefährlichen Irrtum nennen. Kein Wunder, daß sie Jahr
und Tag vorangehen, ohne befreit zu werden und ohne irgendwelche geistliche Fortschritte zu machen. Es findet sich bei
126
ihnen kein Wachstum in der Erkenntnis, kein Forschen nach
Wahrheit, und nie richten sie mit Aufrichtigkeit die Frage an
ihr Herz und Gewissen: Stimmt meine praktische Stellung und
mein Wandel mit dem Worte Gottes auch wirklich überein?
Wir haben oben gesagt, daß ein Christ, wenn er aufrichtig ist,
notwendig zur Erkenntnis seines Zustandes und zu der Einsicht kommen muß,- daß die Befreiung ebenso nötig ist wie die
Bekehrung, nicht um errettet zu werden, sondern um seiner
Stellung gemäß wandeln zu können. Der Tod Christi hatte
nicht allein den Zweck, uns von der Hölle zu erretten; Christus
hat uns durch Seinen Tod auch losgekauft von aller Gesetzlosigkeit und für Sich Selbst zu einem Eigentumsvolk gereinigt,
eifrig in guten Werken (Tit 2, 14; 1. Thess 1, 9). Doch dies
beachten jene Seelen nicht, und so bleiben die Ermahnungen
des Wortes für sie fruchtlos. Sie mögen dennoch wahre Christen sein, aber darum werden sie nach den Wegen der Regierung Gottes sicherlich durch ernste Züchtigungen gehen müssen; sie werden gerettet werden, doch so wie Lot, „mit Not"
oder „wie durchs Feuer" (1. Petr 4, 18; 1. Kor 3, 15). Gleichwohl sind diese Züchtigungen ein Beweis der Liebe und Treue
Gottes und ihrer Sohnschaft, „denn", sagt der Apostel, „wenn
ihr ohne Züchtigung seid, so seid ihr denn Bastarde und nicht
Söhne" (Hebr 12, 8). Doch ihr Leben ist in mehr als einer Hinsicht ein verlorenes Leben. Wohl sind und bleiben sie ihrer
Stellung nach wirklich „Gerechte", aber sie selbst sind stets in
Zweifel und Ungewißheit über ihre Errettung, oder wenigstens
unbefestigt in bezug auf Berufung und Auserwählung. Infolgedessen straucheln sie oft und ihr Eingang in das ewige Reich
unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi ist verengt (2. Petr
1, 8—11). Zugleich sind solche Zustände stets sehr bedenklich;
sehr oft ist mit ihnen der größte Selbstbetrug verbunden und
die Frage ist berechtigt, ob jemals eine wirkliche Bekehrung
stattgefunden hat.
Endlich gibt es noch eine dritte Klasse von Personen, mit der
wir uns einen Augenblick beschäftigen müssen. Es sind solche,
welche die Befreiung der Lehre nach verstehen und wissen, daß
man als ein Mensch in Christo nicht mehr unter dem Gesetz
steht, auch nicht mehr in dem Zustand des ersten Adam ist,
während ihr Wandel dem Wandel eines himmlischen Menschen durchaus nicht entspricht. Sie stehen ihrer Erkenntnis
127
nach vielleicht weit über solchen, die sich noch unter dem Gesetz befinden, während sie bezüglich der Treue im Wandel
weit hinter ihnen zurückbleiben. Sie rühmen sich der Befreiung
vom Gesetz, während sie die Freiheit zu einem Anlaß für das
Fleisch gebrauchen und dadurch dem Feinde Gelegenheit geben,
die Lehre von der Befreiung zu verlästern. Oder stehen nicht
die leider nur zu oft vorgekommenen traurigen Fälle von Hurerei, Ehebruch, Geiz, Habsucht, Trunkenheit, Zank, Neid, Eifersucht, Verleumdungen, Ohrenbläsereien und das leichtfertige
und gewissenlose Schuldenmachen solcher, die sich der Befreiung rühmen, mit dieser in direktem Widerspruch? Ist nicht der
mit der Bruderschaft getriebene Mißbrauch, die Rücksichtslosigkeit, mit der die Rechte des Bruders oft übersehen und mit
Füßen getreten werden, die Gefühllosigkeit, mit der man dessen
rechtmäßige Ansprüche einfach unberücksichtigt läßt, und zwar
aus dem einzigen Grunde, weil er ein Bruder ist, ist nicht alles
dieses etwas, wodurch die Lehre verlästert wird? Allerdings
werden sich die Treuen um der Ehre des Herrn willen stets von
solchen Zuständen trennen; aber dennoch zeigen diese schmerzlichen und beschämenden Tatsachen, wie man die Lehre von
der Befreiung mit dem Verstände auffassen kann, ohne wirklich befreit zu sein. Und wenn man auch nicht gerade in die
oben genannten groben Sünden verfällt, so beweisen doch
Weltförmigkeit im Wandel, Gleichgültigkeit gegen die Ehre
des Herrn und Sein Wort, Mangel an Interesse für Sein Werk
usw. ebensosehr, daß man nicht in der wirklichen Befreiung
steht, die man vorgibt, zu kennen und zu verstehen. Sicher
sind alle, bei welchen sich trotz ihrer geförderten Erkenntnis
solche beklagenswerten Zustände vorfinden, weit strafbarer,
als andere, die diese Erkenntnis nicht haben. Statt den Namen
des Herrn um so mehr zu verherrlichen, geben sie im Gegenteil
dem Feind Anlaß zur Lästerung. Ihre Verantwortlichkeit ist
weit größer. Und obgleich der Herr sogar mit den traurigsten
Zuständen oft lange Geduld haben kann, so werden doch Seine
Wege und Seine Gerichte um so ernster sein. Denn in diesem
Fall handelt es sich weder um Unwissenheit, noch um bloße
Unwachsamkeit, sondern um einen ungebrochenen, nicht unterworfenen Willen, um einen schlechten Zustand.
Die wirkliche Befreiung gibt sich in einem hingebenden Gehorsam kund, in einem Wandel der Abhängigkeit von Gott.
128
Wir sehen dies in seiner vollkommenen Schönheit im Leben
des Herrn Jesu als Mensch auf der Erde entwickelt; Er wurde
als der zweite Adam, im Gegensatz zu dem ersten, „gehorsam
bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze". — Die wahre Freiheit
findet ihre Befriedigung nicht in der Erfüllung des eigenen
Willens und der Lüste des Fleisches, sondern in der Verleugnung beider und in der Erfüllung des Willens Gottes. Man ist
glücklich, von einem Zustand befreit zu sein, in dem man ein
Sklave der Sünde war. „Gott aber sei Dank, daß ihr Sklaven
der Sünde wäret, aber von Herzen gehorsam geworden seid
dem Bilde der Lehre, welchem ihr übergeben worden seid. Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden" (Röm 6, 17. 18). Man betrachtet nicht sich
selbst, oder seine Umgebung, sondern die Schönheit jenes Bildes, die Schönheit Jesu, wie Paulus sagt: „Wir alle aber, mit
aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,
werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu
Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist" (2. Kor 3, 18). In
Stephanus sehen wir das Bild eines befreiten Christen. Voll
des Heiligen Geistes schaut er unverwandt gen Himmel und
sieht die Herrlichkeit Gottes und Jesum, stehend zur Rechten
Gottes. Umgeben von seinen Feinden, ist sein Auge nicht auf
diese, sondern auf die Herrlichkeit Gottes und die Person Jesu
gerichtet, und erfüllt von dem Heiligen Geist, offenbart sich in
ihm das Leben und die Gesinnung Jesu. Auch er betet angesichts eines qualvollen Todes für seine Mörder: „Herr, rechne
ihnen diese Sünde nicht zu" (Apg 7).
Wohl mag es bei einer wirklich befreiten Seele vieles zu
richten und zu verurteilen geben; aber gerade in diesem beständigen Selbstgericht verwirklicht sich die Befreiung. Das
Gewissen ist in diesem Falle vor Gott — „Gott aber sind wir
offenbar geworden" (2. Kor 5, 11), und darum hat man ein
gutes Gewissen. Man wandelt in dem Bewußtsein, daß „wir
alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbart werden
müssen"; und dies ist der regelrechte praktische Zustand eines
Christen. Darum sagt Paulus: „Ich zerschlage meinen Leib und
führe ihn in Knechtschaft". Man richtet das Böse bei sich
selbst; nicht nur die Tatsachen, sondern auch die Wurzel, aus
der diese entspringen. Und „wenn wir uns selbst richten, so
werden wir nicht gerichtet".
129
In einem schlechten Zustand zu verharren, während man
sich der Befreiung rühmt, muß stets das Gericht des Herrn
nach sich ziehen; denn es steht geschrieben, daß „der Herr
Rächer ist über dies alles". Und wenn wir uns auch nicht
gerade so offenbarer Sünden schuldig machen, auf die selbst
ein Unbekehrter mit Verachtung blickt, so dürfen wir doch
nicht denken, daß wir den Züchtigungen des Herrn entgehen
werden, wenn wir Härte, Neid, Eitelkeit, Hochmut, Geiz, Habsucht und dergleichen traurige Dinge in unseren Herzen nähren. Der Herr kann, denn Er ist heilig, das Böse bei den Seinen ebensowenig dulden, wie bei den Ungläubigen; und deshalb hat das Gericht am Hause Gottes angefangen (1. Petr 4,
17). Gott erwartet, daß wir unserer Stellung in Christo gemäß
in Übereinstimmung mit Seiner Natur wandeln. Dies ist und
bleibt das Maß unserer Verantwortlichkeit, und Gott kann nach
Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit dies Maß nicht beschränken. Er kann Geduld und Nachsicht haben mit unserer Unwissenheit und Schwachheit, aber Er erwartet, daß wir das
Böse in uns selbst richten; wenn wir dies unterlassen, muß
Er es tun. Woher kommen die ernsten Züchtigungen in so
manchen Familien und Versammlungen der Gläubigen? Sie
sind in vielen Fällen der Beweis, daß ein böser, ungerichteter
Zustand in den Herzen vorhanden ist. Wir finden ein treffendes Beispiel von diesen ernsten Wegen des Herrn mit den
Seinen in dem Propheten Haggai. Das Volk hatte vom Bauen
des Hauses Gottes abgelassen und stattdessen angefangen,
seine eigenen Häuser zu bauen. „So spricht Jehova der Heerscharen: Richtet euer Herz auf eure Wege! Steiget auf das
Gebirge und bringet Holz herbei und bauet das Haus, so
werde ich Wohlgefallen daran haben und verherrlicht werden,
spricht Jehova. Ihr habt nach vielem ausgeschaut, und siehe, es
wurde wenig, und brachtet ihr es heim, so blies ich darein.
Weshalb das? spricht Jehova der Heerscharen. Wegen meines
Hauses, das wüst liegt, während ihr laufet, ein jeder für sein
eigenes Haus. Darum hat der Himmel den Tau über euch zurückgehalten, und die Erde ihren Ertrag zurückgehalten. Und
ich habe eine Dürre gerufen über das Land . . ." (Hag 1, 5—11).
Wir dürfen indessen nicht vergessen, daß Gott Licht und
Liebe ist. Wenn Er mit den Seinen harte Wege gehen muß, so
130
sind und bleiben sie doch die Gegenstände Seines Ratschlusses,
Seiner Wonne und Liebe in Christo. Gerade weil sie dies sind,
geht Er solche Wege mit ihnen. Er hat ihre Glückseligkeit im
Auge, eine Glückseligkeit, die Seiner unmittelbaren Nähe und
der innigen Gemeinschaft mit Ihm entspringt, deren wirklicher
Genuß daher praktische Übereinstimmung mit Seiner Natur
voraussetzt. Seine Wege stehen deshalb nicht nur in vollkommenem Einklang mit Seinem Ratschluß, sondern haben auch
einen vierfachen Zweck, nämlich: erstens die Aufrechterhaltung des Zeugnisses Seiner Ehre, Heiligkeit und Majestät,
zweitens das Heil und Glück der Seinen, drittens ihre praktische Reinigung und viertens ihre Bewahrung. Die Züchtigungen bewirken daher, wenn sie ihren Zweck bei uns erreichen,
zunächst eine heilige Furcht, indem sie uns fühlen lassen, wer
der Gott ist, mit dem wir es zu tun haben. „Denn auch unser
Gott ist ein verzehrendes Feuer"; und wir sind ermahnt,
„Gnade zu haben, durch die wir Gott wohlgefällig dienen
mögen mit Frömmigkeit und Furcht" (Hebr 12, 28. 29). Wir
sollten stets in dieser Furcht Gottes wandeln, in dem Bewußtsein, daß wir es mit einem heiligen Gott zu tun haben, vor
dessen Augen alles bloß und aufgedeckt ist. „Und wenn ihr
den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet
nach eines jeden Werk, so wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht" (1. Petr 1, 17). „Die Furcht Jehovas ist der
Weisheit Anfang". In diesem Sinne ist die Furcht immer gut.
„Glückselig der Mensch, der sich beständig fürchtet; wer aber
sein Herz verhärtet, wird ins Unglück fallen" (Spr 28, 14). In
dem Falle von Ananias und Sapphira sehen wir, daß die Züchtigung ihren Zweck bei der Versammlung erreichte: „Und es
kam große Furcht über alle, die es hörten . . . und es kam große
Furcht über die ganze Versammlung und über alle, die dies
hörten" (Apg 5).
Aber leider können die Zustände so ungeistlich sein, daß
die Züchtigung nicht einmal verstanden wird. So mußte der
Apostel die Versammlung in Korinth daran erinnern: „Deshalb sind viele unter euch schwach und krank, und ein gut Teil
sind entschlafen" (1. Kor 11, 30). Mancher Gläubige wird gezüchtigt, ohne daß er daran denkt, daß es eine Züchtigung vom
He-rn ist, indem er deren Grund in den Umständen statt in
131
seinemHerzen sucht. Einem solchen gilt die Ermahnung:„Mein
Sohn! achte nicht gering des Herrn Züchtigung". Andererseits
liegt die Gefahr nahe, an der Liebe des Herrn zu zweifeln,
wenn wirklich verstanden wird, daß es Seine Hand ist, die
schlägt. Darum lesen wir weiter: „noch ermatte, wenn du von
ihm gestraft wirst; denn wen der Herr liebt, den züchtigt er"
(Hebr 12, 5. 6). Selbst wenn Gott die Seinen züchtigt, so tut
Er es immer als Vater, in diesem köstlichen Namen, dem Ausdruck unseres innigsten Verhältnisses zu Ihm, dem Inbegriff
all Seiner zärtlichen Zuneigungen und vollkommenen Liebe zu
uns. Und diese Liebe ist es, die den unter Seinen Schlägen Gebeugten mit unwiderstehlicher Macht anzieht und ihn nötigt,
die Hand zu küssen, die ihn schlägt. Zugleich aber reinigt sie
uns, damit wir dieses köstliche Verhältnis zu Ihm, ja Ihn
Selbst genießen können. Er „züchtigt uns zum Nutzen, damit
wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden". Wie gesegnet sind
die Wege des Herrn, selbst wenn sie hart und ernst erscheinen!
Aber nicht nur sind wir, also gereinigt, praktisch fähig gemacht, Seine Gemeinschaft zu genießen, sondern wir sind auch
in den Stand gesetzt, mehr Frucht zu bringen, Das Herz ist
wiederhergestellt und glücklich und findet seine Freude darin,
Gott zu dienen, und also ist der Zweck der Wege Gottes erreicht. „Und jede Rebe, die Frucht bringt, die reinigt er, auf
daß sie mehr Frucht bringe" (Joh 15, 1).
Die Züchtigungen sind jedoch nicht immer die unmittelbaren
Folgen eines schlechten Zustandes oder begangener Untreue,
sondern sie sind oft auch in der Hand des Herrn ein Mittel zur
Bewahrung. So kann es sein, daß der Herr Selbst mit solchen
tiefe und ernste Wege geht, deren Zustand gut und deren
Wandel treu genannt werden kann. Aber Er sieht drohende
Gefahren für sie voraus, von denen sie vielleicht keine Ahnung
haben mögen. Sie finden daher diese Wege oft unbegreiflich
und um so unerträglicher, je beharrlicher der Herr, trotz all
ihrem Bitten und Flehen, mit ihnen darin vorangeht. Dennoch
werden sie später erkennen, daß dieser scheinbaren Härte des
Herrn nur Seine unendliche Liebe zugrunde lag, die sie mittels
jener ernsten und unbegreiflichen Wege an ungeahnten Abgründen vorüber führte und deshalb auch ihrem Bitten und
Flehen kein Gehör schenken konnte. Ein treffendes Beispiel
von diesen Wegen der unerforschlichen Weisheit und Liebe des
132
Herrn finden wir in der Geschichte Seines treuen Dieners Paulus. Der Herr konnte Paulus trotz seiner Ergebenheit den
Dorn im Fleische nicht ersparen, da Paulus sich sonst infolge
der hohen Offenbarungen überhoben haben würde (2. Kor 12).
Bei Hiob sehen wir etwas ähnliches, jedoch handelte es sich bei
ihm mehr um Reinigung. Gott wollte ihn mehr segnen, und
deshalb mußte Er ihn mittels ernster Züchtigungen von seiner
eigenen Gerechtigkeit reinigen.
Von welcher Seite wir die Wege des Herrn mit den Seinen
auch betrachten mögen, immer haben sie denselben Zweck und
das gleiche Resultat: das Heil, das Glück und die Segnung der
Gläubigen. Dies Resultat steht mit Seinem Ratschluß in vollkommenem Einklang und wird zur Zeit der Erfüllung des Ratschlusses in einem Licht gesehen werden, das die Herzen aller
Erlösten zu Lob und Preis und Anbetung stimmen wird. Sie
werden alsdann erkennen, daß die Wege, die der Herr einen
jeden von ihnen geführt hat, nötig und passend waren, und
daß gerade die schwersten die gesegnetsten für sie waren.
Indessen sind dies noch nicht die einzigen Ergebnisse der
Wege des Herrn. Obgleich es nach dem Ratschluß Gottes eine
Herrlichkeit gibt, die allen Gläubigen gemeinsam ist, so hat
Er nach den Wegen Seiner Regierung doch noch für einen
jeden, je nach der Treue seines Wandels, eine besondere Belohnung. Diese Wahrheit wird von vielen Christen übersehen
oder wenigstens nicht nach der Wichtigkeit beachtet, welche
ihr das Wort Gottes beilegt. Aber gerade diese Wahrheit ist
es, die unseren Weg durch die Wüste so wichtig macht, und
worin sich die Wege Gottes von Seinem Ratschluß unterscheiden. Während es im Blick auf die Herrlichkeit, die Gott für
alle die Seinigen vor Grundlegung der Welt bestimmt und bereitet hat, keinen Unteschied geben wird, wird in anderen Beziehung ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen bestehen.
Paulus zum Beispiel wird eine viel höhere Belohnung haben als
wir, nach dem Maße, wie er viel mehr gearbeitet hat und weit
treuer und aufopfernder gewesen ist als wir. Der eine Knecht
wird über zehn, der andere über fünf Städte gesetzt werden
(Lk 19). „Ein jeder aber wird seinen eigenen Lohn empfangen
nach seiner eigenen Arbeit" (1. Kor 3, 8). Man wird vielleicht
einwenden, daß sich diese Stellen nur auf die Arbeiter im
133
Werke des Herrn beziehen. Allerdings; aber sie zeigen uns,
daß es eine besondere Belohnung gibt, die von der allen Gläubigen gemeinsamen Herrlichkeit verschieden ist, indem sie
einem jeden nach dem Maße seiner „eigenen Arbeit" zuteil
wird, während jene Herrlichkeit ausschließlich auf die unumschränkte Gnade gegründet ist.
Andere Stellen zeigen uns deutlich, daß jeder Christ zu dem
Vorrecht berufen ist, dem Herrn zu dienen und für Ihn zu
arbeiten. Es kommt hierbei gar nicht darauf an, in welchem
Verhältnis oder in welcher Stellung wir uns befinden. Wir
haben überall zu dienen, jeder in seinem besonderen Wirkungskreis und nach seiner besonderen Befähigung. Die Thessalonicher waren von den Götzenbildern zu Gott bekehrt worden, „um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen"
(1. Thess 1, 9). Und in Kol 3, 23. 24 lesen wir, daß der Apostel
die Knechte ermuntert: „Was irgend ihr tut, arbeitet von Herzen, als dem Herrn und nicht den Menschen, da ihr wisset, daß
ihr vom Herrn die Vergeltung des Erbes empfangen werdet;
ihr dienet dem Herrn Christus". Der Herr will jede Arbeit, die
ein Christ tut, sei es als Knecht oder Herr, als Mann oder
Weib, als Jüngling oder Greis, sei es in einer niedrigen oder in
einer hohen Stellung, als einen Ihm erwiesenen Dienst betrachten, vorausgesetzt natürlich, daß sie wirklich für Ihn getan
wird. Und jeden Dienst, wie geringfügig und unscheinbar er
auch in den Augen der Menschen sein mag, will Er belohnen.
„Und wer irgend einen dieser Kleinen nur mit einem Becher
kalten Wassers tränken wird in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, er wird seinen Lohn nicht verlieren" (Mt 10,
41. 42). Ohne Zweifel bedürfen wir für jeden, auch den geringsten Dienst, der Gnade; aber diese ist in vollkommener
Fülle für uns in Christo da, und es ist nur die Frage, ob wir
sie benutzen oder vernachlässigen. Paulus konnte sagen: „Aber
durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade
gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel
mehr gearbeitet als sie alle, nicht aber ich, sondern die Gnade
Gottes, die mit mir war" (1. Kor 15, 10). Es gibt Christen, die
aus falscher Demut auf den Lohn verzichten wollen und sich,
wie sie sagen, mit dem letzten Platz im Himmel begnügen
wollen, aber sie verraten dadurch nur ihren schlechten Zustand
oder doch wenigstens große Unwissenheit und Gleichgültig134
keit bezüglich dessen, was der Herr den Seinen zu ihrer Ermunterung verheißen hat. Die Apostel führten eine ganz entgegengesetzte Sprache: „Sehet auf euch selbst, auf daß wir nicht
verlieren, was wir erarbeitet haben, sondern vollen Lohn empfangen" (2. Joh 8). Und wie sehr Paulus an diese Belohnung
dachte, zeigen uns die Worte: „Ich habe den guten Kampf
gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben
bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit,
welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung
geben wird an jenem Tage" (2. Tim 4, 7. 8). Jener Tag wird
es offenbar machen, daß die Apostel sich nicht getäuscht haben,
und daß ihre Arbeit und ihre Treue nicht vergeblich gewesen
ist; aber er wird auch zeigen, daß jeder Tag und jede Stunde,
die nicht dem Herrn gewidmet war, unwiderruflich verloren
sind. Nicht daß die Belohnung der Beweggrund unserer Treue
und Hingabe sein sollte, denn dies hieße uns zu Lohndienern
machen, sondern sie soll denen zur Ermunterung dienen, die
bereits aus Liebe für Christum ihr Leben Seinem Dienste und
Seiner Verherrlichung widmen. Der wahre Beweggrund kann
nur Christus Selbst sein; und alles, was diesem Beweggrund
entspringt, ist kostbar in Seinen Augen, auch wenn es nicht
den Beifall der Menschen findet. Er wußte die Tat der Maria
zu schätzen, indem Er sagte: „Sie hat ein gutes Werk an mir
getan . . . Wahrlich, ich sage euch: wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von
dem geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis" (Mt 26, 6—13). Und ohne Zweifel wird diese Tatsache, so
wie alles, was für Ihn von irgendeinem der Seinen getan worden ist, auch an jenem Tage vor dem gerechten Richter angesichts des ganzen Weltalls geoffenbart werden. Der dafür gesorgt hat, daß die Tat der Maria bis heute aufbewahrt worden
ist zu ihrem Gedächtnis, wird dann auch alles in Erinnerung
zu bringen wissen. „Denn Gott ist nicht ungerecht, eures Werkes zu vergessen und der Liebe, die ihr gegen seinen Namen
bewiesen, da ihr den Heiligen gedient habt und dienet" (Hebr
6, 10).
Möchten wir deshalb der Worte des Apostels stets eingedenk bleiben: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn, da
ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn"
135
(1. Kor 15, 58). Aber laßt uns auch nicht vergessen, daß jeder
Dienst, der nicht Christum zum Beweggrund und Gegenstand
hat, wertlos vor Ihm ist, mag er auch in den Augen der Menschen einen noch so schönen Schein und eine noch so große Bedeutung haben. Wir haben gesehen, daß Christus den ersten
Platz einnimmt in dem Ratschluß Gottes; und insoweit dies
auch in unseren Herzen der Fall ist, sind wir in Übereinstimmung mit dem Ratschluß Gottes sowohl als auch mit den
Wegen Seiner Regierung.
Gewißheit
Vor ungefähr einem Jahr wurde ein junger Mann zu einem
Gefühl seines Zustandes vor Gott erweckt. Er erkannte, daß
er ein Sünder und auf dem Wege zur ewigen Verdammnis sei,
und in tiefer Seelenangst suchte er nach einem Mittel zur Errettung. Wie einst der Kerkermeister zu Philippi, so rief auch
er aus: „Was muß ich tun, daß ich errettet werde?" Aber anstatt die Antwort zu beherzigen, die jenem Mann von den
Aposteln Paulus und Silas gegeben wurde, und einfach an
Jesum zu glauben, suchte er sich durch seine eigenen Anstrengungen für die Gegenwart Gottes passend zu machen. So verbrachte er mehrere Wochen in heftigem aber völlig fruchtlosem Kampf mit sich und mit der Sünde, die er in sich entdeckte. Alle seine Anstrengungen waren nicht nur vergeblich,
sondern überzeugten ihn nur noch mehr von seiner gänzlichen
Sündhaftigkeit. Je mehr er sich anstrengte, das Gute zu tun
und das Böse zu lassen, um so mehr mußte er erfahren, wie er
zu beidem völlig unfähig war. Ach! es ging ihm wie so vielen
nach Frieden suchenden Seelen, die, anstatt den einfachen Heilsweg, den Gott ihnen vorzeichnet, zu betreten, allerlei andere
Wege einschlagen, um ans Ziel zu kommen. Sie haben sich
selbst nicht völlig erkannt, noch ihre Unfähigkeit, etwas zu
ihrer Rettung beizutragen.
136
Aber wie einfach erscheint der Weg der Errettung, sobald
einmal der Heilige Geist die durch Unglauben verblendeten
Augen öffnet und uns erkennen läßt, wie unwissend und töricht
wir sind, aus unserer Kraft einen Heilsweg bereiten zu wollen,
der vor Hunderten von Jahren durch den Einen bereitet worden ist, der jetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe sitzt!
Welch ein Staunen und welch eine anbetende Bewunderung ergreift uns, wenn wir endlich das göttliche Licht in unsere Herzen scheinen lassen! So erging es auch meinem jungen Freunde.
Ich besuchte ihn eines Tages, gerade als seine Not den höchsten Punkt erreicht hatte, und erzählte ihm die Geschichte einer
Frau, die gleich ihm lange Zeit vergeblich um ihre Errettung
gekämpft hatte, bis jemand sie überzeugte, daß Christus das
Werk auf dem Kreuz vollkommen vollbracht habe. Auf ihre
Klagen, daß sie trotz aller Anstrengungen keine Ruhe und
keinen Frieden finden könne, hatte er ihr einfach mit den
Worten des Herrn geantwortet:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört
und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und
kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das
Leben übergegangen" (Joh 5, 24).
Die Frau hatte ihn einen Augenblick verwundert angesehen,
und als er dann fragte: „Sind Sie errettet?" nach kurzem Nachdenken erwidert:
„Ich glaube an Jesum, und Gott sagt, daß ich dann errettet
sei, ja, ja, ich bin errettet! Jesus ist für mich gestorben, Er
hat alles gutgemacht!"
Diese Worte eines einfältigen, kindlichen Glaubens wurden
für meinen jungen Freund ein Mittel zu großem Segen. Nach
kurzer Zeit konnte auch er das Wort Gottes vertrauensvoll
annehmen und sich in dem vollbrachten Werke Jesu und in
der Gewißheit der Vergebung all seiner Sünden erfreuen. Sein
ganzes ferneres Verhalten ließ an der Wirklichkeit seiner Bekehrung keinen Zweifel.
Und nun erlaube mir die Frage, mein lieber Leser: Bist auch
du schon wegen deiner Sünden in der Gegenwart Gottes gewesen und hast du dich im Lichte Seiner Gegenwart als ein
verlorener, verdammungswürdiger Sünder erkannt und mit
137
dem Propheten Jesaja ausrufen müssen: „Wehe mir! denn ich
bin verloren, denn ich bin ein Mann von unreinen Lippen"?
Hast du erkannt, wie sehr du Gott durch dein bisheriges Leben,
durch deine Sünden, deinen Unglauben und deine Gleichgültigkeit verunehrt und betrübt hast, und wie Er dich gerechterweise für alle Ewigkeit aus Seiner Gemeinschaft verdammen
und dem „zweiten Tode, dem Feuersee", überantworten muß?
— Wenn es so ist, dann lautet meine Botschaft an dich: „Siehe
das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt!"
Sein Blut kann dich von aller Sünde reinigen und dich auf
ewig für die Gegenwart eines heiligen und gerechten Gottes
passend machen. Zögere nicht, zu Jesu zu kommen und im
Glauben an Ihn Vergebung, Freude und Frieden zu finden!
Höre, was Gott dir in Seinem Worte sagen läßt: „Diesem
geben alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der an ihn glaubt,
Vergebung der Sünden empfängt durch seinen Namen"; und:
„Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem
Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der
Zorn Gottes bleibt auf ihm" (Apg 10, 43; Joh 3, 36).
Und dann?
Ein junger Mann besuchte eines Tages einen ihm befreundeten, bejahrten Professor und teilte ihm mit freudestrahlenden Blicken mit, daß endlich der Wunsch seines Herzens in
Erfüllung gehen solle, da seine Eltern ihm die Erlaubnis gegeben hätten, die Rechte zu studieren. Geraume Zeit sprach er
mit großer Aufregung von seinen Plänen und Aussichten. Der
Greis hörte ihm geduldig und freundlich zu; als er endlich
endigte, fragte er: „Und was gedenkst Du zu tun, wenn Du
Deine Studien beendet hast?" — „Nun, dann werde ich Advokat", erwiderte der junge Mann rasch. — „Und dann?" fragte der Professor weiter. — „Und dann werde ich, so viel wie
möglich, schwierige Rechtshändel übernehmen und mir einen
geachteten Ruf als Rechtsanwalt verschaffen". — „Und dann?"
fragte der Alte zum zweiten Mal. Der junge Mann blickte
138
seinen Freund etwas verwundert an. Doch nach kurzem Besinnen antwortete er: „Vielleicht erlange ich dann eine höhere
Stelle im Staatsdienste und gelange zu Reichtum und Ehre".
„Und dann?" wiederholte der Professor ruhig. „Und dann",
entgegnete der Jüngling, den die fortgesetzten Fragen zu ergötzen anfingen, „dann werde ich ein ruhiges und angenehmes
Leben führen, von jedem geehrt und geachtet, und werde ein
glückliches Alter erleben". — „Und dann?" — „Nun, dann
werde ich sterben, wie andere Menschen auch". Der Alte erhob
sich und fragte noch einmal mit großem Nachdruck: „Und
dann'-" Der junge Mann gab keine Antwort; diese Wendung
des Gesprächs hatte er nicht erwartet. Einige Minuten saß er
stillschweigend da, dann nahm er Abschied und ging, in tiefes
Nachdenken versunken, heim. Das letzte: „Und dann?" hatte
sein Herz getroffen. Es war gleich einem scharfen Pfeil in seine
Seele gedrungen; er konnte den Eindruck nicht wieder loswerden, und die Folge war eine völlige Veränderung seines
Herzens und Lebens.
Die meisten Menschen gleichen jenem jungen Mann. Sie
denken nur an das, was sie in diesem Leben tun und genießen wollen, und bekümmern sich um das, was nach diesem
Leben folgt, nicht im Geringsten. Man jagt und rennt, man
macht Pläne über Pläne, wie man am besten durch die Welt
kommen und in der kürzesten Zeit reich werden könne. Jeder
Mensch hat seine besonderen Wünsche. Der eine dürstet nach
Ehre und Ansehen, der andere wünscht reich zu werden, ein
dritter will so viel wie möglich die Vergnügungen dieser Welt
genießen, ein vierter verlangt nach einem stillen, häuslichen
Glück oder nach einem sorglosen Alter. So jagt der eine nach
diesem, der andere nach jenem, je nachdem die Charaktere und
Umstände verschieden sind. Doch dies alles kommt einmal zu
Ende. Einmal wirst du deinen Reichtum zurücklassen müssen,
werden Ehre und Ansehen verschwinden; einmal wirst du den
Vergnügungen der Welt Lebewohl sagen und deinen häuslichen Kreis verlassen müssen. Ob du es gut oder schlecht gehabt hast, ob du deine Wünsche erlangt oder nicht erlangt
haben wirst, du wirst einmal sterben müssen. Und was dann?
Ja, mein lieber Leser, was dann? Das ist eine ernste, eine sehr
ernste Frage. Du antwortest vielleicht: „Ach! an den Tod will
139
ich nicht denken; das würde alle meine Vergnügungen vergällen und meine Pläne durchkreuzen. Daran zu denken ist es
immer noch früh genug." Ach! ich bitte dich, rede nicht so
töricht! Täglich siehst du, wie der Tod rund um dich her seine
Ernte hält. Heute oder morgen kannst auch du ihm zum Opfer
fallen. Und was dann?
In den Tagen Noahs machten es die Menschen geradeso wie
du. Sie aßen, sie tranken, sie heirateten und wurden verheiratet, sie störten sich durchaus nicht an der Predigt Noahs, bis
die Flut kam und sie alle umbrachte. Ebenso war es in den
Tagen Lots. Niemand glaubte der Botschaft der Engel; aber an
dem Morgen, da Lot die Stadt verließ, regnete es Feuer und
Schwefel vom Himmel, und alle kamen um (Lk 17, 16—30). So
wird es auch dir ergehen, wenn du dich nicht warnen lassen
willst. In einer Stunde, da du vielleicht am wenigsten daran
denkst und mit deinen Plänen und den Eitelkeiten dieser Welt
beschäftigt bist, tritt der König der Schrecken an dich heran.
Plötzlich vielleicht ruft Gott dich ab von dieser Erde, und was
dann?
Ja, was dann? Dann folgt das Gericht! „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, aber danach das Gericht".
Wirst du in dem Gericht Gottes bestehen können? Wirst du
dich wegen all deiner Taten verantworten können? Wirst du
Gott anschauen dürfen? Nein, nein! antwortet dein eigenes
Gewissen. Weißt du, was du in jenem Augenblick tun würdest,
wenn es dir möglich wäre? Du würdest fliehen und dein Angesicht verbergen; du würdest wünschen, daß die Berge auf
dich fielen und die Hügel dich bedeckten. Aber es wird unmöglich sein. Du wirst vor dem Richterstuhl stehenbleiben
müssen, und Gott wird Gericht über dich halten. Und welches
Urteil wird Er über dich aussprechen? Er wird sagen: „Geht
von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem
Teufel und seinen Engeln" (Mt 25, 41). Ja, das wird dein
Urteil sein. Wie entsetzlich! Du wirst für ewig verloren, für
immer aus der Gemeinschaft Gottes ausgeschlossen sein. Du
wirst deine Augen aufschlagen „in der Qual"; und dort werden keine Vergnügungen mehr dein Leben erheitern, keine
Freunde dir die Zeit verkürzen. Dort wirst du dich nicht mehr
mit der trügerischen Hoffnung auf die Gnade Gottes beruhigen
140
können, nein, du befindest dich in der schrecklichsten Wirklichkeit. Was du hier nicht hast glauben, woran du nicht hast
denken wollen, das wirst du dann sehen und erfahren. Hast
du hier gelacht und gespottet, dort wirst du weinen und wehklagen. Und das für immer und ewig!
Ja, mein Leser, für ewig! Du wirst, nachdem Millionen von
Jahrhunderten vorübergegangen sind, noch ebensoweit von
dem Ende entfernt sein, wie in dem Beginn deiner Qual. Welch
ein überwältigender Gedanke! Jede Hoffnung, daß dein Zustand jemals geändert werde, ist dann vorüber. Es ist eine
Qual ohne Ende, eine Strafe ohne Ende, für ewig! für ewig!
Oh, ich bitte dich, bedenke dieses wohl! Es sind keine
Fabeln, die ich dir erzähle, es ist die Wahrheit, die Wahrheit,
wie sie Gott Selbst in Seinem Worte uns mitgeteilt hat. Und
Er kann nicht lügen. Ach, lege diese Zeilen nicht fort mit dem
Gedanken: Ich will später einmal darüber nachdenken. Denke
an die Menschen in den Tagen Noahs, denke an die Leute von
Sodom, denke an das schreckliche: Für ewig.
Fühlst du dich getroffen durch die Wahrheit? Ist dein Gewissen erwacht und wünschest du, dem kommenden Zorn zu
entfliehen? Oh, dann istderZweck meiner Worte erreicht. Dann
höre auf die frohe Botschaft, die Gott dir verkündigen läßt!
Derselbe Gott, der dir die Wahrheit vorhält, predigt dir auch
die Gnade. Du kannst jenem Zorn entfliehen, du kannst einen
Platz finden in den vielen Wohnungen des Vaterhauses, wo
ewiges Glück tmd ewiger Friede wohnen. Gott hat Seinen Sohn
Jesus Christus in diese Welt gesandt, um zu suchen und zu
erretten, was verloren ist. Er ist am Kreuz gestorben und hat
ein vollkommenes Sühnopfer gebracht. Er hat ein Werk vollbracht, durch das jeder Sünder von allen seinen Sünden gereinigt und des ewigen Lebens teilhaftig werden kann. Und
der Sohn Gottes Selbst ladet dich ein. Er ruft dir zu: „Kommt
her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde
euch Ruhe geben!" und Er sagt: „Wer an mich glaubt, hat
ewiges Leben". O komme zu Ihm! Folge Seiner Einladung!
Traue Seinem Worte und glaube an Ihn mit deinem ganzen
Herzen! Komme zu Ihm, wie du bist, mit allen deinen Sünden, mit deiner ganzen Schuld, und Er wird sie dir gnädiglich
abnehmen. Er wird dein Herz mit Ruhe und Freude erfüllen.
141
Vertraue auf Seine Liebe, auf Sein Werk, auf Sein vergossenes
Blut, und du wirst von dem ewigen Verderben erlöst sein und,
anstatt in der Hölle, für immer in dem Himmel wohnen. Bedenke, daß dies der einzige Weg zur Errettung ist! Es ist kein
anderer Name unter dem Himmel gegeben, in dem du errettet
werden könntest. Bedenke ferner, daß heute die Zeit der Annehmung, daß heute der Tag des Heils ist!
„Was ist mit dir, du Schläfer?"
Jona 1, 6
Es war der Prophet Jona, an den die obige Frage gerichtet
wurde. Gott hatte ihm den Auftrag gegeben, der Stadt Ninive,
deren Sünden überhand genommen hatten, das Gericht anzukündigen. Doch er wollte dem Worte Gottes nicht gehorchen
und versuchte dem Angesicht Jehovas zu entfliehen. Er ging
deshalb hinab nach Joppe und stieg in ein Schiff, das nach
Tarsis fuhr. Welch ein törichtes Beginnen! Wie war es möglich, daß er Gott entfliehen konnte? Gott sah ihn auf dem
Meer ebenso wie auf dem Lande. „Da warf Jehova einen heftigen Wind auf das Meer, und es entstand ein großer Sturm
auf dem Meer, so daß das Schiff zu brechen drohte" (Jona 1,
4). Doch Jona merkte von dem allem nichts. Er war in den
unteren Schiffsraum hinabgestiegen und in tiefen Schlaf gesunken. Er schlief so fest, daß das Tosen des Sturmes und das
Rauschen der empörten Wellen ihn nicht zu wecken vermochten. „Wie ist es möglich", fragst du vielleicht, „daß ein Mensch
unter solchen Umständen ruhig schlafen kann?" Aber erlaube
mir die Frage, ob es dir nicht genau so geht, wie dem Jona.
Schläfst du nicht auch ganz ruhig inmitten einer Gefahr, die
dich von allen Seiten umringt? Es mag kein Sturm sein, den
dein Ohr vernimmt, noch wogende Wellen, die dich bedrohen,
aber darum ist die Gefahr für dich nicht weniger groß. Der
Tod hält täglich seine Ernte um dich her. Du hörst, wie unerwartet und plötzlich so viele dahingerafft werden, die durch142
aus nicht daran dachten, noch auf den Tod vorbereitet waren.
Sie wußten, daß nur ein Schritt zwischen ihnen und dem Tode
lag, sie hatten oft genug gesehen, wie unsicher das Leben des
Menschen ist, um überzeugt zu sein, daß auch für sie jeden
Augenblick die Stunde kommen konnte, wo sie aus der Zeit
in die Ewigkeit hinübergehen mußten. Aber alles das war vergeblich. Sie schliefen fort, wie Jona es tat, bis die kräftige
Stimme des Obersteuermanns ihn mit den Worten aufweckte:
„Was ist mit dir, du Schläfer?" Aus seinem Schlaf aufschrekkend, sah er mit Erstaunen die Gefahr, in der er sich befand,
eine Gefahr, der er nicht mehr entrinnen konnte und in die er
nicht gekommen wäre, wenn er der Stimme des Herrn gehorcht
hätte. „Stehe auf, rufe deinen Gott an!" wird ihm gesagt.Doch
Jona konnte nicht rufen, er hatte gegen den Herrn gesündigt,
und er sah in dem Sturm und in dem Ungestüm der Wellen
deutlich die Hand Gottes, die ihn verfolgte. Es war jetzt zu
spät, und deshalb riet er selbst den Schiffsleuten, ihn in die
wogende See zu werfen.
Wie zahlreich und wie ernst sind auch in unseren Tagen die
Mahnungen, die Gott an den Menschen gelangen läßt. Er läßt
zu, daß in einem Augenblick Tausende durch die Sichel des
Todes dahingemäht werden; Er beweist, daß Geld und Gut,
Ehre und Ansehen nichtig und eitel sind, und daß der ein Tor
ist, der auf diese Dinge vertraut. Gewaltige Stürme sind in den
letzten Jahrzehnten über Länder und Völker dahingebraust,
die Mächte und Throne zum Wanken gebracht haben. Doch
das alles scheint nicht imstande zu sein, den Menschen aus
seinem tiefen Schlaf aufzurütteln. — Wie steht es mit dir, mein
Leser? Schläfst du auch noch ruhig weiter? Fährst du immer
noch sorglos fort, zu bauen, zu pflanzen, zu arbeiten, die Welt
zu genießen und Schätze zu sammeln, als ob du immer auf
dieser Erde bleiben würdest? Ist noch kein anderer Gedanke,
keine andere Frage in dir aufgestiegen, als diese: „Was soll
ich essen oder trinken, und womit soll ich mich kleiden?" Hast
du noch kein einziges Mal Zeit gefunden, an die Ewigkeit zu
denken? An wie viele Tausende ist in diesen letzten Tagen das
Wort des Herrn herangetreten! Mehr als je wird die frohe
Botschaft von der Liebe Gottes auf der ganzen Erde verkündigt. An unzählige Herzen hat der Herr angeklopft und Einlaß begehrt. Aber ach! sie haben fortgeschlafen, bis der Tod
143
seine kalte Hand auf sie legte. Da hätte so mancher noch gerne
nach Gnade gerufen und sich zu Gott gewandt; aber es war zu
spät, um dem Verderben zu entgehen. Krankheit und Tod
überfielen ihn wie ein gewappneter Mann, und ehe er es ahnte,
hatte das Herz seinen letzten Schlag getan.
„Was ist mit dir, du Schläfer?" Ja, Jona schlief fest, aber
gewiß nicht ruhig; denn er floh von dem Angesicht des Herrn.
Doch kaum war er erwacht, so sah er, daß es unmöglich war,
Gott zu entfliehen; der Herr wußte ihn auch auf See zu finden. Auch der Mensch wünscht dem Angesicht Gottes zu entfliehen und macht zu diesem Zweck die größten Anstrengungen. Er wirft sich in die Arme der Welt oder der Sünde, er
sucht allerlei Zerstreuung, um dadurch die Stimme des Gewissens zum Schweigen zu bringen. Mag ihm dies auch gelingen, so kann er doch nimmermehr Gott entfliehen. Einmal
kommt für einen jeden der Augenblick, wo Gott ihn finden
wird, mag er sich auch verbergen, wo er will. Ob er sich in der
Sünde wälzt, ob er Genuß sucht in der Welt, ob er sich in sein
Geschäft vertieft, sich entschuldigt mit seinen Umständen und
Verhältnissen, sich beruhigt mit seiner Bravheit und Ehrlichkeit — die Stimme Gottes wird ihn aufwecken. Er wird alles
verlassen und in eine finstere, endlose Ewigkeit hinübergehen
müssen. Ach! und dann ist sein Los für ewig entschieden, dann
ist alles Klagen umsonst, keine Umkehr und Rettung ist mehr
möglich. Erwache deshalb, wenn du noch schläfst, und nimm
deine Zuflucht zu Jesu, um bei Ihm ewiges Heil und ewiges
Leben zu finden! Tue es jetzt, ehe jene schreckliche Zeit kommt,
wo du keine Gnade mehr erlangen kannst!
Jona hatte gesündigt, aber er fand Gnade bei Gott. Er erkannte, was er getan hatte, und Gott erbarmte sich über ihn.
Auch du bist ein Sünder, aber auch über dich will Gott sich erbarmen, auch dir will Er Gnade schenken, jedoch nicht, ohne
daß du deine Schuld und Sünde vor Ihm bekennst und richtest.
So lange Jona dies nicht tat, sondern dem Herrn zu entfliehen
suchte, fand er in Gott seinen Verfolger; und so lange du auf
eine andere Weise dein Gewissen zu beruhigen suchst als auf
dem Wege, den Er dir vorschreibt, nämlich daß du als ein
armer, verlorener Sünder zu Jesu kommst, findest du in Gott
deinen Gegner. Denn Gott kann dir nicht anders gnädig sein,
144
als um Jesu willen. Er kann deine unzähligen Sünden nicht
anders austilgen, als durch das Blut Jesu, Seines reinen und
fleckenlosen Opferlammes. Jesus ist der einzige Weg zum
Vater. „Niemand", so sagt Er „kommt zum Vater, als nur
durch mich". Bedenke dieses wohl und ruhe nicht eher, bis du
Frieden gefunden hast in dem Blute des Kreuzes! Besitzest du
diesen Frieden, so hast du keinen Grund, ängstlich zu sein,
was auch geschehen möge; denn dann kannst du mit dem
Apostel Paulus und mit allen, die den Herrn kennen, sagen:
„Sei es, daß wir leben, sei es, daß wir sterben, wir sind des
Herrn" (Röm 14, 8).
Vielleicht hast du schon manche Warn- und Mahnstimme
unbeachtet gelassen; o so höre denn jetzt! die Stimme Gottes
ist ernst, und doch so voll Gnade und Liebe. Er möchte dich
so gerne durch Seine Güte zur Buße leiten. Er will nicht den
Tod des Sünders. Er will auch nicht dein Verderben, mein
lieber Leser, sondern es ist Seine Freude, dich zu erretten. Er
sucht dich. Laß dich deshalb von Ihm finden und eile zu Jesu!
Verschmähe es nicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten!
Vielleicht ist es die letzte, die an dich ergeht.
Erklärung
Im Botschafter 1882 Seite 94 unten und in diesem Neudruck
Seite 50 unten heißt es: „Wenn sie (die Heiligen) sich in der
Stellung des Ausharrens Christi befinden, so haben sie nicht
nötig, wie die Welt gerichtet zu werden; sind sie aber mit der
Welt vermengt, so müssen sie auch die Trübsale der Stunde
der Versuchung teilen, welche kommen wird, um die zu versuchen, die auf der Erde wohnen; oder sie müssen vorher praktisch gesichtet werden, um sie von der Welt zu trennen". Mehrere Leser haben diese Worte im Widerspruch gefunden mit
ihrer Überzeugung, daß bei der Ankunft des Herrn zur Aufnahme Seiner Versammlung keiner der Erretteten fehlen werde,
mit anderen Worten, daß die Teilnahme an dieser Aufnahme
145
von der wirklichen Errettung, nicht aber von dem Zustande der
Heiligen abhänge, obwohl selbstverständlich die Gleichgültigkeit gegen diesen Zustand vor Gott völlig verwerflich sei. Dieselbe Überzeugung hatte aber auch J. N. Darby, der jene Vorträge über die sieben Sendschreiben gehalten hat. Dies beweisen alle seine übrigen Schriften und Vorträge, die diesen
Gegenstand behandeln, aufs unzweideutigste. Es ist daher auch
hier keinenfalls seine Absicht, zu sagen, daß wahre Gläubige
ihres Zustandes wegen an der Aufnahme der Versammlung
kein, Teil haben werden. Vielmehr glaube ich, daß er einen
Grundsatz im Blick auf unsere Verantwortlichkeit aussprechen
will, wie auch das Wort Gottes oft in ähnlicher Weise es tut.
Ich erinnere hier nur an eine Stelle in Röm 8, 12. 13: „So denn
Brüder, sind wir Schuldner, nicht dem Fleische, um nach dem
Fleische zu leben; denn zoenn ihr nach dem Fleische lebet, so
werdet ihr sterben usw." — Ich hoffe, daß diese kurze Erklärung genügen wird, um die betreffenden Leser völlig zu beruhigen. C. Br.
Warum sind wir so schwach ?
Diese wichtige Frage sollte die Herzen der Gläubigen ernstlich beschäftigen. — Wir sind wiedergeboren worden; der Heilige Geist wohnt in uns; wir besitzen viel Schriftkenntnis, kennen Gottes Ratschlüsse und Wege, und doch kennzeichnet
Schwachheit, geistliche Schwachheit uns in hohem Grade. Wenige werden geneigt sein, das zu leugnen; ja, laßt uns alle Gewissen fragen, ob es nicht so ist. Werden wir uns nicht häufig
unserer Schwachheit bewußt im täglichen Leben und im Umgang mit der Welt? Wir sehen unsere Brüder in den Schlingen
der Welt liegen oder in Verbindung mit dem Bösen und gehen
oft an ihnen vorüber in dem Bewußtsein, daß wir selbst so
schwach sind, und versuchen es nicht, sie zu befreien. Wir
sehen andere, die von einem Fehler übereilt wurden, und fühlen uns vielfach nicht „geistlich" genug, solchen im Geiste der
146
Sanftmut wieder aufzuhelfen; und wie oft müssen wir bekennen, daß wir nicht stark genug sind, den Schwierigkeiten in
der Versammlung auf die rechte Weise zu begegnen! Ja, in
allem, im Wandel und Dienst, geheim und öffentlich, zeigt sich
dieselbe Schwäche im geistlichen Leben. Woher kommt sie? Es
ist wahr, daß der Herr sagt: „Außer mir (außerhalb der Gemeinschaft mit mir) könnt ihr nichts tun" (Joh 15, 5); aber
ebenso wahr ist, daß Paulus sagt: „Alles vermag ich in dem,
der mich kräftigt" (Phil 4, 13), und im Brief an Timotheus:
„Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern
der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit" (2. Tim 1, 7).
Wenn uns auf der einen Seite gesagt wird, „daß wir von uns
selbst aus nicht tüchtig sind, etwas zu denken als aus uns
selbst", so hören wir von der anderen Seite zugleich: „Unsere
Tüchtigkeit ist von Gott" (2. Kor 3, 5). Woher also unsere
Schwachheit? Es ist Grund vorhanden zu fürchten, daß wir
nicht genug auf den Herrn harren. „Die auf Jehova harren,
gewinnen neue Kraft; sie heben die Schwingen empor wie die
Adler; sie laufen und ermatten nicht, sie gehen und ermüden
nicht" (Jes 40, 31). Diese Stelle ist klar; sie zeigt uns, daß die
geistliche Kraft die unmittelbare Folge davon ist, daß wir auf
Gott harren. Indem wir auf Gott harren, bekennen wir unsere
eigene Schwachheit und unsere Abhängigkeit von Ihm; und
nur, wenn wir von Gott abhängig sind, kann Er Seine Kraft
durch uns offenbar machen. Hier liegt also das Geheimnis
unserer Kraft. Möge jeder von uns daheim und in der Versammlung völliger auf Gott harren, mit aller Geduld und Treue
im Gebet. Die Frucht hiervon wird sich bald überall erweisen.
Unser Dienst, unsere Anbetung, unsere Gebetsversammlungen, unser Wandel, unser Zeugnis, kurz alles wird in der Kraft
des Heiligen Geistes sein. Es wird uns dann keine Schwierigkeit beängstigen, kein Widerstand niederbeugen; vielmehr
werden wir, trotz des Bewußtseins unserer eigenen Schwäche,
uns allezeit der allesvermögenden Kraft unseres Gottes erfreuen und sie offenbaren. „Harre auf Jehova! sei stark, und
dein Herz fasse Mut und harre auf Jehova!" „Seid stark, und
euer Herz fasse Mut, alle, die ihr auf Jehova harret" (Ps 27,
14 und 31, 24). Nur in praktischer Verbindung mit dem Auferstandenen lernen wir die „Kraft Seiner Auferstehung" kennen; nur in beharrlicher Gemeinschaft mit Ihm erfahren wir,
147
daß wir nicht nur Überwinder, sondern „mehr als Überwinder"
sind. In Ihm allein sind alle unsere Quellen, während in uns
nur Schwachheit und Ohnmacht ist. Harren wir auf Ihn, so
erweist sich an uns, daß Seine Kraft in Schwachheit vollbracht
wird. „Daher", sagt Paulus, „will ich am allerliebsten mich
vielmehr meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft des
Christus über mir wohne" (2. Kor 12, 9).
Sicherheit, Gewißheit und Genuß
Wir alle, Schreiber und Leser dieser Zeilen, befinden uns auf
der bedeutungsvollen Reise aus der Zeit in die Ewigkeit, und
keiner von uns weiß, wie nahe er dem Ziel ist. Bald, vielleicht
völlig unerwartet, kann unsere Reise zu Ende gehen. Da ist es
wohl der Mühe wert, daß wir uns fragen, wo sie enden wird.
Um diese Frage richtig beantworten zu können, muß zunächst
eine andere Frage in Ordnung gebracht sein, diese lautet: In
welcher Klasse reise ich? —Es gibt drei Klassen, wenn ich dieses
Bild gebrauchen darf.
In der ersten Klasse sind solche, die errettet sind und sich
ihrer Errettung bewußt sind.
In der zweiten Klasse solche, die ihrer Errettung nicht gewiß
sind, aber es gerne werden möchten.
Die dritte Klasse umfaßt alle, die nicht nur nicht errettet,
sondern auch völlig gleichgültig in bezug auf ihr ewiges Seelenheil sind.
In einer von diesen Klassen befindet sich jeder Mensch, und
die überaus wichtige Frage ist: In welcher? Es gibt nichts Törichteres, als gleichgültig zu sein, wenn es sich um die Ewigkeit handelt. Aber ach! wie viele Millionen von Menschen
mühen sich Tag für Tag rastlos um ihre zeitlichen Interessen
ab und scheuen keine Anstrengung, um sie zu fördern, während sie in bezug auf ihr ewiges Wohl wie mit Blindheit geschlagen zu sein scheinen. Trotz der unendlichen Liebe, die
148
Gott auf Golgatha gegen Sünder geoffenbart hat, trotz Seines
oft ausgesprochenen Hasses gegen die Sünde, trotz der wohlbekannten Kürze des menschlichen Lebens, trotz all der Schrekken des Gerichts nach diesem Leben eilt der Mensch in Sorglosigkeit dem schrecklichen Ende seines Weges entgegen, als
wenn es keinen Gott, keinen Tod, kein Gericht, keinen Himmel
und keine Hölle gebe. Gehörst du auch zu dieser Klasse von
Personen, mein lieber Leser? Oh, möchte dann Gott in diesem
Augenblick Erbarmen über dich haben und dir, während du
diese Zeilen liest, die Augen öffnen, damit du deine gefährliche Stellung erkennst und siehst, daß du auf der Schwelle
eines ewigen, endlosen Wehes stehst!
Du magst es glauben wollen oder nicht, aber dein Fall ist in
Wahrheit ein verzweifelter Fall. O weise den Gedanken an die
Ewigkeit nicht länger zurück! Es ist der große Feind der Seelen,
„ein Dieb" und „ein Mörder", der dich betören will und zum
Aufschub zu veranlassen sucht. Es gibt ein spanisches Sprichwort, das lautet: Der Weg, „Später einmal" führt zu der Stadt
„Niemals". Darin liegt viel Wahrheit, und ich bitte dich, verfolge diesen Weg nicht länger! „Heute ist die Zeit der Annehmung, heute ist der Tag des Heils".
Doch vielleicht antwortest du mir: „Ich bin nicht gleichgültig in betreff des Heils meiner Seele. Im Gegenteil, ich bin oft
tief bekümmert; aber ich befinde mich in völliger Ungewißheit;ich bin, um IhrBild zu gebrauchen, in der zweiten Klasse".
Dann, mein Freund, höre, daß dein Zustand wohl ein anderer ist als der Zustand eines gleichgültigen Menschen, daß ihm
aber dieselbe Sache zugrunde liegt. Gleichgültigkeit und Ungewißheit wachsen auf demselben Boden, der Unglaube heißt.
Der erste Zustand ist das Resultat des Unglaubens im Blick
auf die Sünde und das Verderben des Menschen, der zweite,
der deine, die Folge des Unglaubens im Blick auf das unumschränkte Heilmittel Gottes für den Menschen. Ich kann deine
Seelennot sehr gut verstehen und bin überzeugt, daß, je größer dein Ernst ist, mit dem du diese überaus wichtige Sache
betrachtest, um so größer auch dein Verlangen sein wird, Gewißheit über deine ewige Errettung zu erlangen. „Denn was
wird es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt ge149
wönne, aber seine Seele einbüßte" (Mt 16, 26)? Einem Menschen, der sich verirrt hat und müde und hungrig an einem
Scheideweg anlangt, kann es nicht genügen, wenn er jemand
nach dem Wege fragt, zur Antwort zu erhalten, daß der eine
der beiden Wege vielleicht ans Ziel führt. Er muß Gewißheit
haben. Ebenso ist es mit jedem Menschen, der zum Bewußtsein
über seinen Zustand erwacht ist und mit Schrecken sieht, daß
er auf dem breiten Weg ist, der ins Verderben führt. Es kann
ihm nichts nützen, wenn ihm jemand einen Weg angibt, auf
dem er hoffen kann, dem Verderben zu entrinnen. Er wird
nicht eher zur Ruhe kommen, bis er gewiß weiß, daß er auf
dem rechten Wege, dem Wege zum ewigen Leben ist.
Um dem einen oder anderen meiner Leser behilflich zu sein,
diese Gewißheit zu erlangen, möchte ich auf drei Dinge aufmerksam machen und sie unter der Leitung des Heiligen Geistes und im Lichte des Wortes Gottes etwas näher betrachten.
Diese sind:
1. Der Weg des Heils (Apg 16, 17).
2. Die Erkenntnis des Heils (Lk 1, 77).
3. Die Freude des Heils (Ps 51, 12).
Wir werden im Laufe unserer Betrachtung sehen, daß jedes
dieser drei Dinge, trotz ihrer innigen Verbindung untereinander, dennoch seine besondere Grundlage hat, so daß es sehr
wohl möglich ist, daß eine Seele den Weg der Errettung kennt,
ohne die bestimmte Gewißheit zu haben, daß sie selbst errettet
ist, und daß ferner jemand seiner Errettung gewiß sein kann,
ohne zu allen Zeiten die Freude zu genießen, die diese Gewißheit begleiten sollte. Wenden wir zunächst unsere Aufmerksamkeit dem Wege der Errettung zu.
Über diesen Weg gibt uns Kapitel 13 im zweiten Buch Mose
in einem Vorbilde klare Anweisung. Der Leser findet da die
Worte aus dem Munde Jehovas: „Und jedes Erstgeborene des
Esels sollst du mit einem Lamme lösen, und wenn du es nicht
lösest, so brich ihm das Genick; und jedes Erstgeborene von
Menschen unter deinen Söhnen sollst du lösen" (V. 13). Jetzt
möchte ich den Leser bitten, mir zu einer Szene zu folgen, die
vor etwa 3000 Jahren stattgefunden haben mag. Zwei Männer,
ein Priester Gottes und ein armer Israelit, stehen in eifrigem
150
Gespräch beieinander. Nähern wir uns ihnen und lauschen
ihren Worten. Die lebhaften Bewegungen von beiden lassen
darauf schließen, daß sie eine Sache von Wichtigkeit verhandeln, und es fällt uns nicht schwer, zu erkennen, daß der Gegenstand der Unterhaltung ein kleiner Esel ist, der zitternd
zwischen beiden steht.
„Ich bin gekommen", hören wir den armen Israeliten sagen,
„um mich zu erkundigen, ob nicht dies eine Mal zu meinen
Gunsten eine Ausnahme gemacht werden kann. Dies kleine
Geschöpf hier ist das Erstgeborene meines Esels, und obgleich
ich sehr wohl weiß, was das Gesetz Gottes sagt, so hoffe ich
doch, daß Gott mir Erbarmen erzeigen und das Leben des
Tieres nicht von mir fordern wird. Ich bin ein armer Mann,
und es ist mir unmöglich, es zu lösen".
„Aber", erwidert der Priester in bestimmtem Tone, „das
Gesetz Jehovas sagt klar und unzweideutig: „Jedes Erstgeborene des Esels sollst du mit einem Lamme lösen, und wenn
du es nicht lösest, so brich ihm das Genick". — Wo ist das
Lamm?"
„Ich besitze kein Lamm."
„Dann gehe, kaufe eins und komme wieder; anderenfalls
muß dem Esel das Genick gebrochen werden. Entweder muß
das Lamm sterben, oder der Esel."
„Ach! dann sind alle meine Hoffnungen vernichtet", ruft
der Arme traurig aus; „ich bin nicht imstande, ein Lamm zu
kaufen."
Unterdessen hat sich eine dritte Person, ein freundlich aussehender alter Israelit, der Gruppe genähert. Er vernimmt den
verzweifelten Ausruf des armen Mannes. Einen Augenblick
steht er nachdenklich da, wendet sieb dann zu dem Armen und
sagt freundlich: „Sei gutes Mutes, mein Freund; ich kann dir
helfen. Ich habe in meinem Hause ein kleines Lamm, ein schönes Tierchen, ohne Fehl. Es ist die Freude aller im Hause und
ist auch mir sehr teuer. Aber ich will es holen und es für deinen
Esel opfern". Mit diesen Worten eilt der mitleidige Fremde
fort und kommt nach kurzer Zeit mit dem versprochenen Lamm
zurück. Der Priester nimmt es in Empfang, schlachtet es und
verbrennt es auf dem Altar. Nachdem dies geschehen ist, wen151
det er sich zu dem armen Mann, der dem ganzen Vorgang sprachlos zugeschaut hat, und sagt: „Jetzt kannst du deinen Esel
ruhig mit nach deinem Hause nehmen. Das Lamm ist an seiner
Statt getötet worden, und infolgedessen geht der Esel gerechterweise frei aus. Bedanke dich bei deinem Freunde!"
Erkennst du, mein lieber Leser, in dem Erzählten nicht ein
treffendes Bild der Errettung eines Sünders? Gott muß von dir
wegen deiner Sünden „ein gebrochenes Genick" fordern, mit
anderen Worten, Er muß ein gerechtes Gericht über dein schuldiges Haupt bringen. Die einzige Möglichkeit, diesem Gericht
zu entrinnen, besteht darin, daß ein von Gott anerkannter und
angenommener Stellvertreter deinen Platz einnimmt. Aber wo
willst du einen solchen Stellvertreter finden? Es geht dir wie
dem armen Israeliten. Du bist nicht imstande, das von Gott
geforderte Lamm zu beschaffen. Aber nun höre, was Gott getan hat, um deine Errettung zu ermöglichen. In der Person
Seines eingeborenen, geliebten Sohnes hat Er Sich Selbst ein
Lamm vorgesehen, ein Lamm „ohne Fehl und ohne Flecken".
„Siehe, das Lamm Gottes", rief Johannes seinen Jüngern zu,
als er die Person des Herrn Jesu erblickte, „siehe das Lamm
Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt!"
Dieser Jesus ging hinauf nach Golgatha „wie ein Lamm, das
zur Schlachtung geführt wird", und dort litt Er für unsere Sünden, „der Gerechte für die Ungerechten, auf daß Er uns zu
Gott führe" (1. Petr 3, IS). Er wurde „unserer Übertretungen
wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt" (Röm 4, 25). Deshalb braucht Gott nicht ein Jota von
Seinengerechten und heiligen Ansprüchen fallen zu lassen, wenn
Er den gottlosen Sünder, der an Jesum glaubt, rechtfertigt
(Röm 3, 26). Gott sei Dank für einen solchen Heiland und für
eine solche Errettung! Wenn ein Mensch in Wahrheit an den
Sohn Gottes glaubt, dann wird ihm der volle Wert des Opfertodes Christi zugerechnet, geradeso, als wenn er das Werk
selbst vollbracht hätte. Gott sieht ihn nicht mehr in seinem
alten, verwerflichen Zustand, sondern in der ganzen Annehmlichkeit der Person Christi. Sein Errettungsplan ist wahrhaft
göttlich und Gottes Selbst würdig; er befriedigt Sein Herz der
Liebe, verherrlicht Seinen Sohn und bringt den Sünder in
ewige Sicherheit. Gepriesen sei der Gott und Vater unseres
152
Herrn Jesu Christi, Der Seinen Eingeborenen und Geliebten
gesandt hat, das große Werk der Erlösung zu vollbringen, und
Der alles so völlig geordnet hat, daß so elende, sündige Geschöpfe wie du und ich durch den Glauben an Ihn nicht nur der
reichsten Segnungen, sondern auch für alle Ewigkeit der überaus köstlichen Gemeinschaft des Segnenden teilhaftig gemacht
werden! „Erhebet Jehova mit mir und lasset uns miteinander
erhöhen seinen Namen" (Ps 34, 3)!
Doch vielleicht erwiderst du mir: „Ich habe gelernt, von mir
und von meinem eigenen Tun völlig abzusehen und nur auf
Christum und auf Sein Werk zu vertrauen, und dennoch fehlt
mir die volle Gewißheit meiner Errettung. Heute fühle ich mich
ganz glücklich und erfreue mich meiner Annahme bei Gott
durch den Glauben an Jesum und an Sein vergossenes Blut,
und vielleicht morgen schon verwandelt sich meine Freude in
Trauer und Ungewißheit. Woher mag dies wohl kommen?"
Auf diese Frage möchte ich dir mit einer Gegenfrage antworten: „Hast du schon jemals gehört, daß ein Kapitän die Anker
seines Schiffes ins Schiff hinein wirft, um so einen sicheren
Ankerplatz zu finden?" Niemals, nicht wahr? Er müßte denn
seinen Verstand verloren haben. Er wirft die Anker stets nach
außen, in das Meer hinein. Verstehst du, was ich mit diesem
Bilde sagen will? Es mag sein, daß du ganz klar verstehst, daß
der Tod Christi allein Sicherheit vor dem ewigen Gericht zu
geben vermag, und dennoch denkst du, deine Gefühle seien es,
die dir Gewißheit geben können. Statt nach außen zu blicken,
blickst du in dich hinein, und da kann es nicht fehlen, daß du
heute vielleicht glücklich bist, weil du die für einen Erretteten
passenden Gefühle in dir zu entdecken meinst, während du
morgen beim Verschwinden dieser Gefühle wie ein vom Sturm
umhergeworfenes Schiff unruhig und in Not bist. Dies führt
uns zu dem zweiten Hauptgegenstand unserer Betrachtung, zu
der „Erkenntnis des Heils".
Wieder muß ich den Leser bitten, seine Bibel zur Hand zu
nehmen und das fünfte Kapitel im ersten Brief des Johannes
aufzuschlagen. Da findet er einen Vers, der den Weg angibt,
auf dem Gott dem Menschen die Erkenntnis des Heils mitteilt.
Er lautet: „Dies habe ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset,
daß ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubet an den Namen des
153
Sohnes Gottes" (V. 13). Beachten wir wohl, daß es nicht heißt:
„Diese glücklichen,Gefühle habe ich euch gegeben, auf daß ihr
wisset usw."
Woher wußten die erstgeborenen Söhne der Israeliten, daß
sie in jener Nacht des Gerichts Jehovas über Ägypten vollkommen sicher waren? Laßt uns im Geiste zwei ihrer Häuser
besuchen und hören, was ihre Bewohner zu sagen haben.
Im ersten Hause, in das wir eintreten, entdecken wir auf den
ersten Blick, daß alle Bewohner voll Furcht und gespannter
Erwartung sind. Die Gesichter sind bleich, und zitternd stehen
Eltern und Kinder beieinander. Wir erkundigen uns nach der
Ursache der allgemeinen Angst. Der älteste Sohn erzählt uns,
daß Jehova in der kommenden Nacht durch das Land gehen
werde, um alle Erstgeburt zu schlagen, und daß er nicht ganz
sicher sei, wie es ihm in dieser schrecklichen Stunde ergehen
werde. „Wenn Jehova an dem Hause meiner Eltern vorübergegangen und der Tag angebrochen ist, dann werde ich wissen,
daß ich errettet bin; aber bis dahin bin ich nicht ganz sicher.
Unsere Nachbarn im nächsten Hause behaupten allerdings,
ihrer Errettung völlig gewiß zu sein, aber wir halten dies für
eine große Anmaßung. Alles, was ich tun kann, ist, daß ich die
lange, schreckliche Nacht durchwache und das Beste hoffe".
„Aber", fragen wir weiter, „hat der Gott Israels denn nicht
Seinem Volk einen Weg der Errettung angewiesen?"
„Allerdings", lautet die Antwort, „und wir haben diesen
Weg eingeschlagen. Wir haben nach Seinem Wort „ein einjähriges Lamm ohne Fehl" geschlachtet und dessen Blut mit
einem Bündel Ysop an die Oberschwelle und die Pfosten der
Tür gestrichen, aber dennoch sind wir nicht sicher, ob uns dies
wirklich schützen wird."
Laßt uns jetzt diese zweifelnden, unruhigen Seelen verlassen
und das nächste Haus betreten. Ein völliger Gegensatz tritt
hier vor unser Auge! Eine friedliche Ruhe lagert auf jedem
Antlitz. Die Bewohner stehen da mit gegürteten Lenden, den
Stab in ihrer Hand, und nähren sich von dem gebratenen
Lamm. Worin mag diese Ruhe angesichts einer so schreckensvollen Nacht ihren Grund haben? Auf unser Befragen, warum
sie so reisefertig an dem Tische stehen, erhalten wir zur Ant154
wort: „Wir warten auf den Befehl Jehovas zum Aufbruch;
sobald er eintrifft, werden wir den grausamen Frohnvögten
und der harten Sklaverei Ägyptens für immer entfliehen".
„Aber habt ihr denn ganz vergessen, daß dies die Nacht des
Gerichts ist?"
„O nein, wir wissen das sehr wohl; aber unser Erstgeborener ist in völliger Sicherheit. Das Blut ist nach dem Willen
Gottes an die Tür gestrichen worden".
„Aber das ist auch hier im Nebenhause geschehen", erwidern wir, „und dennoch sind dort alle unglücklich, weil sie
der Errettung ihres Erstgeborenen nicht gewiß sind".
In diesem Augenblick läßt sich die Stimme des ältesten Sohnes vernehmen. Er sagt in bestimmtem Tone: „Wir haben
nicht nur das Blut, sondern auch das unumstößliche Wort
Gottes über das Blut. Gott hat gesagt: „Sehe ich das Blut,
so werde ich an euch vorübergehen". Gott ist befriedigt, wenn
Er das Blut außen an unserer Tür sieht, und wir sind völlig
befriedigt durch Sein Wort. Er wird Sein Wort wahrmachen.
Und so ist es, mein lieber Leser. Das Blut des Lammes, das
für uns vergossen ist, errettet uns, und das Wort, das aus dem
Munde Gottes hervorgegangen ist, gibt uns eine unerschütterliche Gewißheit. Könnte es etwas geben, das uns vor jedem
Gericht sicherer stellen könnte, als das Blut Christi? Könnte uns
irgend etwas mehr Gewißheit verleihen, als das Urteil Gottes,
Sein geschriebenes Wort? Nichts, gar nichts. Welches jener
beiden Häuser war in größerer Sicherheit, das erste oder das
zweite? Das zweite, denkst du vielleicht, weil dort alle ruhig
und in Frieden waren? O nein, sage ich dir, beide waren gleich
sicher. Ihre Sicherheit hing nicht von dem Zustand ihrer Gefühle innerhalb ah, sondern von dem, was Gott über das Blut
außerhalb dachte. Und ebenso darfst du, wenn du über deine
eigene Errettung gewiß sein willst, nicht auf das schwankende
Zeugnis innerer Gefühle lauschen, sondern auf das unfehlbare
Zeugnis des Wortes Gottes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat,
hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht" (Joh 5, 24).
Erlaube mir, dir ein Beispiel aus dem täglichen Leben zu erzählen. Ein gewisser Pächter hört, daß sein Grundherr eine
155
schöne, fette Wiese in der Nähe seines Hauses zu verpachten
gedenkt. Schon lange hat er gewünscht, diese Wiese zu besitzen, da er für sein Vieh nicht Gras genug hat. Er schreibt an
den Besitzer der Wiese, aber er erhält längere Zeit keine Antwort. Eines Tages besucht ihn ein Nachbar, dem er die Sache
erzählt. Der hört aufmerksam zu und sagt dann: „Oh, ich hin
fest überzeugt, daß du die Wiese erhalten wirst. Erinnerst du
dich nicht, daß der Grundherr dir noch kürzlich ein schönes
Geschenk machte und dabei deinen Fleiß und deine Pünktlichkeit lobte?" Diese Worte erfüllen den Pächter mit zuversichtlicher Hoffnung. Am nächsten Tage begegnet ihm jedoch ein
anderer Nachbar und bemerkt im Laufe der Unterhaltung:
„Ich fürchte, du hast nicht die geringste Aussicht, die Wiese zu
bekommen. Ich habe gehört, daß Herr N. sie ebenfalls zu mieten wünscht, und du weißt, wie beliebt er bei deinem Grundherrn ist, wie er ihn fast täglich besucht usw." Die Hoffnungen
des Pächters sinken durch diese Worte wieder erheblich. Ganz
niedergeschlagen kehrt er nach Hause zurück.
Kaum ist er hier angelangt, da erscheint der Postbote und
überbringt ihm die ersehnte Antwort. Der Pächter erkennt in
der Aufschrift die wohlbekannten Schriftzüge seines Herrn.
Erregt erbricht er den Brief. Er liest, und nach und nach hellt
sich sein Gesicht auf; die ängstliche Erwartung und Sorge
machen der freudigsten Überraschung Platz. Den Brief triumphierend in die Höhe haltend, ruft er seiner Frau zu: „Jetzt ist
alles in Ordnung; Herr X. schreibt mir, daß das Feld mein sei,
so lange ich es wünsche, und zwar zu den billigsten Bedingungen. Alle meine Befürchtungen waren vergebens. Mag jetzt
kommen, wer will, ich habe sein Wort, das genügt mir."
Ach! wie mancher Gläubige befindet sich in einem ähnlichen Zustand wie der beunruhigte Pächter — umhergeworfen
und in Verlegenheit gebracht durch die Meinungen der Menschen oder die Gedanken und Gefühle seines eigenen verräterischen Herzens! Nur das Wort Gottes annehmen als den
unfehlbaren und untrüglichen Ausdruck der Gedanken und
Ratschlüsse Gottes kann der Seele Ruhe geben und sie vor
Zweifeln und Beängstigungen sicherstellen. Wenn Gott spricht,
muß Gewißheit da sein, mag Er nun die Verurteilung des Gottlosen oder die Errettung des Gläubigen aussprechen. „In Ewig156
keit, Jehova, steht dein Wort fest in den Himmeln" (Ps 119,
89). Für den einfältigen Gläubigen ordnet Sein Wort alles.
„Nicht ein Mensch ist Gott, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue. Sollte er gesprochen haben und es nicht
tun, und geredet haben und es nicht aufrechthalten" (4. Mo 23,
19)?
Aber, fragst du vielleicht, wie kann ich sicher sein, daß ich
die rechte Art von Glauben habe? Auf diese Frage gibt es nur
eine Antwort: „Setzest du dein Vertrauen auf die richtige Person, d. i. auf den gepriesenen Sohn Gottes?" Es handelt sich
nicht um die Größe deines Glaubens, sondern um die Vertrauenswürdigkeit der Person, auf die du dein Vertrauen setzst.
Der eine ergreift Christum gleichsam mit der Hast eines Ertrinkenden; der andere wagt sich Ihm nur von hinten zu
nahen und den Saum Seines Kleides zu berühren. Doch darum
ist der erste nicht mehr in Sicherheit, als der andere. Beide
haben die gleiche Entdeckung gemacht, d. h. sie haben erkannt,
daß sie auf sich selbst nicht das geringste Vertrauen setzen
können, daß sie aber mit aller Ruhe auf Christum und auf
Sein Wort vertrauen und in Seinem vollbrachten Werk ruhen
dürfen. Siehe, das ist Glaube. „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Wer an mich glaubt, hat ewiges Leben" (Joh 6, 47). Der
schwächste Glaube an diesen Jesus errettet den Sünder für alle
Ewigkeit, während der stärkste Glaube an etwas außer Ihm,
seien es nun gute Werke, religiöse Gebräuche, fromme Gefühle
oder irgend etwas Ähnliches, ebenso sicher ins ewige Verderben führt. Und Ihm können wir in Wahrheit vertrauen. Er ist
der geliebte Sohn, an Dem der Vater Seine ewige Wonne hat,
und Der für den Sünder im Gericht stand und die ganze Glut
des göttlichen Zornes wider die Sünde trug.
Doch ach! wie verkehrt ist das menschliche Herz! „Ich glaube wirklich an den Herrn Jesus", sagte vor einiger Zeit ein
junges Mädchen zu mir, „aber wenn man mich fragt, ob ich
errettet sei, dann möchte ich nicht gern „Ja" sagen, aus Furcht
zu lügen". Die Sprecherin war die Tochter eines Fleischers. Zufällig war jener Tag ein Markttag, und ihr Vater war ausgegangen, um Vieh einzukaufen. An diesen Umstand anknüpfend, sagte ich: „Nehmen wir an, Ihr Vater käme heim; Sie
fragten ihn, wieviel Schafe er gekauft habe, und er erwiderte:
157
„Zehn". Nach einer Weile träte ein Fremder in den Laden und
fragte sie: „Wieviel Schafe hat Ihr Vater heute gekauft?" und
Sie antworteten: „Mein Vater hat gesagt: „zehn", aber ich
möchte dies nicht gerne behaupten, aus Furcht zu lügen". Was
würden Sie damit tun?"
„Sie würde ihren Vater zu einem Lügner machen", fiel die
Mutter des Mädchens ein, die unserem Gespräch zugehört
hatte.
„Ihre Mutter hat völlig Recht", bemerkte ich, „Sie würden
ihren Vater zu einem Lügner machen; und dies tun Sie, ohne
es zu wollen und zu wissen, im Blick auf den Herrn Jesus. Sie
sagen: „Ich glaube an den Sohn Gottes, und Er sagt mir, daß
ich dann ewiges Leben habe, aber ich möchte dies nicht gern
aussprechen, aus Furcht zu lügen". Sie machen den Herrn Jesus
zu einem Lügner, Wie schrecklich ist das!"
Wieder andere fragen: „Wie kann ich wissen, daß ich wirklich glaube? Ich habe oft genug versucht, zu glauben, und habe
in mich geblickt, um zu sehen, ob ich den rechten Glauben
besitze, aber je mehr ich auf meinen Glauben blicke, um so
weniger scheine ich ihn zu haben". Ach., alle diese blicken in
die verkehrte Richtung, und gerade ihre vergeblichen Anstrengungen, zu glauben, beweisen, daß sie auf dem falschen Wege
sind. Wieder möchte ich versuchen, durch ein einfaches Beispiel
aus dem täglichen Leben den Kern der Sache bloßzulegen.
Denke dir, du säßest eines Abends ruhig in deinem Zimmer.
Plötzlich klopft es, und auf dein „Herein!" tritt ein Mann ins
Zimmer, den du als eine wenig vertrauenswürdige Person
kennst, die es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Er erzählt dir, daß der Stationsvorsteher des Ortes soeben verunglückt und tot nach Hause gebracht worden sei. Glaubst du
diesem Manne, oder versuchst du nur, ihm zu glauben?
„Sicherlich nicht!" wirst du sagen. Aber warum nicht? Weil
du auf deinen Glauben oder auf deine Gefühle blickst? Nein,
weil du den Mann, der dir die Nachricht bringt, als einen Lügner kennst.
Einige Minuten später besucht dich ein Nachbar, der dich
einmal vor langer Zeit betrogen hat und sagt: „Haben Sie
schon gehört, daß der Stationsvorsteher heute Abend von
158
einem Güterzug überfahren und sogleich getötet worden ist?"
Immer noch weißt du nicht, ob du die Botschaft als wahr annehmen sollst, da du glaubst, auch diesem Manne kein volles
Vertrauen schenken zu können. Kaum aber hat er dich verlassen, da tritt dein bester Freund ins Zimmer und wiederholt
die Worte der beiden Besucher. „Jetzt glaube ich es", rufst du
aus, „denn mein Freund hat mich noch nie betrogen, und wird
es auch sicherlich nie tun". Und nun frage ich noch einmal:
„Warum glaubst du jetzt? Glaubst du, weil du in dir die rechten Gefühle entdeckst? O nein; du glaubst, weil dein Freund
dein völliges Vertrauen verdient. Ebenso ist es mit der frohen
Botschaft, die Gott mir in Seinem Wort verkündigt. Ich glaube
sie, weil Er, Der sie mir bringt, nicht lügen kann, weil Er mein
ganzes, rückhaltloses Vertrauen verdient. Ich blicke nicht auf
meinen Glauben, sondern auf Den, Der zu mir redet, und
indem ich Ihn betrachte, rufe ich aus: „Ja, Er ist würdig, daß
ich Ihm ganz vertraue; Er kann nicht lügen —Er wird Sein Wort
wahr machen." „Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer; denn dies ist das Zeugnis
Gottes, welches er gezeugt hat über seinen Sohn. Wer an den
Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst; wer Gott
nicht glaubt, hat ihn zum Lügner gemacht, weil er nicht geglaubt hat an das Zeugnis, das Gott gezeugt hat über seinen
Sohn" (1. Joh 5, 9. 10). „Abraham glaubte Gott, und es wurde
ihm zur Gerechtigkeit gerechnet" (Röm 4, 3).
So mancher betrachtet den Glauben als ein unbeschreibliches
Etwas, das er in sich fühlen müsse, um dann sicher zu sein, daß
er für den Himmel passend sei. Aber das ist der Glaube durchaus nicht. Der wahre Glaube blickt nach außen auf eine lebendige Person, auf Christum und auf Sein vollbrachtes Werk,
und lauscht ruhig auf das Zeugnis eines Gottes, der die Wahrheit und das Licht selbst ist. Und dieser Blick nach außen gibt
der Seele inneren Frieden. Wenn ich mein Antlitz der Sonne
zukehre, so ist mein Schatten hinter mir; ich sehe ihn nicht.
Ebenso unmöglich ist es, einen verherrlichten Christus im
Himmel und zu gleicher Zeit sich selbst anzuschauen.
So sehen wir, daß die gesegnete Person des Sohnes Gottes
mein Vertrauen gewinnt. Sein vollbrachtes Werk gibt mir
ewige Sicherheit, und das Wort Gottes über alle, die an Ihn
glauben, verleiht mir eine unumstößliche Gewißheit im Blick
159
auf meine Errettung. Ich finde in Christo und in Seinem Werk
den Weg des Heils und in dem Worte Gottes die Erkenntnis
des Heils.
Aber woher kommt es, daß so mancher, der seiner Errettung
gewiß ist, dennoch so oft die Freude des Heils verliert und in
einem ebenso unglücklichen, ja vielleicht noch unglücklicheren
Seelenzustand einhergeht, als vor seiner Bekehrung? Diese
Frage führt uns zu dem dritten Abschnitt unserer Betrachtung.
Wir finden in dem Worte Gottes, daß wir, errettet durch
das Werk Christi und gewiß gemacht durch das Wort Gottes,
in dem Genuß des Heils, in unserer Freude und in unserem
Trost aufrecht gehalten werden durch den Heiligen Geist, Der
in jedem Erretteten wohnt. Doch zugleich dürfen wir nicht vergessen, daß jeder Gläubige „das Fleisch", d. h. die böse Natur,
mit der er geboren wurde und die sich schon zeigte, als er noch
als- ein hilfloses Kind auf dem Schöße seiner Mutter lag, an
sich trägt. Der Heilige Geist in dem Gläubigen widersteht dem
Fleische und wird durch jede Regung des Fleisches, sei es in
Gedanken, Worten oder Werken, betrübt. Wenn der Christ
„würdig des Herrn" wandelt, so wird der Heilige Geist in ihm
Seine gesegneten Früchte: „Liebe, Freude, Friede, Langmut,
Freundlichkeit usw." (Gal 5, 22) hervorbringen. Wandelt er in
einer fleischlichen, weltlichen Weise, so wird der Geist betrübt,
und jene Früchte fehlen in größerem oder geringerem Maße.
So wie das Werk Christi und unsere Errettung miteinander
stehen oder fallen, so stehen oder fallen auch miteinander
unser Wandel und unser Genuß. Gott sei Dank, daß das Werk
Christi nie fallen kann! es besteht ewig, und damit unsere Errettung. Anders aber ist es mit unserem Wandel; er kann fallen, d. h. nicht in Übereinstimmung sein mit unserer Stellung
und Berufung; und dann wird sicher auch unsere Freude
schwinden. Meine geistliche Freude wird stets mit dem geistlichen Charakter meines Wandels nach meiner Bekehrung in
Übereinstimmung stehen. So lesen wir von den ersten Christen
in Apg 9, 31 : „Sie wandelten in der Furcht des Herrn und
wurden vermehrt durch den Trost des Heiligen Geistes", und
in Apg 13, 52: „Die Jünger aber wurden mit Freude und Heiligem Geiste erfüllt."
160
Wir sehen also, daß unsere Sicherheit abhängt von dem
Werke Christi für uns, daß unsere Gewißheit beruht auf dem
Worte Gottes zu uns, und daß endlich unser Genuß davon
abhängig ist, ob wir den Heiligen Geist in uns nicht betrüben.
Niemals aber dürfen wir unsere Sicherheit und Gewißheit mit
unserem Genuß verwechseln. Wenn wir als Kinder Gottes
etwas tun, was den Heiligen Geist betrübt, so ist unsere praktische Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn unterbrochen, und zwar so lange, bis wir uns selbst richten und
unsere Sünden bekennen. Erst dann wird die Freude der Gemeinschaft wiederhergestellt. Das Beispiel eines unartigen Kindes ist schon so oft angeführt worden, daß ich hier nur darauf
hinzudeuten brauche. Ein solches Kind erfreut sich nicht eher
wieder des praktischen Genusses der Liebe und der Gemeinschaft des Vaters, bis es seine Unart bekannt und seiner Trauer
über das Vorgefallene Ausdruck gegeben hat. Doch dies hat
nichts mit seiner Kindschaft zu tun. Diese beruht auf seiner
Geburt, nicht aber auf seinem Verhalten. Als David sich mit
dem Weibe des Uria so schwer vergangen hatte und zum Bewußtsein seiner Sünde gekommen war, betete er nicht: „Laß
mir wiederkehren deine Rettung"', sondern: „Laß mir wiederkehren die Freude deines Heils" (Ps 51, 12)!
So ist es mit jedem Gläubigen. Hat er gesündigt, dann ist
die Gemeinschaft unterbrochen und seine Freude so lange gestört, bis er mit einem „gebrochenen und zerschlagenen Herzen" zum Vater kommt und seine Sünde bekennt. Aber dann
erhält er die Gewißheit, daß ihm die Sünde vergeben ist; denn
das Wort Gottes bezeugt klar und bestimmt: „Wenn wir
unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er
uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit" (1. Joh 1, 9). Oh, möchte doch keins der teuren Kinder
Gottes jemals vergessen, daß es nichts Festeres gibt, als das
Band des Kindesverhältnisses zu seinem Gott und Vater, aber
auch nichts Zarteres, als das Band der Gemeinschaft! Keine
Macht der Erde und der Hölle vermag das erste zu verletzen,
während ein einziger unreiner Gedanke, ein einziges unnützes
Wort das zweite notwendig zerreißen muß.
Haben wir uns daher vergessen und den Genuß der Gemeinschaft mit unserem Gott und Vater und Seinem Sohne
161
Jesu Christo verloren, so laßt uns stillestehen und mit aufrichtigem Ernst unser Herz auf unseren Weg richten! Und haben
wir den Dieb entdeckt, der uns unsere Freude und unseren
Frieden geraubt hat, so laßt uns ihn sogleich ans Licht bringen, laßt uns unsere Sünde vor unserem Vater bekennen und
schonungslos mit uns selbst ins Gericht gehen wegen des unwachsamen, gleichgültigen Zustandes unseres Herzens, der
dem Dieb erlaubt hat, einzudringen. Denken wir nicht, daß die
Sünde des Gläubigen vor Gott weniger hassenswert sei, als die
Sünde des Ungläubigen. Gottes Gedanken über die Sünde sind
stets gleich; Er kann ebensowenig stillschweigend an der Sünde
des Gläubigen vorübergehen, wie an der Sünde eines Verächters Seines geliebten Sohnes. Wohl gibt es einen Unterschied
zwischen diesen beiden Personen. Die Sünden des Gläubigen
waren alle im voraus Gott bekannt und wurden alle auf das
von Ihm zuvor erkannte Lamm gelegt, als es auf Golgatha am
Stamme des Kreuzes hing. Dort wurde ein für allemal die
richterliche Frage in bezug auf diese Sünden geordnet, indem
das Gericht für sie das Haupt des reinen, fleckenlosen Opferlammes traf, das „an seinem Leibe unsere Sünden auf dem
Holze trug" (1. Petr 2, 24). Der Verwerfer Christi dagegen
muß selbst seine Sünden für immerdar in dem Feuersee tragen.
Wenn daher ein Erretter fehlt, so kann die richterliche Frage
nicht wieder erhoben werden, wohl aber wird die Frage der
Gemeinschaft erhoben, so oft er den Heiligen Geist betrübt;
und wenn ein solcher Christ trotz der Mahnungen seines Gewissens und der Stimme des Heiligen Geistes, die ihn in seinem Inneren straft, auf seinem bösen Wege vorangeht, so
werden Züchtigungen von seiten des Vaters ihn treffen. Er
wird gerichtet in den Wegen der Regierung Gottes auf Erden,
wie der Apostel den Korinthern zuruft: „Wenn wir aber gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß
wir nicht mit der Welt verurteilt werden" (1. Kor 11, 32).
Indessen wiederhole ich noch einmal, daß durch die Untreue
eines Gläubigen und durch die ihr notwendigerweise folgende
ernste Sprache Gottes die Frage der Errettung in keiner Weise
berührt wird. Wenn mein Herz infolge meiner Unwachsamkeit
und Untreue unglücklich und gedrückt ist, so wird dadurch
weder das Werk Christi noch das Wort Gottes verändert. Was
162
1
sich verändert hat, ist die Tätigkeit des Heiligen Geistes. Statt
von den herrlichen Dingen Christi nehmen und mein Herz mit
dem Bewußtsein und dem Genuß Seiner Vortrefflichkeit und
Schönheit erfüllen zu können, ist Er betrübt und muß sich mit
meiner Sünde und Untreue beschäftigen, um mich zu einem
Gefühl meines traurigen Zustandes zu bringen. Und der Vater,
statt mich Seine köstliche Gemeinschaft genießen lassen zu
können, muß mich, wenn ich in der Sünde verharre, züchtigen
und mit mir über mich selbst reden. Ach! welch ein unermeßlicher Verlust ist das! Möchte der Herr uns mit jedem Tag
wachsamer und eifersüchtiger über uns selbst machen, damit
wir nicht den Heiligen Geist betrüben, durch welchen wir versiegelt sind auf den Tag der Erlösung (Eph 4, 30)!
Gepriesen sei unser geliebter Herr, daß Er in Seiner Gnade
und Güte Sich nie verändert! „Jesus Christus ist derselbe
gestern und heute und in Ewigkeit" (Hebr 13, 8). Auch Sein
Werk wird sich nie verändern. „Ich habe erkannt, daß alles,
was Gott tut, für ewig sein wird; es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen" (Pred 3, 14). Und
ebensowenig wird Sein Wort jemals wanken. „Alles Fleisch
ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume.
Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist abgefallen; aber
das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit" (1. Petr 1, 24. 25).
Welch eine Ruhe gibt uns dies angesichts unserer Schwachheit!
Der Gegenstand meines Vertrauens, die Grundlage meines
Heils, der Grund meiner ewigen Sicherheit und Gewißheit, sie
sind alle gleich unveränderlich, so unerschütterlich wie Gott
Selbst.
Doch sollte uns das Bewußtsein, daß wir so hoch begnadigt
sind, und daß unser Heil in Ihm für alle Ewigkeit feststeht,
gleichgültig machen? O nein und abermals nein! Wo eine solche Gesinnung vorhanden ist, da verrät sie einen sehr traurigen Zustand des Herzens. Man gebraucht dann die Gnade
Gottes und die Freiheit, zu der Er uns gebracht hat, zu einem
Anlaß für das Fleisch. Wie schrecklich dies ist, brauche ich nicht
zu sagen. Gebe der Herr uns allen in Seiner Gnade, daß wir
würdig wandeln der Berufung, womit wir berufen sind! Möchte Er in unseren Herzen eine heilsame Furcht vor der Sünde,
ja vor uns selbst, und zugleich eine wahre Gottesfurcht er163
wecken! Möchten wir nie vergessen, daß wir Den als Vater
anrufen, der Licht ist und der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk! „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen
wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber in dem Lichte
wandeln, wie er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft
miteinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt
uns von aller Sünde" (1. Joh 1, 6. 7).
Ein sicherer Ankerplatz
Ich bitte den Leser, für einige Augenblicke seine Aufmerksamkeit den Versen 7—15 im zehnten Kapitel des Hebräerbriefes zuzuwenden. Er wird in ihnen, wenn er wirklich über das
Heil seiner Seele bekümmert ist, den wahren Grund des Friedens, einen göttlich sicheren Ankerplatz finden. Ich denke nicht
daran, eine lange, ausführliche Auslegung dieser Stelle zu
geben, sondern möchte nur mit kurzen Worten ihren Inhalt
andeuten. Hier werden uns drei große Gegenstände oderSeiten
der Wahrheit vorgestellt; zunächst der Wille Gottes, dann das
Werk Christi und drittens das Zeugnis des Heiligen Geistes;
mit anderen Worten: die Quelle, aus der die ewige Errettung
der Seele hervorkommt, der Kanal, durch den sie fließt, und
die Autorität, auf die sie sich stützt. Wir sehen so die ewige
Dreieinigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, mit dem großen
Werk beschäftigt, den Grund zu unserem Frieden zu legen.
Dies ist sicherlich etwas, das unserer ernsten und eingehenden
Betrachtung wert ist.
1. Für eine bekümmerte Seele ist es sehr wichtig, ein klares
Verständnis über die Tatsache zu erlangen, daß der glorreiche
Platz der Erlösung seinen Ursprung in dem Willen Gottes
hatte, und zwar vor Grundlegung der Welt. Er wurde nicht
erst nachträglich gefaßt, nachdem der Mensch gefallen war.
Gott brauchte nicht erst dann, als die Sünde da war, mit sich
zu Rate zu gehen, was Er tun wollte. O nein, der Plan war
164
schon lange, vorher gefaßt, schon lange vorher erwogen und
festgestellt. Dies beweist der siebte Vers unseres Kapitels unzweideutig: „Da sprach ich: „Siehe, ich komme, (in der Rolle
des Buches steht von mir geschrieben) um deinen Willen, o
Gott, zu tun". Bevor die Welten gemacht wurden, bevor die
Sünde da war, stand der Plan bereits fest, daß Christus kommen und den Willen Gottes tun sollte, und dieser Wille hatte
Bezug auf die Errettung des Menschen. Diese Tatsache beweist
die wunderbare Liebe Gottes zu dem Sünder. Er hätte uns dem
Verderben überlassen können, wie wir es gerechterweise wegen
unserer Sünden verdient hätten, aber stattdessen trat Er, sobald
die Sünde da war, mit dem herrlichen Plan der Erlösung durch
den Samen des Weibes hervor.
2. Um diesen Plan auszuführen, kam der Sohn aus dem
Schoß des Vaters herab. Er kam, um, koste es, was es wolle,
den Willen Gottes zu tun. Es war Seine Speise und Sein Trank,
ihn zu tun, und, gepriesen sei Sein heiliger Name! Er hat ihn
vollkommen erfüllt. Er hat das Werk vollbracht, das der Vater
Ihm zu tun gegeben hatte, und Er hat dadurch den unerschütterlichen Grund zu unserem Frieden gelegt. Was alle Opfer des
alten Bundes nicht vermochten, das hat Jesus durch Sein einmaliges Opfer vollbracht. „Indem er vorher sagt: Schlachtopfer
und Speisopfer und Brandopfer und Opfer für die Sünde hast
du nicht gewollt, . . . spricht er dann: „Siehe, ich komme, um
deinen Willen zu tun" . . . Durch welchen Willen wir geheiligt
sind durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes
Jesu Christi. Und jeder Priester steht täglich da, den Dienst
verrichtend und oft dieselben Schlachtopfer darbringend, welche niemals Sünden hinwegnehmen können. Er aber, nachdem
er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht, hat sich für immerdar gesetzt zur Rechten Gottes, fortan wartend, bis Seine
Feinde gelegt sind zum Schemel seiner Füße. Denn durch ein
Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt
werden" (V. 8—14).
Hier haben wir den Kanal, durch den die Versöhnung uns
zufließt, nämlich: „das ein für allemal geschehene Opfer des
Leibes Jesu Christi". Es ist nicht durch die Kirche, nicht durch
Sakramente, nicht durch Zeremonien und Gebräuche, nicht
durch religiöse Satzungen und Einrichtungen, nicht durch ir165
gendwelche Werke der Gerechtigkeit, durch Gebete, Fasten,
Almosen oder irgendwelche andere menschliche Anstrengungen, sondern „durch das ein für allemal geschehene Opfer des
Leibes Jesu Christi". Der Leser möge die Kraft und Bedeutung
des Ausdrucks: „ein für allemal" wohl erwägen! Dieses Opfer
kann niemals wiederholt werden. Die Lehre von einem fortgesetzten Opfer für die Sünden ist eine direkte Verleugnung
der klaren Unterweisungen des Heiligen Geistes in Hebr 10.
Wenn das Wort Gottes maßgebend für uns ist, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Sünden aller Glaubenden
durch das eine vollkommene Opfer Christi auf dem Kreuze für
immer hinweggetan sind. Den Beweis dafür sehen wir in der
Tatsache, daß Jesus Sich auf den Thron der Majestät in den
Himmeln gesetzt hat. An die Stelle des täglichen Dastehens
der jüdischen Priester ist das ewige Sitzen des Sohnes Gottes,
an die Stelle der zahlreichen Opfer nach dem Gesetz das eine
Opfer Jesu Christi getreten. Die Priester unter dem Gesetz
konnten sich niemals setzen, weil ihr Werk nie vollendet wurde. Jesus dagegen hat Sich nach Vollendung Seines Werkes für
immerdar gesetzt. Hierin liegt das wahre Geheimnis der Ruhe
für das Gewissen. Christus hat Sich gesetzt. Er wird Sich nie
wieder erheben, um Sich mit dem Werk des Sündentragens zu
beschäftigen. Wenn Er aufsteht, so geschieht es nur, um die
Seinigen zu Sich zu nehmen und dann über Seine Feinde Gericht auszuüben.
3. Es bleibt uns noch übrig, ein Wort über die Autorität zu
sagen, auf Grund deren wir diese vollkommene Versöhnung
empfangen. Es ist das Zeugnis des Heiligen Geistes, und dieses
ist, beachten wir es wohl! das Wort Gottes, die Heilige Schrift.
„Das bezeugt uns aber auch der Heilige Geist; denn nachdem
er gesagt hat: „Dies ist der Bund, den ich ihnen errichten werde nach jenen Tagen, spricht der Herr: „Indem ich meine Gesetze in ihre Herzen gebe, werde ich sie auch auf ihre Sinne
schreiben"; und: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten
werde ich nie mehr gedenken". Wo aber eine Vergebung derselben ist, da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde" (V. 15—
18). Auf die Frage: „Woher weißt du, daß alle deine Sünden
und Gesetzlosigkeiten hinweggetan sind?" kann ich jetzt antworten: „Durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, durch das
Zeugnis der Heiligen Schrift". Dies ist wiederum ein hervor166
ragender wichtiger Punkt. Die Autorität, auf der ich im Blick
auf die Errettung meiner Seele ruhe, ist ebenso wahrhaftig und
absolut göttlich, wie der Kanal, durch den diese Errettung mir
zufließt, oder die Quelle, aus der sie hervorgeht. Es ist nicht
die Stimme der Kirche, es sind nicht die Beschlüsse von Konzilien, oder die Meinungen der Kirchenväter, oder etwa die
Gebote, Lehren und Überlieferungen der Menschen, auch nicht
die Vorstellungen und Gefühle meines eigenen Herzens, die
mir Gewißheit geben können, daß ich von allen meinen Sünden gereinigt und für ewig errettet bin, es ist einzig und allein
das Zeugnis der Heiligen Schrift. Wohl ist es wahr, daß wir
durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes dieses Zeugnis annehmen und in ihm ruhen; aber immer bleibt es das Wort
Gottes, das wir glauben, sonst wäre es kein göttlicher und
seligmachender Glaube. Ein Glaube, der nicht einfach auf dem
Wort Gottes ruht, ist ein wertloser, unechter und betrügerischer Glaube. Der wahre Glaube glaubt Gott und ruht in dem,
was Er sagt, weil Er es sagt. Wenn ich etwas von einem Menschen nötig habe, eine Versicherung oder dergleichen, daß Gott
in Wahrheit gesprochen habe, so bin ich gar kein Gläubiger.
Der errettende Glaube, der Glaube eines wahren Christen, ist
gegründet auf das Wort Gottes und auf nichts anderes.
Zum Schluß bitte ich den Leser, die obigen Bemerkungen
mit Aufmerksamkeit zu erwägen. Sie enthalten nichts Neues
oder bisher Unbekanntes, sie sind aber vermögend, ihm einen
Frieden zu geben, den keine List Satans und keine Vernünftelei der Menschen jemals stören kann. Möge Gott Sein teures
Wort an unser aller Herzen segnen!
Gedanken
Wenn mein Herz in Wahrheit Jesum liebt, so werde ich nicht
da einen Platz, ein Teil oder einen Namen suchen, wo Er nur
das Kreuz des Missetäters fand. Die Welt hat sich nicht verändert. Sie mag ihr Kleid gewechselt haben, aber ihre Natur,
ihr Geist und ihre Grundsätze sind dieselben geblieben. Sie
167
haßt Jesum heute noch ebenso glühend wie damals, als die
Rufe ertönten: „Weg mit Ihm!" „Kreuzige Ihn!"
Nichts ist imstande, den Christen von Christo zu trennen,
aber ein einziger sündiger Gedanke unterbricht seine Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn.
Betrachtungen über den Brief an die Römer
von ]. N. Darby
Der Verfasser, von dem der „Botschafter" in den früheren
Jahrgängen manches köstliche Zeugnis in Übersetzung aus
dem Englischen oder Französischen gebracht hat, schrieb diese
Betrachtungen auf besonderen Wunsch in deutscher Sprache.
Da er es nicht gewohnt war, sich in deutscher Sprache auszudrücken, war es nötig, seine Arbeit in sprachlicher Hinsicht
etwas umzugestalten; aber seine Ausdrücksweise wurde möglichst beibehalten.
Es ist dem teuren Verfasser nicht vergönnt gewesen, diese
Betrachtungen über den Römerbrief bis zum letzten Kapitel
durchzuführen. Zunehmende Schwäche und endlich sein Heimgang am 29. April 1882 setzten seiner reich gesegneten Tätigkeit ein Ziel, so daß die Betrachtungen nur bis etwa zur Mitte
des zehnten Kapitels gehen. Die eigentliche Lehre des Briefes
aber ist darin vollständig und ausführlich dargelegt, und so
möge dieses Zeugnis aus der letzten Zeit der rastlosen Wirksamkeit des treuen Dieners des Herrn reich gesegnet sein für
alle, die es lesen!
Bei dieser Gelegenheit teilen wir noch in Übersetzung seinen
letzten Brief mit, den er an seine „geliebten Brüder" im allgemeinen gerichtet hat:
168
Meine geliebten Brüder!
Nachdem ich in Schwachheit Jahre der Gemeinschaft mit
euch verlebt habe, habe ich nur noch so viel körperliche Kraft,
um einige Zeilen zu schreiben, die mehr der Ausdruck der
Liebe sein, als etwas anderes bezwecken sollen.
Ich gebe Zeugnis der Liebe, die ich genossen habe, nicht
allein von seiten des allezeit treuen Herrn, sondern auch von
seiten meiner geliebten Brüder, die sie in all ihrer Geduld
gegen mich bewiesen haben (und wie viel mehr noch hat der
Herr Geduld mit mir gehabt). Mit aufrichtigem Herzen bezeuge ich dies. Doch ich kann sagen: Christus ist mein einziger
Gegenstand gewesen, und, Gott sei Dank! auch meine Gerechtigkeit. Ich bin mir nichts bewußt, das ich zu widerrufen hätte,
ich weiß auch jetzt nur weniges noch hinzuzufügen.
Haltet fest an Ihm! Rechnet auf reiche Gnade in Ihm, die
euch befähigt, Ihn darzustellen in der Kraft der Liebe des
Vaters! Seid wachend und auf Christum wartend!
Ich habe nichts weiter hinzuzufügen als die Versicherung
meiner ungeheuchelten und dankbaren Liebe in Ihm.
J. N. D.
Auch möchte es für viele von Interesse sein, aus einer seiner
früheren Mitteilungen den Entwicklungsgang seiner inneren
Überzeugungen kennenzulernen. Wir lassen die betreffende
Mitteilung deshalb hier folgen:
„Ich mochte etwa sechs oder acht Jahre bekehrt sein, als ich
durch göttliche Belehrung verstehen lernte, was der Herr in
Joh 14 sagt: „An jenem Tage werdet ihr erkennen . . . daß ihr
in mir seid und ich in euch". Ich erkannte, daß ich eins war
mit Christo vor Gott. Ich fand Frieden und habe den seit
jenem Augenblick, trotz vieler Mängel meinerseits, nie verloren. Dieselbe Wahrheit brachte mich aus der Staatskirche
heraus. Ich sah ein, daß die wahre Kirche aus denen besteht,
die so mit Christo vereinigt sind, und ich kann hinzufügen,
daß diese Wahrheit mich dahin leitete, den Sohn Gottes aus
169
den Himmeln zu erwarten. Denn wenn ich in Ihm in die
himmlischen örte r versetzt war, was hatte ich dann anders zu
erwarten, als daß Er kam und mich in Wirklichkeit dorthin
brachte. Die unendliche Liebe Gottes strömte in meine Seele.
Von Anfang an hatte ich die tiefstmögliche Überzeugung von
der Sünde; ich hatte schon früher erkannt und auch seit mehreren Jahren gelehrt, daß Christus allein diesen Abgrund ausfüllen könne, nicht aber, daß Er es bereits getan hat. Ich hatte
die größten Anstrengungen gemacht, hatte gefastet — eine
Sache, die, wie ich glaube, ganz nützlich ist, wenn sie in geistlicher Weise getan wird — hatte mir ein ausgedehntes System
von Selbstverleugnung aufgebaut, hatte die Sakramente häufig
gebraucht und eifrig die Kirche besucht. Aber ich hatte keinen
Frieden gefunden, sondern nur die Entdeckung gemacht, daß
alle diese Dinge dem Herzen keinen wahren Frieden zu geben
vermögen. Ich suchte diesen Frieden eifrig, forschte in mir
nach Beweisen der Wiedergeburt, was nie Frieden geben kann,
und ruhte in Hoffnung, aber nicht im Glauben, in dem Werke
Christi, bis ich, wie schon bemerkt, endlich Frieden fand, nachdem ich durch einen Zufall, wie man zu sagen pflegt, von
meinen äußeren Anstrengungen abgelenkt worden war. Damals erlangte ich durch die Schrift eine tiefe Überzeugung von
der Gegenwart des Heiligen Geistes, des verheißenen Sachwalters. Nicht lange nachher kam ich dahin, diese Wahrheit
auf den Dienst anzuwenden. Ich sagte zu mir selbst: Wenn
Paulus hierher käme, so würde er nicht predigen können, weil
er keine Ordinations-Papiere besäße. Käme aber der bitterste
Gegner seiner Lehre, der sich im Besitz solcher Papiere befände,
so würde er, nach dem System, ein Recht haben zu predigen.
Ich sah ein, daß das ganze System falsch ist. Es stellt den Menschen an die Stelle Gottes"*).
Möge die Saat, die der liebe Heimgegangene während seines
langen, dem Herrn und Seinem Dienst gewidmeten Lebens
durch sein unermüdliches Zeugnis von der göttlichen Wahrheit
ausgestreut hat, reiche Früchte tragen zur Verherrlichung des
Herrn und zum Heil der Seelen!
*) Collected writings of J. N. Darby, B. I. S. SS, 56.
170
Einleitung
Im Brief an die Römer werden die Christen als auf der Erde
wandelnde und lebende Menschen betrachtet, die jedoch das
Leben Christi und den Heiligen Geist besitzen, so daß sie in
Christo sind. Ihre Sünden sind vergeben; sie sind gerechtfertigt durch das Werk Christi. Ihre Pflicht ist: ihre Leiber als
ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer darzustellen, indem sie verwandelt worden sind durch die Erneuerung ihres Sinnes, daß sie prüfen mögen, was der gute und
wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist (Kap. 12,1.2).
Der Brief beginnt mit der Verantwortlichkeit des Menschen,
er beweist, daß alle schuldig sind durch das, was sie getan haben,
und stellt dann den Erfolg des Todes Christi vor in der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigung des Gläubigen.
Hierauf betrachtet er den Zustand des Menschen, in dem er
sich durch die Sünde Adams befindet, und zeigt, wie er von
der Kraft der Sünde befreit wird.
Von dem Ratschluß Gottes ist in diesem Brief nicht die Rede,
es sei denn in 3 oder 4 Versen (im achten Kapitel) und hier
nur, um zu beweisen, daß das Werk Seiner Gnade unveränderlich und, wenn es einmal zugeeignet ist durch die Berufung
der Gnade, es fest und sicher ist, und daß es fortgesetzt wird
bis zur Herrlichkeit. Das Werk Christi ist vollbracht, und die,
welche an Ihn glauben, werden Seinem Bilde gleichförmig sein.
So steht alles sicher. Wenn wir das Leben Christi haben, so
daß wir mit Ihm leiden, dann werden wir auch mit verherrlicht werden. Weiter ist in diesem Brief nichts über den Ratschluß Gottes enthalten. Wollen wir diesen kennenlernen,
dann müssen wir uns zu dem Brief an die Epheser wenden,
während uns der Brief an die Kolosser über das Leben eines
im Glauben auferstandenen Menschen Aufschluß gibt. Im
Brief an die Römer aber finden wir das Werk Gottes in Gnade
zur Rechtfertigung der Gottlosen durch den Tod und die Auferstehung Christi, und ihre Annahme in Christo, indem die
Gläubigen als in Ihm betrachtet werden.
Wie schon oben angedeutet ist, zerfällt die Lehre des Römerbriefes in zwei Teile. Der erste Teil bezieht sich auf die
Sünden. Das Wegtun der Sünden und die Gnade Gottes, die
171
sich darin entfaltet hat, bilden den Gegenstand der Betrachtung bis zum Ende des elften Verses des fünften Kapitels. Von
da ab bis zum Ende des achten Kapitels wird der zweite Teil
behandelt, nämlich die Sünde im Fleisch, unser Zustand, in
dem wir uns durch die Sünde Adams befinden, sowie unsere
Befreiung von diesem Zustand, und der neue Zustand in Christo. Als Anhang folgen dann drei Kapitel, um zu erklären, wie
die Lehre von dem allgemeinen, sündhaften Zustand des Menschen und von der allgemeinen Versöhnung mit Gott durch
den Glauben in Einklang gebracht werden kann mit den besonderen Verheißungen, die den Juden gegeben sind. Den
Schluß bilden Ermahnungen und die Wiederholung von gewissen wichtigen Grundsätzen. Die Auseinandersetzung der
Lehre von der Versöhnung des Menschen mit Gott durch den
Glauben im ersten Teil des Briefes wird eingeleitet durch eine
Vorrede, in der das Evangelium auf die Person Christi gegründet und als die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes dargestellt wird.
So sehen wir denn in diesem Brief, wie Gott uns mit vollkommener Gnade entgegengekommen ist, als wir nach unserer
menschlichen Verantwortlichkeit und nach der Gerechtigkeit
Gottes ganz verloren waren; wie Er aus lauter Gnade uns Errettung und ewiges Leben bereitet hat, als wir von Ihm entfernt waren durch die Sünde, ja, als wir dem Fleische nach in
Feindschaft gegen Ihn waren,
Bevor wir indessen zur näheren Betrachtung der Lehre des
Briefes, der Ordnung und des Inhalts der verschiedenen Teile
übergehen, müssen wir noch einige Worte über die Person des
Apostels sagen. Er war nie in Rom gewesen, war aber, mit
göttlicher Autorität bekleidet, Apostel aller Nationen. Daher
konnte er an die Römer schreiben, obgleich er nicht das Mittel
zu ihrer Bekehrung gewesen war. Einige kannte er wohl, da
sich in Rom, als dem Mittelpunkt der Welt, Personen aus allen
Ländern zusammenfanden. Dies aber gibt dem Brief einen
ganz besonderen Charakter, verschieden von dem Charakter
der meisten anderen Briefe. Es ist mehr ein Traktat, als ein
von dem Apostel an eine von ihm selbst gegründete Versammlung gerichteter Brief. Die persönlichen Verhältnisse fehlen darin, um der bestimmten Lehre Platz zu lassen. Am Ende
172
des Briefes grüßt Paulus wohl viele Bekannte., und im Briefanfang sucht er mit den Christen in Rom eine Herzensverbindung zu schließen; indessen ist sein Apostelamt vor allem die
Grundlage seiner Mitteilungen an die Gläubigen in Rom. Kein
Apostel hat die Versammlung in Rom gegründet. Paulus war
noch nicht dort gewesen, und wenn Petrus später hingekommen ist, um sein Leben aufzuopfern als Zeuge für den Herrn,
so hatte er doch bis dahin mit Rom nichts zu tun gehabt, er
war der Apostel der Beschneidung.
Kapitel 1 und 2
Paulus beginnt den Brief mit einem Hinweis auf sein Amt.
Er war Knecht Jesu Christi, berufener Apostel, abgesondert
zum Evangelium Gottes. Das ist, sozusagen, sein Titel. Er
diente dem Herrn, war dazu berufen und abgesondert, und
zwar in ganz besonderer Weise. Er hatte nicht zu den Begleitern
des Herrn auf der Erde gehört; er kannte Ihn nicht. Im Gegenteil war er der heftigste Feind des Namens Jesu auf der Erde
gewesen. Er wollte diese neue Lehre (den Glauben an Jesum)
aus der Mitte Israels ausrotten und alle ihre Anhänger strafen.
Dazu wurde ihm aber vom Herrn, der sich ihm in Herrlichkeit
offenbarte, der Weg versperrt, und nun wurde diese Herrlichkeit selbst der Ausgangspunkt seiner Tätigkeit. Sie war der
glänzendste Beweis, daß das Werk der Versöhnung vollbracht
war, da Der, Der für die Sünden gelitten hatte, Sich jetzt in
der Herrlichkeit befand; und nicht allein das, sondern die verfolgten Christen wurden von dem Herrn anerkannt, nicht als
Jünger, sondern als vereinigt mit Ihm, dem verherrlichten
Menschen, dem Sohn Gottes im Himmel. So wurde Paulus in
ganz besonderer Weise berufen. Aber er war auch in besonderer Weise abgesondert. Die Offenbarung des Herrn in Herrlichkeit sonderte ihn zunächst von dem Judentum ab; doch
nicht, um jetzt zum Heidentum überzugehen, sondern er wurde,
indem er den Christus in der göttlichen Herrlichkeit als Herrn
anerkannte (Apg 26, 17), „herausgenommen aus dem Volke
und den Nationen", und er wurde von dem verherrlichten
Menschen, dem Herrn der Herrlichkeit, in die Welt gesandt,
um die vollbrachte Erlösung zu verkündigen und alle, die an
Ihn glauben, von der Sünde zu befreien und die Juden vom
173
Joch des Gesetzes. Daher kannte er von nun an niemanden
mehr nach dem Fleische, selbst den Herrn Jesum nicht — d. h.
nicht wie die fleischlichen Juden Ihn hier in der Welt haben
wollten: als Sohn Davids — obgleich er völlig anerkannte, daß
Er als solcher gekommen war und daß Er ein vollkommenes
Anrecht auf diesen Titel hatte. Aber der Herr ist als Sohn
Davids verworfen worden, und jetzt sollte alles lauter Gnade
werden, sowohl für die Juden als auch für die Heiden, da die
Juden jedes Anrecht an die Verheißungen verloren hatten
durch die Verwerfung Dessen, in Dem sie ihre Erfüllung finden sollten. Sicher wird Gott Seine Verheißungen wahr machen,
doch jetzt ist alles aus lauter Gnade, und zwar durch den Auferstandenen, den Paulus in Herrlichkeit gesehen hatte. Diesen
Punkt finden wir in den späteren Kapiteln des Briefes klar
auseinandergelegt.
Zum besseren Verständnis des Briefes mag es gut sein zu
bemerken, daß Paulus, obgleich die Verherrlichung des Herrn
Jesu der Ausgangspunkt und die Grundlage seines Dienstes
war, doch in der Lehre dieses Briefes nicht weiter geht als bis
zur Auferstehung des Herrn. Wohl ist die Stellung des Herrn
in der Herrlichkeit vorausgesetzt, und in den wenigen Versen,
in denen die Reihenfolge des Ratschlusses Gottes vorgestellt
wird, fehlt auch die Herrlichkeit der Kinder Gottes nicht; es
ist ein Teil dieses Ratschlusses, daß die Auserwählten dem
Bilde Seines Sohnes gleichförmig sein sollen. Wenn der Apostel
aber von der Grundlage des Heils spricht, wie man gerechtfertigt und errettet wird, so geht er nicht weiter als bis zur
Auferstehung des Herrn. Denn das, was Christus für uns erworben hat, ist etwas anderes als die Antwort auf die Frage:
wie kann ein Sünder von Gott angenommen werden, und wie
tritt er ein in den Zustand eines Erben Gottes? Im Römerbrief
haben wir eben diesen Zustand des Erben, als in Christo fähig
gemacht, vor Gott zu stehen und mit Christo als Mensch zu
erben, der Gerechtigkeit nach, als neuer, lebendiger, von Gott
angenommener Mensch. Die Herrlichkeit und die Erbschaft
selbst aber werden bloß kurz erwähnt. Sobald Christus als
gestorbener Mensch auferstand, war der Mensch in einen ganz
neuen Zustand gebracht: lebendig gemacht nach der Kraft des
Geistes und der Auferstehung. Das Werk, durch das die Sünde
beseitigt wurde, war vollbracht, unsere Sünden waren getragen
174
und getilgt durch den Tod, Gott war da verherrlicht, wo die
Sünde war; die Kraft dessen, der die Macht des Todes hatte,
war, wie der Tod selbst, zunichte gemacht. Ein neuer, unsterblicher Mensch war vorhanden. Ich spreche hier nicht von der
Person Christi, von dem, was Er Seiner Natur nach war, sondern von der neuen Stellung der Menschen, in welche sie durch
die Auferstehung des Menschen Jesus Christus gebracht sind:
von dem Menschen in seinem neuen Zustande nach den Ratschlüssen Gottes. Wir sehen darin den Beweis, daß das vollbrachte Werk Christi angenommen ist nach der Gerechtigkeit
Gottes, sowie das Muster, wenn auch noch nicht der Herrlichkeit, so doch des Grundzustandes aller Gläubigen in Christo.
Sie befinden sich, sozusagen, jenseits des Todes, der Kraft
Satans, der Sünde, des Gerichts Gottes, weil Gott in Christo
völlig verherrlicht worden ist; sie stehen in der Gunst Gottes
nach der Gerechtigkeit. Das ist die Tragweite der Auferstehung Christi, als Grundlehre dieses Briefes, indem Sein Tod
als Grundlage Seiner Auferstehung und dessen Wertes dargestellt wird: „Christus, der gestorben, ja noch mehr, der auch
auferweckt ist".
So wurde Paulus berufen und abgesondert von allen Menschen, um die frohe Botschaft Gottes, die Botschaft von diesem
Werke Seiner Liebe zu verkündigen. Dieses Evangelium war
schon in den Weissagungen der Propheten in den Heiligen
Schriften verheißen worden. Jetzt aber war die Verkündigung
keine Verheißung mehr. Wohl besitzen wir köstliche Verheißungen für den Weg, den wir durch diese Welt zu gehen
haben; das Evangelium selbst aber ist keine Verheißung. Vielmehr ist es die Erfüllung der Verheißungen Gottes, soweit sie
sich auf die Menschwerdung des Herrn, die Vollbringung Seines Werkes, Seine Auferstehung (1. Petr 1, 11. 12) und (obgleich dieser Gegenstand nicht im Römerbrief betrachtet wird)
auf Seine Verherrlichung beziehen. Es ist hier zu beachten, daß
die „Heiligen Schriften" die Verheißungen Gottes sind, und
die Propheten, durch die sie gegeben wurden, die Propheten
Gottes.
Worin besteht nun diese frohe Botschaft? Sie bezieht sich
auf den Sohn Gottes, auf Jesum Christum, unseren Herrn. Die
Person Christi ist der Hauptgegenstand des Evangeliums; es
175
verkündigt, daß Er in die Welt gekommen ist. Doch haben wir
hier zweierlei. Erstens, die Verheißungen sind erfüllt, indem Er
Sohn Davids ist dem Fleische nach; zweitens, Er wurde als
Sohn Gottes in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach
durch Toten-Auferstehung. Das sind die zwei großen vollendeten Tatsachen, die für den Menschen den Wert des Kommens des Herrn in diese Welt ausmachen. Die Verheißungen
sind erfüllt worden: der Sohn Davids war da. Die Juden wollten Ihn nicht annehmen und haben dadurch den Erfolg der
Verheißungen verloren; die Verheißungen selbst aber sind
erfüllt worden, insofern der Herr gekommen ist. Dann aber ist
die Kraft Gottes geoffenbart worden, indem der Herr, nachdem Er Sich dem Tode unterworfen hatte, durch Auferstehung
als Sohn Gottes erwiesen worden ist. Obwohl in Seiner Auferstehung der stärkste Beweis von der Kraft Gottes gegeben
worden ist, sehen wir doch schon in der Auferstehung des
Lazarus einen Beweis dieser göttlichen Kraft, sowie auch später
in der Auferstehung aller Heiligen. „Diese Krankheit ist nicht
zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf daß
der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde" (Joh 12, 4). Er
war und ist die Auferstehung und das Leben. Die Auferstehungskraft ist der Beweis, daß Er Sohn Gottes ist. Dies ist
nicht eine Erfüllung der Verheißungen, sondern die Kraft Gottes, da, wo der Tod als Folge der Sünde eingetreten war.
Hinsichtlich des Ausdrucks: „dem Geiste der Heiligkeit
nach", bemerke ich, daß der Heilige Geist, sozusagen, die wirkende Kraft ist in der Auferstehung, wie in allem, was von
Gott erschaffen oder getan ist. So sagt Petrus in bezug auf die
Auferstehung des Herrn: „getötet nach dem Fleische, aber
lebendig gemacht nach dem Geiste" (1. Petr 3, 18); und von
den Gläubigen wird gesagt: „Wenn aber der Geist dessen, der
Jesum aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird
er, der Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure
sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes" (Röm 8, 11). Warum aber heißt es: „dem
Geiste der Heiligkeit nach?" Weil der Heilige Geist gleichsam
die wirkende Kraft Gottes ist, um alles Ihm Wohlgefällige in
der Menschheit hervorzubringen. Diese Kraft ist natürlich
immer in Gott; durch sie hat Er die Welt erschaffen, durch sie
176
hat er in den Werkzeugen des Alten Testaments und in den
Propheten gewirkt. Jetzt aber war Er in der Menschheit (dem
Leben) Christi und in der Hervorbringung der neuen Gestalt
der Menschheit wirksam gewesen nach dieser göttlichen Kraft.
Die Propheten redeten, was ihnen gegeben war, und damit war
die göttliche Eingebung zu Ende; auch war das, was sie redeten, nicht für sie. Johannes der Täufer war erfüllt mit dem
Heiligen Geiste von Mutterleibe an. Aber Christus war, Seiner
Menschheit nach, vom Heiligen Geiste geboren; Sein Leben,
obgleich in allen Stücken menschlich, war der Ausdruck der
Kraft des Heiligen Geistes. Er trieb die Dämonen aus durch
den Heiligen Geist, Seine Worte waren Geist und Leben. Die
Fülle der Gottheit wohnte in Ihm leibhaftig. Seine Menschheit
aber war der Ausdruck des Göttlichen durch den Heiligen
Geist, in Liebe, in Kraft und besonders in Heiligkeit. Er war
der Heilige Gottes. Durch den ewigen Geist hat Er Sich ohne
Flecken Gott geopfert. In allem diente Er Seinem Vater; Sein
Dienst aber war die vollkommene Darstellung des Göttlichen,
des Vaters Selbst, inmitten der Menschen, und zwar indem Er,
Seiner Menschheit nach, in jedem Augenblick, durch den Geist,
der Gottheit entsprach und ihr Abglanz und Ausdruck war,
ohne Fehler und ohne Makel. Alle Opfer im Alten Testament
sind Vorbilder von Christo; aber in dieser Beziehung ist das
Speisopfer das entsprechende, treffende Vorbild: ungesäuertes
Semmelmehl, mit ö l vermengt, mit ö l gesalbt, in Stücke zerteilt und ö l daraufgegossen. Welch ein treffendes Vorbild von
der Menschheit Christi, die ihrer Beschaffenheit nach vom
Geiste und mit dem Geiste gesalbt war, von der jedes Stück
charakterisiert war durch den ausgegossenen Geist und in
welcher der ganze Weihrauch Seiner Gnaden Gott geopfert
war, als ein duftender Wohlgeruch! So sollte Er durch das
Feuer geprüft werden, im Tode, um zu beweisen, daß alles
lieblicher Geruch war und nichts anderes. Endlich erwies sich
die größte und vollendete Kraft des Heiligen Geistes in der
Auferstehung des Herrn. Getötet nach dem Fleische, ist Er
durch den Geist auferweckt worden. Der Geist, der in göttlicher Kraft in Seiner Geburt und in Seinem ganzen Leben
wirksam war, durch den Er Sich am Ende Selbst Gott opferte,
hat Seine ganze Kraft erwiesen im Lebendigmachen des gestorbenen Jesus. Wohl ist es wahr, daß Er auferstanden ist aus
177
den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters; auch, daß Er
Seinen Leib, den Tempel Gottes, Selbst aufgerichtet hat (Joh 2,
19); der Heilige Geist aber ist es, der unmittelbar wirksam
gewesen ist in Seiner Auferstehung (1. Petr 3, 18). Auch der
Leib des Auferstandenen ist ein geistiger Leib.
So war der Mensch durch die Auferstehung, in der Person
Christi, in einen ganz neuen Zustand gebracht: jenseits des
Todes, der Sünde, des Gerichts und der Kraft Satans, und so
war Christus als Sohn Gottes erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Auferstehung. Dieser Geist war die Kraft der
Heiligkeit Sein Lebenlang (denn „durch den ewigen Geist hat
er sich selbst ohne Flecken Gott geopfert"), und diesem Geiste
nach ist Er als Sohn Gottes erwiesen und durch Ihn Selbst auf
Erden gerechtfertigt worden. Als alles vollbracht war für die
Herrlichkeit Gottes durch einen Menschen, der Gottes Sohn
war, und dieser als Mensch Seinen vollkommenen Gehorsam
und Seine Liebe zu Seinem Vater an den Tag gelegt hatte, ist
der Mensch nach dem Wert dieses vollbrachten Werkes und
nach der lebendigmachenden Kraft des Heiligen Geistes in eine
ganz neue Stellung eingetreten, in der Person des Sohnes Gottes, so daß wir durch den Glauben angenommen und Söhne
sind. Christus, der als Sohn Davids die Erfüllung der alten
Verheißungen war, aber auf Erden verworfen wurde, trat,
nachdem Er das Ihm vom Vater anvertraute Werk vollendet
hatte, jenseits des Todes, den Er als die Frucht der Sünde erduldete, als Auferstandener in die Stellung des zweiten Menschen, des letzten Adam ein.
So finden wir hier in der Person Christi die zwei Hauptpunkte der Wege Gottes dargestellt: die Erfüllung der Verheißung (obgleich die Juden durch Seine Verwerfung jedes
Anrecht daran verloren haben) und die Offenbarung des Sohnes Gottes, als solcher erwiesen nach der lebendigmachenden
Kraft des Heiligen Geistes in einem auferstandenen Menschen.
Die Kraft Gottes ist also erwiesen, nicht in der Erfüllung einer
Verheißung, sondern in dem gegenwärtigen Leben und der
Stellung des zweiten Menschen, in Verbindung mit einer vollbrachten Erlösung. Hier aber ist die göttliche Macht des Lebens
und die durch die Auferstehung hervorgebrachte neue Stellung
besonders in Verbindung gebracht mit dem Verhältnis des in
178
diese Stellung versetzten Menschen zu Gott, jedoch in der Person des Herrn Selbst, in Macht.
Wie köstlich ist der Gedanke, daß der ewige Sohn Gottes,
Mensch geworden, diese neue Stellung, von der wir gesprochen
haben, eingenommen hat, und zwar als Muster und Erstgeborener unter vielen Brüdern, die Ihm völlig gleich sein werden, nach der Lebenskraft des Heiligen Geistes und in der
Herrlichkeit selbst! „Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch
die, welche geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher
Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen"
(Hebr 2, 11). Von der Herrlichkeit ist hier wohl nicht die Rede,
aber der Herr konnte nach Seiner Auferstehung, als alles vollbracht war, (vorher nicht) sagen: „Gehe aber hin zu meinen
Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater
und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott" (Joh
20, 17).
Der Gegenstand des Evangeliums, wozu Paulus abgesondert
war, ist also Jesus Christus, unser Herr, als Sohn Davids zur
Erfüllung der Verheißungen, und als Sohn Gottes in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit nach durch Totenauferstehung. Wohl redet der Apostel in diesem Brief von der Gerechtigkeit und setzt alles klar und völlig auseinander; der hauptsächliche Gegenstand aber, den er vor seinen Augen hat, ist
die Person Christi Selbst und was Er ist, als Erfüllung der
Verheißungen und als Gottes Sohn in Kraft und in Auferstehung, das, was der Heilige Geist darstellt als den Gegenstand
Gottes selbst im Evangelium. Von Ihm, als dem schon Verherrlichten, hatte Paulus Gnade und Apostelamt empfangen,
um einen jeden unter allen Nationen zum Glaubensgehorsam
zu bringen in Seinem Namen. Unter diesen befanden sich auch
die Römer. Er schreibt ihnen nicht als Versammlung, wie er es
gewöhnlich tat, wenn er an eine von ihm gegründete Versammlung schrieb, sondern er richtet seinen Brief an alle Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, die in Rom sind. Als Apostel der Nationen kann er allen schreiben mit der Autorität
Christi.
Er wünscht in seinen Briefen immer Gnade und Friede von
dem Vater und von dem Herrn Jesu Christo. Wir beachten
diese Namen oft zu wenig. In dem einen finden wir Gott Selbst
179
als Vater, gekannt als solcher in Gnade; in dem anderen den
verherrlichten Menschen, den Sohn Gottes, Der eingesetzt ist
(und zwar amtlich) in den Vorsitz des Hauses und Volkes
Gottes. Mit dem einen stehen die Kinder in Verbindung, mit
dem anderen die Diener.
Der Apostel hätte die Christen in Rom gern früher gesehen,
war daran aber von Satan verhindert worden; denn das Werk
des Herrn wird immer betrieben in Gegenwart des Feindes,
der seinen Fortschritt zu hemmen sucht, sei es durch Verfolgungen, oder dadurch, daß er in den Versammlungen Übel
erweckt, mit denen der Arbeiter sich beschäftigen muß, sei es
durch Ketzereien, die die Zeit des Arbeiters in Anspruch nehmen, oder sei es durch allerlei andere Listen. Es ist wichtig für
den Arbeiter, dies zu beachten; er lernt dadurch seine Abhängigkeit kennen und verstehen, daß die Kraft und Wirksamkeit des Herrn durchaus notwendig sind. Deshalb flehte
Paulus allezeit in seinen Gebeten, indem er Gott dankte für
den Glauben der Römer, von dem in der ganzen Welt gesprochen wurde, daß Gott ihm einen Weg zu ihnen öffnen
möchte. Er verlangte, zu ihnen zu kommen, um ihnen zu ihrer
Befestigung etwas geistliche Gabe mitzuteilen, zugleich aber
nimmt er in Liebe seinen Platz unter ihnen, indem er sagt:
„das ist aber, mit euch getröstet zu werden in eurer Mitte, ein
jeder durch den Glauben, der in dem anderen ist, sowohl
euren als meinen". Er war Apostel und sollte in Liebe handeln;
so ließ er sich denn als Apostel herab zu den Schwächsten, um
sie zu dem göttlichen Vertrauen emporzuheben. Oft hatte er
vorgehabt, zu ihnen zu kommen, um auch unter ihnen einige
Frucht zu haben. Er war schuldig, die Gnade Gottes allen Nationen zu bringen; ebenso war er bereitwillig, so weit es von
ihm abhing, auch denen, die in Rom waren, das Evangelium
zu predigen. Wie oft ist er besorgt, sich passend auszudrücken!
Griechen konnte er sie nicht nennen, Barbaren auch nicht wohl,
denn das würde für die Bewohner des kaiserlichen Rom eine
Beleidigung gewesen sein. So denkt er an alles, um allen nützlich zu sein.
Dies führt den Apostel zu der Lehre des Briefes. Er war
bereit, denen in Rom zu predigen, weil er sich des Evangeliums
nicht schämte, „denn", sagt er, „es ist Gottes Kraft zum Heil
180
jedem Glaubenden". Kraft der Menschen ist es nicht, dies
erklärt er nachher noch deutlicher und ausführlicher, selbst
nicht zur Erwerbung der menschlichen Gerechtigkeit. Es ist ein
dem Menschen gebrachtes Heil, ein heiliges, ein gerechtes Heil,
aber ein Heil von Gott, durch Gottes Kraft, und zwar deshalb,
weil die Gerechtigkeit Gottes darin geoffenbart ist, im Gegensatz zu der menschlichen Gerechtigkeit. Es ist die Gerechtigkeit
Gottes Selbst, deren wir teilhaftig werden durch den Glauben:
Seine Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Glaubens. Alles ist
da schon vollkommen, ehe wir noch daran glauben; wir bekommen durch den Glauben Teil daran. Diese Gerechtigkeit ist
nicht durch Menschenwerke, nicht durch das Gesetz, denn
sonst wäre sie nur für die Juden, weil diese allein das Gesetz
hatten. Sie ist vielmehr gültig für alle Menschen, weil sie durch
den Glauben ist, und so haben auch die Nationen, wenn sie
glauben, Teil daran.
Es wird vielleicht von Nutzen sein, einige Worte über die
Bedeutung des Ausdrucks: „Gerechtigkeit Gottes" zu sagen.
Obwohl er ganz einfach ist, herrscht doch über ihn viel Mißverständnis. In der lutherischen Übersetzung ist stattdessen
gesagt: „Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt". Nun ist aber die
menschliche Gerechtigkeit nach dem Gesetz gültig vor Gott. Er
findet eine solche zwar nirgends, aber sie „gilt" vor Gott. Sie
ist jedoch nicht die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie auch noch so
vollkommen wäre. In Joh 16, 10 sehen wir, worin die Gerechtigkeit Gottes sich erwiesen hat, nämlich darin, daß Gott Christum zu Seiner Rechten gesetzt hat, in Seine eigene Herrlichkeit, weil Christus Ihn vollkommen verherrlicht hat. Darin
besteht die Gerechtigkeit, daß der Vater den Menschen Christus in Seine eigene Herrlichkeit erhoben hat, in die Herrlichkeit, die Er bei Ihm hatte, ehe die Welt war. Und Gott, als
gerechter Gott, hat Ihn verherrlicht, weil Er in Christo auf dem
Kreuze verherrlicht worden ist (Joh 17, 5; 13, 31. 32). In der
oben angeführten Stelle (Joh 16, 10) sagt der Herr: Der Geist
wird „die Welt überführen von Gerechtigkeit, weil ich zu meinem Vater gehe und ihr mich nicht mehr sehet". Die Welt hat
Ihn, als gekommen in Gnade, für immer verloren, indem sie
Ihn verworfen hat; aber Gott hat Ihn aufgenommen und verherrlicht. Wenn der Herr in Joh 17, 25 von der Welt redet, so
sagt Er: „Gerechter Vater", in seiner Fürbitte für die Seinen
181
(V. 11) dagegen: „Heiliger Vater". So liegt also der Beweis von
der Gerechtigkeit Gottes darin, daß Er Christum verherrlicht
hat. Als Gott in Christo in der Welt war, mußte die Welt Ihn
annehmen oder verwerfen. Sie hat Ihn verworfen und ist dadurch gerichtet; sie wird Ihn auch nicht mehr sehen, bis Er
kommt in Gericht. Christus aber hat als Mensch Gott vollkommen verherrlicht in allem, was Er ist, und Gott hat Ihn
nach Seiner Gerechtigkeit verherrlicht. Das Evangelium nun
verkündigt diese Gerechtigkeit Gottes, nämlich daß Christus
in dem, was Er für uns getan hat, Gott verherrlicht hat und
daher als Mensch verherrlicht ist und, mit göttlicher Herrlichkeit bekleidet, zur Rechten Gottes sitzt, und ferner, daß unsere
Stellung vor Gott die Folge ist von dem, was Christus getan
hat. Unsere Rechtfertigung und Verherrlichung ist ein Teil der
Gerechtigkeit Gottes, weil das, was Christus getan hat, um
Gott zu verherrlichen, für uns getan worden ist. Wir sind die
Gerechtigkeit Gottes in Ihm (2. Kor 5, 21). Christus würde die
Frucht Seines Werkes verlieren, wenn wir nicht bei Ihm in der
Herrlichkeit sein würden, als die Frucht der Mühsal Seiner
Seele, nachdem Er alles, was in Gott ist, verherrlicht hat, obwohl wir in uns selbst durchaus unwürdig sind.
Der Apostel erklärt dann, warum eine solche Gerechtigkeit,
die Gerechtigkeit Gottes Selbst, nötig war, wenn ein Mensch
errettet werden sollte. Menschliche Gerechtigkeit war auf der
Erde nicht zu finden, und doch war Gerechtigkeit nötig. Da es
nun aber Gottes Gerechtigkeit ist, und zwar nicht durch unsere
Werke, so muß sie uns durch den Glauben zugerechnet werden, auf dem Grundsatz des Glaubens; denn wenn die Werke
des Menschen etwas dazu beitrügen, so wäre es nicht Gottes
Gerechtigkeit. Wenn aber der Mensch durch den Glauben dieser
Gerechtigkeit teilhaftig wird, so hatten die Gläubigen aus den
Nationen ebensowohl Teil daran, wie die Juden.
So sehen wir denn als zweiten Hauptgegenstand des Briefes,
nachdem der erste, die Person Christi, in den Vordergrund gestellt ist, die Gerechtigkeit Gottes, dargestellt auf dem Grundsatz des Glaubens, so daß sie für alle ist und durch den Glauben angenommen und also der Seele zugeeignet wird. Was
diese Gerechtigkeit nötig machte, ist die allgemeine Sündhaftigkeit des Menschen, indem der Zorn Gottes geoffenbart
182
worden ist über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der
Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen.
Hinsichtlich der Heiden gibt der Apostel zwei Beweggründe
des Zornes an: 1) das Zeugnis der Schöpfung (V. 19. 20) und
2) daß sie Gott nicht in Erkenntnis festhalten wollten, als sie
Ihn kannten, sondern die Abgötterei vorzogen (V. 21—24). Die
unsichtbaren Dinge von Ihm werden geschaut, nämlich Seine
ewige Kraft und Göttlichkeit, von der Schöpfung der Welt an
in dem Gemachten wahrgenommen, so daß das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist — also daß sie keine Entschuldigung haben. Das will nicht sagen, daß sie Gott Seiner
Natur nach kennen, sondern daß sie Ihn als Schöpfer hätten
kennen sollen. Wenn man nicht blind ist, sieht man einen
Schöpfer in der Schöpfung.
Aber Gott hatte sich nicht allein als Schöpfer geoffenbart.
Noah kannte Ihn nicht nur als solchen, sondern auch als einen
Gott, mit Dem der Mensch als ein verantwortliches Wesen es
zu tun hatte, als einen Gott, der die Welt für ihre Bosheit gerichtet hatte, der achtgab auf das Tun der Menschen, und der
die Ungerechtigkeit und Gewalttat nicht wollte. Beim Turmbau
zu Babel hatten sie Ihn als einen Gott kennengelernt, Der sie
zerstreut hatte, weil sie in ihrer eigenen Weisheit unabhängig
und in ihrer eigenen Kraft mächtig werden wollten. Als einen
solchen Gott aber wollten die Heiden Ihn nicht in Erkenntnis
haben oder Ihn anerkennen; sie machten sich selbst Götter, so
wie der Mensch sie machen konnte: Götter, die ihre Leidenschaften begünstigten. Und statt den wahrhaftigen Gott zu
verherrlichen oder Ihm dankbar zu sein, verfielen sie in die
Finsternis ihrer eigenen Herzen; „indem sie sich für Weise
ausgaben, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis
eines Bildes von einem verweslichen Menschen und von Vögeln
und vierfüßigen und kriechenden Tieren". Und weil sie die
Herrlichkeit Gottes nicht aufrechterhalten wollten, sondern sie
nach ihren Gelüsten aufgaben, hat Gott sie diesen Gelüsten
preisgegeben; Er hat sie dahingegeben zu schändlichen Leidenschaften, worin sie das, was der Ehrbarkeit der Menschheit
geziemte, verlassen haben. Und nicht nur haben sie, erfüllt mit
aller Gottlosigkeit und geleitet durch ihre Leidenschaften,
selbst solches getan, sondern haben auch in kalter Bosheit ihr
183
Wohlgefallen an denen gefunden, die es taten. Wohl gab es
einige., die diese schändlichen Wege richteten (Kap. 2, 1); sie
taten aber dasselbe und deshalb verurteilten sie sich selbst und
fielen dem gerechten Gericht Gottes anheim, indem sie auch
den Reichtum Seiner Güte und Geduld verachteten und nicht
wahrnahmen, daß diese Güte sie zur Buße leitete. Anstatt dieser Leitung zu folgen, häuften sie sich selbst mit störrigem und
unbußfertigem Herzen Zorn auf am Tage des Zorns.
Der Apostel kommt jetzt zu einem wichtigen Grundsatz, der
zwar einfach ist, aber ein helles Licht über die ganze Sache
verbreitet: nachdem Gott jetzt geoffenbart ist, handelt Er nach
dem Tun der Menschen. Am Tage des Gerichts wird Er jedem
nach seinen Werken vergelten, sei er Jude oder Grieche; denn
es ist kein Ansehen der Person bei Gott. Wohl hat Er, zur
Prüfung des Menschen und zur Erhaltung der Wahrheit, daß
nur ein Gott ist, Sich ein Volk auserwählt und nahe an Sich
gebracht; aber im Grunde gab es keinen Unterschied unter den
Menschen. Alle waren ihrer Natur nach Sünder, und alle hatten gesündigt. Wir sehen auch, daß Gott Seinem Volke gegenüber, obgleich Er ihm ein Gesetz gegeben hatte, immer hinter
dem Vorhang blieb, ohne Sich zu offenbaren. Jetzt aber ist der
Vorhang zerrissen, und der Mensch, zuerst der Jude und dann
der Grieche, muß vor Ihm offenbar werden, ein jeder nach
dem, was er in seinem Wandel und was er in Wirklichkeit
seinem moralischen Zustand gemäß ist; und hierbei kommt es
nicht in Betracht, ob er seiner Stellung nach Jude oder Grieche
ist. Gott berücksichtigt, Seiner Gerechtigkeit nach, nur das
Licht, das einer besitzt. Wenn der Apostel von denen spricht,
die Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, so
setzt er dabei das Christentum voraus; denn die Kenntnis
jener Dinge hängt von einer Offenbarung ab. Die also dies mit
Ausharren in guten Werken suchen, denen wird Gott ewiges
Leben vergelten, ohne einen Unterschied zwischen Juden und
Griechen zu machen. Gott will die Wirklichkeit des göttlichen
Lebens, nicht die Form einer Einrichtung. Die, welche der
Wahrheit ungehorsam, der Ungerechtigkeit aber gehorsam
sind, haben Grimm und Zorn zu erwarten. „Drangsal und
Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt,
sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; Herrlichkeit
aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl
184
dem Juden zuerst als auch dem Griechen". Alle werden gerichtet werden, ein jeder nach seinen Werken, ohne Ansehen der
Person, jeder aber nach dem Licht, das er besessen hat. „So
viele ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz
verlorengehen; und so viele unter Gesetz gesündigt haben,
werden durch Gesetz gerichtet werden .. . an dem Tage, da
Gott das Verborgene der Menschen richten wird . . . durch
Jesum Christum". Denn nicht die Hörer des Gesetzes, sondern
die Tater des Gesetzes werden gerechtfertigt. Wenn einer aus
den Nationen das tut, was das Gesetz fordert, so wird er angenommen und hat den Vorzug vor dem, der das Gesetz besitzt und es nicht beobachtet. Es handelt sich, wie gesagt, nachdem Gott geoffenbart ist, nicht mehr um äußere Verhältnisse,
nach welchen die einen „nahe", die anderen „ferne" sind, sondern um das, was gerecht ist in den Augen Gottes. In Wirklichkeit tat einer aus den Nationen, der nach dem Geist wandelte in der Liebe, das was das Gesetz forderte; während der
Jude, der das Gesetz hatte und in der Sünde wandelte, nicht
von Gott angenommen werden konnte. Es handelt sich jetzt
nicht mehr um äußere Verhältnisse zu Gott, um Seine Verwaltung der Welt und die Regierung Gottes auf der Erde, sondern
um den Zustand der Seele vor Gott und um den Tag des Gerichts, wo das Verborgene des Herzens ans Licht gebracht und
der Mensch nach seinen Werken gerichtet werden wird.
Nachdem der Apostel diese großen und wichtigen Grundsätze klar hingestellt hat, geht er dazu über, den wirklichen
Zustand der Juden zu beschreiben, wie er dies im ersten Kapitel in bezug auf die Nationen getan hat. Die Juden rühmten
sich des Gesetzes und der Vorrechte, die sie besaßen; sie kannten den Willen Gottes und waren fähig, die Unwissenden zu
belehren, ja sie rühmten sich sogar Gottes. Aber belehrten sie
sich auch selbst? Im Gegenteil, sie taten alles, was sie andere
mit Weisheit lehrten, nicht zu tun. Sie entehrten Gott, weil sie
Seinen Namen trugen. Durch sie wurde der eine wahre Gott
unter den Heiden gelästert, wie geschrieben stand. Sie besaßen
Vorrechte; wenn aber das Gesetz, mit dem diese Vorrechte
verbunden waren, gebrochen wurde, dann wurde ihre Beschneidung zur Vorhaut. Und die Nationen, wenn sie das Gesetz
beobachteten, verurteilten die, welche, Buchstaben und Beschneidung besitzend, das Gesetz übertraten. Denn nicht der
185
war ein wahrhaftiger Jude, der es äußerlich war, sondern der,
dessen Herz beschnitten, der ein Jude war im Herzen und im
Geiste, nicht im Buchstaben, dessen Lob nicht von Menschen,
sondern von Gott ist.
Kapitel 3
Der Apostel beginnt jetzt die Juden auf ihrem eigenen Boden
anzugreifen. Ihr Vorzug war groß, der Nutzen der Beschneidung war „viel, in jeder Hinsicht", besonders deshalb, weil
ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut waren. Der Apostel
glaubte dies wirklich und mit Recht. Es handelt sich in dieser
Hinsicht nicht darum, ob sie alle persönlich bekehrt waren; sie
genossen die Vorrechte des Volkes Gottes, die sonst nirgends
gefunden wurden, und wenn sie untreu waren, konnte ihre
Untreue doch die Treue Gottes nicht aufheben. (Ebenso verhält
es sich jetzt mit der bekennenden Christenheit). Die Verheißungen Gottes werden durch Seine Treue dem Volke Israel
erfüllt werden, obwohl es alles Anrecht darauf verloren hat.
Doch davon redet der Apostel erst später (in Kapitel 11).
Aber, könnte man sagen, dann läßt ja die Untreue des Menschen die unfehlbare Treue Gottes nur um so glänzender hervortreten! Und hebt nicht diese Tatsache, daß die Untreue des
Menschen die Treue Gottes in noch hellerem Lichte erscheinen
läßt, das Recht Gottes, den Menschen zu richten, auf? Keineswegs; denn nach diesem Grundsatz könnte Er niemanden richten, weil auch die Bosheit der Nationen Seine Treue in ein
klareres Licht stellt. Die Juden sind ebenso verantwortlich für
ihre Untreue wie die anderen; und daß diese gerichtet werden
würden, bezweifelte der Jude nicht. Trotz ihrer Vorrechte sind
also auch die Juden dem Gericht Gottes verfallen.
Der Apostel läßt sich nicht herab, eine Antwort zu geben
auf die boshafte Äußerung etlicher: „Laßt uns das Böse tun,
auf daß das Gute komme!" und sagt bloß: „deren Gericht gerecht ist". Die Christen wurden nämlich von der Welt angeklagt, als ob sie so sprächen. Die Gnade ist immer ein Gegenstand der Anklage, so lange die Seele nicht von der Sünde
überführt ist; sobald aber das Gewissen zum Bewußtsein der
Sünde kommt, wird die Gnade ein Gegenstand herzlicher
Dankbarkeit.
186
Wenn nun der Jude solche Vorrechte hatte, war er dann
nicht besser als die aus den Nationen? Keineswegs. Der Apostel hatte schon bewiesen, daß beide, der Jude wie der Heide,
der Sünde überführt waren. Und jetzt führt er eine ganze Anzahl von Stellen an, um zu beweisen, daß die Juden in ihren
eigenen Schriften als solche betrachtet werden, die unter der
Sündenschuld und unter der Kraft der Sünde stehen. Hinsichtlich der Heiden konnte hierüber kein Zweifel sein; sie waren
ganz von Gott entfernt, waren in Abgötterei und Götzendienst
versunken, beteten die Götzen an und lebten in Gesetzlosigkeit. Der Jude dachte von sich aber ganz anders. Er war nahe
gebracht und aller Vorrechte teilhaftig geworden. Der Apostel
selbst hatte es als das größte Vorrecht der Juden anerkannt,
daß ihnen das Wort Gottes, die Aussprüche Gottes, anvertraut
seien. Was aber sagten nun diese Aussprüche, die sich auf die
Juden bezogen, und deren sie sich rühmten, als ihnen allein
gehörig? Sie sagten: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer".
Eine ganze Reihe von Stellen aus den Psalmen und aus Jesajas,
die der Apostel anführt, beweist den in allen Beziehungen
durchaus sündhaften Zustand derer, von denen die Rede ist.
Und daß von den Juden die Rede ist, müssen diese nach ihrem
allgemeinen Grundsatz selber zugeben, denn: „wir wissen
aber, daß alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter
dem Gesetz sind". So ist denn jeder Mund verstopft und die
ganze Welt schuldig vor Gott. Die Nationen sind ganz ohne
Gott; die Juden aber sind von dem Worte Gottes selbst, dessen
sie sich rühmen, verurteilt. Durch Gesetzes werke also kann kein
Fleisch vor dem Angesicht Gottes gerechtfertigt werden, „denn
durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde". Das Gesetz, das
man als Regel der Gerechtigkeit annahm, bewies, daß der
Mensch ein Sünder war; es überführte und verdammte ihn,
und zwar ausdrücklich in seinem Gewissen, und brachte zugleich das Bewußtsein hervor, daß die Sünde in ihm sei.
Nachdem der Apostel auf diese Weise bewiesen hat, daß
alle Menschen sündhaft sind, kommt er wieder auf das zurück,
was er schon in Vers 17 von Kapitel 1 als Grundsatz des Evangeliums hingestellt hat, nämlich die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Alles, was von Vers 18 des ersten bis Vers 21
des dritten Kapitels gesagt ist, bildet einen Zwischensatz, um
zu beweisen, daß eine Gerechtigkeit Gottes notwendig ist, weil
187
es in der Menschheit keine Gerechtigkeit gibt. Nachdem dies
geschehen ist, geht der Apostel auf diese Gerechtigkeit Gottes
und ihre Anwendung auf die Menschen näher ein. Diese Gerechtigkeit steht nicht in Beziehung zum Gesetz, das nur die
vollkommene Richtschnur für die Menschen war. Gott kann
aber Seine Gerechtigkeit nicht nach dem Maßstabe der menschlichen Gerechtigkeit oder ihrer Verantwortlichkeit messen.
Nach diesem Maßstab richtet Er die Menschen, die das Gesetz
gehabt haben. Seine Gerechtigkeit muß nach Seiner eigenen
Natur gemessen werden, und Seine Natur offenbart sich in
dem, was Er tut. Er muß Sich Selbst verherrlichen, das ist
offenbaren; denn bei Gott ist Seine Offenbarung auch Seine
Verherrlichung. Wenn Er richtet, so richtet Er die Menschen
nach ihrer menschlichen Verantwortlichkeit; wenn Er tätig ist,
so ist Er es nach Seiner eigenen Natur. Das Gesetz weiß nichts
von dieser Natur. Es sagt, daß wir Gott lieben sollen; aber was
ist Er? Das Gesetz ist dem Menschen und seinem Verhältnis
zu Gott angepaßt. Die Gerechtigkeit Gottes steht ganz und
gar außerhalb der Frage des Gesetzes, selbst jedes Gesetzes,
was für ein Gesetz es auch sein möge; es sei denn, daß die
Natur Gottes Selbst als solches angesehen wird. Er ist ein
Gesetz für Sich Selbst, vollkommen in Seiner Natur. Seine
Gerechtigkeit ist jetzt erwiesen in dem, was Er getan hat hinsichtlich der Person Christi, indem Er Ihn infolge Seines vollbrachten Werkes zu Seiner Rechten gesetzt hat. Das Gesetz
und die Propheten haben Zeugnis davon gegeben. Die Gerechtigkeit Gottes Selbst ist ausgeübt worden in der Annahme und
Verherrlichung Christi um Seines Werkes willen. Und an dieser Annahme haben auch wir teil durch den Glauben, weil Er
dieses Werk für uns getan hat. Eben weil es die Gerechtigkeit
Gottes ist, gegründet auf das Werk Christi, indem Er für alle
gestorben ist, bezieht sie sich auf die ganze Welt und auf alle
Menschen: alle, die an Christum glauben, ob Juden oder Heiden, haben teil daran und auch teil an allen Vorrechten, welche
die Folge davon sind. Wäre es menschliche Gerechtigkeit, so
müßte sie nach dem Gesetz sein, und wäre sie nach dem Gesetz, so würden nur die Juden teil daran haben, weil nur sie
das Gesetz hatten. Da es aber die Gerechtigkeit Gottes ist, so
ist sie für alle geoffenbart, und die Gerechtigkeit ist allen, die
da glauben, zugerechnet. So ist also die Gerechtigkeit Gottes
188
durch den Glauben an Christum Jesum für alle Sünder geoffenbart; sie ruht auf allen, die an Ihn glauben. „Denn es ist
kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen
nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo
Jesu ist".
Alle Menschen befinden sich also von Natur in demselben
Zustande, weil sie alle gleich sind in der Sünde; ebenso aber
ist auch die Gnade gleich für alle, weil die Gerechtigkeit Gottes
Gerechtigkeit und für alle Gläubige dieselbe ist, und infolgedessen stehen alle Gläubige, in dieser Gerechtigkeit angenommen, auf demselben Boden vor Gott. Gott hat Jesum Christum
öffentlich dargestellt als Gnadenstuhl durch den Glauben an
Sein Blut, und hat dadurch Seine Gerechtigkeit erwiesen in
betreff der Sünden der Heiligen des Alten Testaments, die Er
in Seiner Nachsicht hatte hingehen lassen. Jetzt aber ist Seine
Gerechtigkeit in diesem Hingehenlassen erwiesen, indem Christus für sie gestorben ist; auf Grund dieses Versöhnungstodes,
den Gott vor Seinen Augen hatte, konnte Er jene Sünden hingehen lassen. Ferner ist die Gerechtigkeit auch in der jetzigen
Zeit geoffenbart; sie erklärt nicht nur die früheren Wege Gottes, sondern ist auch für die gegenwärtige Zeit eine Offenbarung des Grundes der Rechtfertigung der Gläubigen durch
ein vollbrachtes Werk; sie ist deshalb eine gegenwärtige, verwirklicht in der Rechtfertigung aller Gläubigen nach der Gerechtigkeit des gerechten Gottes. Gott ist gerecht und rechtfertigt um des Werkes Christi willen; ja, Er erweist Seine Gerechtigkeit, indem Er dies tut. Nicht als ob wir dessen würdig
wären, sondern Gott erkennt den Wert des Werkes Christi an,
indem Er uns rechtfertigt. Also ist die Rechtfertigung eine geoffenbarte, bekannte Sache, weil das Werk vollbracht ist.
Der Mensch kann sich seiner selbst nicht rühmen, auch der
Jude nicht, trotz aller seiner Vorrechte. Aller Ruhm ist ausgeschlossen. Auf welchem Grundsatz? Durch welches Gesetz?
Der Werke? Nein, durch das Gesetz des Glaubens. Der Mensch,
wer er auch sein mag, nimmt den Platz eines Sünders ein. Die
Gnade, und die Gnade allein, gilt für alle in gleicher Weise.
Denn wir sind zu dem Schluß gekommen, daß man durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. „Ist Gott der
189
Gott der Juden allein? nicht auch der Nationen? Ja, auch der
Nationen". Ein solcher muß Er sein, ein solcher war Er, selbst
im Alten Testament, obwohl Er, als alle Geschlechter der Erde
in Götzendienst versunken waren, Israel in der Person Abrahams aus ihrer Mitte erkor, um die Erkenntnis des einen Gottes auf der Erde zu bewahren. Jetzt aber hat Er nach der
Gnade Seinen Platz genommen als Gott über alle Menschen,
nach der Wahrheit Seines unveränderlichen Rechts, indem es
ein und derselbe Gott ist, der die Beschneidung aus Glauben
und die Vorhaut durch Glauben rechtfertigt. Die Verschiedenheit der hier gebrauchten Ausdrücke „aus Glauben" oder „auf
dem Grundsatz des Glaubens" und „durch Glauben" erklärt
sich dadurch, daß die Juden wohl die Gerechtigkeit suchten,
aber auf einem falschen Grundsatz, nämlich auf dem Grundsatz der Werke; sie müssen die Gerechtigkeit haben, und zwar
eine göttliche Gerechtigkeit, aber auf einem anderen Grundsatz, auf dem des Glaubens. Und weil die göttliche Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Glaubens beruht, so wird auch der
glaubende Heide ihrer teilhaftig durch den Glauben, der durch
die Gnade in ihm gewirkt ist. Macht denn dieser Grundsatz
das Gesetz ungültig? Keineswegs. Die Autorität des Gesetzes
ist vollkommen festgestellt und bestätigt worden, aber zur
Verdammnis aller derer, die sich unter seiner Autorität befanden. Nichts könnte seine Autorität so vollkommen feststellen
wie die Tatsache, daß der Herr Selbst den Fluch des Gesetzes
auf Sich genommen hat.
Kapitel 4
Aber es gab noch einen anderen Beweis dafür, daß die Gerechtigkeit nicht aus Gesetzeswerken kommt, nämlich das Beispiel Abrahams, der die Verheißungen hatte, ehe das Gesetz
gegeben und verkündigt war. Der Apostel bedient sich auch
dieses Teils der Geschichte und der Vorrechte Israels, um seinen Hauptgrundsatz zu bestätigen. „Was sollen wir von Abraham sagen?" fragt er. Wenn er durch die Werke gerechtfertigt worden wäre, so hätte er Ruhm, aber nicht vor Gott; denn
was sagt die Schrift? „Abraham glaubte Gott, und es wurde
ihm zur Gerechtigkeit gerechnet". Also ist der Grundsatz, daß
man durch den Glauben gerechtfertigt wird, in dem Beispiel
Abrahams völlig bestätigt. Es ist nicht aus Werken; wäre es
so, dann wäre der Lohn nicht als Gnade, sondern als Schuldig190
keit zu betrachten. Wenn man aber nicht wirkt, sondern an
Den glaubt. Der den Gottlosen rechtfertigt, so wird der Glaube
zur Gerechtigkeit gerechnet. Und wie es bei Abraham war, so
war es auch bei David. (Der Apostel führt das Beispiel dieser
beiden Männer an, weil sie die Hauptquellen der Segnungen
Israels bilden). Auch David beschreibt die Segnung des Menschen, den Gott für gerecht hält ohne Werke, indem er sagt:
„Glückselig die, deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren
Sünden bedeckt sind! Glückselig der Mann, dem der Herr
Sünde nicht zurechnet!" Die Annahme in Christo geht zwar
weiter, aber hier finden wir im Blick auf die Verantwortlichkeit
des Menschen die Wahrheit ausgesprochen, daß für die, welche
an Christum glauben, alles vollbracht ist. Die Sünde wird
ihnen nicht zugerechnet; sie sind frei von aller Schuld; alle
Beschuldigung ist vorbei für immer. Von unserer Stellung in
Christo spricht der Apostel später; angenommen zu werden in
einer neuen Stellung in Christo, nach dem Wert und der Annahme Christi vor den Augen Gottes, ist noch mehr als die
Rechtfertigung. Aber diese Rechtfertigung ist vollbracht für
uns, als verantwortliche Menschen.
Nun aber entsteht die Frage: Ist diese Segnung für Israel
allein? Das Beispiel Abrahams entscheidet auch diese Frage.
Ihm wurde der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet; aber wann?
Als er beschnitten war, oder als er noch in der Vorhaut war?
In der Vorhaut. — So sehen wir denn in diesem alten und entscheidenden Beispiel Abrahams, daß nach dem Willen und
Ausspruch Gottes der Glaube eines unbeschnittenen Menschen
ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wird. Die Beschneidung ist
dem Abraham nachher gegeben worden, als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er als Unbeschnittener hatte, auf daß
er der Vater aller Gläubigen wäre, der Unbeschnittenen sowohl, damit auch ihnen nach seinem Beispiel die Gerechtigkeit
zugerechnet würde, als auch der Beschnittenen, so daß er der
Vater einer wahren Beschneidung ist, nicht allein derer, die aus
der Beschneidung sind, sondern auch aller Gläubigen, die in
Absonderung für Gott in den Fußtapfen des Glaubens Abrahams wandeln, den er in der Vorhaut hatte.
Ferner war auch die Verheißung, daß Abraham Erbe der
Welt sein sollte, nicht durch das Gesetz gegeben worden, weder
ihm, noch seinem Samen, sondern durch die Gerechtigkeit des
191
Glaubens; denn das Gesetz kam viel später. So beweist also
die ganze Geschichte Israels, daß man nicht durch das Gesetz,
sondern nur durch den Glauben teil an der Segnung hat. Denn
wenn die vom Gesetz, als solche, Erben sind, so ist die Verheißung aufgehoben und der Glaube, durch welchen Abraham
sie empfangen hat, unnütz und erfolglos. Vielmehr bewirkt ein
Gesetz Zorn, denn wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung; die Sünde ist wohl vorhanden, aber man kann nicht
übertreten, was nicht geboten oder verboten ist. Doch der
Apostel entwickelt diesen Hauptgrundsatz der Segnung der
Gläubigen aus den Nationen noch weiter aus der Schrift. Er
sagt: „Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach Gnade sei,
damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei, nicht allein
dem vom Gesetz, sondern auch dem vom Glauben Abrahams,
welcher unser aller Vater ist (sowohl der Gläubigen aus den
Nationen, als auch derjenigen aus den Juden) vor dem Gott,
welchem er glaubte, der die Toten lebendig macht und das
Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre" (V. 16. 17). Diese
Worte enthalten eine neue Wahrheit. Sie weisen auf die Kraft
der Auferstehung hin, auf die Kraft, das Leben zu geben, da
wo alles im Tode liegt, auf die schöpferische Kraft. Diese Kraft
aber gab auch den Nationen Einlaß. Auf diese Kraft rechnete
Abraham, als sein Leib gewissermaßen schon tot und der
Mutterschoß der Sarah ebenfalls über die geeignete Zeit hinaus
war. Für den Glauben hängt alles ab von der Tätigkeit dieser
Kraft, die hervorbringt, was Gott will. Es ist nicht allein ein
Gnadenstuhl dargestellt für alle, die durch den Glauben an
das Blut Christi herzukommen, als zu dem Ort, wo Gott mit
dem Sünder zusammentrifft, sondern es ist eine Kraft, die da,
wo nichts ist, Kinder schafft für sich aus den Seelen der Toten.
Doch gibt es einen Unterschied zwischen dem Glauben Abrahams und unserem Glauben. Er glaubte, daß Gott die Toten
auferwecken könne, und er hatte Recht; wir aber glauben, daß
Gott es getan hat. Dieser Unterschied ist sehr wichtig. Abraham hatte Recht, indem er an das Wort Gottes selbst glaubte;
wir haben denselben Glauben, aber er gründet sich auf ein
vollbrachtes Werk, und da findet die Seele Ruhe. Christus ist
auferstanden; Er, Der einmal für unsere Übertretungen geopfert war, ist auferweckt worden, auf daß wir daran glauben
und gerechtfertigt werden.
192
Kapitel 5
Wir sind also gerechtfertigt durch den Glauben. Damit findet die Lehre von dem Werke Christi, so weit es sich um Sein
Blut und um das Wegtun unserer Sünden durch Sein Blutvergießen handelt, gewissermaßen ihren Abschluß. Die Auferstehung Christi ist der Beweis, daß Gott dieses Werk angenommen hat als Genugtuung für unsere Sünden, und zwar
zu Seiner eigenen Herrlichkeit. Welch ein gesegneter Gedanke!
Die Gerechtigkeit Gottes ruht in dem Wert des Werkes Christi! Diese Gerechtigkeit hat sich darin geoffenbart, daß Er
Seinen Sohn aus den Toten auferweckt und uns um Seinetwillen gerechtfertigt hat; unsere Sünden sind vergeben, wir
sind reingewaschen in Seinem Blut. Nichts haben wir zu unserer Rechtfertigung beigetragen, nichts können wir dazu beitragen; wir sind allein gerechtfertigt durch das Werk Christi.
Unsere Sünden sind der einzige Anteil, den wir an dem Leiden
Christi haben, durch das wir vor dem Angesicht Gottes gereinigt worden sind. Der Wert dieses Werkes ist uns durch
den Glauben, der jedoch dem nichts hinzufügen kann, zuteil
geworden. Dieses Werk ist für uns der höchste Beweggrund,
Ihm zu dienen und Ihn immer und unaufhörlich zu loben; aber
auch dadurch fügen wir dem Werke Christi vor dem Angesicht
Gottes nichts hinzu, es ist vollendet, und nicht allein das, sondern auch angenommen, als völlig genügend anerkannt vor
Gott. Wie köstlich ist es, zu wissen, daß alle unsere Sünden
hinweggetan sind durch Gott Selbst, und zwar gemäß Seiner
eigenen Gerechtigkeit, indem Er Christum um des Werkes
willen, das Er für uns vollbracht hat, auferweckt hat, ein ewig
gültiger Beweis, daß Gott dieses Werk angenommen hat als
Seiner Herrlichkeit völlig genügend. Dies würde genug sein für
unsere Rechtfertigung; aber Gott hat noch mehr getan: Er hat
Christum zu Seiner Rechten erhöht; dort sitzt Er jetzt als
Mensch zur Rechten Gottes, bis Seine Feinde zum Schemel
Seiner Füße gelegt sind. Durch ein Opfer hat Er, hinsichtlich
des Gewissens, für immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden. Wenn sie durch dieses Opfer nicht zur Vollkommenheit gebracht sind, so können sie es nie werden, und
ebensowenig können ihre Sünden je hinweggenommen werden. Denn ohne Blutvergießen ist keine Vergebung, und Chri193
stus kann Sein Blut nicht noch einmal für uns vergießen; das
Werk ist geschehen, oder es kann überhaupt nicht geschehen.
Der erste Abschnitt des fünften Kapitels (V. 1—11) faßt alle
Züge dieser unendlichen Gnade Gottes zusammen. Betrachten
wir kurz den Inhalt dieser köstlichen Verse. Das Werk ist vollbracht; der Glaube weiß, daß es von Gott angenommen ist,
indem Er Christum auferweckt und zu Seiner eigenen Rechten
gesetzt hat. Es bleibt nichts zwischen dem wiedergeborenen,
geheiligten Menschen und Gott, als nur der Wert des Werkes
Christi und die Annahme Seiner Person. Das Blut Christi ist
immer vor den Augen Gottes, und Er Selbst erscheint in der
Gegenwart Gottes für uns. Das gibt uns für die Gegenwart
die köstlichsten Vorrechte, und für die Zukunft die Hoffnung
der Herrlichkeit, die wir bei ihm genießen werden. Doch wir
wollen nicht über unser Kapitel hinausgehen, sondern uns auf
die Betrachtung der Vollkommenheit der Gnade Gottes, die
darin so wunderbar entwickelt ist, beschränken. Wir finden
hier das, was Gott für uns ist, während unsere Stellung vor
Ihm in Christo erst später behandelt wird.
Die ersten elf Verse enthalten also die Entwicklung der
Gnade und der Wege Gottes in Gnade; sie sprechen zuerst von
dem, was die Gnade gibt, und dann von den Erfahrungen der
Begnadigten. Indem Christus für unsere Sünden dahingegeben
und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist, sind wir
durch den Glauben gerechtfertigt worden. Es ist eine vollendete
Rechtfertigung; unsere Sünden sind ausgelöscht, unser Gewissen ist gereinigt, und da der Wert dieses Werkes unwandelbar und immer vor den Augen Gottes ist, ist unsere Rechtfertigung gültig für ewig. Infolgedessen besitzen wir einen
beständigen Frieden mit Gott. Keine Sünde kann uns zugerechnet werden, denn unsere Sünden sind alle schon getragen,
so daß wir kein Bewußtsein mehr von Sünden haben können.
Wohl sind wir uns des Vorhandenseins der Sünde im Fleische
bewußt; aber von den Sünden, die Christus schon für uns
getragen hat, kann nicht mehr die Rede sein. Wohl können
wir uns demütigen, wenn wir durch irgendeinen Anlaß daran
erinnert werden, daß wir der häßlichen Früchte der Sünde
schuldig waren und diese Last auf den geliebten Heiland gebracht haben; aber wir können nicht in der Gegenwart Gottes,
194
wo sich Christus und Sein Blut für immerdar befinden, in
Frage stellen, ob alles vergeben ist. Es ist wichtig, daß ich den
Zustand meiner Seele nicht verwechsle mit dem Wert eines
außer mir vollbrachten Werkes, eines Werkes, an dessen Vollbringung ich nicht teilgehabt habe, es sei denn durch meine
Sünden. Wenn aber meine Sünden dort auf Christum gelegt
waren, dann können sie jetzt nicht mehr vor Gott sein — Christus hat sie im Himmel nicht mehr auf Sich. Befinde ich mich
vor Gott, so finde ich da einerseits nur eine unendliche, unveränderliche Liebe, weil Christus dort ist, und andererseits nur
eine vollkommene göttliche Gerechtigkeit in Ihm, ebenfalls
weil Er dort ist. Unendliche Liebe, vollkommene und göttliche
Gerechtigkeit und unveränderliche Gnade sind dem Gläubigen
zuteil geworden in Christo vor Gott.
Dies führt uns in der Betrachtung der Früchte der Gnade
einen Schritt weiter. Nicht allein sind unsere Sünden durch die
Gnade hinweggetan, so daß wir Frieden mit Gott haben, sondern wir können auch genießen von der Gnade Gottes, die den
Frieden gestiftet hat — von einer Gnade, die jetzt beständig in
dem Herzen Gottes für uns ist. Die Gnade hat nicht allein
durch das Werk Christi alle Hindernisse beseitigt, sondern sie
bleibt auch immer unveränderlich in dem Herzen Gottes. Sein
Auge ruht auf uns mit derselben Liebe, wie es auf Christo
ruht. Durch Christum haben wir Frieden, durch Ihn auch Zugang durch den Glauben zu der Gnade und Gunst, in der wir
in Ihm vor Gott stehen. Diese Gunst genießen wir in der Gegenwart Gottes. Nicht allein rechtfertigt uns der himmlische
Richter, sondern ein himmlischer Vater nimmt uns auf; ein
lichtvolles, gnädiges Antlitz voll väterlicher Liebe erleuchtet
und erfreut unsere Seele und erquickt unser Herz, so daß wir
mit einem völlig ruhigen Herzen in Seiner Gegenwart sind und
in Seinen Pfaden wandeln; wir haben das köstliche Bewußtsein, daß wir in der Gunst Gottes stehen. Was unsere Sünden
betrifft, so sind alle hinweggetan; was unseren gegenwärtigen
Zustand vor Gott betrifft, so ist alles Liebe und Gunst, in der
hellen Klarheit Seines Angesichts; was die Zukunft betrifft, so
wartet unser die Herrlichkeit, sie ist unser Teil, wenn wir sie
auch jetzt noch nicht genießen. Friede, göttliche Gunst, die
Herrlichkeit in Hoffnung, das ist das Teil des Glaubenden, die
gesegnete Frucht der Liebe Gottes.
195
Man könnte nun sagen: Es ist also alles vorhanden für die
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und doch hat der
Apostel noch etwas hinzuzufügen. Weil die Herrlichkeit für
uns noch in der Zukunft liegt, haben wir noch einen Weg zu
machen, um sie zu erreichen. Und Gott vergißt uns auch auf
diesem Wege nicht. Der Apostel sagt deshalb: „Nicht allein
aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale". Die
Wüste ist der Ort, wo die Erfahrungen der Erlösten in betreff
ihres wirklichen Zustandes und der Regierungswege Gottes
gemacht werden. Die Erlösung ist vollbracht; wir sind zu Gott
gekommen, wie geschrieben steht: „. . . Wie ich euch getragen
auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe" (2. Mo 19,
4). Dies ist eine im Ratschluß Gottes vorherbestimmte und
jetzt vollendete Tatsache. Die Herrlichkeit ist ein Teil des Ratschlusses Gottes, und auch dieser Teil muß für die Gerechtfertigten erfüllt werden. Die Wüste bildet keinen Teil dieses
Ratschlusses, aber sie ist der Ort, wo wir Seine Wege mit uns
kennenlernen. Allerdings ging der Räuber am Kreuz mit
Christo an demselben Tag noch ins Paradies ein, um dort bei
Ihm zu wohnen. Sein Zustand war passend für eine solche
Stellung. Wenn er die Folgen seiner Missetaten von Seiten der
Menschen tragen mußte, so ertrug Christus für ihn von Seiten
Gottes alles, was er vor Ihm schuldig war, und der gerechtfertigte Sünder folgte Ihm an dem selben Tag noch nach in die
Wohnungen der Seligkeit. Er hatte also keinen weiten Weg
der Erfahrungen zu machen. Im allgemeinen aber durchpilgert
der Gläubige eine Welt, wo Schwierigkeiten und Versuchungen ihm entgegentreten und ihn von allen Seiten umringen.
Christus ist vor uns durch diese Welt gegangen, und wir sind
berufen, in Seinen Fußtapfen zu wandeln. Dadurch aber wird
unser Zustand geprüft. Die Erlösung kommt dabei nicht in
Frage; denn eben sie ist es, die uns in die Wüste gebracht hat.
Wir sind aber schuldig, unserer Berufung und der Stellung
gemäß, in welche die Erlösung uns versetzt hat, zu wandeln,
würdig des Gottes, der uns zu Seinem eigenen Königtum und
zu Seiner eigenen Herrlichkeit berufen hat. Die Trübsale prüfen die Seele, inwieweit der Eigenwille wirksam ist; sie machen
die Wirkung der Sünde in uns offenbar, so daß wir sie entdecken. Wir werden von Gott erforscht. Einerseits lernen wir
dadurch erkennen, was wir sind, andererseits aber auch, was
196
Gott für uns ist in Seiner Treue und täglichen Fürsorge. Wir
werden von der Welt entwöhnt, und unsere Augen werden
mehr befähigt, das, was himmlisch ist, wahrzunehmen und zu
schätzen. So wird die Hoffnung, die schon im Herzen ist, viel
lebendiger und klarer. In diesem Sinn können wir alle Trübsale betrachten, weil wir den Schlüssel zu allem besitzen: „Die
Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist". Die Fürsorge
Gottes in dieser Beziehung ist wunderbar. „Er zieht Seine
Augen von dem Gerechten nicht ab". Er denkt an alles bei
Seinen Kindern, an ihren Charakter, ihre Umstände, ihre Versuchungen; Er tut alles, was nötig ist, um sie zum glückseligen
Ende ihrer Pilgerschaft zu bringen. Die Füße der Israeliten
waren nach vierzigjähriger Wanderschaft nicht geschwollen
und ihre Kleider nicht abgenutzt. Er läßt alles zusammenwirken zum Besten derer, die Ihn lieben.
Doch noch einige andere, sehr wichtige Punkte haben wir
hier zu beachten. Zum ersten Mal finden wir an dieser Stelle
den Heiligen Geist erwähnt. Die Ausgießung des Geistes in
das Herz ist etwas ganz anderes, als die neue Geburt. Man
muß allerdings von neuem geboren werden, um den Heiligen
Geist empfangen zu können; aber der Sünder hat noch mehr
nötig, als die neue Geburt. In dieser Stelle wird der Heilige
Geist betrachtet als das den Gläubigen gegebene Siegel des
Wertes des Blutes Christi und der vollkommenen Reinigung,
deren sie durch die Anwendung dieses Blutes teilhaftig geworden sind. Gewaschen von ihren Sünden, werden sie die
Wohnung des Heiligen Geistes. Er ist die Salbung, das Siegel
der Gläubigen und das Pfand der Herrlichkeit. Durch Ihn rufen
sie: „Abba, Vater!" (Gal 4, 6) durch Ihn wissen sie, daß sie
in Christo sind und Christus in ihnen (Joh 14, 16—20) und
hier an dieser Stelle wird uns mitgeteilt, daß durch Ihn auch
die Liebe Gottes ausgegossen ist in ihre Herzen. Die Anordnung Gottes über die Reinigung des Aussätzigen (3. Mo 14)
liefert uns ein treffendes Vorbild von dem, was in der gegenwärtigen Zeit mit dem Gläubigen geschieht. Der Aussätzige
wurde zunächst mit Wasser gewaschen, dann mit Blut besprengt und schließlich mit ö l gesalbt. So wird auch jetzt ein
Mensch zuerst bekehrt, dann teilhaftig der vollkommenen
Reinigung, die durch das Blut Christi bewirkt ist, und schließ197
lieh empfängt er die Versiegelung des Heiligen Geistes. Durch
Ihn haben wir die vollkommene Versicherung, daß wir an der
vollbrachten Erlösung teilhaben, kraft unseres gesegneten Verhältnisses zu Gott und zu Christo, und Er ist das Pfand der
zukünftigen Herrlichkeit. Alles aber ist die Folge der Besprengung mit dem Blute Christi.
So ist Gott von uns gekannt, wir sind teilhaftig geworden
der göttlichen Natur, wir haben unsere Erlösung und Rechtfertigung verstanden und machen die Erfahrung von Seiner
Treue. Er offenbart Sich unseren Seelen und offenbart uns
auch die Herrlichkeit, die vor uns liegt. Wir wissen, daß wir
in Ihm sind, und daß Gott in uns wohnt. So rühmen wir uns
nicht allein dessen, was Er uns gegeben hat, nicht allein unserer Errettung, sondern auch Gottes Selbst. Ein dankbares Kind
ist nicht nur darüber glücklich, daß es viel von seinem Vater
empfangen hat, sondern sein Herz erfreut sich auch darin, daß
sein Vater ein solcher ist, wie ihn seine liebevollen Wege geoffenbart haben; es ist glücklich, weil sein Vater für sein Herz
alles ist, was es liebt; es erfreut sich in persönlicher Erfahrung
in seinem Vater und rühmt sich seiner. Welch ein Vorrecht,
uns Gottes Selbst rühmen zu können! Das macht die Freude
und den Genuß der Gnade groß. Der höchste Charakter unserer ewigen Freude wird dadurch schon hienieden verwirklicht,
und diese Freude ist begleitet von einem tiefen Frieden. Was
Gott in Sich Selbst ist, ist der unendliche, aber gegenwärtige
Gegenstand für eine Natur, die fähig ist, Ihn zu genießen, indem der Heilige Geist Ihn in der Seele offenbart.
Hiermit ist der erste Teil des Briefes und, man kann sagen,
die Lehre des ganzen Briefes beendigt. Was jetzt noch folgt,
ist unsere Stellung in Christo und die Erfahrungen, die in der
Seele gemacht werden, um in diese Stellung einzutreten. Dann
folgen Ermahnungen für die Befreiten. Unsere Stellung ist
nicht im Fleische, sondern im Geiste, oder in Christo. Um aber
wahrhaft befreit zu werden, müssen wir lernen, was das Fleisch
ist, und zwar durch die Erfahrung; dann, und nur dann, werden wir aus dem gesetzlichen Zustand der Seele in den geistlichen in Christo hinübergehen, kraft des Todes und des
Lebens Jesu Christi. Doch wir werden später noch einmal hierauf zurückkommen. Zunächst müssen wir die Stellung selbst,
198
oder vielmehr die zwei Stellungen, und die darauf bezügliche
Lehre betrachten. Es ist wichtig, hier zu bemerken, daß es sich
bei dieser Befreiung um Erfahrung handelt, durch die sie allein
gekannt werden kann. Mit der Vergebung der Sünden ist es
anders. Wohl ist es wahr, daß Gott uns in allem belehren muß;
aber zu glauben, daß etwas außer mir getan oder geschehen
ist, ist etwas ganz anderes als etwas von mir selbst zu glauben,
was ich praktisch nicht in mir verwirklicht finde. Das Werk
Christi auf dem Kreuz, wodurch ich Vergebung und, insofern
es sich um Vergebung handelt, Frieden erlange, ist außer mir
vollbracht worden, und ich bin berufen, zu glauben, daß Gott
es als Genugtuung für meine Sünden angenommen hat. Daß
ich dies glaube, ist wohl das Werk Gottes in meinem Herzen,
aber die Sache an und für sich ist einfach. Ein Kind, das bestraft werden soll, versteht ganz gut, was es heißt, Vergebung
zu erhalten. Aber wenn man mir sagt: Wenn du glaubst, so
bist du tot für die Sünde, so erwidere ich, und zwar gerade
dann, wenn ich ernst und aufrichtig bin: Das ist nicht wahr,
denn ich fühle ihre Wirksamkeit in meinem Herzen. Diese
Frage nun — unser Zustand — wird im zweiten Teil des Römerbriefes behandelt. Sind wir im Fleische oder im Geiste? Sind
wir in Christo und ist Christus in uns, sind wir also der Sünde
gestorben, oder sind wir bloße Kinder Adams, so daß die
Sünde ihre Kraft in uns ausübt, selbst wenn wir es nicht
wollen?
Die Behandlung dieser Frage beginnt mit dem zwölften Vers
des fünften Kapitels. Der Apostel spricht nicht mehr von dem,
was wir getan haben, wie im ersten Teil des Briefes, sondern
von dem, was wir sind, und zwar infolge der Sünde Adams.
Durch den Ungehorsam des Einen sind die Vielen, d. h. alle,
die durch ihre Geburt mit ihm als ihrem Urvater in Verbindung stehen, zu Sündern gemacht worden. „Gleichwie durch
einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen und durch
die Sünde der Tod und also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben" (V. 12). Dieser
Satz wird erst in Vers 18 fortgesetzt. Die Verse 13—17 bilden
einen Zwischensatz, dessen Zweck ist, zu zeigen, in welchem
Verhältnis das Gesetz zu dieser Frage steht, und zu beweisen,
daß der Mensch, ohne ein Gesetz von Gott empfangen zu
haben, unter dem Joch der Sünde steht und dem Gericht ver199
fallen ist. Der Beweis, daß die Sünde über alle Menschen
herrscht, ist der Tod. Adam war unter einem Gesetz; es war
ihm verboten, von der Frucht eines gewissen Baumes zu essen.
Die Juden standen, wie wir alle wissen, als Volk unter dem
Gesetz Moses. Wenn also Adam das ursprüngliche Gesetz, und
die Juden die Gebote Gottes nicht beobachtet hatten, so waren
sie in bestimmter Weise in dem Punkt schuldig, worin sie ungehorsam gewesen waren. Sie hatten das getan, was das Gesetz verboten hatte. Vers 14 bezieht sich auf das, was in Hosea
6, 7 von Israel gesagt ist: „Sie haben den Bund übertreten wie
Adam". Adam wie Israel standen mit Gott in Verbindung
durch ein bestimmtes Gesetz. Mit den Heiden war es anders;
sie besaßen kein Gesetz. Wohl hatten sie das Gewissen und
die Pflicht, Gott gehorsam zu sein. Aber man konnte nicht
sagen, daß sie in diesem oder jenem Punkt einen gekannten
Befehl Gottes übertreten hätten, weil es keinen gab. Es war
für sie kein Gesetz vorhanden, und so konnte man das, was
sie getan hatten, ihnen nicht als Übertretung zurechnen. Aber
die Sünde war da; das Gewissen nahm alles wahr, was gegen
seine Stimme getan wurde, und der Tod herrschte über sie.
Die Herrschaft des Todes bewies also das Vorhandensein der
Sünde, deren Folge er war. Jeder, auch wenn er nicht unter
Gesetz stand, hatte sein Gewissen verunreinigt, und der Tod
war der beständige Beweis davon, daß Sünde vorhanden war.
Die Nationen, die kein Gesetz hatten, starben ebensowohl wie
die Juden.
Sollte sich denn die Wirksamkeit der Gnade auf den engen
Kreis des Judentums beschränken, weil die Juden allein die
Verheißungen und alle Vorrechte einer Offenbarung, besonders das Wort Gottes, besaßen? Im Gegenteil. Das Christentum war die Offenbarung Gottes selbst, nicht allein des Willens Gottes in bezug auf die Menschen; deshalb dehnte sich
diese Offenbarung notwendigerweise weit über die Grenzen
des Judentums aus. Im Christentum gibt es kein einem einzelnen Volke gegebenes Gesetz; dem Volke Israel war ein Gesetz gegeben worden, das lehrte, was der Mensch sein sollte,
aber es offenbarte Gott nicht. Wohl war es von Verheißungen
begleitet, aber von Verheißungen, die noch nicht erfüllt waren;
zugleich verbot es dem Menschen den Zugang zu Gott. Das
Christentum aber gab eine Offenbarung Gottes nach der
200
Liebe, in der Person des Sohnes; es verkündigte eine vollkommene Erlösung durch Seinen Tod, eine vollkommene, gegenwärtige Rechtfertigung durch den Glauben, kraft dieses Todes.
Es bezeugte, daß der Vorhang, der den Zugang zu Gott verbot,
zerrissen ist, so daß der Zugang vollkommen frei geworden
und der Gläubige mit Freimütigkeit auf diesem neuen und
lebendigen Wege herzunahen kann. So ist die ewige Segnung
nicht in dem ersten sündhaften Menschen, noch durch das
Gesetz. Denn dieses konnte, indem es auf jenen angewendet
wurde, nicht anders, als ihn verdammen, weil es die vollkommene göttliche Richtschnur für das Verhalten eines Menschen
bildete, und es stellte, da der Mensch ein Sünder war, alle, die
unter Gesetz standen, unter den Fluch. Die Segnung Gottes ist
in dem letzten Adam, dem zweiten, und zwar verherrlichten
Menschen, nachdem Er vorher für uns zur Sünde gemacht worden war; in Ihm, Welcher der Kraft Satans begegnete und Sich
dem Tode unterwarf, obgleich Er von ihm nicht behalten werden konnte, welcher Sich dem Fluch und dem Verlassensein
von Gott in Seiner Seele unterzog und von Gott, Der durch Sein
Werk vollkommen verherrlicht wurde, aus den Toten auf erweckt und als Mensch zu Seiner Rechten gesetzt worden ist.
Ein Gott, Der Sich in solcher Weise geoffenbart hatte, konnte
nicht Gott der Juden allein sein.
In den Versen 15—17 zeigt der Apostel, daß die Gnade die
Sünde noch weit übertrifft. Wenn (V. 15) die Folgen der Sünde
Adams nicht allein auf ihn beschränkt blieben, sondern sich
auch auf seine Nachkommen erstreckte, so gehen noch vielmehr die Folgen des Werkes Christi auf diejenigen über, die
Sein sind. Nach Vers 16 sind durch die Sünde Adams alle seine
Nachkommen verloren, aber die Gnade, die freie Gabe, ist
nicht allein für den verlorenen Zustand, sondern auch für viele
Übertretungen gültig. Die Überschwenglichkeit der Gnade tritt
besonders glänzend in Vers 17 hervor, in dem wir lesen: „Denn
wenn durch die Übertretung des Einen der Tod durch den Einen
geherrscht hat, so werden vielmehr die" — man sollte denken,
es müsse der Nachsatz lauten: so wird vielmehr das Leben
herrschen; aber nein, sondern — „die, welche die Überschwenglichkeit der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen,
im Leben herrschen durch den Einen, Jesum Christum".
201
Mit Vers 17 schließt der Zwischensatz, und der Apostel
nimmt in Vers 18 den in Vers 12 unterbrochenen Gedankengang wieder auf. Die Folgen des Sündenfalls Adams beziehen
sich auf alle Menschen; ebenso bezieht sich durch das Werk
Christi die freie Gabe auf alle Menschen. Das Evangelium kann
also auf alle angewendet werden; es richtet sich an die ganze
Welt, an alle Sünder. In Vers 19 haben wir die tatsächliche
Anwendung. Durch den Ungehorsam eines Menschen befinden
sich die Vielen, die mit ihm in Verbindung sind, d. h. alle
Menschen, in dem Zustand dieses Einen, d. h. in einem sündhaften Zustand. Durch den Gehorsam eines Menschen befinden sich alle, die mit ihm in Verbindung sind, d. h. alle Christen, in der Stellung dieses Einen, d. h. in der Stellung der
Gerechtigkeit vor Gott. Adam war das Vorbild des zukünftigen Menschen. In dem einen sind wir verloren gegangen, in
dem anderen sind alle, die mit ihm verbunden sind, errettet,
gerecht vor Gott. Die Schuld eines Menschen hängt davon ab,
was er getan hat, sein wirklicher Zustand dagegen von dem,
was der eine Adam getan hat. Adam und Christus sind die
Häupter von zwei Geschlechtern; der eine ist das Haupt eines
sündhaften, der andere das Haupt eines vor Gott gerechten
Geschlechts, und hier sind das Leben und die Stellung unzertrennlich. Das Gesetz trat als Nebensache zwischen den ersten
und zweiten Adam. Die Wurzel des gefallenen menschlichen
Geschlechts war Adam, der erste Mensch. Das Haupt und die
Lebenswurzel des gesegneten, erretteten Geschlechts ist Christus. „Das Gesetz aber kam daneben ein", als der Maßstab
dafür, wie es bei der gefallenen Menschheit hätte sein sollen,
aber nie wirklich geworden ist. Das Gesetz war nie das Mittel
des Lebens oder der Errettung, sondern die Regel davon, was
der Mensch hier hätte sein sollen, verbunden mit einer Verheißung des Lebens: „wer diese Dinge getan hat, wird durch
sie leben" (vgl. Gal 3, 12); aber es gebot einem sündhaften
Menschen, nicht zu sündigen! Sein Zweck war, wie der Apostel
hier sagt, die Übertretung überströmend zu machen — nicht
die Sünde, denn Gott kann nichts tun, um die Sünde zu vermehren; aber Er konnte eine Regel geben, als die Sünde schon
da war, um ihre Früchte ans Licht treten zu lassen. Obgleich
also das Gesetz die vollkommene Regel für den Wandel eines
Kindes Adams bildete, so war es doch tatsächlich stets eine
202
Nebensache. Der Mensch war schon ein verlorener Sünder,
und das Gesetz stellte die Frucht des faulen, verderbten Baumes ans Licht. Später werden wir finden, daß es noch mehr als
dieses tat. An dieser Stelle aber wird uns nur gesagt, daß es
die Übertretung überströmend machte. Wir erblicken wirklich
die Wege Gottes im ersten wie im zweiten Adam. Der Mensch
war ein Sünder, ein verlorener Sünder, Christus ein Erretter.
Als Beweis dafür, was der Mensch war, war das Gesetz nützlich, weil es die Gerechtigkeit von dem Menschen forderte nach
dem Maß seiner Verantwortlichkeit. Der Zweck des Gesetzes
nach der Regierung Gottes war, den eigenen Willen des Menschen im Ungehorsam, in den Übertretungen offenbar zu
machen, weil es ohne Gesetz keine Übertretung gibt. Das setzt
aber, wie es auch im Gesetz selbst zu sehen ist, die Sünde
voraus. Das Gericht Gottes wird ausgeübt nach der Verantwortlichkeit des Menschen, nach dem, was er getan hat, sei es
ohne Gesetz oder unter dem Gesetz. Sein verlorener Zustand
ist eine andere Sache. Verloren gegangen ist er in Adam; den
Beweis dafür liefert die Welt in schrecklicher Weise, und ebensosehr unsere eigenen Herzen, wenn wir sie kennen. Der Ungehorsam des Einen hat allein den Zustand gebracht. Dieser
Zustand ist nicht ein zukünftiges Gericht, sondern eine gegenwärtige Tatsache: wir sind in die Stellung von Sündern gesetzt.
Die ganze Familie ist durch ihren Stammvater mit ihm in demselben Zustand: von Gott getrennt, ja vertrieben, in Feindschaft gegen Ihn, aus Seiner Gegenwart ausgeschlossen und
auch ohne Verlangen, in sie einzutreten. Der Mensch zieht
Vergnügungen, Geld, Eitelkeit, weltliche Macht, schöne Kleider,
kurz alles und jedes, Gott vor, selbst wenn er sich darstellt als
einen solchen, der glaubt, daß der Sohn Gottes für ihn in Liebe
gestorben ist. Es gibt nur einen Gegenstand, der in der Welt
unzulässig ist, nämlich Christus und die Offenbarung Gottes
in Ihm, obwohl diese Offenbarung die Liebe ist. Durch den
Ungehorsam des Einen sind die Vielen in die Stellung von
Sündern gesetzt.
Die wichtige Wahrheit also, die uns hier vor Augen gestellt
wird, ist nicht die durch die schlechten Werke hervorgebrachte
Schuld und die Gnade, durch die sie beseitigt worden ist, sondern der Zustand der gefallenen Kinder Adams, als allgemei203
ner Grundsatz. (Dadurch wird das Gesetz als Nebensache beiseitegesetzt, obwohl es für das Gewissen des Juden gültig war
und stets eine vollkommene Regel der menschlichen Gerechtigkeit bildete und diese Regel auch abgab, wo es, gestützt auf
die Autorität Gottes, angewendet wurde). In Verbindung damit steht die Einführung einer neuen oder zweiten Wurzel der
selig gemachten Menschen, und zwar in dem Auferstandenen,
so wie Adam die Wurzel der gefallenen Menschen ist. Adam
wurde erst dann die Wurzel eines Geschlechts, als er sündhaft
geworden war, und Christus ist in der Tat nicht eher das Haupt
der neuen Schöpfung gewesen (obgleich Gott durch Seinen
Geist von Anfang an wirksam war), als bis die göttliche Gerechtigkeit sich in Seiner Verherrlichung erwiesen hatte. Erst
als die Gerechtigkeit Gottes sich geoffenbart hatte — und zwar
anwendbar auf uns, indem Christus verherrlicht wurde, nachdem Er unsere Sünden getragen und Gott vollkommen verherrlicht hatte, als Er zur Sünde gemacht worden war, — erst
da ist Christus das Leben gebende Haupt des neuen, von Gott
aufgenommenen Geschlechts geworden, und alles, von Anfang
bis zu Ende, ist die Frucht der unermeßlichen, unendlichen und
unaussprechlichen Gnade Gottes. Die Gnade herrscht, aber
weil sie auf das Werk Christi gegründet ist, herrscht sie durch
Gerechtigkeit. Das Ziel ist das ewige Leben, und zwar in seinem vollen und wahren Charakter nach dem Ratschluß Gottes,
in der Herrlichkeit, in die Christus, dieser Gerechtigkeit nach,
als Mensch schon eingegangen ist. Die Gerechtigkeit herrscht
noch nicht; sie wird herrschen am Gerichtstage. Dann aber
wird die menschliche Gerechtigkeit, nämlich das, wozu der
Mensch verpflichtet war, den Maßstab des Gerichts bilden; der
Mensch wird dann gerichtet werden nach den Pflichten, die ihm
gegen Gott und seinen Nächsten, nach dem Recht Gottes, auferlegt waren. Die Urquelle des Heils für den Menschen aber
ist die Gnade, weil Gott die Liebe ist und wir Sünder sind;
denn die Gnade ist die Ausübung der Liebe gegen die, welche
kein Verdienst, keine Würdigkeit besitzen. Und darin hat sich
die Liebe geoffenbart, so daß die Engel sie kennenlernen müssen aus den Wegen Gottes gegen uns. Gott ist aber auch gerecht und muß die Gerechtigkeit aufrecht halten, und Seine
Heiligkeit kann die Sünde nicht für immer in Seiner Gegenwart
dulden. Daß alle Menschen unter der Sünde liegen und schul204
dig sind, hat Er bewiesen, und dann ist Er wirksam gewesen
nach Seiner unumschränkten Liebe, nicht allein um Sünden zu
vergeben (wovon wir schon gesprochen haben), sondern um
eine ganz neue Stellung zu bereiten, nach Seinem ewigen Ratschluß und für Seine ewige Verherrlichung, nach dem, was Er
ist in Seinem Wesen. Die Ausführung dieses Ratschlusses, und
zwar kraft des Werkes Christi nach Seiner vollkommenen Gerechtigkeit, ist der Ausdruck und die Offenbarung Seiner unendlichen Liebe. Die Liebe hat sich darin geoffenbart, daß Er
Seinen Sohn gesandt und Ihn für uns in Tod und Fluch dahingegeben hat. Die Gerechtigkeit ist darin geoffenbart, daß Er
Christum, der Ihn vollkommen verherrlicht hatte, als Mensch
zu Seiner Rechten in die göttliche Herrlichkeit gesetzt hat, in
die Herrlichkeit, die Er als Sohn Gottes mit dem Vater schon
vor Grundlegung der Welt besaß, die Er aber als Menschensohn verdient hat, so daß die göttliche Gerechtigkeit Ihm diesen
Platz notwendigerweise geben mußte. Und wir haben teil an
dieser Herrlichkeit Gottes, weil das Werk, durch das Gott vollkommen verherrlicht worden ist, zugleich für uns vollbracht
wurde. Wir sind ein Teil der Herrlichkeit Christi in der Ewigkeit. Er würde nicht die Frucht der Mühsal Seiner Seele sehen,
wenn Er Seine Erlösten nicht bei Sich in der Herrlichkeit hätte.
Kapitel 6
Aber das Fleisch, das seine Gerechtigkeit haben will, und
die Welt, die sich als Hüterin der Sittlichkeit darstellt, bringen
hier, um der Wahrheit und der Gnade, welche die Menschen
als durch die Sünde verloren hinstellen, Widerstand zu leisten,
einen Einwand vor. Sie sagen: wenn wir durch den Gehorsam
des Einen in die Stellung von Gerechten gesetzt sind, so ist es
also gleich, ob wir gehorsam oder ungehorsam sind. Dieser
Einwand beweist nur, daß jemand, der ihn macht, nichts von
der Wahrheit kennt, daß er von seinem schon verlorenen Zustande gar nichts versteht, noch von dem neuen Leben, das der
Glaubende empfangen hat und das, weil es von Gott ist, die
Sünde nicht ertragen kann.
Beachten wir hier, welche wichtigen Wahrheiten die Veränderung des Grundes, auf dem das Verhältnis des Menschen
205
zu Gott beruht, in sich schließt. Der Wendepunkt ist das
Kreuz, der Tod Christi. Der alte Mensch, das Geschlecht
Adams, ist geprüft worden ohne Gesetz, unterm Gesetz, und
dann unter der Offenbarung der Gnade und der Wahrheit, als
der Sohn Gottes als Mensch in dieser Welt war. Gott Selbst
war gekommen, geoffenbart im Fleische, nicht um die Sünden
zuzurechnen; sondern „die Welt mit sich selbst versöhnend";
und wenn die Segnung des Geschlechts des ersten Adam möglich gewesen wäre, so hätte sie damals stattfinden müssen.
Aber sie war unmöglich. Man spricht viel von einem Anknüpfungspunkt, den Gott in dem Menschen finde; aber selbst der
in Gnade und Wahrheit geoffenbarte Gott fand keinen. Im
Gegenteil; der Tod Christi ist der tatsächliche, bestimmte und
entscheidende Bruch zwischen dem Menschen und Gott. Nicht
allein war der Mensch ohne Gesetz unter der Sünde, nicht
allein war er unter dem Gesetz in offenem Ungehorsam gegen
das Gesetz, sondern er wies auch die in Christo erschienene
Gnade Gottes durch Seine Verwerfung zurück. Der Herr sagt
(Joh 12, 31), wenn Er von Seinem Tode spricht: „Jetzt ist das
Gericht dieser Welt", und in Joh 15, 24: „Sie haben gesehen
und gehaßt sowohl mich als auch meinen Vater". Daher wird
in Hebr 9, 26 gesagt: „Er ist einmal in der Vollendung der
Zeitalter geoffenbart worden". Das Kreuz war moralischerweise
das Ende der Menschheit. Doch es wurde zu derselben Zeit
und in derselben Tatsache, in dem Tode Christi, der Grund der
neuen Schöpfung nach der Gerechtigkeit Gottes gelegt. Dieselbe Tatsache, die von seiten Gottes mit dem ersten Adam
ein Ende gemacht hat, indem sein Geschlecht den Sohn Gottes
verwarf, hat auch den Grund gelegt für den neuen Zustand der
Menschheit im zweiten Adam. Christus war am Kreuz zur
Sünde gemacht, die Sünde wurde dort gerichtet, und der alte
Mensch für immer beseitigt. Jetzt ist der Zugang zu Gott durch
den Glauben möglich gemacht; in der Auferstehung ist das
neue Lehen, selbst dem Körper nach, wirklich ans Licht gebracht, und der zweite Mensch hat seinen Platz in der Herrlichkeit eingenommen. Wie der erste Mensch aus dem Garten
vertrieben wurde, um dann die Wurzel eines sündhaften und
verlorenen Geschlechts zu werden, so ist der zweite Mensch in
das himmlische Paradies eingegangen als Wurzel und Haupt
des erretteten Geschlechts, als die Gerechtigkeit Gottes, die für
206
die Menschen gültig ist, und so sind das Leben und die Gerechtigkeit untrennbar geworden. Die Vergebung durch das
Blut Christi ist der stärkste Beweggrund für einen aufrichtigen
Wandel; die Auferstehung Christi vereinigt in sich die Gerechtigkeit und das Leben. Es ist eine „Rechtfertigung des Lebens"
(Kap. 5, 18).
Im Brief an die Römer wird die Wahrheit, daß wir mit
Christo auferstanden sind, nicht weiter entwickelt. Von dem
Anteil, den wir an Seinem Tode und Seiner Auferstehung
haben, wird nur gesagt, daß wir uns durch den Glauben der
Sünde für tot halten, daß der verherrlichte Christus unser
Leben und der Heilige Geist uns geschenkt ist.
Wenn wir also durch den Gehorsam des Einen in die Stellung von Gerechten gesetzt sind, und wenn da, wo die Sünde
überströmend war, die Gnade noch überschwenglicher geworden ist, sollten wir dann in der Sünde verharren, auf daß die
Gnade überströme? „Das sei ferne!" sagt der Apostel. Doch
stellt er uns in seiner Antwort auf diese Frage nicht von neuem
unter das Gesetz. Das würde nichts anderes gewesen sein, als
den alten Menschen, das Fleisch, anzuerkennen, und nachdem
wir schon verloren gegangen sind, die Verantwortlichkeit und
die Verdammnis von neuem hervorzubringen; denn das Fleisch
ist dem Gesetz nicht Untertan, es vermag es auch nicht. Die
Antwort des Geistes weist vielmehr auf den Jod Christi hin;
alles aber, was Er getan hat, ist für uns gültig. Der alte Mensch
hat sich erwiesen als unveränderlich schlecht, und zwar hat
sich dieses im Tode Christi gezeigt. Ich, der ich mit Ihm gekreuzigt bin, kann jetzt unmöglich denselben Menschen, der
Christum getötet hat, anerkennen. Ich bin zu Christo gekommen, weil der Mensch (ich selbst in meinem alten Zustande)
ein solcher war, und weil ich jetzt ein neues Leben empfangen
habe: Christum, den aus den Toten Auferstandenen. Doch dies
müssen wir etwas näher betrachten.
Indem wir auf Christum Jesum getauft worden sind (unser
wahres Glaubensbekenntnis), sind wir nicht getauft worden
auf einen Christus, den die Welt angenommen hat, oder der
einen Anknüpfungspunkt in dem ersten Adam fand. Im Gegenteil; die Welt, der Mensch, hat Ihn ganz und gar zurückgewiesen und von der Erde vertrieben, und auf diese Weise
207
zeigte es sich, wie schon gesagt, daß eine Vereinigung zwischen
Gott und dem Menschen, als Kind Adams, völlig unmöglich
war. Da hat denn Gott von neuem angefangen: wir sind neu
geboren. Christus hat, Gott sei Dank! als Verworfener das
Versöhnungswerk vollbracht; Er hat die Rechtfertigung, die
Vergebung und die Herrlichkeit erworben für die, welche an
Ihn glauben. Er ist aber der zweite Mensch, und in Ihm befindet sich der Mensch in einer ganz neuen Stellung vor Gott,
sowie in einem ganz neuen Zustande. Ein auferstandener Christus ist unser Leben, ein auferstandener Christus unsere Gerechtigkeit; der alte Mensch ist für immer verdammt. Wer
Christum besitzt als sein Leben, hat teil an diesem allem, weil
Er teilhat an Seinem Tode und an Seiner Auferstehung. Im
Römerbrief wird nur der erste Teil entwickelt: wir sind mit Ihm
tot, starben mit Ihm. Wohl wird Er auch als unser Leben dargestellt, aber unsere Auferstehung mit Ihm wird nicht behandelt, weil der Heilige Geist hier die Christen als auf der Erde
lebende Menschen betrachtet. Christus ist gestorben und auferstanden; wir sind auf Seinen Tod getauft. Wir haben teil an
Seinem Tode, indem Er unser Leben ist. Der, welcher mein
Leben ist, starb, und Er starb der Sünde. Ihn allein erkenne ich
als mein Ich an, und als dieses neue Ich halte ich mich dem
alten Ich für tot. Diesem neuen Leben nach bin ich Gott lebend,
aber in betreff meines alten Menschen mit Christo gestorben;
wie sollte ich das Leben des alten Menschen noch leben, wenn
ich als solcher gestorben bin? Deshalb, begraben mit Christo
durch die Taufe auf den Tod, geziemt es uns, in Neuheit des
Lebens zu wandeln. Wenn wir teilhaben an Seiner Stellung,
als tot der Sünde, werden wir auch teilhaben an Seiner Auferstehung. Der Apostel sagt nicht, daß wir daran teilhaben,
sondern teilhaben werden. Dieses Auf erstehungsieben wird in
der Herrlichkeit vollendet sein, drückt sich aber schon jetzt in
einem neuen Wandel aus, ebenso wie sich die Kraft des Lebens
Christi, welche auf bestimmte Weise in Seiner Auferstehung
zutagetrat, auch in Seinem Wandel auf der Erde wirklich geoffenbart hat. „Indem wir dieses wissen", sagt der Apostel
(V. 6), „daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf
daß der Leib der Sünde abgetan sei" (d. h. auf daß die Sünde
in uns als ein Ganzes vernichtet sei) „daß wir der Sünde nicht
mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen (oder
208
gerechtfertigt) von der Sünde". Doch dies erfordert eine nähere
Auseinandersetzung.
Zunächst muß betont werden, daß der Christ nicht noch erst
der Sünde sterben muß, sondern daß er gestorben ist, indem
er mit Christo gekreuzigt ist. Weil er nun Christum als Leben
bekommen hat, so hält er den alten Menschen für tot. Es sind
nicht einzelne Sünden oder Lüste allein, wovon er befreit worden ist, sondern der ganze alte Mensch ist beseitigt, tot, und
für tot zu halten durch den Glauben, der nach dem neuen
Menschen tätig ist. Wohl ist die Natur des alten Menschen
noch in uns vorhanden; unser Gestorbensein mit Christo hat
nicht seine Abwesenheit von unserem Wesen zur Folge; aber
er herrscht nicht; „daß wir der Sünde nicht mehr dienen". Es
ist gar nicht nötig, auch nur einen schlechten Gedanken zu
haben, obwohl die Natur, aus welcher solche hervorgehen,
immer noch vorhanden ist; aber wir dienen dieser Natur in
keinem Stück, selbst nicht in Gedanken, wenn das neue Leben
und die Kraft des Heiligen Geistes in uns wirksam sind. Der
Christ ist befreit, nicht weil seine Sünden für immer vergeben
sind, sondern weil er der Sünde tot ist, mit Christo gekreuzigt.
Er ist, als gestorben mit Christo, gerechtfertigt von der Sünde,
eben weil er tot ist; aber er ist auch lebendig in Christo. Es ist
nicht nur wahr, daß die Sünde nicht mehr herrscht, sondern
der Christ ist auch frei, sich hinzugeben; er besitzt eine neue
Natur, ein neues heiliges Leben. Wem aber wird er sich nun
hingeben? — Der Gerechtigkeit und Gott. Diese Hingabe der
Seele ist nicht Sache des Sünders, wie dies sehr oft fälschlich
behauptet wird, sondern der befreiten Seele. Der Christ, indem
er gereinigt, gerechtfertigt, der Liebe und Gunst Gottes versichert ist und durch das Blut Christi ein vollkommen gemachtes Gewissen besitzt, indem ihm keine Sünde mehr zugerechnet wird — ist frei, freimütig vor Gott. Derselbe Schlag, der
den Vorhang zerriß, schaffte auch alle seine Sünden hinweg.
Durch den zerrissenen Vorhang strahlt jetzt das Licht Gottes
unverhüllt auf ihn, um zu zeigen, daß seine Kleider weiß sind,
wie Schnee. Er ist frei von der Kraft der Sünde, weil Christus
sein Leben ist, und, mit Christo gekreuzigt und jetzt durch Ihn
allein lebend, hält er sich in betreff des Fleisches für tot. Er ist
frei vor Gott und auch frei von der Sünde. In dieser Freiheit
gibt er sich Gott hin.
209
So gewinnt das neue Leben, das also mit Gott wandelt,
schon etwas auf dem Wege: wir haben Früchte, noch ehe wir
die Herrlichkeit erreichen, und diese Frucht ist die Heiligkeit.
Gesegnete Frucht! Zunächst der Natur Gottes teilhaftig gemacht, wachsen wir auch in praktischer Gemeinschaft mit Gott
dadurch, daß die Heiligkeit in uns wächst. Dies Wachstum
hebt die Wahrheit nicht auf, daß die neue Natur, die wir empfangen haben, in sich selbst vollkommen ist. Wir gehören ganz
und gar Gott an, sind um einen Preis erkauft, von der Sünde
und der Welt abgesondert. Wir gehören Gott an nach dem
Wert des Opfers Christi, nach der neuen Natur und nach der
Kraft des Heiligen Geistes. Dem inwendigen Menschen nach
gehören wir schon zu der neuen Schöpfung, obgleich wir
„diesen Schatz in irdenen Gefäßen haben". — Wir sind in
Christo und sind in Ihm vollkommen angenommen. Er ist
unsere Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die passend ist für
die Herrlichkeit, denn Er ist in der Herrlichkeit nach dieser Gerechtigkeit. Aber Er ist auch in uns, als unser Leben und nach
der Kraft des Geistes. Dieses Leben ist in sich selbst vollkommen und kann nicht sündigen; doch müssen wir auch einen
objektiven Gegenstand der Heiligung haben. Deshalb nimmt
der Heilige Geist das, was in Christo ist, und offenbart es uns;
ja Er offenbart uns alles, was droben ist, wo der Christus und
wo auch der Vater ist. Dadurch wachsen wir in objektiver
Weise in dem, was himmlisch ist, werden von der Welt entwöhnt, wohnen im Geist in den himmlischen örtern, genießen
die Liebe des Vaters und werden so in praktischer Hinsicht
heilig.
Wir sind geheiligt nach dem Ratschluß Gottes des Vaters
durch das Opfer Christi, durch Sein Blut; wir sind es dem
Wesen nach, weil wir eine neue Natur, ein neues Leben besitzen; wir sind es durch die Gegenwart und die Wirkung des
Heiligen Geistes, und wir können hinzufügen, durch das Wort
Gottes. Die Heiligung des Geistes ist gewirkt dadurch, daß wir
aus Gott geboren sind. Wir müssen aber, wie gesagt, einen
Gegenstand haben, und die geistliche Natur, das Leben, das
wir empfangen haben, ist fähig, diesen Gegenstand — Gott
Selbst — zu genießen. Der Heilige Geist teilt uns durch das
Wort die Gegenstände mit, die heilig und göttlich sind. Wir
sind durch das Wort zunächst neu geboren worden mittels des
210
Glaubens, dann werden wir durch das Wort ernährt, und das
Herz wird gereinigt, ebenfalls mittels des Glaubens, und zwar
das eine wie das andere durch die Offenbarung Christi im
Herzen. „Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Und ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit" (Joh 17, 17. 19).
Wenn wir genau sein wollen, können wir nicht sagen, daß
der neue Mensch, das Leben, das wir von Gott empfangen
haben, geheiligt wird; denn das neue Leben selbst ist heilig,
und indem wir es empfangen haben, sind wir für Gott geheiligt; daher werden die Gläubigen in den apostolischen Briefen Heilige genannt. Die Heiligkeit ist aber in uns eine beziehungsweise, d. h. sie bezieht sich auf Gott, weil wir nicht
unabhängig sein können. Ohne Zweifel ist dadurch in uns ein
wirklicher Zustand hervorgebracht; aber wir sind nicht heilig
als Unabhängige, denn für ein Geschöpf ist es Sünde, unabhängig zu sein, es kann auch nicht wirklich unabhängig sein.
Also ist die Heiligkeit in uns objektiv; dies ist ein wichtiger
Grundsatz.
Alles, was der Heilige Geist uns geoffenbart hat: die Liebe
des Vaters und des Christus, die Heiligkeit Gottes, die Vollkommenheit Christi, Seine Person, die uns geschenkt und für
uns hingegeben ist, Seine gegenwärtige Verherrlichung im
Himmel, dies alles wirkt in uns und bildet das Herz, die Gedanken, den inneren und dadurch auch den äußeren Menschen
nach dem Gegenstand, den wir anschauen. Alles, was Christus
getan und gelitten hat, hat seinen Anteil daran; nicht allein,
weil Sein Wandel und Seine Handlungen ein Muster für uns
sind, sondern weil sie das Herz für Ihn einnehmen. Die Liebe
des Herzens ist mit Christo und mit Seiner Vollkommenheit
beschäftigt, und Er erfüllt unsere Herzen. Das ist Heiligung;
denn dies erfüllt auch das Herz des Vaters. „Darum liebt mich
der Vater, weil ich mein Leben lasse" (Joh 10, 17). Der Vater
schätzt, -was Christus getan hat und was Er war in diesem
Seinem Tun. Und es ist für uns getan worden! Wir haben
heilige Gedanken, weil wir lieben und schätzen, was Er getan
hat und was Er war. Dadurch ist die Gesinnung in uns, die in
Christo war. Es ist eine Seite des christlichen Charakters.
211
Doch wird die Kraft der Heiligung besonders durch das Anschauen der Herrlichkeit Christi bewirkt. Wohl wird das Herz
ernährt durch alles, was Er hienieden war: wir essen Sein
Fleisch und trinken Sein Blut, genießen auch das Brot, das aus
dem Himmel herniedergekommen ist; doch was uns nach
Seinem Bilde verwandelt (2. Kor 3, 18; 1. Joh 3, 2. 3) ist die
Herrlichkeit, in der Er jetzt wohnt. Diese Herrlichkeit anschauend, werden wir in dasselbe Bild verwandelt. Die Herrlichkeit Christi bewirkt in uns die Energie des Lebens, indem
wir alles andere nur für Verlust achten. Das Leben und die
Leiden Christi nehmen das Herz für Ihn ein (s. Phil 3 und 2).
Er hat Sich Selbst um unseretwillen geheiligt, auf daß wir
durch das Wort geheiligt würden. Wunderbare Gnade! Wunderbare Verbindung! Dies trennt uns von der Welt, verbindet
uns mit dem, was himmlisch ist, und führt uns zur Ähnlichkeit mit dem Himmlischen. Das Ende ist das ewige Leben in
dieser Herrlichkeit selbst, nachdem auch unser irdisches Gefäß
in das Bild dieser Herrlichkeit umgewandelt sein wird.
Bezüglich der Heiligkeit werden wir ferner in Hebr 12, 10
belehrt, daß die Zucht Gottes den Zweck hat, uns Seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen. In dieser Stelle entdecken wir
nicht allein die unaufhörliche Fürsorge Gottes, sondern lernen
auch den köstlichen Charakter dieser Heiligkeit verstehen.
Wir haben den Tod verdient, als den traurigen Lohn für
traurige Arbeit; das ewige Leben, die Gabe Gottes, ist uns
durch Jesum Christum, unseren Herrn, zuteil geworden; das
ist lauter Gnade. Wer sonst konnte uns Leben, ewiges Leben,
göttliches Leben geben als Gott allein? Christus Selbst ist
dieses Leben, vom Vater in die Welt gesandt und hier in der
Menschheit geoffenbart; wer jetzt „den Sohn hat, hat das
Leben"; „wer an ihn glaubt, hat das ewige Leben" (1. Joh 1,
1. 2; 5,12; Joh 3, 36). Obgleich in der zuletzt genannten Stelle
mehr auf das Resultat in der Herrlichkeit hingedeutet wird,
weil das ewige Leben im Ratschluß Gottes vollkommene Gleichheit mit Christo in der Herrlichkeit bedeutet, so ist es uns
dennoch schon gegeben als Leben, wenn wir auch noch nicht
in der Herrlichkeit sind. Es ist wichtig für uns zu bemerken,
daß es die Gabe Gottes ist. Den Tod hatte der Mensch für sich
212
erworben durch die Sünde; das Leben, das ewige Leben, worin
wir fähig sind, Gemeinschaft mit Gott zu haben, muß Gott
geben. Dieses Leben ist Christus Selbst (1. Joh 1). Er ist das
Leben, das bei dem Vater war und herniedergekommen ist. In
Ihm war das Leben; wer den Sohn hat, hat das Leben, und
dieses Leben wird bald in der Herrlichkeit völlig geoffenbart
werden. Das ist der Grundsatz der neuen Stellung. Wir sind
mit Christo der alten Stellung gestorben, und Christus ist
unser Leben geworden. (Fortsetzung im Jahrgang 1883)
Gedanken
Wie oft meinen wir, durch den Glauben zu leben und Gott
allein zu vertrauen, und wenn wir nur einen Blick in die Tiefen
unserer Herzen werfen wollten, so würden wir entdecken, wie
sehr wir von den Umständen abhängig sind und auf diese
vertrauen.
*
Oft wünschen wir etwas zu tun, wozu Gott uns keinen Auftrag gegeben hat, oder begehren, irgendwohin zu gehen, wohin Er uns nicht gesandt hat. Wir verkehren mit Ihm im Gebet
darüber, erhalten aber keine Antwort. Wir beten wieder und
wieder, aber keine Erwiderung wird uns zuteil. Woher kommt
das? Aus dem einfachen Grunde, weil Gott uns gerne ganz
ruhig haben will, weil Er wünscht, daß wir stillestehen und da
bleiben sollen, wo wir sind. Statt daher unseren Kopf anzustrengen, und unsere Seelen zu beruhigen mit der Frage: „Was
sollen wir tun?" laßt uns vielmehr nichts tun und einfach auf
Gott warten. Unser allezeit gnädiger Gott kann in allem Klarheit und Entschiedenheit geben. Wenn Er es nicht tut, so kann
es niemand. Wenn Er es aber tut, und Er wird es sicher tun,
wenn wir mit aufrichtigem Herzen auf Ihn warten, so brauchen
wir keine menschliche Unterweisung mehr.
213
Aber ach! wie oft gehen wir ruhig und getrost unseren Weg
voran, weil wir wissen, daß irgendein armer Sterblicher, den
wir hochachten, ihn gutheißt und uns seine Unterstützung zuteil werden läßt. Sobald wir aber aufgefordert werden, im einfachen nackten Glauben voranzugehen, beginnen wir zu zögern
und zaghaft zu werden.
*
Der Unglaube fragt: „Wie kann dies oder jenes sein?" Er ist
stets voll von „Wie's". Der Glaube aber hat eine große Antwort auf alle diese Fragen, diese lautet: „Gott". Er bringt Gott
auf den Schauplatz, und deshalb kennt er durchaus keine
Schwierigkeiten.
*
Das wahre Geheimnis allen Dienstes ist geistliche Kraft,
verbunden mit dem Bewußtsein, daß man von Gott Selbst in
den Dienst gestellt ist, den man übt. Menschliche Weisheit und
menschliche Kraft vermögen nichts.
*
Ein Dienst, der in steter Abhängigkeit von Gott und im
Vertrauen auf die Leitung des Heiligen Geistes ausgeübt wird,
kann nie dürr und kraftlos werden. Wenn aber jemand aus
seinen eigenen Hilfsquellen schöpfen will, wird er bald völlig
ausgetrocknet sein. Er mag ein noch so großer Redner, noch so
belesen und mit der Wahrheit bekannt sein, wenn der Heilige
Geist nicht die Quelle und die Kraft seines Dienstes ist, so
muß der Dienst früher oder später seine Frische und seine
Wirksamkeit verlieren. Alle, welche dienen, sei es im Evangelium oder in der Versammlung Gottes, sollten daher stets
und ausschließlich in der Kraft des Heiligen Geistes ihre Stütze
finden! Er kennt die Bedürfnisse der Seelen, und Er kann sie
stillen.
214
Der Geist als Siegel und Unterpfand
„Betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, durch welchen ihr
versiegelt worden seid auf den Tag der Erlösung" (Eph 4, 30).
„In welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt, versiegelt
worden seid mit dem Heiligen Geiste der Verheißung, welcher
das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes" (Eph 1, 13. 14).
In diesen beiden Versen wird uns der Geist Gottes in zwei
verschiedenen Charakteren vorgestellt, und zwar zunächst als
das Siegel, das Gott allen aufdrückt, die in Wahrheit an den
Herrn Jesum Christum glauben, und dann als das Unterpfand
des Erbes, das die versiegelten Erben binnen kurzem besitzen
sollen. Alle wahren Gläubigen sind mit dem Heiligen Geiste
versiegelt. Selbstverständlich müssen wir einen Unterschied
machen zwischen Erwecktsein und Versiegeltsein. Der Heilige
Geist weckt tote Seelen auf, aber Er versiegelt lebendige Gläubige, d. h. Er Selbst ist das Siegel. Gott versiegelt nicht Sünder,
die tot sind in Sünden und Übertretungen; Er erweckt sie und
leitet sie zur Buße, und wenn sie durch die Gnade an den
Namen Jesu, des gekreuzigten, auferstandenen und zur Rechten der Majestät in der Höhe erhobenen Herrn glauben, dann
versiegelt Er sie, indem Er ihnen den Heiligen Geist gibt, damit Er in ihnen Wohnung mache. Er drückt ihnen gleichsam
Seinen Stempel auf bis auf den Tag der Erlösung.
Es ist sehr wichtig, diesen Unterschied zwischen Erweckung
und Versiegelung klar zu verstehen! Manche finden eine große
Schwierigkeit darin, während doch die Schrift diesen Gegenstand so klar wie möglich behandelt. Nehmen wir als Beispiel
den ersten Abschnitt von Apg 19. Da heißt es: „Es geschah
aber, während Apollos zuKorinth war, daß Paulus, nachdem er
die oberen Gegenden durchzogen hatte, nach Ephesus kam. Und
er fand etliche Jünger und sprach zu ihnen: Habt ihr den
Heiligen Geist empfangen, nachdem ihr gläubig geworden
seid? Sie aber sagten zu ihm: Wir haben nicht einmal gehört,
215
ob der Heilige Geist ist. Und er sprach: Worauf seid ihr denn
getauft worden? Sie aber sagten: Auf die Taufe Johannes',
Paulus aber sprach: Johannes hat mit der Taufe der Buße getauft, indem er dem Volke sagte, daß sie an den glauben sollten, der nach ihm käme, das ist an Jesum. Als sie es aber gehört hatten, wurden sie auf den Namen des Herrn Jesus getauft; und als Paulus ihnen die Hände aufgelegt hatte, kam
der Heilige Geist auf sie, und sie redeten in Sprachen und
weissagten" (V. 1—6).
Hier tritt mit großer Kraft und Klarheit jener Unterschied
vor unser Auge. Hier waren zwölf Männer, die ein gewisses
Maß von Wahrheit empfangen hatten und offenbar Jünger
genannt werden konnten; aber sie kannten nicht die volle
Wahrheit von einer vollendeten Erlösung, von einem auferstandenen und verherrlichten Heiland und von dem Heiligen
Geist, als dem göttlichen Zeugen dieser herrlichen Tatsachen.
Wir dürfen indessen nicht annehmen, daß sie niemals von
dem Dasein des Heiligen Geistes gehört hätten. Johannes der
Täufer, dessen Jünger sie waren, hatte von dem Heiligen Geist
gesprochen, so daß sie diese göttliche Person kennen mußten.
Aber er hatte nicht von Ihm reden können als von dem Siegel,
das alle wahren Gläubigen von Gott empfangen sollten; er selbst
kannte Ihn nicht also. Auch hatten sie nicht gehört, daß der
Heilige Geist persönlich herniedergekommen war, um von der
Erhöhung und Verherrlichung des Herrn Jesu der Zeuge und
unumstößliche Beweis zu sein.
Dennoch waren sie wahre Jünger, wirklich erweckte und
lebendiggemachte Seelen, aber sie waren nicht versiegelt. Sie
befanden sich praktisch im Zustande der alttestamentlichen
Gläubigen oder der Jünger während des Lebens des Herrn auf
dieser Erde. Obwohl der Heilige Geist am Pfingsttage herniedergekommen und seitdem tätig gewesen war, Seelen lebendig zu machen und zu versiegeln, obwohl Tausende von Juden,
eine große Zahl der Samariter, die ganze Haushaltung des
Hauptmanns Kornelius und viele andere den Heiligen Geist
empfangen hatten, war es jenen zwölf Jüngern unbekannt
geblieben. Sie hatten nicht einmal gehört, daß der Heilige Geist
herniedergekommen war.
216
Hieraus geht klar hervor, daß jemand erweckt und lebendig
gemacht sein kann, ohne versiegelt zu sein. Was von jenen
Männern, eine Reihe von Jahren nach dem Tage der Pfingsten,
wahr war, kann auch heute noch von manchen Seelen wahr
sein. Wie viele von den teuren Kindern Gottes in dem weiten
Gebiet des christlichen Bekenntnisses mögen sich in diesem
Zustande befinden! Sie wissen nicht, was es heißt, durch den
inwohnenden Geist mit einem auferweckten und verherrlichten
Haupt in den Himmeln vereinigt zu sein. Sie stehen tatsächlich
unter dem Gesetz, entbehren das gesegnete Bewußtsein eines
festen, unerschütterlichen Friedens mit Gott und genießen
nicht die Freiheit, womit Christus die Seinigen freigemacht hat.
Sie befinden sich in Knechtschaft und sind mit allerlei Zweifeln und Besorgnissen erfüllt. Viele gehen ihr ganzes Leben in
diesem beklagenswerten Zustand einher, und vielleicht erst
auf ihrem Sterbebett empfangen sie ein klares Verständnis
über die Wahrheit, daß Christus auferstanden und verherrlicht
ist, und an Ihn glaubend werden sie erst dann versiegelt und
in die herrliche Freiheit des Evangeliums Gottes gebracht. Sie
sind während ihres ganzen Leben ihrer kostbarsten Vorrechte
beraubt gewesen; durch Gesetzlichkeit, falsche Belehrung oder
aus irgendeinem anderen Grunde sind sie unwissend geblieben
über die Dinge, die uns von Gott geschenkt sind. Statt die
gesegnete Nähe Gottes zu genießen, die das Teil aller ist, die
einfach an den Namen Seines Sohnes Jesu Christi glauben,
sind sie in Finsternis und in einer gewissen Entfernung von
Ihm einhergegangen.
Indessen wollen wir uns nicht länger bei diesem interessanten Unterschied zwischen Erweckung und Versiegelung aufhalten, sondern möchten die ernste Aufmerksamkeit des christlichen Lesers auf die inhaltsschweren Mahnworte lenken, mit
denen wir unsere Betrachtung begannen: „Betrübet nicht den
Heiligen Geist Gottes, durch welchen ihr versiegelt seid auf
den Tag der Erlösung".
Dieses Wort setzt voraus, daß der Christ weiß, daß er mit
dem Heiligen Geiste versiegelt ist. Alle christliche Ermahnung
gründet sich auf die Tatsache und das Bewußtsein, daß wir
eine christliche Stellung einnehmen und christliche Vorrechte
genießen. Wir würden nicht den Heiligen Geist betrüben kön217
nen, wenn Er nicht in uns wäre. Doch wenn wir uns bewußt
sind, daß eine solche erhabene Person, wie der Heilige Geist
Gottes es ist, in uns wohnt und unseren Leib zu Seinem Tempel gemacht hat, welch ein mächtiger Beweggrund zu einem
heiligen Leben wird das für uns sein! Ach! wie ängstlich sollten wir besorgt sein, Ihn nicht zu betrüben! Wie sollten wir
gegen jedes Wort, gegen jeden Gedanken und jede Tat wachen,
die dem göttlichen Gast, der Seine Wohnung in uns aufgeschlagen hat, anstößig sein könnten! Gereiztheit, unfreundliches Wesen, unnützes Geschwätz, Leichtfertigkeit, Eigenliebe,
Weltlichgesinntheit, das alles sollte von uns mit allem Ernst
gerichtet werden. Wir sollten uns stets fragen, nicht ob das,
was wir tun und reden, für uns, sondern ob es für Ihn, den
Heiligen, mit Dem wir auf den Tag der Erlösung versiegelt
sind, passend ist. Vieles könnte für uns vielleicht passend scheinen, während es den Heiligen Geist betrübt. Möge der Herr
uns befähigen, Seine Worte der Ermahnung aufzunehmen und
zu beherzigen, damit wir Seinen heiligen Namen in unserem
täglichen Leben mehr verherrlichen!
Es bleibt uns noch übrig, einige Worte über den Heiligen
Geist als „Unterpfand" zu sagen. Er ist „das Unterpfand
unseres Erbes, zur Erlösung des erworbenen Besitzes". Das
Erbe ist erworben; der Preis ist dafür bezahlt worden. Aber es
ist noch nicht erlöst. Hierauf warten wir, und während wir
warten, hat uns unser Gott in Seiner bewunderungswürdigen
Gnade das Unterpfand Seines Geistes gegeben, so daß wir des
Erbes so sicher sind, als wenn wir es schon in Besitz hätten.
Paulus spricht auch im 2. Brief an die Korinther von dem Heiligen Geist als Pfand. Wir lesen da Kap. 1, 21. 22: „Der uns
aber mit euch befestigt in Christum und uns gesalbt hat, ist
Gott, der uns auch versiegelt hat und hat das Pfand des Geistes in unsere Herzen gegeben". — Welche herrlichen Worte!
Indessen müssen wir uns wohl hüten, die beiden Begriffe
„Erwerben" oder „Erkaufen" und „Erlösen" miteinander zu
verwechseln. Viele haben dies getan und sind dadurch in allerlei verhängnisvolle Irrtümer geraten. Unser Herr Jesus Christus hat das ganze Weltall erworben oder erkauft. Er hat den
Lösepreis für das Erbe bezahlt, aber Er hat noch nicht Seine
218
mächtige Hand in erlösender Kraft darauf gelegt. Wir finden
in Röm 8 eine herrliche Stelle, die mit dem vorliegenden Gegenstand in unmittelbarer Verbindung steht und unserem Verständnis darüber zu Hilfe kommt. Nachdem der Apostel gesagt
hat, daß wir nicht einen Geist der Knechtschaft, wiederum zur
Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft empfangen haben,
in welchem wir „Abba, Vater!" rufen, und daß wir Erben
Gottes und Miterben Christi sind, wenn wir anders mit Ihm
leiden, fährt Er fort: „Denn ich halte dafür, daß die Leiden
der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der
zukünftigen Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll.
Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die
Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung ist der
Eitelkeit unterworfen worden auf Hoffnung, daß auch selbst
die Schöpfung freigemacht werden wird von der Knechtschaft
des Verderbnisses zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder
Gottes. Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen
seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt. Nicht
allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlinge
des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft, die Erlösung unseres Leibes" (V. 18—
23).
Sowohl in bezug auf den Leib des Gläubigen, als auch in
betreff des Erbes ist der Lösepreis bezahlt worden, aber beide
sind bis jetzt noch nicht erlöst; „wir seufzen in uns selbst".
Wir sehnen uns nach der Erlösung und warten auf den Augenblick unserer Befreiung. Wir erwarten den Herrn Jesum Christum als Heiland aus den Himmeln, „der unseren Leib der
Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem
Leibe der Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der er
vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen" (Phil 3, 20. 21).
Welch eine herrliche Aussicht, was für eine köstliche Erwartung ! Wie erquickend für den müden, leidenden Pilger, der
die Last seiner armen, zerfallenden Hütte fühlt! Der Herr ist
nahe! Bald wird die Stimmes des Erzengels und die Posaune
Gottes ertönen und das Sterbliche verschlungen werden von
dem Leben. Bis dahin sind wir versiegelt mit dem Geiste Gottes, Der das Unterpfand ist, nicht Seiner Liebe, denn diese
besitzen wir, sondern des Erbes, das wir erwarten.
219
Maria am Grabe
In Johannes 20 finden wir ein schönes, lebendiges Beispiel
von wahrer, ungeheuchelter Liebe zu Christo. Maria Magdalena kam „früh, als es noch finster war", zur Gruft; sie wartete nicht, bis die Sonne aufging, sondern ihre Liebe trieb sie,
während noch die Schatten der Nacht über Jesrualem lagerten,
nach dem einzigen Fleckchen auf der Erde, das noch Interesse
für sie hatte.
Sie eilte zu dem Grabe ihres Herrn. Was konnte die Welt
ihrem Herzen noch bieten? Der Eine fehlte, Dessen gesegnete
Person es ganz ausfüllte. Was war die Erde für sie? Nichts als
das Grab ihres geliebten Herrn. Diesen Charakter sollte diese
Erde auch heute noch für alle haben, die mit Jesu verbunden
sind. Prüfen wir uns, ob sie wirklich nichts anderes für uns ist
als das Grab Jesu.
Doch ach! Maria findet das Grab leer. Diese Entdeckung
erfüllt sie mit dem tiefsten Schmerz. Jetzt ist ihr, wie sie
glaubt, alles genommen. Selbst der Leib ist verschwunden.
Trauernd steht sie an der Gruft und weint draußen. Petrus
und Johannes kehren nach Hause zurück, nachdem sie das
Grab untersucht und sich überzeugt haben, daß es wirklich leer
ist. Aber nicht so Maria. Wie konnte sie Ruhe finden, so lange
sie nicht wußte, wo ihr geliebter Herr war? Wie rührend ist
ihre Antwort auf die Frage der Engel, warum sie weine! „Weil
sie meinen Herrn weggenommen", sagt sie, „und ich nicht
weiß, wo sie ihn hingelegt haben". Es war ihr Herr, ihr geliebter Jesus, den sie verloren hatte und nach dem ihr Herz
sich sehnte. Sie geht nicht nach Hause. Da Jesus ihr fehlt, so
hat sie keine Heimat mehr. Mit gebrochenem Herzen steht sie
weinend da und starrt in die leere Gruft.
Oh, welch eine Sprache redet diese arme, in Tränen zerfließende Frau zu unseren Herzen! Findet sich auch bei uns eine
so innige, persönliche Liebe zu dem Herrn, die durch nichts
220
befriedigt werden kann als durch Seine gesegnete Person
Selbst? Wenn man uns fragte, was der allgemeine Charakterzug der gegenwärtigen Tage sei, was würden wir antworten
müssen? Wollten wir die Wahrheit reden, so müßten wir
sagen: „Gleichgültigkeit, ja Herzlosigkeit gegenüber der Person Christi". Wie betrübend, wie schmerzlich ist dies für jedes
Herz, das Christum liebhat, und wieviel mehr noch für Ihn
Selbst, der Sich um unseretwillen völlig vergaß und, um uns
zu besitzen, „alles verkaufte, was er hatte", ja Sein eigenes,
teures Leben dahingab! Erlaube mir die Frage, geliebter Leser:
Was ist Christus für dich? Ist Er dein Ein und Alles, dein
köstlichstes Teil? Richtet sich nach Ihm dein ganzes Leben,
dein ganzes Tun und Lassen? Begehrst du, wie Paulus, Ihn zu
erkennen und in Ihm erfunden zu werden? Achtest du um
Seinetwillen alles für Verlust? Ach! wie klein ist die Zahl
derer, die in Wahrheit Ihm treu ergeben sind! Es fehlt nicht
an Erkenntnis über die göttlichen Ratschlüsse, über die Tragweite des Werkes Christi, über die Vollkommenheit unserer
Errettung, über die Hoffnungen des Gläubigen. O nein, es
herrscht in unseren Tagen durch die Gnade Gottes über alle
diese Wahrheiten mehr Licht als je. Und doch sind viele Herzen so trocken, so leer und so kalt. Und weshalb? Weil die
Person Christi nicht den Wert für sie hat, den sie für jene Frau
hatte. Allerlei Dinge nehmen das Herz ein und lassen keinen
Raum für Christum. Die Hoffnung, Ihn zu sehen, hat, obgleich sie bekannt wird, ihre lebendige Kraft und Frische verloren. Das Auge hat sich von Ihm abgewandt und sucht nach
einem Ersatz in dieser Welt, einer Welt, die Ihn verworfen
und gekreuzigt hat, die einem schrecklichen Gericht entgegengeht. Mehr als je gelten die ernsten Mahnworte des Apostels:
„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten,
und der Christus wird dir leuchten" (Eph 5, 14)! und: „Richtet
auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie und machet
gerade Bahn für eure Füße, auf daß nicht das Lahme vom
Wege abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde" (Hebr 12,
13)!
Doch kehren wir zu unserer Erzählung zurück. Während
Maria noch mit den Engeln redet, tritt der Herr von hinten
auf sie zu und fragt: „Weib, was weinst du? Wen suchst du?"
Maria, in der Meinung, es sei der Gärtner, antwortet: „Herr,
221
wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt
hast, und ich werde ihn wegholen" (V. 14. 15). Beachten wir
hier, wie die wahre Liebe die Gedanken anderer gänzlich nach
ihren eigenen abmißt. Maria sagt nicht, wer es sei, den sie
sucht, sondern sie spricht einfach von „Ihm". Ihre Gedanken
sind so einzig und allein mit Jesu beschäftigt, ihr Herz ist so
ganz von Ihm erfüllt, daß sie voraussetzt, alle anderen müßten
wissen, um wen es sich handle. Es kommt ihr gar nicht in den
Sinn, daß Jesus für andere weniger Wert haben könne, als für
sie selbst. Ach, wie wenig finden wir von einer solchen Liebe
in uns und um uns her!
Zugleich mißt Maria auch ihre Kraft nach ihrer Liebe ab.
„Ich werde ihn wegholen", sagt sie. Hätte sie einen Augenblick
überlegt, so würde sie, als schwache Frau, wohl gezögert haben,
eine solche Aufgabe zu übernehmen. Aber die Liebe überlegt
nicht lange; für sie gibt es keine Schwierigkeiten; ihre Kraft
liegt in ihr selbst. Und jetzt ist der Augenblick für den Herrn
gekommen, um Sich Seiner Jüngerin zu erkennen zu geben.
Welch ein Augenblick für Ihn und für sie! Er „ruft Sein eigenes Schaf mit Namen", und sie „hört Seine Stimme" (Joh 10).
„Jesus spricht zu ihr: Maria! Sie wendet sich um und spricht
zu ihm auf hebräisch: Rabbuni! das heißt: Lehrer!"
Welche Gefühle mögen in diesem Augenblick das Herz der
armen Frau bewegt haben! Der Herr, dessen tote Hülle sie mit
Schmerzen gesucht hatte, stand jetzt lebend vor ihr. Er war
auferstanden; der Tod hatte Ihn nicht behalten können. Sie
hatte Ihn wieder, den ihre Seele liebte. Wie wichtig und bedeutungsvoll ist zugleich diese Szene für alle Zeiten! Die Geschichte des ersten Gartens mit einem gefallenen Menschenpaar, das durch die Hand eines heiligen Gottes ausgetrieben
wurde, hat ihren Abschluß am Kreuze Jesu gefunden, und hier
in diesem zweiten Garten finden wir einen auferstandenen Menschen und eine erlöste Frau, deren Liebe zu Seiner Person der
Herr so hoch schätzt, daß Er sie beauftragt, Seinen Jüngern die
wunderbarste Botschaft zu überbringen, die je über menschliche Lippen gekommen ist: „Gehe hin zu meinen Brüdern
und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und
eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott".
222
Möge der Herr in den Herzen Seines Volkes in diesen Tagen
der Verwirrung und der geistlichen Dürre ein wahres Selbstgericht erwecken, damit sich eine völligere Hingabe an Ihn
und ein größerer Eifer für Seine Ehre und Seine Interessen
offenbare!
O Jesu, daß Dein Name bliebe
Im Grunde tief gedrücket ein!
Macht' Deine süße Jesusliebc
In Herz und Sinn gepräget sein!
Im Wort, im Werk, in allem Wesen
Sei Jesus und sonst nichts zu lesen!
„Und ihr, seid Menschen gleich,
die auf ihren Herrn warten ! "
Lukas 12, 36
Das, was die Gläubigen charakterisieren sollte, ist nicht,
bloß an der Lehre von der Ankunft des Herrn festzuhalten,
sondern täglich auf Ihn zu warten. Ihre Seelen sollten sich in
dem Zustande steter Erwartung befinden, der Erwartung, Ihn
zu sehen, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Und zwar nicht
deshalb, weil diese Welt, die ihnen feindlich entgegentritt, im
Begriff steht, gerichtet zu werden. Wir haben Gnade empfangen und warten auf Ihn, Der uns errettet hat, um dann völlig
zu erkennen, was Er in Seiner köstlichen Person für uns ist.
Das Gericht ist nicht der Gegenstand unserer Hoffnung und
unserer Freude, wie dereinst für die Heiligen, die sich während
der Zeit der großen Drangsal auf der Erde befinden werden;
denn „jeder Streich der verhängten Rute, die Jehova auf ihn
herabfahren läßt, ergeht unter Tamburin- und Lautenspiel"
(Jes 30, 32). Unser Teil ist vielmehr, einfältig auf Ihn zu warten. Der ganze Wandel und Charakter eines Gläubigen hängt
davon ab, ob er auf den Herrn wartet. Jeder sollte an uns erkennen können, daß wir nichts in dieser Welt zu tun haben,
223
als hindurchzugehen, daß wir kein Teil in ihr besitzen, und
daß wir uns bekehrt haben „von den Götzenbildern zu Gott,
dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn
aus den Himmeln zu erwarten" (1. Thess 1, 9. 10). Zu dieser
Hoffnung waren die Thessalonicher bekehrt worden; da sie
einer Welt angehörten, die Gottes Sohn verworfen hatte, so
mußten sie sich von diesen Götzenbildern abwenden, um „dem
lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus
den Himmeln zu erwarten."
Was ich allen meinen Lesern recht dringend ans Herz legen
möchte, ist, persönlich auf den Herrn zu warten, nicht die
Lehre von Seiner Ankunft zu kennen, sondern wirklich fäglich auf Ihn zu warten. Worin auch der Wille des Herrn bestehen mag — ich werde sicher wünschen, daß Er mich bei
Seiner Ankunft Seinen Willen tuend finden möchte. Doch das
ist nicht die wichtigste Frage; diese lautet vielmehr: Warte ich
auf Ihn Tag für Tag? In 1. Thess 2 wird die Hoffnung auf die
Ankunft Christi mit dem Dienste in Verbindung gebracht:
„Denn wer ist unsere Hoffnung, oder Freude, oder Krone des
Ruhms? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesu bei seiner
Ankunft?" In jenem Augenblick wird Paulus den Lohn seines
Dienstes für die Heiligen empfangen. Dann in Kapitel 3 wird
die Hoffnung mit unserem Wandel verbunden, als ein Beweggrund zur Heiligkeit: „Tadellos in Heiligkeit vor unserem
Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesu mit allen
seinen Heiligen." In Kapitel 4 endlich wird die Lehre der Hoffnung entfaltet und die Art und Weise, wie sie sich erfüllen
wird, mitgeteilt: „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem
Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune
Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in
Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir
allezeit bei dem Herrn sein". Wir sehen aus diesen Worten,
wie gegenwärtig die Erwartung der Ankunft des Herrn in den
Gläubigen war. Paulus sagt: „Wir, die Lebenden, die übrigbleiben". Warum „wir"? Weil er die Ankunft damals erwartete. Das war sein Charakter damals, der Charakter eines
Menschen, der auf seinen Herrn wartet. Und verliert er diesen
Charakter, weil er gestorben ist, bevor der Herr kam? Nein,
224
durchaus nicht. Obgleich Petrus eine Offenbarung empfangen
hatte, daß er seine Hütte ablegen sollte, so wartete er doch
täglich auf die Ankunft des Herrn. Dies war sein Charakter
damals und wird es auch sein, wenn der Herr kommt; er wird
nichts durch seinen Tod verlieren. „Und ihr, seid Menschen
gleich, die auf ihren Herrn warten!"
Die Apostel und die Gläubigen der damaligen Zeit warteten
gleich Knechten, die an der Haustür stehen, damit sie, wenn
ihr Herr klopft, sogleich bereit sind, ihm zu öffnen. Dies ist
natürlich ein Bild, aber es findet sich darin die gegenwärtige
Kraft der Erwartung ausgedrückt. Wodurch ist der Verfall und
das Verderben so rasch in die Kirche eingedrungen? Weil sie
angefangen hat zu sagen: „Mein Herr verzieht zu kommen";
aber „glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt,
wachend finden wird!"
„Es seien eure Lenden umgürtet und eure Lampen brennend." Bei der Tracht der damaligen Zeit war es nötig, um
dienen zu können, die Gewänder aufzuschürzen und seine
Lenden zu umgürten. So sollen auch wir unsere Gewänder
nicht lose herabfallen, mit anderen Worten, unsere Gedanken,
Gefühle und Zuneigungen nicht umherschweifen lassen, sondern stets zum Dienst bereit sein, mit wohl aufgeschürzten
Kleidern und brennenden Lampen. Dies ist selbstverständlich
kein Zustand der Ruhe; im Gegenteil ist es eine außerordentlich ermüdende Sache, eine lange finstere Nacht hindurch zu
wachen. Aber in dem Geiste unseres Dienstes müssen Herz,
Zuneigungen, Gedanken, Gefühle und Wünsche stets wohl
umgürtet sein. Es erfordert wirklich Anstrengung, dem Fleisch
nie zu erlauben, seinen eigenen Weg zu gehen; es ist zu Zeiten
eine große Erleichterung, dies, wenn auch nur für einen Augenblick, zu tun; aber wenn es geschieht, werden wir sicher gleich
den zehn Jungfrauen einschlafen. Denn so wie die Jungfrauen
sich mit dem ö l in ihren Lampen zum Schlaf niederlegten, so
können auch wir mit dem Heiligen Geist in unseren Herzen
einschlummern. Doch glückselig alle Knechte, die der Herr
wachend finden wird! Der Herr ruft uns gleichsam zu: Jetzt
ist es an euch, umgürtet zu sein und in Liebe zu dienen und zu
wachen; aber wenn ich wiederkomme, dann wird es an mir
sein, mich zu umgürten und hinzutreten und euch zu bedienen
225
(V. 37). Ihr müßt inmitten des Bösen wohl umgürtet sein und
wachen; aber wenn das Böse gerichtet und hinweggetan ist,
dann mögt ihr ausruhen von eurer Arbeit. Einmal angekommen im Hause des Vaters, könnt ihr euch niederlegen und der
Ruhe pflegen. An jenem gesegneten Orte der Reinheit und
Heiligkeit könnt ihr eure Kleider herabwallen, eure Zuneigungen, Gedanken und Gefühle frei ausströmen lassen, ohne befürchten zu müssen, sie zu besudeln. J. N. D.
„Bleibet in mir und ich in euch"
Das fünfzehnte Kapitel des Evangeliums Johannes trägt vor
allen anderen Abschnitten dieses herrlichen Buches einen ermahnenden Charakter. Es redet vom Fruchttragen und von der
Verantwortlichkeit des Jüngers Christi; es fordert Frucht von
einem jeden, der bekennt, ein solcher Jünger zu sein. Israel
war vor Alters der Weinstock Gottes auf dieser Erde (vgl.
Ps 80, 8—19) und Gott hatte Frucht an ihm gesucht, aber nichts
gefunden als Herlinge. Aber dann kam Christus, der wahre
Weinstock, die Quelle alles Fruchttragens; und wie Gott einst
an Israel Frucht suchte, so sucht Er sie jetzt an einem jeden,
der den Namen Seines Sohnes bekennt. „Wer da sagt, daß er
in ihm bleibe, ist (infolge dieses Bekenntnisses) schuldig, selbst
auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat" (1. Joh 2, 6).
Von dieser Verantwortlichkeit, die aus unserem Bekenntnis
erwächst, ist an vielen Stellen der Heiligen Schrift die Rede.
„Ihr seid das Salz der Erde", sagt der Herr zu Seinen Jüngern,
fügt aber dann sogleich hinzu: „Wenn aber das Salz kraftlos
geworden ist, womit soll es gcsaLen werden? Es taugt zu nichts
mehr, als hinausgeworfen und von den Menschen zertreten zu
werden". Und weiterhin: „Ihr seid das Licht der Welt: eine
Stadt, die oben auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen
sein" (Mt 5, 13. 14). Welche treffenden Bilder sind dies von
der bestimmten Wirkung, die das Zeugnis von denen, die das
Volk Gottes genannt werden, hervorbringen soll! „Denn der
226
Name Gottes wird eurethalben unter den Nationen gelästert",
mußte an einige geschrieben werden, die ihrer Verantwortlichkeit nicht entsprochen hatten (Röm 2, 24), während der Apostel an die Korinther schreiben konnte: „Die ihr offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, gekannt und gelesen
von allen Menschen" (2. Kor 3, 2. 3). Diese Stellen reden also
von einem Zeugnis vor den Menschen, während es sich in
Joh 15 mehr um das Fruchttragen für Gott handelt. Aber hier
wie dort wird der gleichen Verantwortlichkeit Ausdruck gegeben, die auf denen ruht, die das Volk Gottes in dieser Welt
genannt werden. Es wird ein Wandel gefordert, der dem Worte
Gottes entspricht, und zugleich Verwerfung und Gericht von
Seiten Gottes angekündigt, wenn dieser Wandel fehlt.
Der Landmann erwartet nicht nur Frucht von einem Teil des
von ihm bebauten Ackers, sondern von dem ganzen Acker,
und so richten sich auch die Forderungen Gottes an alle, die
das Evangelium gehört haben, und vor allem an die, welche
Seinen Namen bekennen. Alle, die sich Christen nennen und
dadurch bekennen, Nachfolger Christi zu sein, gelten als
Reben an dem Weinstock. Wir finden daher in Joh 15 dieselbe
Wahrheit wieder, der in so vielen ernsten Stellen des Neuen
Testaments Ausdruck gegeben wird, daß es nämlich unter den
bekennenden Christen zwei bestimmt unterschiedene Klassen
gibt: solche, die Frucht tragen, und solche, die keine Frucht
bringen, solche, deren Wandel mit ihrem Bekenntnis in Übereinstimmung steht, und solche, die am Ende ihres Weges
„nackt" erfunden werden. Von dieser Art ist das Gleichnis des
Säemanns in Mt 13, wo nur eine Klasse der Hörer Frucht
bringt, und zwar die, welche den Samen des Wortes Gottes in
gutem Boden, d. h. in einem zubereiteten und verständnisvollen Herzen aufnehmen. Solche bringen ausnahmslos Frucht,
aber auch nur sie. Ähnliches finden wir in den Gleichnissen
von den Pfunden und von den Talenten (Lk 19; Mt 25); der
eine Knecht, der am Ende dem Gericht begegnet, ist der, welcher keinen Gebrauch von seinem Pfunde oder von seinen
Talenten gemacht hat; er hat das Geld seines Herrn nicht einmal in die Bank gegeben, damit dieser es bei seiner Rückkehr
hätte mit Zinsen zurückfordern können. So wird auch in Kapitel 6 des Hebräerbriefes der Mensch, der von allen den Vor227
rechten des Evangeliums abfällt, mit einem Acker verglichen,
der nur Dornen und Disteln hervorbringt, obwohl alles an ihm
geschehen ist, was geschehen konnte, und der deshalb „dem
Fluche nahe und dessen Ende Verderben ist".
In dem Kapitel, das wir betrachten, lesen wir, daß die Reben,
die keine Frucht bringen, abgeschnitten werden, und „sie verdorren, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie
verbrennen." Es ist sehr wichtig, zu beachten, daß in allen angeführten Stellen sich nicht ein einziger Fall findet, wo ein
Mensch anfänglich Frucht bringt und dann fruchtleer wird;
selbst in den beiden zuletzt genannten Kapiteln, Hebr 6 und
Joh 15, die schon manchen Seelen Schwierigkeiten gemacht
haben, trifft das Gericht nur solche, die in den Augen Dessen,
Der alles sieht, keine Frucht getragen haben, absolut keine von
Anfang bis zu Ende. „Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt,
die nimmt er weg". In einer solchen Rebe ist kein wahres
Leben, kein Leben aus Gott. „Denn wie der Leib ohne Geist
tot ist, so ist auch der Glaube ohne die Werke tot" (Jak 2, 26).
Die Worte des Herrn: „Jede Rebe an mir" erfordern noch
eine kurze Erklärung. Wir dürfen hier selbstverständlich nicht
an jene innige, unauflösbare Verbindung denken, von der wir
in Römer 8 und Epheser 2 lesen. Die Rebe, von der hier gesprochen wird, ist nicht in demselben Sinne „in Christo", wie
der wahre Gläubige durch den Heiligen Geist in Ihm ist. Von
dieser Wahrheit, daß Gott uns als in Christo betrachtet, und
daß wir in Ihm versetzt sind in die himmlischen örter, ist an
dieser Stelle gar nicht die Rede. Wir müssen die Stelle in
ihrem Zusammenhang lesen. Der Herr gebraucht das Gleichnis
des Weinstocks, um ein Bild von dem zu geben, was auf der
Erde vorging, ein Bild von dem äußeren Bekenntnis oder von
der Jüngerschaft. Alle, die bekennen, Christo nachzufolgen,
befinden sich in dem hier besprochenen Verhältnis, sie sind
Reben an dem Weinstock. Jeder aber, der nicht in Christo
bleibt, in dem sich keine lebendige Wirklichkeit, keine wahre
Abhängigkeit von Christo findet, wird weggeworfen wie die
Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie ins
Feuer, und sie verbrennen: gleichwie der Baum, der keine
Frucht bringt, abgehauen und ins Feuer geworfen wird. Das
Feuer ist bekanntlich ein Bild von Gericht und Verdammnis.
228
Doch die wahre Rebe, die in unmittelbarer Lebensverbindung mit Christo, dem Weinstock, steht und in Ihm bleibt,
bringt Frucht und wird von dem Vater gereinigt, auf daß sie
mehr Frucht bringe. Wie köstlich ist es, zu wissen, daß der
Vater der Ackerbauer ist, daß Er, Der uns so vollkommen liebt,
das Messer in der Hand hält, um alles Überflüssige, alles Unnütze, alles, was keine Frucht bringt sondern vielmehr die
Rebe hindert, Frucht zu tragen, wegzuschneiden! Die fruchttragende Rebe selbst kann nicht weggeschnitten werden, sie
bleibt im Weinstock, in Christo. Doch es möchte gefragt werden: Wenn die gute Rebe nicht weggeschnitten werden kann,
warum dann die Ermahnung: „Bleibet in mir?" — Weil es
möglich ist, daß ich, obwohl ich eine gute Rebe an dem wahren
Weinstock bin, in meinem praktischen Wandel diesen Platz
aus dem Auge verliere, d. h., daß ich aufhöre, in der fortgesetzten, innigen Gemeinschaft mit Christo und in der steten
Abhängigkeit von Ihm voranzugehen. Und was ist dann die
Folge? Sie ist von der traurigsten Art: ich bringe keine Frucht
für den Ackerbauer. Denn „außer mir könnt ihr nichts tun",
sagt der Herr; „gleichwie die Rebe nicht von sich selbst Frucht
bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock, also auch ihr
nicht, ihr bleibet denn in mir." Ach, wie viele wahre Reben,
die in lebendige Verbindung mit dem wahren Weinstock gebracht sind, gehen monatelang und jahrelang dahin, ohne viel
Frucht zu bringen! Obwohl sie ihrer Stellung nach „in Christo"
sind, nehmen sie in ihrem praktischen Leben diesen Platz nicht
ein, und deshalb sind sie ohne Kraft und unfähig, Frucht zu
bringen; denn alle Kraft liegt in Ihm verborgen. Statt daß der
Vater durch sie verherrlicht würde, wird Er vielmehr verunehrt.
Doch was sind die Folgen, wenn wir in Christo bleiben? Sie
sind ebenso herrlich und köstlich, wie sie im umgekehrten Fall
traurig sind. „Bleibet in mir, und ich in euch". Das ist die erste
Folge: Christus in uns. Wenn wir in Ihm bleiben, so ist Sein
Leben und Seine Kraft tätig in uns, ja Er Selbst ist in uns in
gefühlter Gemeinschaft. Etwas ähnliches finden wir in Kapitel
14 in den Worten: „Wer mich liebt, der wird von meinem
Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich selbst
ihm offenbar machen", und: „Wenn jemand mich liebt, so
wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben,
229
und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm
machen"; und ferner: „Wenn jemand meine Stimme hört und
die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot
mit ihm essen und er mit mir" (Offb 3, 20). Wir können nicht
Christum in unsere Herzen bringen, aber wir können in Ihm
bleiben, und dann ist Er in uns; diese beiden Dinge gehen
stets miteinander. Doch dies ist noch nicht alles. Wenn wir in
Christo bleiben, hat das nicht nur den Genuß der köstlichsten
Herzensgemeinschaft mit Ihm zur Folge, sondern gibt sich auch
äußerlich kund. „Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser
bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun". Welch
eine stete und völlige Abhängigkeit, aber auch welch eine
innige Gemeinschaft ist unser Teil! Welch eine Kraft fließt aus
dieser Gemeinschaft hervor! Durch Ihn können wir alles tun.
Paulus vermochte alles durch Den, Der ihn kräftigte. Ohne Ihn
können wir nichts tun. Erfüllt dies nicht unsere Herzen mit
tiefer, seliger Freude? Ist es nicht köstlich, so gänzlich auf Ihn
geworfen zu sein? Aber ach! wie oft vergessen wir diese völlige Abhängigkeit, und dann bedürfen wir der Zucht, um wieder daran erinnert zu werden. Denn wenn wir nicht abhängig
sind, können wir keine Frucht bringen. Wir wandeln durch
Glauben, nicht durch Schauen.
Doch es gibt hier noch etwas anderes, worauf ich aufmerksam machen möchte. Unter dem Gesetz wurde von dem Menschen Frucht gefordert, und wir wissen, daß er dieser Forderung nicht entsprechen konnte. Der Mensch im Fleische kann
keine Gott wohlgefällige Frucht bringen, er ist ganz und gar
unfähig dazu. Selbst unter der Gnade vermag er es nicht. Gott
weiß dies, und deshalb forderte Er keine Frucht mehr von dem
Menschen. Würde Er es tun, dann wäre der Mensch heute
ebenso völlig verloren, wie einst unter dem Gesetz. Selbst
nachdem wir geglaubt haben und des Lebens aus Gott teilhaftig geworden sind, sind wir unfähig, aus eigener Kraft
Frucht zu bringen. Würde Gott an uns die Forderung stellen:
„Bringt Frucht!" so würden wir einer völligen Unmöglichkeit
gegenüberstehen. Woher sollten wir die Kraft, woher die
Fähigkeit nehmen, die verlangte Frucht hervorzubringen? Doch
was sagt Gott? „Bleibet in Christo, dann werdet ihr viel Frucht
bringen, und ich werde verherrlicht werden". Wie überaus
herrlich ist das! Gott wünscht Frucht von Seinen Kindern zu
230
sehen, und da sie unfähig sind, Frucht zu bringen, hat Er ihnen
in Seinem Geliebten eine unerschöpfliche Quelle der Kraft, des
Lebens, der Weisheit, ja von allem gegeben, was sie je nötig
haben. Wo diese Wahrheit wirklich verstanden und genossen
wird, erfüllt sie das Herz mit unaussprechlicher Freude und
unerschütterlichem Frieden und befähigt zugleich zu einem
Gott wohlgefälligen, fruchtreichen Leben. Habe ich Kraft nötig?
In Christo ist die Fülle von Kraft. Brauche ich Weisheit? In
Christo ist wahre, göttliche Weisheit. Kurz, auf alle meine
Bedürfnisse gibt es die eine, völlig genügende Antwort: „Christus". Ist mein Auge auf Ihn gerichtet, pflegt mein Herz eine
stete, innige Gemeinschaft mit Ihm, so bin ich fähig, „gekräftigt mit aller Kraft nach der Macht Seiner Herrlichkeit, würdig
des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten
Werke fruchtbringend" (Kol 1, 10. 11). „Wir alle aber, mit
aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn (nicht uns,
oder unsere Schwachheit) anschauend, werden verwandelt
(nicht dereinst, wenn der Herr kommt, darum handelt es sich
hier gar nicht, sondern jetzt, hienieden) nach demselben Bilde
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den
Geist" (2. Kor 3, 18).
Ach! wie viele Tausende der teuren Kinder Gottes mühen
sich Tag für Tag rastlos ab, Gott aus eigener Kraft Frucht zu
bringen! Aber statt dem Ziele näher zu kommen, sehen sie es
täglich weiter entschwinden. Statt Fortschritte zu machen, erkennen sie mehr und mehr, daß sie das Gute, das sie wollen,
nicht tun, während sie das Böse, das sie nicht wollen, ausüben.
Woher kommt dies? Weil sie etwas tun wollen, was Gott gar
nicht von ihnen fordert und was sie gar nicht zu tun vermögen:
Frucht bringen aus ihrer eigenen Kraft. Gott muß sie darum
zuschanden werden lassen. Statt sich selbst zu vergessen, und
sich zu betrachten, wie Gott sie betrachtet, als völlig wertlos
und unfähig zu irgend etwas Gutem, ja mehr als das, als gerichtet und gestorben mit Christo auf dem Kreuze, sind sie mit
ihrem eigenen Ich und mit ihrem eigenen Tun beschäftigt. Statt
mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anzuschauen, sich in Ihn zu versenken und auf diese Weise Seine
Kraft in ihre Herzen einströmen zu lassen, betrachten sie sich
und ihre Schwachheit. Wie töricht ist das! Kann ein Lahmer
dadurch Kraft gewinnen, daß er unaufhörlich seine gelähmten
231
Beine betrachtet und darüber wehklagt, daß sie ihm nicht gehorchen wollen? Unmöglich. Soll ihm Hilfe gebracht werden,
dann muß sie von einem anderen außer ihm kommen.
Geradeso ist es mit dem Gläubigen. Die Kraft zum Wandel
und Leben liegt außer ihm, in Christo, und darum die Ermahnung: „Bleibet in mir!" Sein Leben ist ein Leben des Glaubens.
Ein schönes Vorbild von einem solchen Leben sehen wir in
Paulus, dem treuen Knecht des Herrn. Er konnte sagen: „Was
ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch
den an den Sohn Gottes" (Gal 2, 20). Sich mit mir selbst beschäftigen ist kein Glaube. Ich denke dann an mich, dazu ist
kein Glaube nötig. Das eigene Ich ist mein Gegenstand; vielleicht bin ich beunruhigt, indem ich fühle, daß ich mich in
Knechtschaft befinde, vielleicht auch gehe ich in Selbstgefälligkeit einher und bin mit einem Tun recht zufrieden, in beiden
Fällen aber wandle ich nicht durch Glauben, sondern vielmehr
durch meine Gefühle. Ist der Glaube in mir wirksam, so habe
ich Christum zu meinem Gegenstande — Er ist es, auf den ich
mich stütze — nicht aber mich selbst oder meine Gefühle,
mögen sie nun gut oder schlecht sein. Selbst die Segnungen,
die der Herr uns gibt, können, wenn wir nicht wachsam sind,
zu einem Anlaß werden, Seine Person aus den Augen zu verlieren. Wir sind so leicht geneigt, in den Segnungen zu ruhen
und dann die Gemeinschaft und Gewissensübung zu verlieren,
die aus einer täglichen, wahren Abhängigkeit von Christo hervorfließen. „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller
Freude und allem Frieden im Glauben" — d, h. in der Übung
des Glaubens. Durch Schauen wandeln ist unsere stete Versuchung, durch Glauben wandeln heißt: überwinden durch die
Macht Gottes. „Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden
hat: unser Glaube" (1. Joh 5, 4).
„Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben,
so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen" (Vers 7). Hier heißt es nicht mehr: „Wenn ihr in mir
bleibt und ich in euch", sondern: „und meine Worte in euch
bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt usw." Das heißt,
hier ist Gehorsam und Einsicht in die Gedanken Christi vorhanden. Wenn Seine Worte in uns bleiben, so wird unser
Wille mit Seinem Willen in Übereinstimmung sein, wir werden
232
nichts anderes bitten, als was Er will; „und dies ist die Zuversicht, die wir zu ihm haben, daß, wenn wir etwas nach
seinem Willen bitten, er uns hört'' (1. Joh 5, 14). Es ist also
möglich, die Gedanken und den Willen Gottes zu kennen und
das inbrünstige Gebet eines Gerechten zu beten, welches viel
vermag. Aber um dies zu können, müssen wir den Fußtapfen
Christi nachfolgen, Der nie Sich Selbst gefiel. Das Vertrauen
des Herzens muß auf Gott gestützt sein und Sein Wort muß
in uns bleiben, d. h. die einzige Richtschnur für unseren Wandel, für unser Tun und Lassen bilden. Nur Einer war auf
dieser Erde, der sagen konnte: „Ich weiß, daß du mich allezeit
erhörst"; aber wir sind ermahnt, des Beispiels des Elias zu
gedenken, der „ein Mensch war von gleichen Gemütsbewegungen wie wir, und er betete mit Gebet, daß es nicht regnen
sollte, und es regnete nicht auf der Erde drei Jahre und sechs
Monate. Und wiederum betete er, und der Himmel gab Regen,
und die Erde brachte ihre Frucht hervor". Zugleich aber dürfen
wir nie vergessen, daß ein wirkungsvolles Gebet stets einen
gereinigten Herzenszustand voraussetzt. „Geliebte, wenn unser
Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott,
und was irgend wir bitten, empfangen wir von ihm, weil wir
seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun"
(1. Joh 3, 21. 22).
„Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht
bringet, und ihr werdet meine Jünger sein" (V. 8). Der Herr
spricht hier von Seinem Vater, Dessen Willen zu tun Er gekommen war und den Er Seinen Jüngern geoffenbart hatte.
Die Jünger waren die Frucht Seines Werkes, und wenn sie
durch die Gnade Christi viel Frucht brachten, so wurde der
Vater verherrlicht. Dasselbe gilt heute von uns. Christus ist,
nachdem Er Sein Zeugnis auf Erden vollendet hatte, zum Vater
zurückgekehrt, und wir sind zurückgelassen, um gleichsam an
Seiner Stelle die Zeugen Gottes auf Erden zu sein. Sind wir
nun treue Zeugen, so wie Er es war, und bringen wir viel
Frucht, so wird der Vater durch uns verherrlicht, und wir sind
unserem Herrn und Meister nach unserem Maße ähnlich: „Ihr
werdet meine Jünger sein". Wie köstlich ist es, auf diese Weise
gewürdigt zu sein, an dem Werke Gottes und Seines Sohnes
teilzunehmen! Hier ist nicht die Rede von unserer Gemeinschaft mit dem Vater, von unserem Verhältnis als Söhne, son233
dem wir werden als Jünger und Knechte betrachtet, dennoch
aber Freunde genannt und als Freunde behandelt. Von diesem
Standpunkt aus müssen wir die Gnade unseres Herrn bewundern, die Ihn so zu uns reden läßt. Er ladet uns ein, Sein Werk
zu treiben, und rechnet auf das Interesse unserer Herzen an
dem Werk, das zur Verherrlichung des Vaters dient, und —
beachten wir es wohl! — dies alles in unmittelbarer Verbindung mit dem Ende von Kapitel 13, wo Er zu Petrus sagen
muß: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: der Hahn wird nicht
krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast". Einem solchen
Herrn dürfen wir vertrauen. Welch eine anbetungswürdige
Gnade gibt sich in Seinen Worten kund! Noch wenige Stunden, und die armen, schwachen Schafe sollten Ihn verlassen
und würden fliehen. Der Herr wußte dies, und dennoch ist Er
hier nur beschäftigt, ihnen Seine Liebe mitzuteilen und sie in
der Wahrheit aufzuerbauen. Er kannte ihre Herzen, aber Er
war der gute Hirte Seiner Schafe, und „da er die Seinigen, die
in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende".
Weiter redet der Herr zu den Jüngern von Seiner Liebe und
versetzt sie in den Kreis göttlicher Zuneigung. „Gleichwie der
Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt" — ein wunderbarer Vergleich, auf dem unsere Herzen mit Wonne ruhen
können — „bleibet in meiner Liebe". Wie wir in Ihm bleiben
sollen, so sollen wir auch in Seiner Liebe bleiben, in diesem
lieblichen Ruheplatz der Seele auf der beschwerlichen Reise
durch diese Welt. Doch wie können wir in Seiner Liebe bleiben? Wenn wir Seine Gebote halten. Tun wir das, was Ihm
wohlgefällt, wandeln wir in dem Pfade des Gehorsams, so erfahren und genießen wir Seine Liebe in unseren Herzen, so
wie Jesus Selbst die Gebote Seines Vaters hielt und in Seiner
Liebe blieb — ein Beweis von der wunderbaren und gesegneten
Wirklichkeit Seines Pfades der Abhängigkeit und des Gehorsams, obwohl Er Sohn war. Es war Seine Freude, Sein Trank
und Seine Speise, den Willen Dessen zu tun, Der Ihn gesandt
hatte, und Sein Werk zu vollbringen (Joh 4, 34). Und Er will,
daß wir ebenfalls diese Freude genießen sollen. „Dies habe ich
zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch sei, und eure
Freude völlig werde" (V. 11). Der Herr wolle in Seiner Gnade
geben, daß wir in Wahrheit in Seiner Liebe bleiben, indem wir
234
Seine Gebote erfüllen und das vor Ihm Wohlgefällige tun!
Dann wird Seine Freude und Sein Friede in unserem Herzen
wohnen; unser Pfad wird ein glücklicher und gesegneter sein
und zur Verherrlichung des Vaters gereichen.
Was ist die Vergebung im Evangelium ?
Es gibt wohl kaum einen Punkt, über den unter vielen, die
sich Christen nennen, weniger Verständnis herrscht, als über
die Vergebung der Sünden. Insbesondere sind es zwei Klassen
von Personen, die sich über diesen Gegenstand täuschen. Die
einen meinen, Gott sei so gütig, daß Er am Ende über alles,
was sie getan haben, hinweggehen werde. Nach ihren Gedanken ist die Güte Gottes so groß, daß sie Ihn gleichgültig gegen
die Sünde macht und Ihn alles vergeben läßt. Sie vergessen,
daß Gott gerecht und heilig ist, und daß Er von den Menschen
Rechenschaft fordern wird über alle ihre Worte und Werke,
wie dies die folgenden Schriftstellen klar bezeugen: „Ich sage
euch aber, daß von jedem unnützen Wort, das irgend die Menschen reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben
werden am Tage des Gerichts" (Mt 12, 36). „An dem Tage, da
Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesum
Christum" (Röm 2, 16). „Denn dieses wisset und erkennet ihr,
daß kein Hurer oder Unreiner oder Habsüchtiger (der ein Götzendiener ist), Erbteil hat an dem Reiche Christi und Gottes.
Niemand verführe euch mit eitlen Worten; denn dieser Dinge
wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams" (Eph 5, 5. 6). „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten
seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen wider alle und
völlig zu überführen alle ihre Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von
all den harten Worten, welche gottlose Sünder wider ihn geredet haben" (Judas 14, 15). „Und die Toten wurden gerichtet
nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren
Werken" (Offb 20, 12. 13).
235
Dagegen gibt es andere, und zwar aufrichtige Seelen, die in
Unruhe sind, weil sie fühlen, daß ihre, Sünden sie vor Gott
verdammen. Sie erkennen sich in Seinem Licht als gottlose
Geschöpfe und denken deshalb, Gott sei zu gerecht, als daß Er
solchen, wie sie sind, vergeben könne. Diesen Seelen kommt
Gott entgegen; Er läßt sie nicht in diesem Zustande. Er läßt
ihnen durch das Evangelium verkündigen, daß Er nicht allein
gerecht, sondern auch die Liebe ist, und daß Er in Christo,
Seinem Sohne, dem Sünder vergibt. Aber gerade für diese
Seelen ist es wichtig, zu verstehen, was die Vergebung Gottes
ist.
Gott vergibt ohne Zweifel, weil Er gütig ist. Aber Seine
Güte und Liebe konnten nicht eher ungehindert ausströmen,
bevor Seine Gerechtigkeit hinsichtlich der Sünde durch das
Versöhnungswerk Christi völlig befriedigt war. Nachdem dies
geschehen ist, ist Gott gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der
des Glaubens an Jesum ist (Röm 3, 26), weil die furchtbare
Schuld, die der Mensch Gott gegenüber hatte, durch den Tod
des Heilandes bezahlt worden ist. So hat also der Gläubige
nicht allein die Vergebung, sondern auch die Rechtfertigung.
Gerade weil Gott gerecht ist, vergibt Er dem, der an Jesum
glaubt, alle seine Sünden. Es ist sehr wichtig, zu verstehen,
daß die Vergebung Gottes, wie das Evangelium sie lehrt, der
Ausfluß Seiner Gerechtigkeit ist, und nicht jener vermeintlichen Güte, die sich um das Böse nicht kümmert.
Es war die Güte und Liebe Gottes, die den Heiland gab; und
dieser hat auf dem Kreuz alles erduldet, was unsere Sünden
verdient hatten: „Er ist um unserer Übertretungen willen verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen ist er zerschlagen; die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch
seine Striemen ist uns Heilung geworden" (Jes 53, 5). „Welcher selbst unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze getragen hat" (1. Petr 2, 24). „Den, der Sünde nicht kannte, hat
er für uns zur Sünde gemacht" (2. Kor 5, 21). „Christus ist
einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen" (Hebr 9, 28).
„Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr
gedenken" (Hebr 10, 17).
Wie handelt nun Gott gegen mich, wenn ich an Den glaube,
Der alles für mich getan hat? Er rechtfertigt mich, Er vergibt
mir alles. Und warum? Weil Christus alle Schuld bezahlt hat.
236
Es ist also zwischen Gott und Christo eine Sache der Gerechtigkeit, mir zu vergeben und mich zu rechtfertigen. Dagegen
zwischen Christo und mir, wie auch zwischen Gott und mir, ist
es eine Sache der Gnade. Christus hat alles bezahlt, als ich
zahlungsunfähig und ruiniert war. Darum ist Gott gerecht,
wenn Er mich rechtfertigt, weil ich an Den glaube, Der alles
für mich bezahlt hat.
Ich führe ein einfaches Beispiel an, um diese Wahrheit anschaulicher zu machen. Nehmen wir an, ich schuldete einem
Manne tausend Mark, wäre aber völlig ruiniert und könnte
ihm keinen Pfennig geben. Mein Gläubiger will aber bezahlt
sein, andernfalls ist er entschlossen, mich ins Gefängnis werfen zu lassen, bis meine Schuld getilgt ist. Ich bin in Verzweiflung. Kein Entrinnen ist mehr möglich. Da hört ein
reicher Mann von meiner traurigen Lage und, von Mitleid bewegt, geht er zu meinem Gläubiger und bezahlt ihm meine
ganze Schuld. Nachdem er Quittung empfangen hat, kommt
er zu mir und überreicht sie mir mit den Worten: „Das Mitleid für dich hat mich getrieben, alles für dich zu bezahlen;
hier ist die Quittung!" Und nun frage ich: „War es von seiten
meines Gläubigers, nachdem er die Summe empfangen hatte,
ein Akt der Gnade oder der Gerechtigkeit, daß er meinem
Wohltäter Quittung erteilte? Ohne Zweifel ein Akt der Gerechtigkeit. Aber wenn nun mein Wohltäter zu mir kommt
und mir die Quittung übergibt, ist das mir gegenüber von
seiner Seite ein Akt der Gerechtigkeit oder der Gnade? Es ist
ein Akt reiner Gnade; denn er schuldete mir nichts und ist
freiwillig in meine Verbindlichkeit und an meine Stelle getreten. Mein Gläubiger aber handelt nur nach Gerechtigkeit,
indem er mich meiner Verpflichtungen für entbunden erklärt,
so daß ich vor ihm als früherer Schuldner gerechtfertigt stehe.
Auf einem solchen Grunde, geliebter Leser, habe ich jetzt Frieden mit Gott! Und mehr noch: das Evangelium sagt mir, daß
gerade mein Gläubiger, Gott, es ist, der mir den Wohltäter,
Christum, verschafft hat. Und Christus hat Seine eigene Person als Zahlung gegeben, um meine Schuld zu tilgen.
Ich kann in aller Ehrerbietung sagen, daß Gott Christo gegenüber schuldig ist, mich zu rechtfertigen, wenn ich an Jesum
glaube. Zwischen Gott und Christo ist es also eine Sache der
237
Gerechtigkeit, zwischen Christo und mir eine Sache der Gnade.
Aber auch zwischen Gott und mir ist es Gnade und Liebe;
denn Er hat mir diesen Heiland gegeben.
Alles, was Gott tut, muß notwendigerweise der Gerechtigkeit entsprechen, sonst würde Er Sich Selbst verleugnen. Wenn
Gott den rechtfertigt, der an Jesum glaubt, so muß Er darin
nicht nur einen Akt der Gnade, sondern auch der Gerechtigkeit
vollziehen können; ebenso wie es ein Akt der Gerechtigkeit
sein wird, wenn Er an jenem schrecklichen Tage, wo die Bücher
aufgetan und diejenigen, die vor dem Throne erscheinen, gerichtet werden nach ihren Werken, alle diejenigen in den Feuersee werfen wird, die mit ihrer Sündenschuld auf ihrer eigenen
Rechnung erfunden werden (Offb 20, 11—15).
Gott handelt meinem Nächsten gegenüber nicht ungerecht,
wenn Er mir vergibt und mich rechtfertigt, weil ich an Jesum
glaube; und ebenso wenig handelt Er ungerecht gegen Sich
Selbst. Wenn Gott am Ende mit Stillschweigen über das Böse,
das ich begangen habe, hinweggehen und mich mittels jener
vermeintlichen Güte in den Himmel einführen würde, während
Er zugleich meinen Nächsten nach seinen Werken richtete und
ihn der Hölle übergäbe, würde Er dann gerecht sein? Gewiß
nicht! Und doch denkt man sich so im allgemeinen das Seligwerden. Wenn Gott auf diese Weise vergeben wollte, dann
wäre kein Heiland nötig. Aber gerade die Tatsache, daß Er
einen Heiland gegeben hat, der Sein Leben gab als Lösegeld
für viele, beweist, daß Gott nicht nach der Weise, wie es sich
die Menschen denken, vergeben kann.
Wieder andere denken, daß, weil Christus gekommen sei,
um für Sünder zu sterben, sie nun auch errettet seien, ob sie
sich um Ihn bekümmern oder nicht. Ein solches Evangelium
kennt aber das Wort Gottes nicht. Das wahre Evangelium
wendet sich, wie wir sogleich sehen werden, nicht einmal mit
den Worten an einen Ungläubigen: Christus hat alle deine
Sünden getragen, du hast nur zu glauben, und alles ist in Ordnung. Wohl ist es wahr, daß Gott einem jeden vergibt, der in
Wahrheit an Jesum glaubt, weil Er wirklich alles bezahlt hat.
Aber hat Er alles bezahlt für diejenigen, die nicht glauben,
wenn sie in ihrem Unglauben sterben? Sicherlich nicht; sie
werden am Ende sich mit ihren Sünden der Gerechtigkeit
238
Gottes gegenüber befinden. Wenn Christus ihre Schuld bezahlt hätte, so würde Gott ungerecht sein, wenn Er sie nach
ihren Werken richtete.
Was sagt denn nun das wahre Evangelium? — Es sagt, daß
jetzt die Gerechtigkeit Gottes (die, welche rechtfertigt) geoffenbart ist: „Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum
Christum gegen alle und auf alle, die da glauben" (Röm 3, 22).
„Gegen alle" bezeichnet die Gnadenabsicht Gottes für alle; da
ist niemand ausgeschlossen. „Auf alle, die da glauben", bezeichnet die Zueignung durch den Glauben. „Also hat Gott die
Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, (nicht, damit die Welt nicht verloren gehe, sondern) auf daß jeder, der
an ihn glaubt, nicht verloren gehe" (Joh 3, 16). In dieser Stelle
sehen wir deutlich die Gnadenabsicht Gottes in bezug auf
einen jeden, jeder darf kommen, keiner ist ausgeschlossen;
zugleich aber wird auch der Notwendigkeit des Glaubens —
„jeder, der an Ihn glaubt" — bestimmt Ausdruck gegeben.
Jesus kam in die Welt, um Sünder zu erretten; aber als Er zu
diesem Zwecke hienieden war, mußte Er zu den meisten von
ihnen sagen: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr das
Leben habet" . In 1. Tim 1 und 2 lesen wir, daß der HeilandGott will, daß alle Menschen errettet werden, und daß Jesus
Sich Selbst gegeben hat als Lösegeld für alle. Aber nicht alle
wollen sich erretten lassen, sondern sie hassen diesen Jesus,
Der Sich zum Lösegeld für alle dahingab. Die Schrift ist voll
von Beweisen dieser Art. Es sei mir erlaubt, zur näheren Erläuterung des Gesagten nochmals ein Gleichnis anzuführen:
Alle Einwohner eines Dorfes sind ruiniert und stehen auf
dem Punkte, von Haus und Hof verjagt zu werden. Doch ein
reicher, menschenfreundlicher Mann hat Erbarmen mit ihnen
und beschließt, sie zu retten. Er hinterlegt deshalb bei dem
Richter eine Summe, groß genug, um die Schuld jedes Einzelnen zu decken, und sagt: „Hier ist die nötige Summe zur Befreiung aller dieser armen Leute; jeder, der kommt und seinen
Namen in diese Liste einschreibt, soll so viel erhalten, wie er
nötig hat." — Aber ach! Die meisten jener Leute sind, obwohl
sie arm und völlig ruiniert sind, dennoch zu stolz, sich durch
das Einschreiben ihrer Namen als ruiniert zu bekennen. So
verlieren sie denn die für alle hinterlegte Summe, und ihre
Schuld bleibt auf ihnen lasten.
239
Ähnlich verhält es sich mit dem Evangelium. Es ruft allen
Menschen ohne Ausnahme zu: Kommt! Gott ist durch das
Sühnopfer Christi hinsichtlich der Sünde vollkommen verherrlicht, und niemand, der zu Ihm kommt, wird zurückgewiesen.
Deshalb kommt! Einige achten auf diesen Ruf; sie kommen,
gerührt durch diese erbarmungsreiche Liebe, und glauben wirklich an Christum, den Heiland. Zu diesen sagt das Evangelium
dann weiter: Wisset, daß Christus vom Himmel herniedergekommen ist, um alle eure Sünden hinwegzunehmen. Er ist euer
Stellvertreter geworden auf dem Kreuz, Er hat alles für euch
bezahlt, und Gott ist gerecht, indem Er Euch rechtfertigt, weil
ihr an Jesum glaubt. Wisset, daß der ganze Wert des Werkes
Christi jetzt das Eigentum eures Glaubens wird. Ihr seid abgewaschen von allen euren Sünden und passend gemacht für
den Himmel!
Beachten wir wohl, welch einen bestimmten Unterschied das
Wort macht zwischen Stellvertretung und Sühnung. Die Sühnung oder das Sühnopfer ist für alle Menschen vorhanden,
aber die Stellvertretung ist nur für die Gläubigen. Es ist sehr
wichtig, dies zu unterscheiden.
Es könnte dem Gesagten noch vieles hinzugefügt werden
für die Gläubigen, bezüglich der Ratschlüsse Gottes über sie in
Christo, sowie ihrer neuen Stellung in Ihm vor Gott; doch ist
das hier nicht unser Gegenstand. Möchten sie immer mehr erkennen und sich darüber freuen, daß sie vor Gott, hinsichtlich
der Vergebung ihrer Sünden und ihrer Rechtfertigung, auf
dem Boden stehen, der mit den Worten bezeichnet ist: „Gott
ist gerecht und rechtfertigt den, der des Glaubens an Jesum
ist" (Röm 3, 26). Und jeder Leser dieser Zeilen, der noch nicht
an Jesum, den Heiland der Sünder glaubt, oder der denkt, keinen
Heiland nötig zu haben, möchte er sich doch daran erinnern,
daß „wer dem Sohne nicht glaubt, das Leben nicht sehen wird,
sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm" (Joh 3, 36). Vor dem
großen weißen Thron des Gerichts (Offb 20, 11—15) wirst du,
wer du auch seiest deine Sünden auf deiner Rechnung finden,
wenn du das Heil, das dir in Christo angeboten wird, zurückweisest. Heute noch ruft Gott dir zu: „Komm, glaube, und du
wirst errettet werden". Dann aber wird Er dir sagen müssen:
„Gehe hin in das ewige Feuer!" Und an diesem schrecklichen
240
Orte wirst du die ewige Strafe für deine Sünden empfangen,
weil du die Errettung nicht annehmen wolltest, die Gott dir so
frei und bedingungslos angeboten hat. Darum komm noch
heute zu Christo, als deinem Heilande, damit du nicht vor Ihm
als deinem Richter erscheinen mußt!
Ein kurzes Wort über das Abendmahl
des Herrn
(Auszug aus einem Brief)
. . . Wenn man das Abendmahl als ein bloßes Gedächtnis
an den abwesenden Herrn betrachtet, dann geht der wahre,
wesentliche und eigentümliche Charakter dieser Einrichtung,
und ihr köstlicher Wert gänzlich verloren. Ich möchte deshalb
so klar und unzweideutig, wie es mir möglich ist, die Lehre des
Wortes über diesen so wichtigen Punkt darlegen.
Zunächst glaube ich nach Mt 26, 26—30, daß die Hauptsache,
und zwar eine vor 1800 Jahren ein für allemal vollbrachte Tatsache, die uns im Abendmahl dargestellt wird, der Tod des
Herrn ist, Christus Selbst in Seinem Tode als Gegenstand des
Andenkens, des Genusses und der Anbetung unserer Herzen.
Wohl ist der für uns gestorbene Christus jetzt lebend für uns
und verherrlicht in den Himmeln, von wo Er bald zurückkommen wird, und wir leben mit Ihm, dem Auferstandenen, sind
verbunden und haben Gemeinschaft mit Ihm in dieser Seiner
jetzigen Stellung. Aber in diesem Charakter stellt uns das
Abendmahl den Herrn nicht vor, sondern vielmehr in Seinem
leidensvollen Tode, d. h. in einer Stellung, in welcher Er einst
war, aber jetzt nicht mehr ist. Indem wir nun das Brot, die
Gemeinschaft Seines für uns gegebenen Leibes, essen, und den
Kelch, die Gemeinschaft Seines für uns vergossenen Blutes,
trinken, genießen wir durch die Kraft des Geistes Ihn Selbst
in Seiner Dahingabe, indem wir die Gemeinschaft und den
Segen Seines Todes in unseren Seelen durch den Glauben
verwirklichen.
241
Eingedenk dessen, was diesen bitteren Tod verursachte, und
in dem seligen Bewußtsein der in demselben geoffenbarten
errettenden Liebe, sowie der unermeßlichen, ewigen Segnungen, die der Tod Jesu uns gebracht hat, verkündigen wir also
diesen Tod. Die unaussprechliche, hingebende Liebe des Herrn
Jesu, die Mühsal Seiner Seele, deren Frucht wir sind, Sein
Leiden und Sterben, Seine völlige Darbringung Gott gegenüber
für uns und unsere Sünden, Sein vollkommen vollendetes
Werk, kurz all das Wunderbare und Rührende, das uns im
Abendmahl vorgestellt wird, fesselt das Herz an Ihn, an Seine
anbetungswürdige Person. Wir gedenken Dessen, Der uns also
geliebt, solches für uns gelitten und so Großes für uns getan
hat. Das Herz ist mit Ihm beschäftigt und mit Lob und Dank
und Anbetung erfüllt.
Es war das innige Verlangen des Herrn, dieses Gedächtnis
Seines Opfertodes uns zu hinterlassen, damit wir es während
der Zeit Seiner Abwesenheit zu Seinem Andenken feiern sollten, und das Wort zeigt uns, welch einen Wert und welch eine
Wichtigkeit Sein liebendes Herz auf das schwache Andenken
der Seinigen legt. Es ist Seine Freude, sie an Seinem Tische
versammelt zu sehen. Er wünscht, daß sie glücklich in Ihm miteinander solches tun zum Gedächtnis Seiner Selbst und dessen,
was Er für sie am Kreuze war und vollbracht hat. Er ist nach
Seiner treuen Verheißung im Geiste in ihrer Mitte gegenwärtig, um ihre Herzen mit Frieden und Freude zu erfüllen,
und das, was sie gemeinschaftlich zu Seinem Andenken tun, ist
köstlich für Ihn. — Teurer Herr!
Nachdem Er das Kreuz für uns erduldet, unsere Sünden
getragen und uns auf dem ewig festen Grunde Seines vollbrachten Erlösungswerkes als Auferstandene mit Sich Selbst
sichergestellt hatte, ist Er uns vorangegangen als Vorläufer in
die himmlische Herrlichkeit und hat uns die trostreiche Verheißung hinterlassen: „Ich komme wieder und will euch zu mir
nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid". „Ja, ich komme
bald". Welch eine glückselige Hoffnung! Wir freuen uns, daß
Der, Welcher für uns starb, nun zur Rechten Gottes sitzt, mit
Ehre und Herrlichkeit gekrönt; und durch den Heiligen Geist
mit Ihm dort verbunden und für die Herrlichkeit versiegelt,
erwarten wir, im Bewußtsein Seiner Liebe und im Gefühl
Seiner persönlichen Abwesenheit, mit Sehnsucht Ihn Selbst
242
aus den Himmeln. So stehen wir hier in der Wüste — zwischen
dem Tode Jesu und Seiner baldigen Wiederkunft mit dem
gesegneten Gedächtnis, das Seine Liebe uns zurückgelassen
hat. Also versammelt am Tische des Herrn, feiern und verkündigen wir Seinen Tod, dem wir alles verdanken, zu Seinem
Gedächtnis und in der seligen Hoffnung Seiner ersehnten Ankunft, „bis Er kommt!"
Köstliches Vorrecht der Erlösten des Herrn! Und gewiß, je
mehr wir die am Kreuze geoffenbarte Liebe Jesu samt den
herrlichen Resultaten Seines Opfertodes für uns erkennen, um
so mehr werden wir uns auch sehnen nach Seiner baldigen
Ankunft, die an uns in Herrlichkeit das am Kreuze vollbrachte
Erlösungswerk krönen wird, um so mehr Eifer und Interesse
wird auch vorhanden sein, zur Feier des Abendmahls des
Herrn gemeinschaftlich zusammenzukommen.
. . . Während also unser geliebter Herr, was Seine anbetungswürdige Person betrifft, von dieser Welt abwesend, in
Gott verborgen, ein Gegenstand des Glaubens, nicht des Schattens ist, feiern wir Sein Gedächtnismahl zum Andenken und
zur Verkündigung dessen, was Er für uns getan und gelitten
hat, und wir tun dies in der Erwartung Seiner Ankunft. Ich
unterscheide in dem Brot und dem Wein den Leib und das
Blut des Herrn; beide, voneinander getrennt ein Bild des
Todes, stellen mir Ihn als einen gestorbenen Christus vor, d.
h. in einer Stellung, in der Er einst für mich war, so daß Er
jetzt ein Gegenstand des Gedächtnisses für mich ist. Und indem ich dieses Brot esse und diesen Kelch trinke, verkündige
ich jenen Tod, der mir Leben und Errettung brachte, in dem
ich mit anbetender Bewunderung die Macht und Fülle der Liebe
Christi erblicke, ja, ich genieße Ihn Selbst als das für mich geschlachtete Lamm. Ich tue es im vollen Bewußtsein meiner Verbindung mit Ihm, dem Lebenden und Verherrlichten, sowie im
Vorgeschmack der unaussprechlichen Freude und Wonne, die
mir in Seiner ersehnten Ankunft gebracht werden wird, wo ich
Ihn sehen werde, wie Er ist, und bei Ihm sein werde für
immerdar . . .