Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1983 | Seite |
An dem Brunnen zu Sichar......... | 1 |
Betrachmngen über die Ep. an die Römer (Forts.) 19, 29,57,99 |
19 |
Die Bibel | 38 |
2. Mose 3, 5..................... | 56 |
Die vernünftige und unverfälschte Milch .. | 71 |
Auserwählt in Christo... | 74 |
„Er wurde innerlich bewegt".... | 78 |
Bruchstücke................. | 81 |
Ein Wort über kirchliche Unabhängigkeit.... | 85 |
„Ich warte auf Christum".... | 111 |
„Ich liebe" ............. | 113 |
Einige Bemerkungen über den Wert des Abendmahls 127, 155 |
127 |
Zu spät!. | 135 |
Jericho und Achor..............141, 169 | 141 |
Jesus allein (Gedicht) ........ | 167 |
Wie sollen wir die Schrift lesen?.. | 182 |
Auf daß ich Christum gewinnet".... | 185 |
Du hast mein Wort bewahrt"........ | 189 |
Der Tod............................ | 192 |
„Sterben ist Gewinn" (Gedicht) | 195 |
Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans . . 197, ^5 | 197 |
Die eherne Schlange............ | 209 |
Gedanken üb. das Zusamenkommen d. Gläubigen H?7, 236, 270, 281 |
236 |
Ueberführung, Buße und Vergebung | 244 |
„Friede, tief wie ein Strom!". | 250 |
Das Gebet des Herrn................ 253, 293 | 253 |
Psalm 84 . | |
Bruchstücke. | 304 |
Kanaan und die Waffenrüstung Gottes | 309 |
„Eins weiß ich". | 329 |
An dem Brunnen zu Sichar.(Joh. 4.)
Es ist überaus köstlich für ein Herz, das den Herrn
Jesum lieb hat, Ihn auf Seinem Wege durch diese Welt
zu begleiten und in allen Seinen Worten und Handlungen
die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater hervorstrahlen
zu sehen. Wie bewunderungswürdig ist Seine Weisheit,
mit der Er allen entgegentrat Er hatte niemals ein und
dieselbe Antwort für diejenigen, welche in Seine Nähe
kamen. O nein, Seine Worte waren stets dem Zustande
der Seele völlig angepaßt; sie enthielten gerade das, was
die betreffende Seele bedurfte. Wenn wir z. B. das
unsrer Betrachtung vorliegende Kapitel (Joh. 4.) mit dem
vorhergehenden vergleichen, so werden wir finden, wie
völlig verschieden der Herr zwei Fälle behandelt, die allerdings
in sich selbst verschieden waren, deren Verschiedenheit
aber, nach unserm natürlichen Verstände zu urteilen, gerade
die entgegengesetzten Antworten von Seiten des Herrn erfordert
hätte. In dem dritten Kapitel teilt uns der
Evangelist mit, wie Nikodemus, ein Leiter des jüdischen
Volkes, ein Lehrer in Israel, ein geachteter, religiöser
Mann, zu dem Herrn kommt, um von Ihm, als einem
Lehrer, „von Gott gekommen," zu lernen. Er erkennt
die göttliche Macht, die in Jesu und durch Ihn wirkte,
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völlig an; und obwohl er furchtsam bei der Nacht kommt,
so zeigt er doch gerade dadurch, wie viel er durch sein
Kommen aufs Spiel setzt, wie sehr er seinen Ruf bei dem
Bolke gefährdet. Trotzdem aber kommt er, um ehrerbietig
anzuerkennen, daß der verachtete Nazarener „ein Lehrer
ist, von Gott gekommen," und um sich, obwohl er selbst
ein Lehrer ist, als ein unwissender Schüler zu Seinen
Füßen niederzusetzen.
Sollten wir nicht denken, der Herr würde einem
solchen Manne sogleich Sein ganzes Herz erschlossen und
ihn aufs Freundlichste ermuntert haben? Gerade das
Gegenteil ist der Fall. Die ersten Worte des Herrn an
Nikodemus sind: „Du mußt von neuem geboren werden."
Das ist nicht die freundliche Stimme des Evangeliums.
Es ist ganz falsch, zu denken, daß es in dem Evangelium
irgend ein: „Du mußt," geben könnte. Sobald
es heißt: „Du mußt," ist es kein Evangelium mehr.
Was soll ein Mensch thun, um dieser neuen Geburt teilhaftig
zu werden? Was hat sein ganzes vergangenes
Leben für einen Wert? Nicht den geringsten. Was soll
er thun in Bezug auf die Zukunft? Er muß alles von
neuem beginnen; aber wie? Um ein neues Leben führen
zu können, muß er erst von neuem geboren werden.
Was aber kann ein Mensch in dieser Sache thun? Er
hat nichts zu thun mit seiner natürlichen Geburt. Was
könnte er im Blick auf die geistliche Geburt thun? —
Nichts, gar nichts!
Der Mensch steht vor einer verschlossenen Thüre.
Doch warum, möchtest du fragen, verschließt der Herr die
Thür vor einem Manne wie Nikodemus? Ich will dir
sagen, weshalb. Nikodemus war ein Pharisäer, einer der
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Führer Israels, welche das Volk ganz verkehrt leiteten;
er war ein Mann, der mit all seiner Aufrichtigkeit, seiner
Ehrbarkeit und seinem Verlangen, belehrt zu werden, thatsächlich
nicht wußte -- trotz der Schriftstellen, auf welche
der Herr ihn hinwies — was nötig war, um in das
Reich Gottes einzugehen. Er gehörte zu einer Klasse von
Menschen, welche vor Gott hintreten und in gewissem
Sinne aufrichtig, obwohl in großer Selbsttäuschung, sagen
konnten: „O Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin, wie
die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher,
oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der
Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe." (Luk. 18,
11. 12.) War es nicht wahr, was dieser Mann sagte?
Ganz gewiß; der Herr sagt kein Wort, daß es nicht
wahr sei. Und warum hätte er es nicht sagen sollen?
Er macht keinen Anspruch auf Vollkommenheit, noch sagt
er, daß das, was er gethan, ohne die Hülfe Gottes geschehen
sei. Er dankt Gott dafür: „Gott, ich danke Dir,
daß ich nicht bin, wie die übrigen der Menschen." Er
war nicht nur ein sittenreiner, sondern auch ein religiöser
Mensch. Er war hingebend und selbstverleugnend, denn
er verzehntete alles, was er erwarb, und fastete zweimal
in der Woche. War das nicht ein sehr ehrenwerter Mann? War
er nicht ernst, moralisch, religiös? Und doch, was finden
wir? Die Thür wird ihm gegenüber wenn möglich noch
fester verschlossen, als vor Nikodemus. „Der Zöllner,
von ferne stehend, wollte sogar die Augen nicht aufheben
gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach:
O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!" Und „dieser
ging gerechtfertigt hinab in sein Haus." Er fand die
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Thür geöffnet, der Andere fand sie verschlossen. Verstehst
du jetzt den Unterschied, mein lieber Leser?
Nikodemus gehörte zu dieser Klasse von Menschen,
und was der Herr ihm sagte, war gerade das, was er
bedurfte, denn der Herr machte nie einen Fehler. Nikodemus
mußte lernen, daß alle seine eigene Gerechtigkeit
vor Gott nur ein unflätiges Kleid war. „Du hast noch
gar nicht angefangen zu leben," sagt der Herr ihm gleichsam,
„du mußt von neuem geboren werden." Und dasselbe
Wort gilt allen, die auf Grund ihrer eigenen Gerechtigkeit
vor Gott bestehen wollen. „Aber was muß
ich denn thun?" ruft so mancher ärgerlich aus, wenn
man ihn auf die Unzulänglichkeit seiner Werkgerechtigkeit aufmerksam
macht. Ach! nichts fällt dem Menschen so schwer,
als zu erkennen, daß er gar nichts thun kann, daß
er einzig und allein auf Gott geworfen ist. Sein Stolz
und sein Hochmut bäumen sich auf gegen diese Erkenntnis.
Sehr bemerkenswert ist es, daß der Herr nur an
dieser einen Stelle von der Notwendigkeit einer neuen
Geburt redet, und daß es gerade ein Pharisäer ist, dem
Er sie vorstellt. Wir erkennen hierin Seine göttliche
Weisheit. Er will Nikodemus in einen Zustand bringen,
in welchem er fähig ist, das Evangelium aufzunehmen.
Mit all seiner Ehrbarkeit, mit all seiner Moralität, ja
selbst mit all seiner Religion mußte Nikodemus von neuem
geboren werden.
Wenden wir uns jetzt zu dem 4. Kapitel, so finden
wir eine Person von ganz entgegengesetztem Charakter —
ein einsames Weib, aber einsam aus offenbar anderen
Gründen, als Nikodemus. Er kam bei der Nacht, um
seinen Ruf vor den Menschen zu wahren; das Weib kam
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allein bei Tage, weil niemand mit ihr etwas zu schaffen
haben wollte. Der eine ist ein angesehener Mann und
wünscht, seinen ehrbaren Ruf nicht zu verlieren; die andere
ist eine Person, welche ihre Mitmenschen um ihren guten
Ruf bringen würde, wenn sie mit ihr umgingen.
Sie kommt allein, aber nicht, um Jesu zu begegnen.
Sie sucht Ihn nicht. Sie kommt mit ihrem Wasserkrug,
wie sie es vielleicht schon unzählige Male gethan hat, um
Wasser zu schöpfen. Es war kein Bedürfnis der Seele,
das sie zu dem Brunnen führte. Sie war, wie jeder
Mensch von Natur, ein geistlich totes, gefühlloses Geschöpf.
Welch trauriges Leben sie hinter sich hatte, wissen wir.
Woher kommt es nun, daß der Herr sie in einer ganz
anderen Weise behandelt, wie den Nikodemus? Wie sollen
wir es verstehen, daß Er die Thür angesichts des Pharisäers
schließt, während Er sie vor der Sünderin weit
öffnet? Gerade deshalb, weil sie eine Sünderin ist —
denn für Sünder ist Christus gestorben. Sündern kann
Gott Gnade erweisen. Sünder besitzen keine eigene Gerechtigkeit,
von der sie erst entkleidet werden müssen, sie
haben keinen guten Ruf zu verlieren, für sie giebt es keine
Schranken dieser Art, welche sie an der Annahme des
Evangeliums hindern. Der Herr selbst erklärt dies sehr
deutlich, wenn Er zu den Pharisäern sagt: „Wahrlich,
ich sage euch, die Zöllner und die Huren gehen euch vor
in das Reich Gottes." (Matth. 21, 31.) Warum gehen
sie vor? Weil Christus für Sünder gestorben ist. Die
Liebe Gottes sucht verlorene Sünder.
In Folge dessen ergeht die Einladung Gottes an
die ganze Welt. Sie schließt niemanden aus; aber ich
kann mich selbst ausschließen. Und ach! wie mancher thut
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dies, indem er sich dem Urteil Gottes, daß er ein Sünder,
und nichts anderes als ein Sünder ist, nicht unterwerfen
will. Die Einladung Gottes richtet sich an alle Sünder,
groß und klein, ehrbar und gottlos, reich und arm.
Er will nicht, daß irgend einer verloren gehe. Wäre
Christus nur für die Ehrbaren und Gerechten gekommen,
so könnten nicht alle eingeladen sein. Aber jetzt, da Er
für Sünder gestorben ist, wendet sich die Einladung an
alle. Aber bedenke es wohl, geliebter Leser, daß der
Mensch dahin kommen muß, sich auf den Platz zu stellen,
der ihm vor Gott gebührt — auf den Platz eines verlorenen,
verdammungswürdigen Sünders — ehe Gott ihn
erretten und ihm in Christo einen Platz zu Seiner Rechten
in den Himmeln geben kann. Es ist ein ewig feststehender
Grundsatz bei Gott: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht
werden." Der Mensch muß sein völliges Nichts
erkennen, er muß eine wahre, aufrichtige Stellung vor
Gott einnehmen. Gott kann nicht einen Menschen retten
mit einer Lüge auf seinen Lippen. Er kann nicht einen
Menschen erheben, der sich selbst erhebt. Er kann und
will dem vornehmsten der Sünder Gnade, Erbarmen und
Liebe erzeigen, aber ach! der Mensch schließt sich selbst
davon aus, indem er seine eigenen Bedingungen an die
Stelle der göttlichen setzt. Nikodemus wollte auch auf
Grund seiner eigenen Bedingungen in das Reich Gottes
eingehen, und deshalb ist der Herr genötigt, ihm ein:
„Du mußt!" entgegenzustellen; das Weib aber befand
sich, als eine Sünderin, auf dem Boden, wo der Herr
ihrem Bedürfnis begegnen konnte.
Er sagt zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes kanntest
und wer es ist, der zu dir spricht: Gieb mir zu trinken,
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so würdest du Ihn gebeten haben, und Er härte dir
lebendiges Wasser gegeben." (V. 10.) Welch eine
köstliche, gesegnete Versicherung für eine jede Seele,
die sich auf demselben Boden befindet, wie jenes Weib!
Ja, es ist ganz gewiß: wenn jemand den Herrn Jesum
in Wahrheit und Aufrichtigkeit bittet, so wird Er geben.
Wer zu Ihm kommt, wird nicht hinausgestoßen. Es ist
gar nicht möglich, daß ihm seine Bitte abgeschlagen werden
könnte. Der Herr giebt, wenn nur der Mensch den
Platz des Empfängers einnehmen und Ihn zu einem Geber
machen will, anstatt, wie er es so gern thut, den Platz
des Gebers einzunehmen und den Herrn zu einem Empfänger
zu machen.
Das Weib versteht nicht, was der Herr mit dem
„lebendigen Wasser" meint. Ihre Gedanken erheben sich
nicht über den Brunnen und das Schöpfgefäß in ihrer
Hand, und sie fragt deshalb: „Bist Du größer, denn unser
Vater Jakob, der uns den Brunnen gab? Und er selbst
trank aus demselben und seine Söhne und sein Vieh."
(V. 12.) Sie ist erstaunt, wer dieser Fremdling Wohl
sein mag, der die Forderungen des Gesetzes ganz außer
Acht läßt und sie, ein samaritisches Weib, um einen Trunk
Wasser bittet. Sie weiß nicht, was sie von Seinen merkwürdigen
Worten über die „Gabe Gottes," welche Gott
dem Menschen so bereitwillig anbietet, denken soll. Doch
für wie viele ist es auch heute noch eine ganz neue, unbekannte
Sache, daß Gott weit mehr bereit ist, zu geben,
als der Mensch bereit ist, zu empfangen, und daß in
Seinem Herzen Liebe ist gegen den Sünder, gegen den,
der gar nicht an Ihn denkt, noch nach Ihm fragt! Und
dennoch ist es die völlige Wahrheit. Das verlorene Schaf
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sucht nicht den Hirten, sondern der Hirte das Schaf.
Er geht dem verlorenen nach, bis Er es findet, und dann
ist die Freude des Himmels nur der Abglanz Seiner
eigenen Freude. Auf diese Weise können wir auch heute
noch dem Herrn zu trinken geben. Wir können die Liebe
befriedigen, welche sucht, indem wir ihr erlauben, das mit
uns zu thun, was sie zu thun wünscht.
Das Herz des Weibes ist gerührt, ihr Interesse ist
geweckt, und was noch mehr sagen will — Gott steht
vor ihrer Seele. Das Licht, in welchem sie sich selbst
kennen lernen soll, bescheint sie. Nur in der Gegenwart
Gottes lernen wir, was wir sind. Doch hören wir, waS
der Herr ihr zur Antwort giebt. „Jesus antwortete und
sprach zu ihr: Jeglicher, der von diesem Wasser trinkt,
wird wiederum dürsten; wer irgend aber von dem Wasser
trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht
dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm
geben werde, wird in ihm zu einer Quelle Wassers werden,
das in das ewige Leben guillt." (V. 13. 11.) Jetzt
tritt ein Wendepunkt ein. Das Weib, angezogen durch
die Freundlichkeit des Herrn, beginnt zu bitten. „Herr,
gieb mir dieses Wasser," sagt sie, „damit ich nicht dürste
und nicht hierher komme, um zu schöpfen." Indessen weiß
sie immer noch nicht, wovon der Herr redet. Die Worte:
„Damit ich nicht dürste rc." zeigen dies deutlich. Der
Herr entgegnet ihr in Seiner gesegneten, wunderbaren
Weise: „Gehe hin, rufe deinen Mann und komm hierher."
Er kennt alle die Geheimnisse ihres Herzens, weiß, weshalb
sie zu so ungewöhnlicher Stunde einsam und allein
zu dem Brunnen kommt, ja Er wußte dies alles schon,
als Er von der Gabe Gottes zu ihr redete, welche Er
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bereit war, ihr zu geben, wenn sie Ihn nur darum bitten
wollte. Und Er zeigt ihr, daß Er alles weiß, aber
mit welch einer Zartheit thut Er es! Wie ein Arzt berührt
Er nur den wunden Fleck und fragt gleichsam:
„Giebt es da nicht irgend etwas, was nicht in Ordnung
ist?" Er nennt es nicht, sondern deutet nur leise darauf
hin, als wenn Er fragen wollte: Willst du mir nicht
Vertrauen schenken? — Anbetungswürdiger Herr!
Indes findet diese Frage keine Antwort, und so muß
Er weiter gehen und ihr zeigen, daß Ihm ihr ganzes
Leben bekannt ist. Aber auch jetzt thut Er es in den
einfachsten Worten, indem Er sie weder verurteilt, noch
ihr Vorwürfe macht. Er „wirft nichts vor." DasGe-
wissen mochte ihr Vorwürfe machen, und zwar mit allem
Recht; der Herr aber trug nur Sorge, sie in die Gegenwart
Gottes und Seiner Liebe zu bringen, damit sie sich
selbst dort in Wahrheit verurteilen lernen möchte. Ach!
wie wenig gleichen wir oft unserm geliebten Herrn in der
Behandlung der Seelen! Wir sind gleich bereit, sie zu
verurteilen, und nichts ist leichter als das; aber dies bringt
keine Befreiung. Selten wird jemand unsere Verurteilung
annehmen, nie uns dafür danken. Die Seelen müssen
dahin kommen, sich selbst zu verurteilen, aber dazu haben
sie etwaS anderes nötig, als unsre Verurteilung.
Der Herr sucht vor allem das Vertrauen des Weibes
zu gewinnen und sie in das Licht Gottes zu stellen, so
daß es für sie die einfachste und natürlichste Sache ist,
zu diesem Herrn ihre Zuflucht zu nehmen, sobald das
Geheimnis ihres Lebens offenbar wird. ES ist ihr ganz
klar, daß der Fremdling, der da vor ihr sitzt, nicht ihr
Feind ist. Seine Worte geben Zeugnis davon, daß Er
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nicht gegen sie ist. Sicher ist Er gegen die Sünde, nicht
aber gegen sie. Und ebenso ist Gott auch heute nicht der
Feind des Sünders, nein, Er liebt ihn und geht ihm
nach, um ihn zu erretten. Obwohl der Herr das Leben
des Weibes kannte, so hatte Er ihr doch schon gezeigt,
daß Er für sie war. Er hatte sie eingeladen, eine Gabe
von Ihm anzunehmen. Wird sie jetzt jene Worte über
das lebendige Wasser besser verstehen, nachdem sie entdeckt
hat, daß Er alles weiß und daß Er ein Prophet ist?
Das letztere muß sie anerkennen, und sie thut es niit den
Worten: „Herr, ich sehe, daß Du ein Prophet bist."
Sie läuft nicht weg. Sie hat Ihn um eine große, geheimnisvolle
Gabe gebeten, und Er hat ihr die Versicherung
gegeben, daß sie dieselbe erhalten soll. Sie
fühlt sich angezogen von Seiner Liebe, und es dämmert
in ihr das Bewußtsein, daß Er und die Gabe, von welcher
Er redet, doch mehr sein müssen, als sie anfänglich gedacht
hat. Er hat ihr soeben eine Last gezeigt, die entfernt
werden muß, wenn ihr irgend eine Segnung von
Gott zu teil werden soll, und sie wendet sich an Ihn mit
einer Frage, die für sie keineswegs unwichtig war. Sie
stellt sie auch nicht, um dadurch den Anklagen ihres Gewissens
zu entgehen. Sie fragt den Herrn, wie man
Gott nahen solle: „Unsre Väter haben auf diesem Berge
angebetet, und ihr saget, zu Jerusalem sei der Ort, wo
man anbeten müsse." (V. 20.)
Sicher hat schon mancher Fragen über gottesdienstliche
Formen als ein willkommenes Ausfluchtsmittel benutzt,
wenn das Gespräch eine zu ernste Wendung für
ihn nahm. Doch dies war durchaus nicht der Fall bei
der Samariterin. Ihr Leben war vor ihren Augen auf
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gedeckt worden; sie hatte den Herrn als einen Propheten
anerkannt, und der Gottesdienst oder die Anbetung war
für sie, wie es heute noch für so viele ist, ein Mittel,
wodurch sie einen beleidigten Gott Zu versöhnen gedachte.
Die Weise Jakobs, das Herz seines Bruders Esau zu
gewinnen, gefällt immer noch dem natürlichen Menschen,
selbst wenn es sich um weit wichtigere Dinge und eine
weit höhere Person handelt. „Ich will sein Angesicht
versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht," sagt
Jakob, „und darnach will ich sein Angesicht sehen; vielleicht
wird er mich annehmen." (1. Mos. 32, 20.)
Ach, wie mancher führt auch heute Gott gegenüber eine
ähnliche Sprache! Aber ein solcher bleibt in Bezug auf
seine Annehmung von Seiten Gottes in derselben Ungewißheit
wie Jakob. Ein „vielleicht," oder ein „ich hoffe"
ist das Höchste, wozu er gelangt. Eine feste, unerschütterliche
Gewißheit, eine beständige Freude über seine Errettung
und Annahme sind ihm völlig unbekannte Dinge.
Mit Zittern und Zagen muß er dem Augenblick seiner
Begegnung mit Gott entgegen sehen. Denn wie kann er
jemals wissen, wann er genug gethan hat? O, mein lieber
Leser, wenn deine Religion von dieser Art ist, so hast du
allen Grund, zu erschrecken. Denn nimm einmal an, daß
das, was du für genügend hältst, Gott zu befriedigen,
in den Augen Dessen, der Herzen und Nieren prüft und
vor dem die Himmel nicht rein sind, keine Anerkennung
fände? Willst du dein ewiges Glück von einem „vielleicht"
abhängig machen? Schlage diesen Weg nicht
ein, ich bitte dich. Deine Ungewißheit muß dir ja
schon zeigen, daß du den Friedensweg Gottes noch
nicht betreten hast. Denn ein jeder, der auf diesem
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Wege wandelt, genießt wahren Frieden und wahre
Ruhe.
Doch kehren wir zu unserm Kapitel zurück. Der
Herr beantwortet die Frage des Weibes in einer Weise,
welche zeigt, daß Er sie nicht für eine unwichtige oder
unpassende hält. Die Stunde nahte heran, wo es sich
bei der Anbetung nicht länger um Jerusalem oder irgend
einen andern Ort auf dieser Erde handeln sollte. „Es
kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen
Anbeter den Vater im Geist und in Wahrheit anbeten
werden." (V. 23.) Um Gott anbeten zu können, muß
man Ihn kennen. ES ist völlig unmöglich, einen unbekannten
Gott wirklich anzubeten, weil die Anbetung eine
Sache des Herzens ist. Sie besteht nicht in einem Beugen
meiner Kniee vor Gott, noch in gewissen Gebräuchen, die
ich bei dem Gebet beobachte, sondern in dem Ausschütten
meines Herzens in aufrichtigem Lob und Dank gegen
Gott. Um Gott anbeten zu können, muß ich etwas in
Ihm sehen, was meine Anbetung wachruft; mit einem
Wort, ich muß Ihn kennen. Viele Tausende der bekennenden
Christen glauben, Gott anzubeten, wenn sie —
vielleicht mit andächtigem Ernst — ihre auswendig gelernten
Gebete hersagen; sie denken selbst, Gott damit
wohlzugefallen. Ach! sie haben nicht das geringste Verständnis
über den Charakter einer wahren Anbetung Gottes.
Vielleicht nennen sie Gott ihren „Vater" und reden Ihn
mit diesem Namen an, aber sie thun eS, weil sie so gelehrt
worden sind, nicht aber weil sie Ihn in diesem köstlichen,
innigen Verhältnis kennen gelernt haben. Um den
„Vater" im Geist und in Wahrheit anbeten zu können,
muß vorher die Frage der Annahme geordnet sein. Ist
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diese nicht geordnet, wie kann sich ein sündiger Mensch
wohl fühlen in der Nähe eines heiligen Gottes? Es geht
ihm wie jenem Sohne, der seinem Vater so lange Jahre
gedient hatte und für den dennoch Musik und Reigen
in seines Vaters Hause eine ganz fremde Sache war.
Fragt man einen solchen: „Hast du Frieden mit Gott?
Erfreust du dich der Liebe Seines Vaterherzens und all
der herrlichen Dinge, die Er für dich in Christo Jesu
bereitet hat?" so wird er, wenn er anders aufrichtig ist,
antworten: „Nein, das sind mir ganz unbekannte Dinge."
„Wie?" muß man unwillkürlich weiter fragen, „du sagst,
du habest Gott schon so lange gedient, und du kennst Ihn
nicht einmal?"
„Ihr betet an — ihr wisset nicht was," sagt der
Herr, „wir beten an und wissen was, denn das Heil
ist aus den Juden." Hörst du das, mein lieber Leser?
Gott ist gekannt, der Vater ist gekannt — wodurch?
Durch das Heil, durch die Errettung. Erkennst
du nicht, daß, wenn Gott nicht als ein Heiland-Gott
gekannt ist, Er gar nicht gekannt werden kann? Wie
kennst du Ihn? Als einen Richter, vor dem du einst
erscheinen mußt, wo es sich dann Herausstellen wird, ob
du angenommen oder verworfen bist? Das ist nicht Errettung.
Mußt du vor Gott, als deinem Richter, erscheinen,
so bist du trotz alles deines Thuns verloren.
Die Errettung ist Sein, nicht dein Werk. Der Mensch
kann sich nicht selbst retten, ein andrer muß ihn retten,
und dieser andere ist Gott, ein Heiland-Gott. Gott hat
ein Heil, eine ewige Errettung vorgesehen. Christus vermag
völlig zu erretten alle, die durch Ihn zu Gott
kommen. Und nicht allein das; was diese Errettung so
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überaus köstlich macht, ist, daß sie uns Gott zum Vater
giebt und uns fähig macht, Ihn im Geist und in Wahrheit
anzubeten.
Was mußte das Herz des verlorenen Sohnes empfinden,
als er in die Nähe des Vaterhauses kam, und — anstatt
des erwarteten kalten Empfangs, der väterlichen Vorwürfe
und im besten Falle der Aufnahme als ein Tagelöhner —
die überströmende Liebe des Vaterherzens fand, die Küsse
des Vaters fühlte und die Worte aus seinem Munde
vernahm: „Bringet das vornehmste Kleid her und ziehet
es ihm an, und gebet einen Ring an seine Hand und
Sandalen an seine Füße, und bringet das gemästete Kalb
her und schlachtet es, und laßt uns essen und
fröhlich sein!" (Luk. 15, 22. 23.) Aehnliches erfährt
auch der Sünder heute, wenn er von seinen bösen Wegen
umkehrt und zu Gott seine Zuflucht nimmt, wenn er
findet, daß Gott ihm gerade da begegnet, wo er ist, daß
Er für ihn ist, für ihn, den Verlorenen, ja daß Er
ihn, den Hassenswürdigen, liebt mit einer unaussprechlichen,
vollkommenen Liebe. Die Erkenntnis und der Genuß
Gottes wird jenen „Quell des lebendigen Wassers" in
ihm hervorsprudeln lassen. Die Seele ist befriedigt, ihr
Durst ist für immer gestillt, und sie trägt das erquickende
Lebenswasser stets mit sich umher.
Fragst du, wo dieser Ort ist, an welchem sich Gott
und der Sünder begegnen können? Begehrst du zu wissen,
was Gott gethan hat, um den Sünder segnen zu können?
O, dann blicke auf das Kreuz. Da ist der Ort, wo Gott
und der Mensch zusammentreffen: der Mensch in seinem
Elend und Verderben, „fern von Gott und ohne Hoffnung
in dieser Welt" — Gott in Seiner überströmenden Gnade
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und Liebe, und zugleich in Seiner unbestechlichen Heiligkeit
und Gerechtigkeit. Der Mensch ist in der That unter
dem Fluche, und der Zorn Gottes ruht auf ihm. Wäre
es sonst nötig gewesen, daß der Herr Jesus den Fluch
auf sich nahm? Warum mußte der gepriesene Sohn Gottes
in der tiefsten Seelennot schreien: „Mein Gott, mein
Gott, warum hast Du mich verlassen?" Er hätte diesen
schrecklichen Platz nicht einzunehmen brauchen, wenn es
wirklich wahr wäre, daß der Mensch, wie so viele sagen
und denken, zwar nicht gut genug für den Himmel, aber
auch nicht böse genug für die Hölle sei. Kannst du, geliebter
Leser, auf das Kreuz blicken und sagen: „Dort starb
Christus für mich?" — „Er starb für alle," antwortest
du vielleicht. Doch dann möchte ich dich fragen: wenn
Er für alle starb, wenn Er den Platz des Gerichts einnahm
für alle, welcher Platz gebührt dann diesen allen?
Willst du einen Unterschied machen zwischen Sündern,
deren Errettung und Hinführung zu Gott, dem Vater,
einen solchen Tod nötig machten? Willst du noch länger
dafür streiten, daß du doch noch lauge nicht so schlecht
seiest, wie mancher andere? Vielleicht ist es so, vielleicht
bist du vor vielen groben Sünden durch die Gnade Gottes
bewahrt geblieben; aber was hilft eS dir, wenn nach
allem das Kreuz des Missethäters sowohl dein wie jener
Platz ist?
Ach! bedenke doch, daß es nicht ein Feind ist, der
Zu dir redet über deine Sünden und über deinen verlorenen
Zustand. Es ist die göttliche Liebe, die für dich
herniedergekommen ist und dir gerade durch das Opfer,
welches sie für dich bringen mußte, sagt, was du bist.
„Denn die Liebe des Christus dringt uns, indem wir
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also urteilen: daß, wenn einer für alle gestorben ist, somit alle
gestorben find," d. h. daß sie sich alle unter dem Urteil des
Todes befinden. (2. Kor. 5,14.) Du bist gerade der Sünder,
der einen solchen Tod nötig machte. Gerade für solche, wie
du bist, ist Christus gestorben. Das Kreuz ist der Ort,
wo du Gott begegnen kannst, und wenn du heute im
Glauben deinen Blick auf das Kreuz richtest, so wirst du
sehen, wie Gott dort für dich ein vollkommenes Heil
bereitet hat. „DaS Wort ist treu und aller Annahme
wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist,
Sünder zu erretten." (1. Tim. 1, 15.) Kannst du mit
dem Apostel hinzufügen: „von welchen ich der erste bin,"
so hast du das erste Anrecht auf dieses Werk. Bist du
ein Sünder? Das ist alles, was Gott braucht. Nimm
einfach und aufrichtig diesen Platz vor Gott ein; aber
füge nichts hinzu. Sage nicht: „ich bin ein ehrbarer
Sünder;" für solche ist Christus nicht gestorben. Dem
Sünder bietet Gott Gnade und Vergebung an. Ja,
der Vater sucht aus der Mitte der Sünder solche, die
Ihn im Geist und in Wahrheit anbeten. Der Herr sagt
dies zu dem Weibe. Der Mensch sucht Gott nicht, sondern
der Vater sucht den Menschen, den Verlorenen.
„Ich weiß," antwortet das Weib, „daß der Messias
kommt, der Christus genannt ist; wenn jener kommt, wird
Er uns alles verkündigen."
„Jesus spricht zu ihr: „Ich bin's, der mit
dir redet."
Welch eine Botschaft für das arme Weib! Das
Kreuz war zwar noch nicht; aber der lange erwartete
Messias, der Christus, war da; Er saß neben ihr am
Rande des Brunnens und redete mit ihr, der großen
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Sünderin, obwohl Er ihre ganze Vergangenheit kannte,
in solch unbegreiflicher Güte und Huld. Er verkündigte
ihr die Gnade, welche allein ihrem traurigen Zustande
begegnen konnte. Sie nimmt diese Gnade auf, sie glaubt
dem Worte des Herrn, sie trinkt das Wasser des Lebens,
welches Er ihr reicht, und es wird in ihr „zu einer Quelle
Wassers, das in das ewige Leben quillt."
Welch eine liebliche Scene! Ja, mein lieber Leser,
Christus ist es, den du nötig hast. Fühlst du dich beleidigt,
wenn du die Evangelien öffnest und findest Ihn
in der Gesellschaft von Sündern? Sagst du mit den
selbstgerechten Pharisäern: „Dieser nimmt die Sünder
auf und isset mit ihnen?" Oder ist dir die Botschaft,
daß Er gekommen ist, zu suchen und zu erretten, was
verloren ist, köstlich, köstlicher, als dem verschmachtenden
Wüstenwanderer das Wasser der Oase? Hast du diesen
Christus kennen gelernt, der Sünder aufnimmt und niemanden
von sich stößt, der zu Ihm kommt, ja alle einladet
— weil alle Sünder sind — zu Ihm zu kommen?
Kennst du Den, der gesagt hat: „Kommt her zu mir,
alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe
geben? Was auch euer Leben, eure Erfahrungen, eure
Gefühle sein mögen, kommt her zu mir!" Was kann ein
Sünder anders haben, als schlechte Gefühle und schlechte
Erfahrungen? Was ist ein Sünder anders, als ein
Mensch von schlechtem Lebenswandel?
Der Herr hatte zu dem Weibe geredet, obwohl Er
alle ihre Umstände kannte, und Er war der Christus, der
ebendige Ausdruck dessen, was Gott ist. Alles war da
für sie, und sie hatte nach der Fülle Seiner Gnade von
Ihm empfangen. Und jetzt läuft sie fort, um den Leuten
18
in der Stadt — denen, die sie sehr gut kannten — zu
sagen, daß sie einen Menschen gefunden, der ihr alles
gesagt habe, was sie gethan habe. Sie denkt nicht mehr
daran, weshalb sie gekommen ist, noch fragt sie darnach,
was die Leute von ihr sagen werden — nur ein Gegenstand
erfüllt ihr ganzes Herz: sie hat jemanden gefunden,
der ihr alles gesagt, was sie gethan hat. Ein jeder, der
an sich selbst erfahren hat, was es heißt, mit allen seinen
Sünden vor Gott gewesen zu sein, wird die Gefühle,
welche das Herz des Weibes erfüllten, verstehen. Wenn
einmal zwischen Gott und mir die Rede über meine Sünden
gewesen und kein Rückhalt mehr im Herzen vorhanden
ist, so kann ich auch vor andern rückhaltlos mein Leben
aufdecken. Doch kannst auch du sagen, mein lieber Leser:
„Er hat mir alles gesagt, was ich gethan habe?" Wenn
du es sagen kannst, wenn du mit allen deinen Sünden
in Seiner Gegenwart gewesen bist, so wirst du auch hinzufügen
können: „Er hat mir alles vergeben, hat meine
Sünden für immerdar hinweggethan und mir, dem Sünder,
nichts als Liebe bewiesen."
Doch noch eins. Wenn unser Herz voll von Freude
ist, so ist es das Seinige noch weit mehr. Wie wunderbar
ist der Gedanke, daß, wenn Er uns gegeben hat, wir
auch Ihm gegeben haben! Als die Jünger aus der Stadt
zurückkehrten und Ihn aufforderten, Speise zu sich zu
nehmen, wollte Er nicht essen. Der gute Hirte hatte Sein
Schäflein gefunden, und jetzt brauchte Er keine. Speise
mehr. Wenn die Freude eine gewisse Höhe erreicht, so benimmt
sie uns Hunger und Durst. So war es bei unserm
gepriesenen Herrn. Einer armen Sünderin begegnet zu sein
und sie zur Ruhe und zu dem Vater gebracht zu haben, war
19
Speise und Trank für Ihn und erfüllte Sein Herz mit tiefer,
unaussprechlicher Freude. Und immer noch ist Er derselbe —
gestern, heute und in Ewigkeit derselbe Jesus!
Ach! zu Seinen Jüngern mußte Er sagen: „Ich habe
eine Speise zu essen, dieihrnichtkennet." Wie wenig
kennen auch wir oft diese Speise! Wie wenig Interesse
findet sich in unsern Herzen zu armen, verlorenen Seelen,
wie wenig Liebe zu unserm Gott und Vater! Möchte doch
die Erfahrung Seiner Liebe auch in unsern Herzen eine wahre,
brennende Liebe zu Ihm, sowie zu den Gegenständen Seiner
Liebe entzünden! Möchten wir mehr und mehr erfahren, wie
köstlich es ist, den Willen Dessen zu thun, der auch uns
gesandt hat, und Sein Werk zu vollbringen!
Betrachtungen über die Epistel an die Römer.
(Fortsetzung.)
Kapitel 7.
Der Apostel behandelt in diesem Kapitel eine neue
Frage: Was ist die Wirkung des Gesetzes in Bezug
auf unsere neue Stellung? Der Grundsatz ist einfach. Wir
sind mit Christo gestorben; ein Gesetz aber herrscht nur
über den Menschen, so lange er lebt. Wenn ein Mörder
zum Tode verurteilt wird und er stirbt den Tod des
Gerichts, so kann die Obrigkeit weiter nichts mit ihm thun.
Nun sind wir gestorben; doch wenn wir durch das Gesetz
allein getötet wären, so wären wir nicht nur gestorben,
sondern auch verdammt. Nun aber sind wir mit Christo
gestorben, und Er hat die Folgen der Sünde, als Schuld,
für uns getragen. Wir sind also tot, und das Gesetz
übt demnach keine Herrschaft mehr über uns aus. An
die Stelle des Gesetzes ist Christus getreten. Anstatt
20
eines Gesetzes, welches die Sünden und die Gelüste verbot
und uns notwendig verdammen mußte — weil das
Fleisch, an welches das Gesetz seine Forderungen richtete,
demselben nicht unterworfen war, noch sein konnte —
besitzen wir, indem wir durch den Glauben das Fleisch,
welches zur Sünde geneigt ist, für tot halten, in Christo
ein neues Leben. Der Apostel wendet als Beispiel die
Ehe an; der Tod löst die Verbindung zwischen Mann
und Weib auf. So sind wir tot in Bezug auf das
Gesetz und find mit einem andern Manne verbunden,
nämlich mit dem auferstandenen Christus. Das Bild
wird hier in umgekehrter Weise angewandt: nicht das
Gesetz, sondern wir, als solche, die ihr Leben im Fleische
hatten, sind gestorben. (V. 4.)
Das ist die Lehre. In dem Folgenden redet der
Apostel von der Erfahrung. Diese stößt den wichtigen
Grundsatz keineswegs um, sondern bestätigt vielmehr die
Befreiung der Seele von dem Gesetz durch das Gestorbensein
mit Christo, der jetzt unser neues Leben geworden
ist. Nach dem von dem Apostel angewandten Bilde von
der Ehe sind wir mit Christo ehelich verbunden und dadurch
zu Gott in ein ganz neues Verhältnis, in das der Verwandtschaft
getreten. Es heißt deshalb: „Als wir im
Fleische waren." „Im Fleische sein" heißt: aufdemBoden
oder in der Stellung des ersten Adam vor Gott stehen
und Ihm nach dieser Stellung verantwortlich sein. Es
handelt sich hier nicht um die Schul.d, sondern um die
Befreiung der Seele von dem Joch der Sünde. Wenn
man gesetzlos ist und sucht nichts anderes als sein Vergnügen,
so kann das Gewissen wohl einmal aufwachen;
aber die Kraft der Sünde wird nicht gefühlt. Man schwimmt
21
mit dem Strom und fühlt nicht, daß man unter der
Herrschaft der Sünde steht. Wenn man bekehrt wird,
so ist man zuerst mit der Schuld beschäftigt, mit der Last
der Sünden. Selbst wenn man die Vergebung der Sünden
kennen gelernt hat und glaubt, daß man ein Kind Gottes
ist, so mag die Form der Erfahrung wohl verändert sein,
weil es sich nicht mehr um Rechtfertigung handelt, aber
nichts destoweniger ist die Seele betrübt, so lange sie nicht
auf dem Wege der Erfahrung von der Kraft der in uns
wohnenden Sünde befreit ist. Immer aufs neue entsteht
die Frage: Wie kann Gott mich annehmen, oder wie
kann Er Wohlgefallen an mir haben, da doch die Sünde
noch vorhanden ist, die ich nicht überwinden kann? So
lange man die Vergebung nicht kennt, ist die Frage:
„Wie kann ich Vergebung finden?" Hat man sie gefunden,
so bleibt immer noch die Frage: „Was bin
ich vor Gott, wie kann ein solcher, wie ich bin, angenommen
werden? Sollte ich mich auch wirklich nicht getäuscht
haben?" Mit einem Wort, das Auge ist nur auf das gerichtet,
was wir in uns selbst vor Gott sind, und da sieht
es, daß die Sünde noch vorhanden ist; und doch sollte
ein Christ den Sieg über die Sünde davontragen. Ein
solcher ist in der That, oder im Zustande seines Geistes,
in seiner Gesinnung, immer noch im Fleische.
Wir haben schon bemerkt, daß die Stellung sich
in den ersten vier Versen findet. Der fünfte und sechste
Vers leiten dann auf die Erfahrung über. Wir waren
im Fleische ehelich verbunden mit dem Gesetz. Dasselbe
gab kein Leben, keine Kraft, kein Vertrauen auf Gott.
Es verbot die Sünden und rechnete sie mir zu. Doch
nicht allein das, sondern es gab auch der Sünde im
— 22 —
Fleische Anlaß, wirksam zu werden, um dem Tode Frucht
zu bringen. Es brachte die Sünden und Gelüste vor
das Herz, indem es sie verbot. Wenn ein Haufen Geld
auf dem Tische liegt, und es wird mir gesagt: Du darfst
nichts davon nehmen, so wird alsbald die Lust in mir
erwachen, es zu thun. Oder wenn ich sage: Ich habe
hier etwas in dieser Schublade, aber niemand darf wissen,
was es ist, so wird jeder, klein und groß, Lust verspüren,
die Schublade zu öffnen. Die Leidenschaften der Sünde
sind durchaus nicht von dem Gesetz, sondern durch
dasselbe. Es setzt aber voraus, daß das Fleisch vorhanden
ist, und daß wir die Kraft Christi nicht besitzen.
Jetzt aber (in Christo) sind wir von dem Gesetz los gemacht,
weil wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten
wurden. Wir waren im Fleische unter dem
Joch des Gesetzes; das Fleisch war die Quelle der Sünden;
und jetzt ist es für den Glauben gestorben, auf daß wir
in Neuheit des Geistes dienen. Der Tod des Fleisches,
des alten Menschen, bildet die Grundlage für den Ueber-
gang aus der Knechtschaft im Fleische zur Freiheit im
Geiste; zugleich steht dieser Tod in Verbindung mit der
Erlösung.
Aber wie kann dieses Ziel erreicht werden? Es ist
dies etwas ganz anderes, als darnach zu verlangen. Die
Lehre ist im Worte Gottes ganz klar und einfach dargestellt.
Aber es giebt viele, die dieser Lehre gemäß wissen,
daß der Christ mit Christo gestorben und sogar mit Ihm
auferstanden ist; die auch glauben, daß sie mit Ihm gestorben
sind, weil das Wort Gottes dieses so klar ausspricht;
die nicht daran zweifeln, daß sie Kinder Gottes
sind, und daß eine solche Stellung dem Kinde Gottes
23
angehört, und die trotz alledem nicht befreit sind. Es giebt
selbst solche aufrichtige Seelen, die, wenn sie nicht so
wandeln, wie sie gerne möchten, anfangen zu zweifeln
und zu fragen, ob sie nicht Heuchler sind, ob sie sich
nicht getäuscht haben. Sie glauben, und das mit Recht,
daß Gott etwas anderes bei ihnen sehen möchte, als was
Ersieht. Sie machen alles abhängig von dem, was sie
in sich selbst vor Gott sind. Das ist aber Gesetz und
nicht Gnade. Die Antwort auf die Frage, wie der Zustand
der Freiheit erlangt wird, wird vom siebenten Verse
an entwickelt.
Um wahrhaft befreit zu werden, muß man lernen,
und zwar durch die Erfahrung, daß man von der Kraft
der Sünde gefangen ist und keine Kraft hat, sich selbst
zu befreien, selbst wenn man gern frei sein möchte. Hierzu
benutzt Gott das Gesetz und das Verlangen des neuen
Menschen, frei zu werden vom Joch der Sünde, die er
haßt. So lernt der Christ, nicht daß er gesündigt hat —
das ist hier nicht der Gegenstand der Betrachtung —
sondern daß in ihm, während er gern die Heiligkeit erlangen
möchte, ein Grundsatz der Sünde im Fleische
wirksam ist. Das Gesetz lehrt ihn, daß Gott dieses nicht
erlauben kann; seine erneuerte Gesinnung erkennt, daß
Gott es nicht erlauben darf; er selbst will es auch nicht.
Und dennoch ist dieser Grundsatz der Sünde vorhanden,
kräftig wirksam, zu kräftig für ihn, um sich davon befreien
zu können. Deshalb hat das Gesetz nicht allein die
Pflichten für alle menschlichen Verhältnisse mit göttlicher
Autorität festgestellt, sondern hat auch hinzugefügt: „du
sollst nicht begehren." Das ist ein Prüfstein für den
Menschen und stellt, selbst wenn er nicht äußerlich ge
24
sündigt hätte, selbst wenn sein Wollen durch die Bekehrung
auf die Heiligkeit gerichtet ist, seinen Zustand klar
ins Licht. Diese Heiligkeit, nach der er trachtet, kann
er nicht erreichen. Als er ohne Gesetz war, fühlte sein
Gewissen, wenn er nichts gethan hatte gegen die Stimme
desselben, den Richterspruch des Todes nicht. Er lebte
ruhig voran, ohne das Gefühl der Verurteilung mit sich
herumzutragen. Aber das Gesetz kam und sprach über
das „Begehren" die Verdammnis aus; die Erfahrung
lehrt, daß dieses Begehren im Herzen vorhanden ist,
und nun fühlt das Gewissen das Urteil der Verdammnis;
das Begehren selbst wird geweckt, und alles
kommt ans Licht. Das Gewissen fühlt den Richterspruch;
man möchte das Gute thun, aber man findet, daß stets
das Böse vorhanden ist.
Das Gesetz sagt: „Thue dieses, und du wirst leben."
Der bekehrte Mensch, aus dessen Gewissen das Gesetz
seine Kraft ausübt, sieht dasselbe als Gottes Gesetz an;
die Furcht Gottes ist in seinem Herzen, und er möchte
thun, was das Gesetz sagt. Wir sprechen hier von dem
Zustande eines Bekehrten, nicht eines Befreiten. Weil
das Gesetz dem, der es halten würde, das Leben verhieß,
so war es also zum Leben gegeben; weil aber das Fleisch
dem Gesetz nicht unterworfen ist, so erweist dasselbe sich
in Wirklichkeit dem Menschen zum Tode; dies erfährt
die aufrichtige bekehrte Seele. Es ist gut, hier den Unterschied
zu beachten zwischen einem natürlichen Menschen,
der nur ein Gewissen hat, und dem Zustande eines Menschen,
>vie er uns hier vorgestellt wird. Das Gewissen unterscheidet
zwischen Bösem und Gutem; Gott hat dafür gesorgt,
daß der Mensch, nachdem er sündhaft geworden.
25
das Gewissen mit in die Welt bringt. Es verurteilt
seiner Natur nach das, was böse ist; nichtsdestoweniger
thut der Mensch das Böse. Ein Heide, dessen Wille
nicht verändert ist, könnte sagen: ich gebe dem, was besser
ist, zwar meinen Beifall, aber ich will nicht das, was
gut ist, und folge dem Bösen. So aber ist es nicht bei
dem Menschen, von welchem der Apostel hier redet. Sein
Wille ist erneuert; er hat Wohlgefallen am Gesetz Gottes.
Das ist die Gesinnung Christi selbst und der Beweis,
daß ein Mensch, in welchem sich diese Gesinnung findet,
bekehrt ist und im Grunde des Herzens ein neues Leben
empfangen hat. Das Gewissen in dem unbekehrten Menschen
läßt diesen anerkennen, was gut ist, aber der Wille des
Fleisches bleibt immer derselbe; er lebt eben im Fleische,
hat wohl ein Gewissen, aber keinen neuen Willen. Dagegen
fehlt dem in Römer 7 geschilderten Menschen nicht
der Wille, sondern die Kraft zum Thun dessen, was
er will. Es handelt sich hier um den Zustand einer
Seele, die das Gute will.
Im 13. Verse geht der Apostel dazu über, die
Wirkung des Gesetzes auf die Erfahrung der Seele zu
beschreiben, die also das Gute will. Im Verse vorher
wird anerkannt, daß das Gesetz heilig sei und das Gebot
heilig, gerecht und gut. Naturgemäß entsteht nun die
Frage: „Ist denn das Gute mir zum Tode geworden?"
Keineswegs. Die Sünde aber wirkte den Tod durch
das, was gut ist (das Gesetz), auf daß die Sünde völlig
offenbar würde, ihren wahren Charakter annähme und
überaus sündig würde, indem sie das Gute gebraucht hat,
nm den Tod hervorzubringen. Das Böse offenbart sich
nicht allein als böse an und für sich, sondern auch als
26
Ungehorsam, da es verboten ist, und wird so durch
das Verbot überaus sündig. Die Sünde hat einen starken
Willen im Menschen, daß er thun will, was böse ist,
selbst wenn Gott es verboten hat. Wenn mein Kind
umherläust, anstatt seine Aufgaben zu machen, so ist das
eine schlechte Gewohnheit; wenn ich ihm aber verbiete,
hinauszulaufen, und es folgt dennoch jener schlechten Gewohnheit,
so ist das außerdem noch Ungehorsam. Durch
das Gebot ist die Sünde überaus sündig geworden. Es
zeigt, daß in mir nicht allein böse Gelüste sind, sondern
daß auch ein Eigenwille vorhanden ist, welcher das Böse thut,
trotz des Verbotes Gottes; man verachtet Gott und Sein Wort.
Doch wird durch das Gesetz noch mehr gelernt, nämlich
unsre Schwachheit, selbst wenn wir das Gute thun wollen.
Es gelingt dem bekehrten, aber nicht befreiten Menschen
nicht, zu thun, was er gern thun möchte; die Kraft fehlt
ihm. Er findet, daß er fleischlich ist, unter die Sünde
verkauft, das heißt ein Sklave derselben. Er weiß, daß
das Gesetz geistlich ist, er aber ist im Fleische, fleischlich,
unter dem Joch der Sunde, der er als Sklave verkauft
ist. Das Gewissen ist thätig nach dem Maße, wie er
den Willen Gottes aus dem Gesetz kennt, und zwar erblickt
er im Gesetz nicht allein äußerliche Vorschriften, sondern
etwas, was die Quellen des Bösen im Herzen verurteilt.
Äußerlich kann man wohl tadellos sein; Saulus
und viele andere waren es, aber sie waren dadurch voll
Eigengerechtigkeit. Wenn das Gesetz aber die Begierde
verbietet, so könnte es uns ebenso gut verbieten, Menschen
zu sein. Darum hat Gott den Geboten hinzugefügt: „Laß
dich nicht gelüsten."
Es handelt sich hier also nicht um das, was ich
gethan habe, sondern um das, was ich bin, und da
entdecke ich zuerst, daß in mir nichts Gutes ist. Ich will
das Gute thun, aber ich thue es nicht. Ich bin unter
dem Joch der Sünde, im Fleisch. Ich erkenne an, daß
das Gesetz gut ist; ich hasse die Sünde, und doch thue
27
ich sie. Was ich aber hasse, das bin ich nicht selbst; ich
hasse sie ja. So lerne ich, durch Gott belehrt, einen
Unterschied machen zwischen mir und dem, was ich thue,
wie der Apostel sagt: „Wenn ich aber das, was ich nicht
will, ausübe, so wirke nicht mehr ich dasselbe, sondern
die in mir wohnende Sünde." Doch dies ist nicht die
Freiheit; dieselbe erfordert Kraft. Immerhin aber ist es
eine sehr wichtige Erquickung auf dem Wege, nicht allein
gelernt zu haben, daß in mir nichts Gutes wohnt, sondern
auch zu unterscheiden zwischen mir und der Sünde, die
in mir wohnt. Ich habe Wohlgefallen am Gesetz nach
dem inneren Menschen; das Gewissen ist thätig und der
Wille ist in Ordnung gebracht. Was noch fehlt, ist die
Kraft, und diese ist nicht vorhanden, weil die Erlösung
noch nicht klar gekannt wird. Durch die Erfahrung lernt
man nicht allein, daß man das Gute nicht thut, sondern auch daß
man eS nicht thun ka n n; immer ist das Joch der Sünde da.
Und das ist es gerade, was man zu lernen hat, nämlich daß
man „keine Kraft" hat, den Willen Gottes zu thun.
Drei durch die Erfahrung zu erlernende Wahrheiten
sind es also, wovon bis jetzt die Rede gewesen ist:
1. Im Fleische wohnt nichts Gutes.
2. Wir haben zu unterscheiden zwischen uns selbst, die
wir das Gute wollen, und der in uns wohnenden
Sünde.
3. Es ist keine Kraft in uns, so lange wir nicht
befreit sind, die Sünde im Fleische zu überwinden;
vielmehr werden wir durch sie überwunden.
Wir können uns also selbst nicht befreien, müssen
vielmehr befreit werden, und zu dieser Erkenntnis muß
die Seele gebracht werden. „Wer wird mich frei machen?"
ist der Ausdruck des Bewußtseins, das wir selbst es nicht
können; wir sehen uns nach einem Andern um. Das ist
es, was wir lernen mußten — nicht unsre Schuld, sondern
unsre Schwachheit, unsre völlige Kraftlosigkeit, unsre Abhängigkeit
von Gott. Doch haben wir hier Verschiedenes
zu bemerken.
28
Es kann nur derjenige diesen Zustand beschreiben,
der selbst darin gewesen ist, sich aber jetzt außerhalb desselben
befindet. Ein Mensch, der in einen Sumpf geraten
ist, kann unmöglich ruhig diese Lage beschreibeu, so lange
er sich darin befindet. Er fühlt nur, daß er sinkt und
am Umkommen ist, so daß er nichts anderes thun kann,
als um Hülfe rufen. Nachdem er aber errettet ist, kann
er ruhig alles beschreiben. Einer, der nie in einer solchen
Lage war, wird vielleicht zu ihm sagen: Warum bist du
nicht voran gegangen, bis du festen Boden fandest? Ja,
sagt der andere, das ist leicht gesagt, aber wenn ich im
Sumpf einen Fuß aufhob, so sank der andere nur um
so tiefer hinein. Das ist auch der Zustand der Seele
in Römer 7, und zwar beschrieben durch einen Christen,
der sich selbst darin befunden hat, jetzt aber befreit ist.
Ich sage „durch einen Christen;" denn wenn der Apostel
sagt: „wir wissen," (V. 14.) so ist das christliche
Erkenntnis. Die Erfahrung aber ist das Bewußtsein
einer einzelnen Person. Wenn er also sagt: „ich bin,"
so ist das Erfahrung und nicht Lehre. Alles ist in
diesen mitgeteilten Erfahrungen noch durchaus gesetzlich.
Die betreffende Person stimmt dem Gesetz bei, daß es
recht sei; ja, sie hat Wohlgefallen an dem Gesetz. Das Gewissen
und der Wille sind in göttlichen Dingen richtig;
beide aber haben das Gesetz zum Gegenstand und Maßstab.
Wir hören kein Wort von Christo, noch von dem Geiste;
das Gesetz ist der einzige Gegenstand der Seele. In
Vers 25 aber wird die wahre Befreiung erreicht, und
der befreite Christ dankt Gott. Wohl setzt sich der
Kampf immer fort; wir finden dies in Gal. 5, 16 — 18.
Doch wird an dieser Stelle gesagt, daß das Fleisch gelüstet
wider den Geist, der Geist aber wider das
Fleisch. Wenn wir aber durch den Geist geleitet werden,
so sind wir nicht unter Gesetz, d. h. nicht in dem Zustande,
der im siebenten Kapitel des Römerbriefes beschrieben ist.
(Forts, folgt.)
Betrachtungen über die Epistel an die Römer.
(Fortsetzung.)
Kapitel 8.
Diese Befreiung steht in der engsten Verbindung mit
der Erlösung, nicht sowohl hinsichtlich der Vergebung, als
vielmehr hinsichtlich unsers Gestorbenseins mit Christo.
Wir haben schon gesehen, daß es zwei Hauptpunkte in
dieser Erlösung giebt, nämlich die Vergebung der Sünden
oder die Rechtfertigung, und die Befreiung: Freiheit vor
Gott, und Freiheit vom Joche der Sünde im Fleische.
Wenn wir aber mit Christo gestorben find, so sind wir
der Sünde gestorben und sind nicht mehr im Fleische
vor Gott. Das fleischliche Leben ist nicht mehr unsre
Stellung, weil Christus, nachdem Er gestorben, unser
Leben geworden ist. Die Sünde im Fleische ist verurteilt,
verdammt — nicht vergeben — und zwar im Tode
Christi auf dem Kreuze. Die Kraft des Lebens Christi
ist in mir, ist mein Leben. Doch nicht allein das. Die
Sünde im Fleische, die meine Qual war, ist schon verurteilt,
aber in einem Andern, so daß es für mich wegen
des Fleisches keine Verdammnis mehr giebt. Da wo diese
Verdammnis, das Gericht des Fleisches, ausgeübt worden
ist, ist der Tod eingetreten, und diejenigen, die in Christo
Jesu sind, sind mit Ihm gestorben, so daß es für sie
keine Verdammnis mehr giebt. Was an Ihm geschehen
30
ist, ist an uns geschehen: Er ist der Sünde gestorben,
und die Verdammnis ist vorbei. Das ist unser Zustand,
betreffs der Sünde im Fleische. So klar wie im ersten
Teile des Briefes von dem Wegthun der Sünden gesprochen
wird, eben so klar wird hier das Wegthun der
Sünde im Fleische und der Verdammnis vorgestellt;
ja, für den Glauben ist das Fleisch selbst beseitigt, da
wir gestorben sind.
Dieser Zustand wird in den drei ersten Versen des
achten Kapitels beschrieben. Der Christ befindet sich in
einer ganz neuen Stellung: er ist in Christo. Nicht
allein hat sich die Gnade Gottes darin geoffenbart, daß
die Sünden des alten Menschen vergeben sind, sondern
auch seine Stellung ist eine ganz neue geworden: wir
sind erlöst. Es heißt nicht: „Also ist jetzt keine Verdammnis
mehr für die, welchen die Sünden vergeben
sind," sondern: „für die, welche in Christo Jesu sind."
Diese Stellung ist das Resultat des Werkes Christi, der
Erlösung. Der Christ ist mit Christo aus der Stellung
des Fleisches befreit, weil er mitgestorben ist und teil hat
an dem Leben des auferstandenen und verherrlichten Christus.
So steht er vor Gott nicht mehr als ein Kind Adams,
verantwortlich im Fleische, sondern als einer, der diese
Stellung wirklich verlassen hat durch den Tod, und der
lebendig ist in Christo. Das Fleisch wird betrachtet als
tot, als verdammt, als nicht mehr vorhanden, sondern als
verschwunden im Tode Christi. Der Christ ist lebendig in
Christo, er ist nicht mehr im Fleische. (Vergl.Gal. 2, IS. 20.)
Der Ausdruck: „das Gesetz des Geistes des Lebens
in Christo Jesu" rc. im zweiten Verse unseres Kapitels
mag manchem Leser auffallend erscheinen. Es soll dadurch.
31
wie ich glaube, angedeutet werden, daß der Geist des
Lebens in Christo Jesu beständig und ununterbrochen nach
ein und demselben Grundsätze wirkt, damit das Fleisch
tot sei in dem Gläubigen, indem es in einem Anderen
verurteilt wurde. Durch das Leben Christi und den
Heiligen Geist ist der Gläubige in Christo. Wie könnte
es da noch Verdammnis geben? Gott hat sich schon mit
der Sünde im Fleische am Kreuze beschäftigt und ist jetzt,
wenn man so sagen darf, fertig damit. Das neue Leben
und der Heilige Geist geben dem lebendig gemachten
Gläubigen seinen Platz in Christo; er ist erlöst und vor
Gott lebendig in Christo. Es handelt sich hier nicht, wie
schon gesagt, um die Vergebung der Sünden des alten
Menschen, sondern um eine neue, lebendige Stellung in
Christo. Das ist es, was in den drei ersten Versen des
achten Kapitels dargestellt wird.
Nachdem im siebenten Kapitel die Erfahrung der
ersten Stellung, sowie die Befreiung durch die Erlösung
in Christo und die Fortdauer der zwei Naturen, als
wirkliche Thatsache, beschrieben worden, wird in den drei
ersten Versen des achten Kapitels die neue Stellung in
Christo, im Gegensatz zu der Stellung im Fleische oder
der Stellung im ersten Adam, dargestellt. Im ersten
Verse — keine Verdammnis ; im zweiten — die Kraft
des Lebens; im dritten — die Verurteilung der Sünde
im Fleische in Christo auf dem Kreuz. Was den zweiten
Vers charakterisirt, ist das Leben in Christo nach der
Kraft des Heiligen Geistes, und zwar als ein unaufhörlich
wirkender Grundsatz. Den dritten kennzeichnet die Verurteilung
der Sünde im Fleische im Sündopfer Christi.
Die Sünde ist zwar noch da, und wenn wir nicht treu
32
sind, wenn wir nicht praktisch das Sterben des Herrn
Jesu umher tragen, so ist sie wirksam in uns; wir verlieren
die Gemeinschaft mit Gott und entehren den Herrn
durch unsern Wandel, indem wir nicht nach dem Geiste
des Lebens wandeln, würdig des Herrn. Aber wir stehen
nicht mehr unter dem Gesetz der Sünde, sondern,
mit Christo gestorben und eines neuen Lebens in Ihm
und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden, sind wir
von diesem Gesetz befreit; wir befinden uns in einer neuen
Stellung, sind in dem zweiten Adam vor Gott, und
unser naturgemäßer Wandel ist nach dem Geiste — nicht
nach dem Fleische. So wird das Gesetz Gottes und sein
Recht in uns erfüllt. Darüber hinaus geht die Lehre
hier nicht, weil man das Gesetz wollte. Das Gesetz
aber ist nicht der Maßstab des christlichen Wandels; es
wird nur gesagt, daß der, welcher nach dem Geiste wandelt,
eS erfüllt. Als ich im Fleische war, konnte ich es nicht
erfüllen, weil das Fleisch sich dem Gesetz nicht unterwirft,
es auch nicht vermag, sondern nur seinem eignen Willen
folgt. Der Geist aber wird uns sicher nicht in das leiten,
was gegen das Gesetz Gottes ist. Das Gesetz wird
praktisch erfüllt, indem wir nicht unter dem Gesetz, sondern
unter der Leitung des Geistes stehen. Wir stehen unter
dem Einfluß des Geistes, und es handelt sich nicht um
ein Gesetz außer uns, sondern um eine Natur in uns,
die den für sie passenden Gegenstand besitzt. Die, welche
nach dem Geiste leben, dem neuen Menschen gemäß, begehren
die Dinge, die des Geistes sind; die aber, welche
nach dem Fleische sind, sinnen auf die Gegenstände der
fleischlichen Gelüste. Es handelt sich nicht um ein auferlegtes
Gesetz, sondern um eine neue Gesinnung, die Gesinnung
33
einer Natur, welche vom Geiste geboren ist und das sucht,
was geistlich ist — eine heilige Freiheit, indem der Mensch,
als gestorben mit Christo, vom Joche der Sünde befreit
ist, eine aus Gott geborene heilige Natur besitzt, heilige
Gegenstände vor Augen hat und eine Wohnung des
Heiligen Geistes ist, der im Herzen heilige Gedanken hervorbringt
und die Dinge offenbart, welche droben sind.
Die Gesinnung des Fleisches ist der Tod der Seele, hat
keine Frucht und trennt die Seele von Gott, sowohl jetzt,
als in der Ewigkeit. Die Gesinnung des Geistes aber
ist Leben, eine Quelle in uns, die in das ewige Leben
quillt und die Seele mit Frieden erfüllt. Die Gesinnung
des Fleisches lehnt sich gegen die Autorität Gottes auf.
Weil sie die Thätigkeit des natürlichen Menschen ausmacht,
so hat sie es mit dem Gesetz zu thun, welches der Ausdruck
dieser Autorität Gottes über den Menschen und die
Richtschnur seiner Verantwortlichkeit als Geschöpf Gottes
ist. Aber sie unterwirft sich dem Gesetz nicht und vermag
es auch nicht, weil der eigene Wille seinen eigenen Weg
gehen will; auch liebt sie durchaus nicht das, was Gott
wohlgefällt. So können also die, welche im Fleische sind,
welche sich vor Gott in der Stellung des ersten Adam befinden
und nach dem Leben des ersten Adam wandeln,
Gott nicht gefallen.
In Vers 9 begegnen wir einem sehr wichtigen Grundsatz.
Wann kann jemand sagen: ich bin nicht im Fleische?
Antwort: wenn der Heilige Geist in ihm wohnt. Es
kann jemand bekehrt sein, sich aber noch in dem im siebenten
Kapitel beschriebenen Zustande befinden, wie z. B. der
verlorene Sohn, bevor er seinem Vater begegnet war. Er
war bekehrt und auf dem rechten Wege; doch wollte er
34
nur ein Tagelöhner seines Vaters werden. Sobald er
aber mit dem Vater zusammengetroffen war, hören wir
nichts mehr davon, sondern nur von dem, was sein Vater
war und was derselbe für ihn that. Die Befreiung
findet statt durch das persönliche Bewußtsein dessen, was
der Vater ist, gekannt in Christo Jesu, durch das Bewußtsein
der Erlösung. Und dieses Bewußtsein findet
sich nur in einer Seele, in welcher der Heilige Geist
wohnt. Ein bekehrter Mensch ist als solcher erst dann
in der christlichen Stellung, wenn er gesalbt worden ist.
Gewissen und Herz waren bei dem verlorenen Sohne,
als er sich auf dem Wege zum Vaterhause befand, durch
die Gnade erreicht und richtig geleitet; aber er war noch
nicht mit dem vornehmsten Kleide bekleidet und kannte auch
das Vaterherz noch nicht. Er trat erst dann in die christliche
Stellung ein, als er den Vater erreicht hatte, und
von diesem Augenblick an hören wir nichts mehr von
ihm, sondern nur von dem Vater. Vorher war sein Zustand
nicht passend für das Haus.
In Vers 10 sehen wir die andere Seite deS christ-
lichen Verhältnisses. Im Anfang des Kapitels heißt es:
„welche in Christo Jesu sind," und hier: „wenn
Christus in euch ist." Der Christ ist also einerseits „in
Christo," und andererseits ist „Christus in ihm." In
Christo sind wir nach Seiner Vollkommenheit vor Gott;
Christus in uns ist der Grund und Maßstab unsrer
Verantwortlichkeit, wobei Er aber die Quelle unsrer Kraft
ist, und zwar nach dem, was im Anfang des Kapitels
gesagt worden ist. Ein Christ ist ein Mensch, der nicht
allein neu geboren ist — was durchaus notwendig ist —
sondern in welchem auch der Heilige Geist wohnt. Dieser
35
lenkt den Blick des Gläubigen auf das Werk Christi und
lehrt ihn den Wert desselben würdigen; Er giebt ihm
das Bewußtsein, daß er in Christo ist und Christus in
ihm, (Joh. 14.) und erfüllt sein Herz mit der Hoffnung
der Herrlichkeit, mit der Gewißheit, daß er gleich Christo
und bei Christo sein wird für immer und ewig. Wenn
der Bekehrte weiß, daß seine Sünden vergeben sind, wenn
er „Abba, Vater!" rufen kann, wenn er das Bewußtsein
hat, daß es für ihn keine Verdammnis mehr giebt, so ist
er befreit; er steht in der Freiheit vor Gott und ist
befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Aber
er ist erst dann ein vollendeter Christ, vollkommen, wenn
er durch den Heiligen Geist versteht, daß er die Stellung
Christi einnimmt, daß Gott in derselben Weise sein
Vater und sein Gott ist, wie Er der Gott und Vater
unsers Herrn Jesu Christi ist — wenn er versteht, daß
er aus der Stellung Adams in die Stellung Christi
hinüber gegangen, daß er mit Christo gestorben ist und
also selbst nicht mehr lebt, sondern Christus in ihm.
(Gal. 2, 20.)
Diese Freiheit wird im Römerbrief ganz klar vorgestellt
und entwickelt, doch nur insofern, als der Gläubige
darin betrachtet wird, als mit Christo gestorben und
Christum als sein Leben besitzend, wodurch er befreit
worden ist von dem Gesetz der Sünde sowohl, als auch
von dem mosaischen Gesetz, weil dieses über einen Menschen
herrscht, so lange er lebt, und nicht weiter gehen
kann. Der Brief behandelt jedoch nicht die Ratschlüsse
Gottes und die Herrlichkeit unsrer neuen Stellung. Wohl
geben die Verse 29 u. 30 des achten Kapitels einen Anknüpfungspunkt
für diese Lehre; im allgemeinen aber be
36
handelt der Brief die Verantwortlichkeit des Menschen,
sowie das, was Gott gethan hat, um uns von unsrer
Schuld zu reinigen und zu rechtfertigen, und er lehrt zugleich,
wie wir durch unser Gestorbensein mit Christo vom Gesetz
der Sünde und des Todes befreit sind. Jene beiden
Verse eröffnen einen etwas weiteren Blick, doch wird die
neue Stellung nicht näher entwickelt. Der Brief geht
nicht über die Wahrheit hinaus, daß wir durch Christum
lebendig gemacht sind; er redet nicht von unsrer
Auferweckung mit Ihm. Diese — den Ausgangspunkt
unsrer neuen Stellung — müssen wir im Kolosserbrief
suchen. Der Epheserbrief entwickelt diese Lehre dann noch
weiter, jedoch von einem andern Gesichtspunkte aus. Dort
hören wir nicht, daß ein Kind Adams sterben und auferstehen
muß, und daß der Gläubige gestorben ist, obwohl
er als auferstanden mit Christo dargestellt wird. Der
unbekehrte Mensch wird vielmehr in dem Epheserbries betrachtet
als tot in den Sünden, und alles ist eine neue
Schöpfung. Wir finden darin alle die Ratschlüsse Gottes,
sowohl in Bezug auf die mit Christo anferstandenen
Gläubigen, als auch in Bezug auf Christum selbst, auf
die Kinder Gottes und unsre Einheit mit Christo, als
Sein Leib.
Es wird gnt sein, zu bemerken, daß, wie in den
ersten drei Versen des achten Kapitels die Grundsätze
der Befreiung dargestellt sind, so in den acht folgenden
Versen der praktische Charakter und das Resultat der
Befreiung beschrieben wird. Der Heilige Geist ist
wirksam in dem neuen Leben, anstatt eines außerhalb
stehenden Gesetzes, dem selbst das Fleisch einen unüberwindlichen
Widerstand entgegen setzte. Der Geist versieht
37
das neue Leben mit. himmlischen Gegenständen, in welchen
dasselbe seine Freude und Ernährung findet. „Die Gesinnung
des Geistes ist Leben und Frieden." Dies alles
ist abhängig von dem Wohnen des Heiligen Geistes in
uns. „Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, der ist
nicht Sein." Wir haben schon gesagt, daß der Zustand eines
solchen demjenigen des verlorenen Sohnes gleich sei, bevor
derselbe seinen Vater gefunden hatte. Wenn dagegen
der Geist des Christus in dem Bekehrten wohnt, so ist
der Leib für ihn tot, der Sünde wegen, der Geist aber
Leben, der Gerechtigkeit wegen. Wenn der Leib lebt kraft
seines eignen Lebens, so bringt er nichts als Sünde hervor;
der geistliche Mensch hält ihn nach Kapitel 6 für tot.
Der Geist ist von dem neuen Leben nicht zu trennen.
Er ist die Quelle des Lebens und charakterisirt dasselbe.
Weil nun der Geist Dessen, der Jesum auferweckt hat, in
uns wohnt, so wird Der, welcher Christum aus den Toten
auferweckt hat, auch unsre sterblichen Leiber auferwecken
wegen Seines in uns wohnenden Geistes. Das ist das
gesegnete Ende des Lebens des Geistes in Christo Jesu,
oder vielmehr der Anfang desselben in seiner wahren Vollkommenheit.
Der Geist ist Gottes Geist. Gott hat Jesum,
die menschliche Person, auferweckt; Jesus ist Sein persönlicher
Name. Er lag aber nicht für sich unter den
Toten; Christus ist Sein Name, als für andere gekommen.
Wenn deshalb der Geist Gottes in uns wohnt,
so wird Der, welcher Ihn, den Erstgeborenen, auferweckt
hat, auch die erlösten Schafe auferwecken.
Dem Heiligen Geist werden hier drei charakteristische
Namen beigelegt: Geist Gottes (V. 9.) im Gegensatz
Zum Fleische; Geist Christi, als die Bildungskraft des
38
neuen Menschen, und Geist Dessen, der Christum
aus den Toten auferweckt hat, weil Er das Unterpfand
der Auferstehung in uns ist.
Der herrliche Zweck der befreienden Gnade ist erreicht.
Die Umstände, welche uns umgeben, bleiben freilich
dieselben, und unsere Stellung vor Gott in Verbindung
mit diesen Umständen wird in den folgenden Versen des
achten Kapitels dargestellt. (Forts folgt.)
Die Bibel — das Buch Gottes. *)
Die Bibel ist das Buch aller Zeitalter. Sie ist
das Buch Gottes, Seine vollkommene Offenbarung. Seine
eigene Stimme spricht zu einem jeden von uns. Sie ist
ein Buch für alle Zeiten, für alle Länder, für alle Klassen
von Menschen, hoch und niedrig, reich und arm, gelehrt
und ungelehrt, alt und jung. Sie redet eine so einfache
Sprache, daß ein Kind sie verstehen kann, und doch wieder
so tief, daß der schärfste Verstand sie nicht zu ergründen
vermag. Zudem spricht sie unmittelbar zu dem Herzen;
sie dringt hinab bis zu den verborgensten Quellen unsrer
Gedanken und Gefühle und ergründet die geheimsten Winkel
unsers moralischen Seins — sie richtet und beurteilt uns
durch und durch. Kurz, das Wort Gottes ist, wie der
inspirirte Apostel sagt, „lebendig und wirksam und schärfer,
denn jegliches zweischneidige Schwert, und durchdringend
bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl
der Gelenke, als des Markes, und ein Urteiler der Gedanken
und Gesinnungen des Herzens." (Hebr. 4, 12.)
*) Auszug aus der Einleitung zu den Betrachtungen über
das 5. Buch Mose von 6. It. A.
3!)
Auch muß es unsere Bewunderung erregen, wie allumfassend
dieses Buch ist. Es behandelt die Gewohnheiten
und Gebräuche, die Sitten und Grundsätze des neunzehnten
Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung mit derselben Be
stimmtheit und Schärfe, wie diejenigen der frühesten Periode
des menschlichen Daseins. Es entfaltet eine vollkommene
Bekanntschaft mit dem Menschen in jedem Abschnitt
seiner Geschichte. Das London oder Paris von
heute finden ihr Spiegelbild mit derselben Treue und Genauigkeit
auf den Blättern der Heiligen Schriften, wie
das Tyrus vor dreitausend Jahren. Wir sehen in diesem
wunderbaren Buche, welches Gott uns so gnädig zu unserer
Unterweisung gegeben hat, das Bild der menschlichen Geschichte,
auf jeder Stufe ihrer Entwicklung, von einer
Meisterhand gezeichnet.
Welch ein Vorrecht, ein solches Buch^zu besitzen, eine
göttliche Offenbarung in unsern Händen zu halten, Zugang
zu haben zu einem Buche, von welchem jede Zeile durch
göttliche Inspiration eingegeben ist, eine göttliche Schilderung
der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu
besitzen! Wer könnte ein solches Vorrecht genügend
schätzen?
Doch, wie gesagt, dieses Buch richtet den Menschen,
richtet seine Wege, beurteilt die Gedanken und Ueber-
legungen seines Herzens. Es sagt ihm die Wahrheit über
sich selbst. Deshalb liebt der Mensch das Buch Gottes
nicht. Er zieht eine Zeitung oder eine spannend geschriebene
Erzählung der Bibel weit vor. Er liest noch lieber einen
Bericht über irgend eine interessante Gerichtsverhandlung,
als ein Kapitel aus dem Neuen Testament. Daher auch
seine fortwährenden Anstrengungen, Goties gesegnetes Buch
40
Von dem Platze zu stoßen, den es behauptet. Ungläubige
aller Zeiten und aller Stände haben sich die größte Mühe
gegeben, Fehler und Widersprüche in der Heiligen Schrift
zu entdecken. Die entschiedenen Feinde des Wortes GotteS
finden sich nicht nur in den Reihen der Ungebildeten oder
sittlich Verkommenen, sondern auch unter den Gelehrten,
den Gebildeten und Wohlerzogenen. Es ist heute nicht
anders, wie zu den Zeiten der Apostel. So wie damals
„gewisse böse Männer vom Gassenpöbel" und „anbetende
und vornehme Weiber und die Ersten der Stadt" —
zwei in gesellschaftlicher wie in sittlicher Hinsicht einander
so ferne stehende Klassen — in der Verwerfung des
Wortes Gottes und derer, die es predigten, (Apgsch. 13,50;
17,^5.) eine Sache fanden, in welcher sie im Grunde
des Herzens übereinstimmeu konnten, so erfahren wir auch
heute, daß die Menschen, mögen sie sich in allein anderen
noch so fern stehen, sofort einig sind, wenn es sich um den
Widerspruch gegen die Bibel handelt. Um andere Bücher
kümmert man sich wenig. Niemand denkt daran, in
Virgil, Horaz, Homer oder Herodot *) nach Fehlern und
Widersprüchen zu suchen; nur die Bibel kann der Mensch
nicht unbehelligt lassen, weil sie ihm die Wahrheit sagt
über sich selbst und über die Welt, zu der er gehört.
*) Dichter und Geschichtschreiber der ulten Römer und
Griechen.
Und war es nicht genau so mit dem lebendigen
Wort, dem Sohne Gottes, dem Herrn Jesu selbst, als
Er hienieden unter den Menschen wandelte? Sie haßten
Ihn, weil Er ihnen die Wahrheit sagte. Sein Dienst,
Seine Worte, Seine Wege, Sein ganzes Leben war ein
41
beständiges Zeugnis gegen die Welt; daher ihr bittrer
und beharrlicher Widerspruch. Alle andern Menschen
konnten unbehindert ihres Weges ziehen; Er aber wurde
auf Schritt und Tritt bewacht und belauert. Die Führer
und Leiter des Volkes „suchten Ihn in Seiner Rede zu
fangen;" sie suchten eine Gelegenheit, um Ihn der weltlichen
Macht überliefern zu können. So war es während
Seines ganzen Lebens. Und als es endlich dem menschlichen
Hasse gelungen war, den Herrn der Herrlichkeit
ans Kreuz zu bringen, Ihn zwischen zwei Mördern ans
Fluchholz zu nageln, waren es nicht diese, auf welche
die Schmähungen der Vorübergehenden gehäuft wurden.
Für sie, die wegen ihrer Schandthaten Schmach und Spott
verdient hatten, gab es hie und da vielleicht noch einen
mitleidigen Blick, ein bedauerndes Achselzucken. Wenigstens
dachten die Hohenpriester und Schriftgelehrteu nicht
daran, in grausamem Spott über sie ihre Häupter zu
schütteln. O nein; alle Beschimpfung, aller Spott, aller
Hohn und alle Herzlosigkeit galten Dem, der an dem mittleren
Kreuze hing, dem reinen, fleckenlosen Lamme Gottes.
Doch was ist die wirkliche und eigentliche Quelle
alles Widerspruches gegen das Wort Gottes, sowohl gegen
das lebendige als auch gegen das geschriebene Wort?
Es ist gut, dies zu verstehen; eS wird uns befähigen,
diesen Widerspruch nach seinem wahren Werte zu schätzen.
Ter Teufel haßt das Wort Gottes, und zwar mit
einem vollkommenen Haß; er benutzt daher die Gelehrsamkeit
jener Ungläubigen, indem er durch sie Bücher schreiben
läßt, welche beweisen sollen, daß die Bibel nicht Gottes
Wort ist, daß sie es nicht sein kann, weil es Irrtümer
und Widersprüche in ihr giebt. Und nicht allein das;
42
jene Gelehrten behaupten auch, daß wir im Alten Testament
Gesetze und Verordnungen, Gewohnheiten und Gebräuche
finden, die eines gnädigen und wohlwollenden Wesens ganz
und gar unwürdig sind.
Auf alle Beweisführungen dieser Art haben wir nur
eine kurze und bestimmte Antwort; von allen diesen ungläubigen
Gelehrten sagen wir einfach: Sie wissen und
verstehen nichts, absolut nichts von der ganzen Sache. Sie
mögen gelehrt, befähigt und Wohl bewandert sein in der allgemeinen
Literatur, sie mögen ein richtiges Urteil über irgend
einen Gegenstand auf dem Gebiete der natürlichen und
moralischen Philosophie fällen können und im Stande
sein, tief und selbständig zu denken, sowie wissenschaftliche
Fragen jeder Art genau zu untersuchen. Sie mögen ferner
liebenswürdig im Umgang, von ehrenwertem Charakter,
gütig, wohlwollend, menschenfreundlich, beliebt und geachtet
im öffentlichen Leben sein. Alles das ist möglich; aber
wenn sie unbekehrt sind und der Geist Gottes nicht in
ihnen wohnt, so sind sie völlig unfähig, sich über das
Wort Gottes ein Urteil zu bilden, und noch unfähiger,
ein solches abzugeben. Was würde man von einem Menschen
denken, der, völlig unbekannt mit der astronomischen
Wissenschaft, sich anmaßen wollte, über die Grundsätze des
kopernikanischen Systems zu Gericht zu sitzen? Würde man
ihm nicht einstimmig sagen, er sei völlig unfähig, über einen
solchen Gegenstand zu urteilen, und verdiene nicht, angehört
zu werden? Es ist ein allgemein anerkannter Grundsatz,
daß niemand das Recht hat, ein Urteil über einen
Gegenstand zu fällen, mit dem er gänzlich unbekannt ist;
und wir handeln nur gerecht, wenn wir diesen Grundsatz
auf den vorliegenden Fall anwenden.
43
Nun sagt aber der inspirirte Apostel in seiner ersten
Epistel an die Korinther, daß „der natürliche Mensch
nicht annimmt, was des Geistes Gottes ist, denn es ist
ihm eine Thorheit, und er kann es nicht erkennen,
denn es wird geistlich beurteilt." Das ist entscheidend.
Paulus spricht von dem Menschen in seinem natürlichen
Zustande, sei er noch so gelehrt oder gebildet. Er spricht
nicht von einer bestimmten Klasse von Menschen, nicht
von einem in grobe Unwissenheit versunkenen Barbaren,
sondern einfach von dem Menschen in seinem unbekehrten
Zustande, ohne den Geist Gottes, er spricht von dem „natürlichen
Menschen," mag er nun ein gelehrter Philosoph oder
ein unwissender Bauer sein. „Er kann nicht erkennen,
was des Geistes ist." Wie kann ein solcher Mensch es
nun wagen, zu beurteilen, was Gottes würdig und was
Seiner unwürdig ist? Wie kann er ein Urteil fällen über
das Wort Gottes, wie zu Gericht sitzen über Gott selbst?
Und wenn er dennoch kühn genug ist, dies zu thun —
leider ist er es ja! — wer wird so thöricht sein, auf ihn
zu hören? Seine Beweise sind grundlos, seine Meinungen
und Behauptungen wertlos, seine Bücher nur passend für
den Papierkorb. Und alles dies, ich wiederhole es, nach
dem eben angeführten Grundsatz, daß keiner Ansprüche
machen kann, in einer Sache gehört zu werden, über die
er völlig unwissend ist..
So und nicht anders können wir den ganzen Schwarm
der ungläubigen Schriftsteller betrachten. Wer wollte nur
daran denken, einem blinden Manne ein Urteil über Licht
und Schatten zuzutrauen? Und dennoch hat ein solcher
Mann noch weit mehr Anspruch auf das Recht, gehört
zu werden, als ein »»bekehrter Mensch, der über das Wort
44
Gottes und über göttliche Inspiration abzuurteilen wagt.
Menschliche Gelehrsamkeit und menschliche Weisheit, so
umfassend und tief sie auch sein mögen, können einen
Menschen nicht befähigen, sich ein Urteil über Gottes
Wort zu bilden. Ein Gelehrter kann ohne Zweifel, wenn
es sich einfach um Kritik in Bezug auf den Text handelt,
die alten Handschriften der Bibel prüfen und vergleichen;
er kann sogar sehr fähig sein, sich ein Urteil über die
richtige oder unrichtige Lesart einer besonderen Stelle zu
bilden; allein das ist etwas ganz anderes, als wenn ein
ungläubiger Schriftsteller es unternimmt, die göttliche
Offenbarung selbst zu beurteilen, welche uns Gott in Seiner
unendlichen Güte gegeben hat. Wir behaupten, daß kein
Mensch dies zu thun vermag. Die Heiligen Schriften
können allein durch den Heiligen Geist verstanden und gewürdigt
werden, durch denselben Geist, der sie eingegeben
hat. Das Wort Gottes muß auf seine eigene Autorität
hin ausgenommen werden. Wenn der Mensch es mit seiner
Vernunft beurteilen könnte, dann wäre es nicht mehr Gottes
Wort. Hat uns Gott eine Offenbarung gegeben oder
nicht? Wenn Er es gethan hat, so muß diese Offenbarung
auch in jeder Hinsicht unbedingt vollkommen sein
und als solche gänzlich über dem Bereich menschlicher Beurteilung
stehen. Der Mensch ist eben so wenig befugt,
die Schrift zu beurteilen, als über Gott selbst zu Gericht
zu sitzen. Die Schrift beurteilt den Menschen,
nicht der Mensch die Schrift.
Nichts verdient unsre Verachtung mehr, als jene
Bücher, welche von Ungläubigen gegen die Bibel geschrieben
werden. Jede Seite, jeder Abschnitt, ja jeder Satz beweist
die Wahrheit der Worte des Apostels: „Der natür
45
liche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes
ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht
erkennen, denn es wird geistlich beurteilt." Ihre grobe
Unwissenheit über den Gegenstand, mit welchem sie sich
zu beschäftigen unterfangen, hält nur gleichen Schritt mit
ihrer Dreistigkeit und ihrem Selbstvertrauen. Von ihrer
Geringschätzung der Bibel wollen wir schweigen; denn wer
würde in den Schriften von Ungläubigen nach Ehrfurcht
vor dem Worte Gottes suchen? Ein wenig mehr Bescheidenheit
dürften wir vielleicht erwarten; aber wir wissen
ja wohl, welch ein Geist bitterer Feindschaft alle diese
Schriften hervorrnft und durchweht und sie unsrer Beachtung
völlig unwürdig macht. Andere Bücher unterzieht
man einer unbefangenen, ruhigen Prüfung; aber an das
kostbare Buch Gottes tritt man stets mit der Voraussetzung
heran, daß es keine göttliche Offenbarung ist, weil
die Ungläubigen sagen, daß Gott uns keine geschriebene
Offenbarung Seiner Gedanken geben könne.
Wie sonderbar! Der Mensch kann dem andern seine
Gedanken Mitteilen, und die Ungläubigen haben es in
ihren Büchern so klar und deutlich gethan; aber Gott
kann es nicht. Welch eine Thorheit! Welch eine Vermessenheit!
Wir dürfen mit allem Recht fragen: Warum
kann Gott Seine Gedanken Seinen Geschöpfen nicht mitteilen?
Warum soll das unglaublich, ein Ding der Unmöglichkeit
sein? Es giebt keinen andern Grund dafür,
als daß es die Ungläubigen einmal so haben wollen.
In diesem Falle ist sicher der Wunsch der Vater des Gedankens.
Schon vor ungefähr sechstausend Jahren ist
durch die alte Schlange im Garten Eden die Frage aufgeworfen
und durch alle Jahrhunderte hindurch von allen
46
Zweiflern, Vernunftgläubigen und Ungläubigen wiederholt
worden: „Ist es wirklich so, daß Gott gesagt hat?"
Wir erwidern mit inniger Freude und Wonne: Ja! gepriesen
sei Sein heiliger Name! Er hat gesprochen —
gesprochen zu uns! Er hat uns Seine Gedanken geoffenbart
; Er hat uns Sein Wort, die Heiligen Schriften, gegeben.
„Alle Schrift ist von Gott eingegeben und
nütze zur Lehre, zur Ueberfiihrung, zur Zurechtweisung,
zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch
Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk völlig geschickt."
<2. Tim. 3, 16. 17.) „Denn alles, was zuvor geschrieben
ist, ist zu unsrer Belehrung geschrieben, auf daß wir durch
das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften
die Hoffnung haben." (Röm. 15, 4.)
Der Herr sei gepriesen für solche Worte! Sie versichern
uns, daß alle Schrift von Gott eingegeben und
uns geschenkt ist. Welch eine kostbare, gesegnete Verbindung
zwischen der Seele und Gott! Welche Zunge vermöchte
-en Wert derselben auszusprechen? Gott hat gesprochen —
zu uns gesprochen. Das Wort Gottes ist ein Fels, an
welchem alle die Wogen ungläubiger Meinungen und
Lehren machtlos zerschellen; sie vermögen seine göttliche
Kraft und ewige Dauer nicht zu erschüttern. Durch nichts
kann das Wort Gottes angetastet werden. Die vereinigten
Mächte der Erde und der Hölle, der Menschen und der
Teufel, vermögen nimmermehr das Wort des lebendigen
Gottes nmzustoßen. Es steht da in der ihm eigentümlichen,
moralischen Herrlichkeit und Macht von Zeitalter zu Zeitalter,
trotz aller Angriffe seiner zahlreichen Feinde. „In
Ewigkeit, o Jehova, steht fest Dein Wort in den Himmeln."
„Du hast Tein Wort herrlich gemacht wie Deinen Namen."
47
Was bleibt für uns zu thun übrig? Nur das Einer
„Dein Wort habe ich bewahrt in meinem Herzen, daß
ich nicht sündige wider Dich." Darin liegt das tiefe Geheimnis
des Friedens. Das Herz ist verbunden mildem
Throne, ja mit dem Herzen Gottes selbst, vermittelst des
kostbaren Wortes, und ist dadurch im Besitz eines Friedens,
welchen die Welt weder geben noch nehmen kann. Was
können alle die Meinungen, Vernünfteleien und Beweise
der Ungläubigen bewirken? Nichts. Sie sind gleich dem
Staube der Dreschtenne des Sommers. Für den, der
durch die Gnade wirklich gelernt hat, auf das Wort Gottes
zu vertrauen, auf der Autorität der Heiligen Schrift zu
ruhen, für einen solchen sind alle Bücher der Ungläubigen,
so viele je geschrieben wurden, völlig wert- und kraftlos;
sie zeigen ihm nur die Unwissenheit und schreckliche Anmaßung
ihrer Schreiber. Aber das Wort Gottes werden
sie lassen, wo es immer gewesen ist und in Ewigkeit sein
wird, „festgesetzt in den Himmeln," so unerschütterlich wie
der Thron Gottes selbst. *) So wenig die Angriffe der
Ungläubigen den Thron Gottes zu erschüttern vermögen,
eben so wenig können sie Sein Wort erschüttern, und eben
so wenig, gepriesen sei Sein Name! vermögen sie den
Frieden anzutasten, der ein jedes Herz erfüllt, welches
auf dieser ewig feststehenden Grundlage ruht. „Große
*) Welch eine traurige, niederdrückendc Thatsache ist cs,
das; wir heute die bei weitem gefährlichsten ungläubigen Schriftsteller
unter denen zu suchen haben, welche sich Christen nennen.
Wenn man früher das Wort „ungläubig" hörte, dachte man
sogleich an einen Tom Paine oder einen Voltaire. Heute aber
und cs selbst sogenannte Bischöfe und Lehrer der bekennenden
Kirche, welche als Feinde des Wortes Gottes auftreten und Seine
göttliche Autorität leugnen.
48
Wohlfahrt haben die, die Dein Gesetz lieben, und keinen
Anstoß gibt es für sie." (Pf. 119, 165.) „Das Wort
unsers Gottes bestehet in Ewigkeit." (Jes. 40,8.) „Alles
Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie die
Blume des Grases. Das Gras ist verdorrt, und seine
Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibet
in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, das euch verkündigt
worden ist." (1. Petr. 1, 24. 25.)
Hier haben wir wieder dasselbe kostbare Band. Das
Wort Gottes, welches uns in der Form einer guten
Botschaft erreicht hat, ist das Wort des Herrn, welches
„bleibet in Ewigkeit," und daher sind unsere Errettung
und unser Friede ebenso fest gegründet, als das Wort
selbst, auf welchem sie ruhen. Wenn alles Fleisch wie
Gras ist und alle Herrlichkeit des Menschen wie des
Grases Blume, was sind dann die sämmtlichen Beweise
der Ungläubigen wert? Sie sind wertloser als verdorrtes
Gras oder eine verwelkte Blume, und wer sie aufstellt
oder sich durch sie beeinflussen und leiten läßt, wird ihre
völlige Wertlosigkeit früher oder später erkennen müssen.
O welch eine sündhafte Thorheit ist es, zu streiten wider
das Wort unsers Gottes — zu streiten wider das Einzige,
was in dieser Welt dem armen, müden Menschenherzen
Trost und Ruhe geben kann, was armen, verlorenen
Sündern die frohe Botschaft der Errettung bringt, unmittelbar
von dem Herzen Gottes hinweg!
Vielleicht ist es hier am Platze, einer oft aufgeworfenen
Frage zu begegnen, welche schon viele beunruhigt
hat und zu der Tausende ihre Zuflucht nehmen;
es ist die Frage von der „Autorität der Kirche." Eigentlichlautet
die Frage so: „Wie können wir wissen, daß das
49
Buch, welches wir die Bibel nennen, Gottes Wort ist?"
Unsere Antwort hierauf ist einfach; sie lautet: Der, welcher
uns in Seiner Gnade dieses gesegnete Buch geschenkt hat,
kann uns auch allein die Gewißheit geben, daß es von
Ihm ist. Derselbe Geist, welcher die verschiedenen Schreiber
der Heiligen Schriften inspirirt hat, kann heute noch in
uns die Erkenntnis bewirken, daß diese Schriften wirklich
die Stimme Gottes sind, die zu uns redet. Diese Erkenntnis
kann aber auch nur durch den Heiligen Geist hervorgebracht
werden, wie wir bereits gesehen haben: „Der natürliche
Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes
ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht
erkennen, denn es wird geistlich beurteilt." Wenn der
Heilige Geist uns nicht die Erkenntnis und die Gewißheit
giebt, daß die Bibel Gottes Wort ist, so ist überhaupt
keine Gewißheit zu erlangen; denn kein Mensch, noch
irgend eine menschliche Körperschaft vermag sie uns zu
verschaffen; und andererseits, wenn Er sie uns gegeben
hat, so bedürfen wir sicherlich keines menschlichen Zeugnisses
mehr.
Wenn über dieser großen Frage auch nur ein Schatten
von Ungewißheit läge, es wäre für uns die größte Qual,
das größte Unglück. Doch wer kann uns Gewißheit geben?
Gott allein. Wenn alle Menschen auf der Erde eins
wären in ihrem Zeugnis über die Autorität der Heiligen
Schriften; wenn alle Kirchenversammlungen, die je abgehalten
wurden, alle Lehrer, die je gelehrt, alle Väter, die
je geschrieben haben, der Lehre von der Inspiration ihre
Zustimmung gegeben hätten; wenn die ganze Kirche, wenn
alle Parteien in der Christenheit die Wahrheit bestätigten,
daß die Bibel in der That Gottes Wort sei; mit einem
— 50 —
Wort, wenn wir alle erdenkliche menschliche Autorität für
die Echtheit des Wortes Gottes besäßen — es würde
uns dies alles keinen festen Grund der Gewißheit geben:
wenn unser Glaube auf einer solchen Autorität ruhte, so
wäre er völlig wertlos. Gott allein kaun uns die Gewißheit
geben, daß Er gesprochen hat; und, gepriesen sei
Sein Name! wenn Er sie giebt, daun sind alle die Beweise,
alle die Vernunstgründe, alle die Untersuchungen
der alten und neuen Ungläubigen gleich dem Schaume
auf den Wogen des Meeres. Der wahre Gläubige verwirft
alles dieses als ebenso viel wertlosen Auskehricht
und ruht in heiligem Seelenfrieden auf der unvergleichlichen
Offenbarung, welche unser Gott uns gegeben hat.
Es ist von der höchsten Wichtigkeit, dieser Frage
gegenüber durchaus klar und bestimmt zu sein, um einerseits
vor den Einflüssen des Unglaubens, und andererseits
vor den Verirrungen des Aberglaubens bewahrt zu bleiben.
Der Unglaube erkühnt sich, zu sagen, Gott habe uns keine
schriftliche Offenbarung Seiner Gedanken gegeben, habe
sie nicht geben können; der Aberglaube behauptet, Gott
habe zwar eine solche Offenbarung gegeben, aber man
könne dies ohne eine menschliche Autorität nicht gewiß
wissen, noch auch die Offenbarung ohne menschliche Auslegung
verstehen. Es liegt auf der Hand, daß uns beide
in gleicher Weise die kostbare Gabe des Wortes rauben
wollen. Und das ist gerade das Ziel, welches Satan verfolgt.
Er wünscht uns des Wortes Gottes zu berauben;
und er kann diesen Zweck eben so gut durch den Aberglauben
erreichen, der demütig und ehrerbietig weise und gelehrte
Menschen als Autoritäten anerkennt, als durch den Unglauben,
welcher alle göttliche und menschliche Autorität frech verwirft.
51
Nehmen wir ein Beispiel an. Ein Vater schreibt an
seinen in Kanton weilenden Sohn einen Brief voll der zärtlichsten
Ausdrücke der Liebe eines Vaterherzens. Er erzählt
ihm von seinen Plänen und Einrichtungen; er schreibt
ihm alles, wovon er glaubt, daß es das Herz des Sohnes
interessiren könnte, alles, was die Liebe eines Vaterherzens
nur zu ersinnen vermag. Der Sohn fragt bei dem Postamt
in Kanton an, ob nicht ein Brief von seinem Vater
für ihn angekommen sei. Einer der Postbeamten antwortet
ihm, es sei kein Brief da, sein Vater habe nicht
geschrieben, er könne gar nicht schreiben, könne überhaupt
durch ein solches Mittel seine Gedanken nicht mitteilen;
es sei eine Thorheit von ihm, so etwas nur zu
glauben. In demselben Augenblick tritt ein anderer Postbeamter
an das Schalter und sagt: „Ja, es ist doch ein
Brief für Sie da, aber Sie können ihn unmöglich verstehen;
er ist ganz und gar nutzlos für Sie, da Sie unfähig
sind, ihn richtig zu lesen. Sie müssen ihn daher
in unsern Händen lassen, und wir werden einige Stellen,
die wir für Sie passend halten, aus demselben aussuchen
und Ihnen den Inhalt erklären." Der erste dieser Beamten
stellt den Unglauben, der zweite den Aberglauben
vor. Beide wollen den Sohn des lang ersehnten Briefes,
der kostbaren Mitteilungen des Vaterherzens berauben.
Doch was würde der Sohn jenen Beamten erwidern?
Seine Antwort würde sicher sehr kurz und bestimmt lauten.
Er würde dem ersten sagen: „Ich weiß, daß mein Vater
mir seine Gedanken durch einen Brief mitteilen kann, und
daß er es gethan hat." Und dem zweiten würde er antworten:
„Ich weiß, daß mein Vater mir seine Gedanken
viel besser verständlich machen kann, als Ihr eS zu thun
vermöget. Deshalb gebt mir sofort den Brief meines
VaterS heraus! Er ist an mich adressirt, und niemand
hat ein Recht, mir denselben vorzuenthalten."
Ebenso entschieden wird der einfältige Christ der Anmaßung
des Unglaubens und der Unwissenheit des-
Aberglaubens entgegentreten und diese beiden besonderen
Werkzeuge Satans in unseren Tagen zurückweisen. Er
wird ihnen einfach sagen: „Mein Vater hat mir Seine
Gedanken mitgeteilt, und Er kann mir Seine Mitteilungen
allein verständlich machen." „AlleSchriftistvonGott
eingegeben." Und „ alles, was zuvor geschrieben ist,
ist zu unserer Belehrung geschrieben." Gott sei
Dank, daß Er uns diese herrliche Antwort für jeden Feind-
Seines unvergleichlichen und kostbaren Wortes gegeben hat!
Nie hat es in der Geschichte der Kirche eine Zeit
gegeben, in welcher es dringender geboten gewesen wäre,
dem Gewissen des Menschen die Notwendigkeit eines unbedingten
Gehorsams unter das Wort Gottes vorzustellcn,
als gerade jetzt. Leider wird das so wenig gefühlt! Der
größte Teil der bekennenden Christen scheint es als ein
Recht zu betrachten, den eigenen Gedanken, der eigenen
Vernunft, dem eigenen Urteil oder dem eigenen Gewissen
zu folgen. Man glaubt nicht mehr, daß die Bibel ein
göttliches und in allen Einzelheiten des Lebens leitendes
Buch ist. Man denkt, es gebe viele Dinge, in welchen
man seiner eigenen Entscheidung folgen müsse. Daher
die zahllosen Sekten, Parteien, Glaubensbekenntnisse und
Richtungen. Wenn menschliche Meinungen überhaupt anerkannt
werden, dann hat selbstverständlich der Eine so
gut ein Recht, der seinigen zu folgen, als der Andere-,
und so ist es gekommen, daß die bekennende Kirche wegen
— 53 —
ihrer Zersplitterung zu einem Sprichwort geworden ist.
Und welches ist das einzige, wirksame Mittel gegen
diese allgemein verbreitete Krankheit ? Es ist, wie schon
oben gesagt, eine absolute und vollständige Unterwerfung
unter die Autorität der Heiligen
Schrift. Nicht daß der Mensch an das Wort Gottes
herantreten sollte, um seine Meinungen und seine Ansichten
darin bestätigt zu finden, sondern er sollte es lesen
mit der Absicht, die Gedanken Gottes über alle Dinge
zu erfahren, und er sollte sein ganzes moralisches Sein
unter die göttliche Autorität des Wortes beugen. Eine
ehrerbietige Unterwerfung unter die Autorität des Wortes
Gottes ist eine dringende Notwendigkeit für die Tage,
in welchen wir leben. Ohne Zweifel giebt es eine große
Verschiedenheit in dem Maße unseres geistlichen Verständnisses,
in der Art und Weise, wie wir die Schriften erfassen
und wertschätzen. Aber was wir allen Christen
dringend ans Herz legen möchten, ist jener Zustand der
Seele, welcher sich in den Worten des Psalmisten ausgedrückt
findet: „Dein Wort habe ich bewahrt in meinem
Herzen, daß ich nicht sündige wider Dich." Eine solche
Herzensstellung ist sicherlich Gott angenehm. „Aber auf
diesen will ich blicken: auf den Armen und Zerschlagenen
im Geiste, und der da zittert vor meinem Wort."
Hierin liegt auch das Geheimnis unserer moralischen
Sicherheit. Unsere Kenntnis der Schrift mag sehr beschränkt
sein, aber wenn wir eine tiefe Ehrfurcht vor ihr
hegen, werden wir dennoch vor tausend Irrtümern und
Fallstricken bewahrt bleiben. Es wird dann auch ein
stetes Wachstum zu bemerken sein. Wir werden wachsen
in der Erkenntnis Gottes, in der Erkenntnis Christi und
54
des geschriebenen Wortes. Wir werden mit Freude und
Wonne aus den unergründlichen Tiefen des lebendigen
Wortes schöpfen und durch jene grünen Auen wandern,
welche eine unbegreifliche Gnade für die Herde Christi
ausgeschlossen hat. Das Leben aus Gott wird auf diese
Weise genährt und gekräftigt; das Wort Gottes wird unsern
Seelen von Tag zu Tage köstlicher, und wir werden durch
die Macht des Heiligen Geistes immer mehr in die Tiefe,
Fülle, Majestät und Herrlichkeit der Heiligen Schrift eingeführt.
Wir werden völlig befreit von den verdorrenden
Einflüssen aller theologischen Systeme, und das ist wahrlich
eine gesegnete Befreiung! Wir werden im Stande
sein, den Vertretern aller theologischen Schulen, die es
unter der Sonne giebt, zu sagen: Wenn ihr auch einzelne
Elemente der Wahrheit in euern Systemen haben möget,
so besitzen wir doch die göttliche Vollkommenheit im Worte
Gottes. Wir besitzen die Aussprüche Gottes, nicht entstellt
und verdreht, um sie für das eine oder andere System
passend zu machen, sondern an ihrem wahren Platze in
dem weiten Kreise der göttlichen Offenbarung, die ihren
Mittelpunkt in der gesegneten Person unsers Herrn und
Heilandes Jesu Christi findet.
Es giebt in dem ganzen inspirirten Buche nicht einen
einzigen unnötigen Satz, nicht eine einzige überflüssige Bemerkung,
nicht einen einzigen Ausspruch, der ohne bestimmte
Bedeutung und ohne direkte Anwendung wäre.
Ach, würde diese kostbare Wahrheit doch völliger verstanden
in diesen unsern Tagen! Es ist von der höchsten Wichtigkeit,
daß das Volk des Herrn fest gewurzelt und gegründet
sei in der so überaus wichtigen Lehre von der
göttlichen Eingebung der ganzen Heiligen Schrift. Leider
55
hat die Entschiedenheit in Bezug auf diesen Gegenstand
in der bekennenden Kirche in erschreckender Weise abgenommen.
Es gehört fast zum guten Ton, die Lehre von
einer unbedingten, göttlichen Inspiration verächtlich zurückzuweisen.
Man redet davon als von einem überwundenen
Standpunkt kindlicher Leichtgläubigkeit. Viele halten es
für einen Beweis tiefer Gelehrsamkeit, hohen Verstandes
und selbständigen Denkens, vermeintliche Fehler in dem
kostbaren Buche Gottes aufzuspüren. Der Mensch maßt
sich an, über die Bibel und damit über Gott selbst zu
Gericht zu sitzen. Die Folge davon kann nichts anderes
sein, als die äußerste Finsternis und Verwirrung, sowohl
für jene gelehrten Doktoren selbst, als auch für diejenigen,
welche so thöricht sind, auf ihre Lehren zu horchen. Und
was wird das Ende aller dieser Verächter des Wortes
Gottes sein? Wahrlich, ein Endemit Schrecken! Sie werden
sich vor dem Richterstuhl Christi zu verantworten haben wegen
der Sünde, das Wort Gottes gelästert und Hunderte und
Tausende durch ihre ungläubigen Lehren irre geleitet zu haben.
Wir verweilen jedoch nicht länger bei der sündhaften
Thorheit jener Ungläubigen und Zweifler, noch bei ihren
ohnmächtigen Anstrengungen, Schmach auf das unvergleichliche
Buch zu häufen, welches durch die gnädige
Fürsorge Gottes zu unserer Unterweisung geschrieben worden
ist. Sie werden eines Tages ihren verhängnisvollen Irrtum
erkennen müssen. Gott gebe, daß es für sie dann
nicht für ewig zu spät sei! Was uns aber anbetrifft,
so laßt es unsre stete Freude sein, über das Wort unsers
Gottes nachzusinnen, um immer neue Schätze aus der
unerschöpflichen Goldgrube zu heben und immer neue
Herrlichkeiten in der göttlichen Offenbarung zu entdecken!
56
2. Mose 3, 5.
Und Jehova sprach: „Nahe nicht hierher! Ziehe
deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf
dem du stehest, ist heiliges Land/'
Woher kommt es, daß der Ton, der in unsern Zusammenkünften
zum Brechen des Brodes oder zum Gebet
herrscht, oft ein so niedriger ist? Woher die beklagenswerte
Trockenheit, Dürre und Teilnahmlosigkeit? Warum
sind unsre Gebete und unsre Danksagungen oft so
weit von dem entfernt, was sie sein sollten — ein
lieblicher Wohlgeruch für das Herz unsers Gottes und
Baters? Warum mangelt unsern Zusammenkünften so
oft der wahre Charakter der Anbetung? Schon mancher
hat sich diese Fragen vorgelegt, und wie mußte er sie
beantworten? Ach! man vergißt die hohe Wichtigkeit dessen,
was man thut. Man denkt nur wenig daran, in wessen
Gegenwart man tritt. Man kommt mit einem Herzen,
das von weltlichen Gedanken erfüllt ist, oder gar mit
einem verunreinigten Gewissen. Man vergißt, daß man
mit Schnhen, an denen der Schmutz der Wüste klebt,
nicht den heiligen Boden der Gegenwart Gottes betreten
kann. Und da sind die oben beschriebenen traurigen
Folgen unausbleiblich. Das Herz vermag sich nicht zu
erheben zu den Höhen des Heiligthums droben; es wird
immer wieder herabgezogen zu den nichtigen, eiteln Dingen
dieser armen Welt. Anstatt Christum zu betrachten, ist
es beschäftigt mit sich selbst, mit seiner Schwachheit und
seinen Bedürfnissen. Wie betrübend ist dies für das Herz
unsers liebenden Vaters, und welch ein Verlust für uns!
Betrachtungen über die Epistel an die Römer.
Kapitel 8.
(Fortsetzung.)
„So sind wir denn nicht Schuldner dem Fleische, um
nach dem Fleische zu leben." (V. 12.) Dasselbe hat uns
in einen üblen Zustand und in eine üble Stellung gebracht;
auch sind wir nicht mehr im Fleische, sondern
von demselben befreit durch die Erlösung; wir sind durch
des Erlösers Tod in eine neue Stellung gebracht, wovon
wir durch die Kraft des in uns wohnenden Heiligen
Geistes auch das Bewußtsein haben. Die zwei Leben,
die zwei Grundsätze sichen zn einander in schroffem Gegensatz,
und es ist wichtig zu beachten, (was schon im
zweiten Kapitel als Grundsatz aufgestellt wurde) daß
diese Naturen da, wo sie wirksam sind, ihre naturgemäßen
Folgen hervorbringen. Ich kann das Fleisch durch den
Geist überwinden. Ich habe das Recht und die Pflicht,
es für tot zu halten. Aber wenn das Fleisch lebt, so
bringt es den Tod hervor, und wenn ich nach dem Fleische
lebe, so ist der Tod mein Los. Die Natur und die
Wirkung dieser Natur — ihre Folge — ist immer dieselbe:
Gott kann mir eine neue Natur geben, und —
Sein Name sei dafür gepriesen! — Er giebt sie mir in
Christo, und zwar in einer Weise, daß ich dadurch teil
habe an der Errettung, und daß ich durch die Kraft des
Geistes, die alte Natur überwinden und nach dem Geiste
58
wandeln kann. Aber die Natur des Fleisches ist nicht
verändert, noch auch an und für sich die Folge derselben:
wenn ich nach dem Fleische lebe, so muß ich sterben. Die
Gnade erlöst, giebt mir ein neues Leben, worin ich nach
dem Geiste wandle und das Fleisch für tot halte, und
giebt mir endlich die Herrlichkeit. Dieses neue Leben aber
lebt nicht nach dem Fleische, ja es kann nicht darnach
leben. Wenn ich nach dem Fleische lebe, so sterbe ich,
entfernt von Gott; denn die Frucht und der Lohn des
Lebens des Fleisches ist der Tod. Wenn ich aber durch
den Geist die Handlungen des Leibes töte, so lebe ich
und werde für immer leben mit Gott, von dem dieses
Leben meiner Seele zufließt, und dessen Geist die Kraft
und der Leiter dieses Lebens ist.
Dies giebt dem Apostel Anlaß, von der Stellung
derer zu reden, die durch den Geist Gottes geleitet werden,
und zwar zunächst von ihrem Verhältnis zu Gott. Der
Geist, den sie empfangen haben, ist der Geist der Kindschaft;
sie besitzen Ihn, weil sie Kinder sind. Aus diesem
Verhältnis aber entspringen ausgedehnte Segnungen: wenn
sie Kinder sind, so sind sie auch Erben — Erben Gottes
und Miterben Christi. Indessen ist der Zustand der
Kreatur, die uns hienieden umgiebt, und insonderheit der
Zustand unseres eigenen Leibes, noch nicht wiederhergestellt.
Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft
gegen Gott; gleicherweise ist auch die Freundschaft der
W e lt Feindschaft gegen Ihn. Die Grundsätze des Fleisches
wie der Welt leisten uns Widerstand; beide sind der
Knechtschaft des Verderbnisses unterworfen. Weil die
Welt, welche wir zu durchpilgern haben, von Gott entfernt
und unter der Herrschaft Satans ist, so giebt sie
59
uns zahllose Quellen der Trauer und des Schmerzes. Der
Herr war in dieser Welt „ein Mann der Schmerzen und
mit Leiden bekannt." Eine Welt der Sünde, gegenüber
Seiner Heiligkeit — eine Welt der Trauer und
der Leiden, gegenüber Seiner Liebe — konnte für
Sein Herz nur eine Quelle der Trauer und der Leiden
fein. Er stand vereinzelt und allein in einer solchen Welt
und wurde nicht einmal von Seinen Jüngern verstanden.
Während Er voll von Mitgefühl war für alle, fand Er
für sich nirgendwo Mitgefühl. Wenn ein solches je
einmal die Finsternis des menschlichen Herzens durchbrach,
so war dies etwas so Wunderbares, daß der Herr sagt:
„Wo immer das Evangelium gepredigt werden wird in
der ganzen Welt, da wird auch gesagt werden, was diese
gethan hat, zu ihrem Gedächtnis." (Mark. 14,9.) Können
wir, wenn wir den Geist Christi haben, durch dieselbe
Welt gehen, ohne ihren Zustand zu fühlen? Sollten
unsre Herzen nicht traurig sein, wenn wir auf Schritt und
Tritt die Herrschaft der Sünde erblicken und täglich die
Leiden des sündhaften Menschen vor Augen haben? wenn
wir sehen, daß alles der Knechtschaft des Verderbnisses
unterworfen ist? Die Zeit wird kommen, wo unsre Augen
die allgemeine Segnung der Welt sehen und wo wir uns
mit Gott selbst darin erfreuen werden. Jetzt aber können
wir, als solche, die im Herzen erneuert und befreit sind,
nur leiden inmitten einer unbefreiten Schöpfung.
Beachten wir jedoch, daß dies ein Leiden ist mit
Christo, nicht für Ihn. Die Leiden für Christum sind
ein Vorrecht, eine besondere Gabe Gottes. (Phil, l, 29.)
Man kann kein Christ sein, ohne mit Christo zu leiden;
denn wie könnte der Geist Christi eine Gesinnung in uns
60
Hervorrufen, verschieden von derjenigen, welche in Christo
war, als Er diese arme Welt durchpilgerte? Die Herrlichkeit
der Kinder Gottes ist ein Gegenstand der Hoffnung;
jetzt werden die Leiden Christi in Schwachheit wieder
hervorgebracht in einem Herzen, in welchem Christus wohnt.
Wir leiden da, wo Christus gelitten hat, als Miterben
des Reiches der Liebe, worin alles Freude und Wonne
sein wird. Obwohl wir jetzt schon Kinder, oder vielmehr
Söhne, und deshalb auch Erben sind, so besitzen wir doch
die Erbschaft noch nicht, ja, wir können sie noch nicht
besitzen, da dieselbe jetzt noch verdorben und verunreinigt
und in diesem Zustande nicht passend ist für uns. Christus
sitzt zur Rechten Gottes, bis Seine Feinde zum Schemel
Seiner Füße gelegt sind. Dann werden wir mit Ihm
herrschen und Ihm gleich sein.
Deshalb konnte der Apostel, der wohl wußte, was
Leiden sind, sagen: „Ich halte dafür, daß die Leiden der
Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der Herrlichkeit,
die an uns geoffenbart werden wird." Wir besitzen
das Verhältnis der Sohnschaft und haben auch das Bewußtsein
dieses Verhältnisses und deshalb keine Furcht
mehr. Wo Furcht ist, da ist die Kenntnis dieser Stellung
nicht im Herzen. Der Geist in uns ruft: „Abba, Vater!"
und kann nichts anderes rufen, denn Er ist erst gekommen,
nachdem alles das vollbracht war, waS uns in dieses
Verhältnis versetzt hat. Christus hat uns Seine eigene
Stellung vor Gott gegeben. Nachdem Er alles vollbracht
hatte, was erforderlich war, sowohl für die Herrlichkeit Gottes,
als auch für unsre Erlösung, und zwar da, wo es für
beides geschehen mußte, nämlich in der Stellung der Sünde
— „zur Sünde gemacht" — ist Er als Mensch in den
61
Himmel hinausgestiegen. Ein Mensch ist in Ihm eingegangen
in die Herrlichkeit Gottes, jenseits der Sünde,
jenseits des Todes, jenseits der Macht Satans, jenseits
des Gerichts Gottes über die Sünde, so daß Er den
Jüngern durch Maria Magdalena die Botschaft senden
konnte: „Sage meinen Brüdern: ich fahre auf zu meinem
Vater und zu euerm Vater, zu meinem Gott und zu
enerm Gott." Darauf sandte Er den Heiligen Geist hernieder,
als die gesegnete Folge dieses Hinaufsteigens des
Menschen in den Himmel, nachdem Er alles zu unsrer
Erlösung vollbracht hatte. Dieser Geist wohnt in den
Gläubigen, die dem Werte Seines Blutes vertrauen, so
daß ihr Leib ein Tempel Gottes ist. (1. Kor. 6.) Sie
sind durch den Geist versiegelt und haben das Unterpfand
des Erbteils, das Bewußtsein, Kinder Gottes zu sein.
Er vergegenwärtigt Christum, der im Himmel ist, und
läßt uns die unsichtbaren Dinge genießen. Er kaun deshalb
unmöglich ein Geist der Furcht oder der Knechtschaft
sein.
Der Geist aber wirkt zweierlei in uns: Er lehrt
uns die Herrlichkeit, die vor uns steht, würdigen, und
giebt uns das Gefühl, daß die Leiden, in welche wir
durch das Streben, diese Herrlichkeit zu erlangen, und
durch die Treue für Christum gebracht werden — nicht
wert sind, verglichen zu werden mit der Herrlichkeit, die
an uns geoffenbart werden soll, so daß wir mit Ausdauer
und getrostem Mute den Weg Gottes gehen können.
Desgleichen nimmt Er sich auch unsrer Schwachheit an,
auf daß wir Gott gemäß teil nehmen an diesen
Leiden und unser Herz durch den Geist das Gefäß des
Mitgefühls ist, dem Herzen Christi entsprechend, indem
62
wir durch unser Seufzen dem Seufzen der leidenden Kreatur
zu Gott einen Ausdruck geben. Welch eine köstliche
Stellung, auf diese Weise die Herrlichkeit und die Liebe
Dessen, der in die Mitte der leidenden Schöpfung hernieder
kam, verwirklichen zu können, so daß unsre Herzen,
indem wir dem Leibe nach teil haben an der gefallenen
Schöpfung, durch den Geist der Mund der ganzen Schöpfung
sein und ihrem Seufzen zu Gott einen Gottgemäßeu Ausdruck
geben können! Mit diesem Gefühl war das Herz Christi
in völliger Liebe und in Vollkommenheit erfüllt. Weil Er,
obgleich wahrhaftiger Mensch, persönlich durchaus frei
war von der Sünde, die diese Leiden über die Schöpfung
gebracht hatte, so war Sein Mitgefühl mit den Folgen
der Sünde für uns um so vollkommener. „Er hat unsre
Leiden getragen, und unsre Schmerzen hat Er auf sich
geladen." (Vergl. Matth. 8, 17.) Als Er an der Gruft
des Lazarus die Maria und alle die Inden weinen sah,
seufzte Er tief im Geiste und erschütterte sich. *) So ist
es auch uns, obgleich wir als gefallene Menschen in
Schwachheit und Unvollkommenheit sind, durch den in uns
wohnenden Geist gegeben, teil zu nehmen an den Leiden
der Kreatur, und zwar nicht in der Ungeduld der Selbstsucht,
weil wir selbst leiden, sondern Gott gemäß. Die
Darstellung, die uns der Apostel von dem Zustande der
uns umgebenden Schöpfung giebt, wird diese Erfahrung
klarer machen. Obgleich wir in dem Vorhergehenden schon
verschiedene Punkte betrachtet haben, so können wir doch
noch einmal mit dem 19. Verse beginnen.
Die beiden nu dieser Stelle in dem griechischen Urtext
gebrauchten Wörter sind sehr starke Ausdrücke für eine innere
Bewegung.
63
Es ist schon gesagt worden, daß wir in der Welt
zu leiden haben, weil alles in der Sünde liegt und in
Unordnung ist, wahrend wir zu Gott zurückgebracht sind:
und ferner, daß wir auch im Herzen zu leiden haben,
weil wir inmitten einer unbefreiten Schöpfung wohnen.
Die Augen des Glaubens aber sind auf die vor uns
liegende Herrlichkeit gerichtet, und sowohl diese erfreuliche
Aussicht, als auch unsere Genieinschaft mit Gott, die wir
schon hienieden genießen, läßt uns fühlen, daß alles um
uns her unversöhnt ist.
Diese Schöpfung erwartet ihre Erlösung; aber sie
kann nicht eher befreit und wiederhergestellt werden, bis
die Kinder Gottes in der Herrlichkeit des Reiches bereit
sein werden, sie als Miierben Christi in Besitz zu nehmen.
Christus sitzt zur Rechten Gottes, bis diese Miterben
gesammelt sind. Es ist ein köstlicher Gedanke, daß,
wie wir die irdische Schöpfung unter die Knechtschaft des
Verderbnisse? gebracht haben, sie auch jetzt aus unsere
Verherrlichung warten muß, um wiederhergestellt und
von dieser Knechtschaft befreit zu werden. (V. 19.)
Nicht der Wille der Kreatur hat sie dieser Knechtschaft
unterworfen; wir haben es gethan — aber auf
Hoffnung; denn dieser Zustand wird nicht immer bleiben:
die Schöpfung wird wiederhergestellt werden. Gott beginnt
jedoch in den Ratschlüssen Seiner Gnade mit den
Schuldigen, mit den am weitesten Entfernten — mit
denen, an welchen Er in den kommenden Zeitaltern den
überschwänglichen Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen
uns in Christo Jesu erweisen will. (Eph. 2, 7; vergl.
Kol. 1, 20. 21.) Die Kreatur könnte, weil sie nur
physisch ist, nicht in die Freiheit der Gnade eintreten:
64
sie muß die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes
erwarten. Wenn diese befreit sind und ihre Leiber, die
zu der Kreatur gehören, umgewandelt und verherrlicht
sein werden und wenn Satan gebunden ist, dann wird
auch die Kreatur freigemacht werden von der Knechtschaft
des Verderbnisses, in welcher sie gefangen liegt.
Denn wir wissen — wir, die wir in der christlichen
Lehre unterrichtet sind — daß die ganze Kreatur zusammen
seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.
Wir wissen dies aber noch viel mehr, weil wir die Erstlinge
des Geistes haben, und — „wir seufzen in uns
selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unsers
Leibes." So harren wir darauf, das zu besitzen, was
errettet ist in Hoffnung; nicht allein das ewige Leben,
als Leben, zu besitzen — dieses haben wir schon — sondern
verherrlicht zu werden, indem unser Leib, der zu der
Kreatur gehört, umgewandelt wird und wir Christo, dem
Herrn, gleich gestaltet werden, nach der Kraft, womit Er
alle Dinge sich zu unterwerfen vermag. (Phil. 4, 21.)
Der Friede ist also gemacht, unsre Sünden sind
hinweggethan, wir haben ein neues Leben, besitzen das
Unterpfand des Geistes, die Herrlichkeit liegt vor uns in
Hoffnung, und wir werden dem Herrn gleich sein. So
lange wir jedoch diese Herrlichkeit noch nicht erreicht haben,
seufzen wir mit der Kreatur. Denn indem wir unsere
herrliche Hoffnung verwirklichen, fühlen wir, da wir durch
unsern Leib mit der gefallenen Schöpfung verbunden
sind, den traurigen Zustand der ganzen Schöpfung.
Frei vor Gott, frei vom Gesetz der Sünde und des
Todes, erfüllt mit der Hoffnung der Herrlichkeit, werden wir
durch die Kenntnis dieser Herrlichkeit und der vollkommenen
6ö
Befreiung der Kreatur zu einem Seufzen gebracht, welches
die Stimme ihres Seufzens zu Gott ist. Unser Seufzen
aber ist nicht eine Klage, eine Frucht der Unzufriedenheit,
sondern die Wirkung des Heiligen Geistes im Herzen.
Dieser Geist richtet unsre Blicke auf die Herrlichkeit, wo
wir keinen Anlaß mehr zum Seufzen haben werden, und
läßt unS nach der Liebe Gottes das Leid einer geknechteten
Schöpfung fühlen; wir fühlen eS mit, da wir mit
unserm Leibe noch zu ihr gehören. Der Geist Gottes,
der in uns wohnt, bildet diese Gefühle Gott gemäß.
Gott erforscht das menschliche Herz, und in dem Herzen
des befreiten Christen findet Er diese Wirkung des
Geistes. Der Geist selbst ist da die Quelle des göttlichen
Mitgefühls mit einer seufzenden Schöpfung. (V. 27.)
Die Blicke des Christen werden durch den Heiligen Geist,
der in ihnen wohnt, nach oben gerichtet, auf die Herrlichkeit
und die Ruhe Gottes, wo alles Segnung ist.
Er verwirklicht das, was vor ihm liegt, mit Freude. Da
er aber noch im Leibe ist, so fühlt er umsomehr den
Zustand der gefallenen Schöpfung, nimmt teil an ihrem
Seufzen und macht sich dadurch zur Stimme der seufzenden
Schöpfung vor Gott. Doch geschieht sein Seufzen
im Geiste der Liebe, Gott gemäß, weil er in seinem Verhältnis
zu Gott vollkommen frei ist. Hinsichtlich seines
Zustandes ist er errettet in Hoffnung; vor Gott aber
ist sein Herz frei, im Bewußtsein Seiner Liebe. Er kann
sich freuen in Hoffnung, in der Hoffnung der Herrlichkeit;
sein Gewissen ist vollkommen; die Liebe Gottes ist ausgegossen
in sein Herz durch den Heiligen Geist. Und so
kann er nach dieser Liebe an dem allgemeinen Elend, das
ihn umgiebt, teilnehmen. Er weiß zwar nicht, nm was
66
für ein Heilmittel er bitten soll; vielleicht giebt es keins.
Aber die Liebe kann die Bedürfnisse ausdrücken und thut
es nach der Wirkung des Geistes; und obgleich der Christ
nicht weiß, um was er bitten soll, so findet doch Der,
welcher die Herzen erforscht, in feinem Seufzen die Gesinnung
deS Geistes; denn der Geist ist es, der im Grunde
des Herzens den Gefühlen des Bedürfnisses Ausdruck
giebt. Dies ist umsomehr Mitgefühl, da wir selbst noch
im Leibe sind und also in unserm eignen Zustande einen
Teil der seufzenden Schöpfung ausmachen und auf die
Erlösung unseres Leibes warten.
Doch obgleich wir oft nicht wissen, um was wir
bitten sollen, so giebt es doch etwas, was wir vollkommen
gewiß wissen, nämlich, daß Gott alles zusammen wirken
läßt zum Besten derer, die Ihn lieben, die Er nach
Seinem Vorsatz berufen hat.
Welch ein Vorrecht ist uns durch die Gnade zu teil
geworden, ein Vorrecht, das wir durch den Heiligen Geist
genießen! Wir sind Kinder Gottes, kennen unser Verhältnis
zu Gott und können es durch den Heiligen Geist
verwirklichen; wir rufen „Abba, Vater!" sind Kinder und
deshalb Erben, „Erben Gottes und Miterben Christi."
Der Geist offenbart uns unser Erbteil und läßt uns verstehen,
was es ist: wir werden Christo gleich sein in der
Ruhe Gottes und in Seiner eigenen Ruhe, vollkommen
zur Ehre Christi, und werden mit Ihm herrschen über
alles. Als Menschen auf der Erde richten wir unsre
Blicke auf die Herrlichkeit Gottes, die unsre Hoffnung
ist, und die wir mit Christo teilen werden, da, wo alles
rein ist, der Reinheit Gottes gemäß. Im Blick auf diese
niedrige Welt sind unsre Herzen von der Liebe Gottes
67
erfüllt, in welcher wir an den Leiden der unbefreiten
Schöpfung teilnehmen, und zwar Gott gemäß, so daß
Der, welcher die Herzen erforscht, die Gesinnung des
Geistes darin findet, welcher dieses Mitgefühl mit den
Leiden der gefallenen Schöpfung in uns hervorbringt,
auf daß wir durch unser Seufzen der Mund der Schöpfung
vor Gott werden. Und weil wir ans Mangel an Erkenntnis
nicht immer wissen, um was wir bitten sollen,
so tröstet uns das Wort Gottes, indem es uns versichert,
daß Gott nach Seinem eignen Willen und nach Seiner eignen
Liebe alles zusammen wirken läßt zu unserm Besten.
Dieses führt den Apostel dahin, einige Worte über
den Ratschluß Gottes zu sagen, obwohl dies nicht der
Gegenstand des Briefes ist. Er spricht hier nur davon,
um die Grundlage aller Segnungen zu zeigen. Sonst
handelt der Brief, wie schon früher bemerkt, von der
Berantwortlichkeit des Menschen, sowie von der Gnade
und dem Werke Gottes, nm uns von den Folgen dieser
Verantwortlichkeit zu erretten.
Für die Berufenen ist Gott immer wirksam; denn
Er hat sie zuvorgekannt, und die Er zuvorgekannt hat,
die hat Er zuvor bestimmt, Seinem eignen Sohne gleichförmig
zu sein. „Welche Er aber zuvor bestimmt hat,
diese hat Er auch berufen; und welche Er berufen hat,
diese hat Er auch gerechtfertigt; welche Er aber gerechtfertigt
hat, diese hat Er auch verherrlicht." Alles ist
Gnade, und daher ist alles sicher. Deshalb beendigt
Gott auch die Reihenfolge Seiner Gnadenerweisungen
nicht eher, bis der Zweck erreicht ist: die Wirksamkeit der
Gnade Gottes hört nicht eher aus, bis die Berufenen
verherrlicht sind. Die ganze Lehre des Evangeliums
68
führt uns auf Gott zurück und auf Seine Gedanken,
die nicht fehlen und nicht verhindert werden können. Und
da finden wir — Sein Name sei dafür gepriesen! —
daß Gott für unS ist. Diese Lehre entwickelt hier
der Apostel in Vers 31 — 39. Wir sehen den Beweis
dafür, daß Gott für uns ist, zunächst in dem, was Er
giebt, dann darin, daß Er uns rechtfertigt, und endlich
darin, daß nichts uns von Seiner Liebe trennen kann.
Dies ist die gesegnete Folgerung aus der ganzen Lehre
des Briefes: „Gott ist für uns;" es ist die Quelle der
Segnung; es ist die Folgerung des Herzens aus allem,
was uns hier von Ihm geoffenbart wird. Nicht allein ist
die Gerechtigkeit Gottes verherrlicht und befriedigt
worden durch das Werk Christi, sondern wir sehen auch,
daß die Liebe Gottes die Quelle von allem ist, und das
verändert alle unsre Gedanken in Bezug auf Gott. Gerade
in diesem Punkte war die Lehre der Reformatoren des
sechzehnten Jahrhunderts mangelhaft. Ferne sei es von
mir, den Wert dieser Männer herabsetzen zu wollen!
Niemand könnte dankbarer sein für die Befreiung von
dem Aberglauben, die uns durch die Reformation zu teil
wurde, niemand den Glauben derer, die selbst ihr Leben
um der Wahrheit willen aufgeopfert haben, höher schätzen,
als ich es thue. Ich würde heute ja unmöglich über den
Biangel ihrer Lehre ruhig schreiben können, wenn sie ihr
Leben nicht freudig hingegeben hätten, um die Wahrheit
aufrecht zu halten. Aber dennoch bleibt die Wahrheit in
dem Worte Gottes immer dieselbe. Die Reformatoren
lehrten zwar, daß Christus alles gethan habe, was nötig
war, um die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen, nicht
aber, daß die Lieb e Gottes das Lamm, Seinen eigenen
69
Sohn, dahin gab, um das Werk zu vollbringen. Nach
ihnen war Gott immer der Richter, Wohl versöhnt mit
uns durch das Werk Christi, nicht aber gekannt als Der,
welcher uns lieb hatte, als wir noch Sünder waren. In
Ioh. 8, 14 sagt der Herr: „Des Menschen Sohn muß
erhöhet werden;" denn Gott ist ein heiliger und gerechter
Gott. Dann aber folgt im 16. Verse die Ursache von
allem: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß Er
Seinen eingebornen Sohn gegeben." Die praktische Folgerung
aus der Lehre der Reformatoren war — ohne
daß sie dies vielleicht gedacht oder gewollt haben — daß
die Liebe in Christo ist und Gott auf dem Richterstuhl
sitzt als ein kalter Richter. Aber „die Gnade
herrscht durch die Gerechtigkeit." (Röm. 5, 21.) Am
Tage des Gerichts wird die Gerechtigkeit herrschen.
Die Liebe hat die Gerechtigkeit Gottes zu unsern Gunsten
in Christo festgestellt. Die Gerechtigkeit war nötig —
die Liebe hat sie verschafft.
Wir wissen also, daß Gott für uns ist nach Seiner
unendlichen Liebe und nach Seiner ewigen und unveränderlichen
Gerechtigkeit. Der erste Beweis dafür ist,
daß Er Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern
Ihn für uns hingegeben hat; „wie wird Er uns mit
Ihm nicht auch alles schenken?" Ja, wir können auf
Ihn rechnen, daß Er uns alles Gute geben wird. —
Aber wie kann Er, der Heilige, für uns sein im Blick
auf unsre Sünden? Gerade da haben wir gesehen,
wie vollkommen Er für uns ist; denn Er hat ja eben
für unsre Sünden Seinen Sohn gegeben. Wer wird
wider die Anserwahlten Gottes Anklage erheben? Gott
selbst rechtfertigt uns — wer wird uns verdammen?
70
Beachten wir, daß hier alles Gott zugeschrieben wird.
Es heißt nicht: wir sind vor Gott gerechtfertigt, sondern:
„Gott rechtfertigt;" so daß der Apostel wohl ausrufen
kann: wer wird verdammen, wer es auch sei?
Dann verändert er in etwa die Form des Satzes.
Er muß an Christum denken, und da sieht er durch
Ihn auch alle Schwierigkeiten des Weges verschwinden.
Nicht als ob sie nicht vorhanden wären; sie
sind da, aber sie verschwinden, weil Er selbst alle Schwierigkeiten
durchgemacht hat. Mensch geworden in Seiner
Liebe, hat Er alle die Prüfungen des Weges, alle menschlichen
Schmerzen, alles, wodurch der Feind dem treuen
Diener Gottes auf dem Wege der Heiligkeit, selbst bis
zum Tode, Widerstand leistet, erfahren. Nicht allein also
überwinden wir durch Seine bewährte Kraft, sondern wir
machen auch die Erfahrung Seiner Liebe in besonderer
Weise. Die Leiden sind das Unterpfand einer
besseren Herrlichkeit. Und weil Er als Mensch alles erfahren
hat, so hat Er dadurch Seine unendliche Liebe
als Gott erwiesen, und wir wissen, daß von der Liebe
Gottes, die in Christo Jesu ist, uns nichts trennen kann.
In jeder Beziehung ist Gott für uns. Köstliche
Wahrheit! Er hat Seinen eignen Sohn gegeben — Er
wird alles geben. Er selbstrechtfertigt uns — wer wird
verdammen? Und von der Liebe, die sich also erwiesen
hat, kann nichts uns trennen. Alles, was aus dem Wege
zur Herrlichkeit wider uns ist, kann, als Kreatur, nicht
größer sein, als Er, der Herr über alles ist. Gott ist
für uns in Christo, in Dem, welcher alles überwunden
hat. Nicht allein ist der Weg, auf dem Er gewandelt
hat — als Mensch, um leiden zu können, und als Gott,
71
um alle Liebe in den Leiden zu offenbaren — der Beweis
Seiner Liebe, sondern, indem wir Ihm auf diesem
Wege folgen, machen wir auch die Erfahrung Seiner
Liebe. Nichts kann uns von dieser Liebe trennen.
(Schluß folgt.)
Die vernünftige, unverfälschte Milch.
„Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der
vernünftigen, unverfälschten Milch, auf daß ihr dadurch
wachset zur Errettung." (1. Petr. 2, 2.)
Diese Stelle wird oft mißverstanden. Will sie sagen,
daß wir stets Kindlein in Christo bleiben und immer
wieder zu den ersten Elementen der Ernährung zurückkehren
sollen? Ohne Zweifel wird sie von vielen so ausgelegt.
Allein eine kurze aufmerksame Betrachtung wird
genügen, um uns zu überzeugen, daß dies nicht der
wahre Sinn des Verses sein kann.
Wir alle wissen, daß es in unserm Leben als Christen
einen Abschnitt giebt, in welchem wir notwendiger- und
richtiger Weise „Kindlein" sind. An solche richtet sich
der Apostel Johannes, wenn er schreibt: „Ich schreibe
euch, Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt." (I.Joh.
2, 13.) Doch sollen wir in diesem Zustande der Kindheit
beharren? Die Korinther werden getadelt, weil sie es
thaten, und zwar war ihre Fleischlichkeit der Grund, weshalb
sie keine Fortschritte machten: „Und ich, Brüder,
konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern
als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo."
(1. Kor. 3, 1.) Und der Apostel fügt in vorwurfsvollem
Tone hinzu: „Ich habe euch Milch gegeben, nicht Speise;
72
denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermöget es
auch jetzt noch nicht." Auch die Hebräer wurden von
dem Apostel getadelt, daß sie „der Milch bedurften, und
nicht der festen Speise; denn da ihr der Zeit nach Lehrer
sein solltet, bedürft ihr wiederum, daß man euch lehre
welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes
sind." (Hebr. 5, 12.) Die letzten Worte machen es ganz
klar, was wir unter der „Milch" in diesen beiden Stellen
zu verstehen haben.
In 1. Petr. 2 aber ist der Gedankengang ein ganz
anderer. Hier bezeichnet Petrus das Wort Gottes, und
zwar das ganze Wort, mit dem Ausdruck „vernünftige,
unverfälschte Milch," und nach diesem Worte sollen wir
begierig sein, nicht einfach wie Kinder, sondern wie neugeborene
Kinder. Was ist die Milch für ein neugeborenes
Kind 2 Sein Leben selbst; denn ohne Milch muß
es unfehlbar zu Grunde gehen. Dasselbe aber ist das
Wort Gottes für uns, und als solches sollten wir es
schätzen und nach ihm begierig sein, wie ein Säugling
nach der Muttermilch begierig ist. Das ganze Wort
hat Gott uns gegeben, und wir würden die Gabe sowohl,
wie den Geber verunehren, wenn wir nur gewisse Teile
für uns auswühlen und das Uebrige als zur Nahrung
unpassend verwerfen wollten. Das ganze Wort ist für uns
nützlich zur Nahrung. Wir bedürfen sowohl des Alten,
als auch des Neuen Testaments, sowohl des Evangeliums,
als auch der späteren hohen Offenbarungen Gottes über
die Kirche. Die Wege und Handlungen Gottes mit Seinem
irdischen Volke sind nicht weniger nützlich für uns, als
Seine Wege und Handlungen mit uns, der himmlischen
Braut des Lammes.
73
Und nun fragen wir uns: Nimmt wirklich das Won-
Gottes in unsern Gedanken und in unsern Herzen den
Platz ein, der ihm gebührt und den es nach dem Willen
Gottes haben sollte? Begehren wir täglich, von dieser
unverfälschten, kostbaren Milch zu trinken? oder ist es
Satan gelungen, uns in Bezug auf diesen Schatz, den
wir durch die Gnade Gottes besitzen, gleichgültig zu machen ?
Sind wir träge geworden im Lesen und Erforschen der
Schriften? O, geliebte Brüder, laßt uns bedenken, was
der Apostel seiner Ermahnung noch hinzufügt! Er sagt:
„Seid begierig .... auf daß ihr dadurch wachset
zur Errettung." Es kann unmöglich von einem gesunden
Wachstum die Rede sein, wenn wir versäumen,
uns von dem Worte Gottes zn nähren. So wie ein
Kind zu Grunde gehen muß, wenn ihm die Milch entzogen
wird, so muß auch das geistliche Leben in uns verkümmern,
wenn wir ihm die Speise entziehen, die zu
seiner Erhaltung und Stärkung notwendig ist. Anstatt
zu wachsen, nimmt es ab und wird von Tag zn Tage
schwächer und schwächer. Warum sehen wir heute so viele
Kinder Gottes in einem ähnlichen schwachen Zustande wie
die Korinther? Weil sie, anstatt das geistliche Leben, das
in ihnen ist, zu nähren, dem fleischlichen und natürlichen
Nahrung zuführen. In dem Maße aber, wie dieses
wächst, muß jenes abnehmen. Und haben wir uns nicht alle
tief zu demütigen über den traurigen, niedrigen Zustand,
der im allgemeinen unter uns herrscht? Wo ist Hulse zu
finden? Nur in einem aufrichtigen Bekenntnis und Selbstgericht
und in einer Rückkehr mit ganzem Herzensent-
schluß zu dem, was wir verlassen haben. Der Herr
gebe es uns allen in Seiner reichen Gnade!
— 74 —
Auserwählt in Christo.
(Eph. 1, 3—7.)
Wenn wir zurückblicken in die Tiefen der Ewigkeit
vor der Gründung der Welt, so sehen wir Gott mit den
Gedanken und Ratschlüssen beschäftigt, welche der Heilige
Geist uns im Anfänge des Epheserbriefes mitteilt. Ja,
wir werden hier zurückgeführt weit vor die Zeit unsrer
Bekehrung, vor den Tod des Herrn Jesu, vor Seine
Fleischwerdung, vor alle die Handlungen Gottes mit dem
Menschen innerhalb des alttestamentlichen Zeitraums von
viertausend Jahren, ja vor den Augenblick, da Satan in
das Paradies eintrat und Eva sündigte. Wir waren auserwählt
in Christo „vor Grundlegung der Welt." Was
könnte die Ratschlüsse und Gnadenabsichten Gottes je
verändern? Bevor die Zeiten begannen, bevor Gott
Himmel und Erde ins Dasein rief, erwählte Er uns in
Ihm, dem Geliebten, daß „wir heilig und tadellos seien
vor Ihm in Liebe." (V. 4.)
Ja, Er beschloß, uns in diesen wunderbaren Platz
der Annehmlichkeit, „vor Ihm in Liebe," zu versetzen. So
groß war die Liebe des Vaters gegen uns von Ewigkeit
her. „Zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin
Er uns begnadigt hat in dem Geliebten." (V. 6.) Welch
ein Gedanke, vor Ihn hingestellt zu sein nach der Liebe
Seines Herzens — „in Liebe," „begnadigt in dem Geliebten,"
zugleich „heilig und tadellos!" Und nichts vermag
die ewigen Ratschlüsse Gottes umzustoßen oder auch
nur anzutasten. Nein, sie sind jetzt schon erfüllt. „Er
hat uns begnadigt in dem Geliebten. Er hat uns
mit und in Christo gesegnet. So wahr es ist, daß Er
uns in Christo vor Grundlegung der Welt anserwählt
hat, ebenso wahr ist es auch, daß Er uns in Ihm begnadigt
und vor sich hingestellt hat „heilig und tadellos in Liebe."
Wenden wir jetzt unsern Blick auf das Verhältnis,
in welches Gott uns gebracht hat, so sehen wir, daß Er
„uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesum
Christum für sich selbst." O, wie viel näher stehen
wir Ihm, als selbst Adam im Paradiese! Er war ein
unschuldiges, reines Geschöpf, aber kein Kind Gottes.
Weit näher auch, als Israel, als Volk betrachtet, näher
als Abraham, der Freund Gottes; ja unser Platz ist
weit näher, als derjenige, dessen die Engel, diese heiligen
und reinen Wesen, die Thäter Seines Wohlgefallens, sich
erfreuen. Sie stehen um Seinen Thron; aber Jesus
ist hingegangen, um eine Stätte für uns im Vaterhause
zu bereiten; wir sollen auf Thronen sitzen in dem
wolkenlosen Licht der Herrlichkeit Gottes, so nahe, daß
die Myriaden von Engeln um diesen Platz der Nähe geschart
stehen. Ja, wir sind zuvor bestimmt, diesen bevorzugten
Platz mit dem Sohne Seiner Liebe, als Kinder,
zu teilen — „zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade."
Wie erfreut es das Herz und stimmt es zu anbetender
Bewunderung, wenn wir lesen, daß Gott uns zur
Sohnschaft „für sich selbst" bestimmt hat! Es war
das „Wohlgefallen Seines Willens," solch arme, elende
Kreaturen, wie wir sind, in ihrem Elend zu besuchen, sie
aus ihrem Verderben zu befreien, um sie für sich selbst,
für Sein eignes Herz und für ewig als Söhne in Seiner
nächsten Nähe zu haben. Der Heilige Geist trägt Sorge,
uns ausdrücklich dieses besonderen Wunsches Gottes und
Seines unbegreiflichen Interesses an uns zu versichern.
Er liebte uns, als wir noch Sünder und Feinde waren;
76
-Er sandte Jesum, Seinen Geliebten, und stellte Ihn an
unsern Platz, um uns für alle Ewigkeit einen Platz an
Seinem Vaterherzen zu bereiten. Nichts anderes konnte
Seine Liebe zu uns befriedigen, nichts Geringeres Seinen
Gedanken iiber uns genügen. Er wollte Kinder haben,
und Er erwählte sie aus der Mitte verlorener, verdammungswürdiger
Sünder. Wer könnte eine solche Liebe
ergründen? Die Engel begehren, in diese herrlichen Ratschlüsse
und Wege der göttlichen Liebe hineinzuschauen,
deren Gegenstände wir sind.
„Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder, und es ist
noch nicht geoffenbart worden, was wir sein werden; wir
Wissen, daß, wenn Er geoffenbart ist, wir Ihm gleich
sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist."
(1. Joh. 3, 2.) Hier sehen wir, daß die Gedanken Gottes
noch weiter gehen. Wir sollen dem Heiligen, Verherrlichten
gleich sein, dessen baldiger Ankunft wir entgegensehen,
Ihm selbst verherrlicht dargestellt, ohne Flecken oder Runzel
oder etwas dergleichen. (Eph. ö, 27.) Gott konnte kein
Wohlgefallen haben an jenen Opfern, die niemals Sünden
hinwegzunehmen vermochten. Jetzt aber sind Seine ewigen
Vorsüve, die teuersten Wünsche Seines Herzens erfüllt in
unserer vollkommnen Annahme in Christo und in unsrer
Gleichheit mit Ihm.
In Dan. 7, 9 sehen wir den „Alten der Tage,"
dessen Kleid „weiß ist wie Schnee, und das Har Seines
Hauptes wie reine Wolle." Ebenso erscheint in Offbg. 1
der Herr Jesus dem Propheten Johannes: „Sein Haupt
Liber und Seine Hare waren weiß wie weiße Wolle, wie
Schnee." Demselben Bilde fleckenloser Reinheit begegnen
wir ferner auf dem Berge der Verklärung: „Und Er
ward umgestaltet vor ihnen. Und Sein Angesicht leuchtete
wie die Sonne, Seine Kleider aber wurden weiß wie das
Licht." (Matth. 17, 2.) Und nun möchte man fragen:
Ist eS möglich, daß wir, die wir solche Sünder gewesen
sind, diesem Herrn gleich sein können, „so wie Er ist?"
Ja, dieselben Bilder werden durch den Heiligen Geist gebraucht,
wenn Er von der Reinigung unsrer Sünden redet.
„Kommt denn und lasset uns rechten mit einander, spricht
Jehova. Wenn eure Sünden sind wie Scharlach, wie
Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Kar-
semin, wie Wolle sollen sie werden." (Jes. 1, 18.)
ES ist gesegnet für unsre Herzen, in dem unumschränkten
Gnaden-Ratschluß Gottes zu ruhen. Die Erlösung,
die wir besitzen, ist das Resultat dieses Ratschlusses.
„Das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt uns
von aller Sünde." (1. Joh. 1, 7.) „Hierin ist die Liebe
mit unS vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben
an dem Tage des Gerichts, daß, gleich wie Er ist,
auch wir sind in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.)
Laßt uns denn von der Höhe Gottes herabblicken und die
Versammlung betrachten, so wie Er sie sieht, wie Er sie
betrachtet, „tadellos" und „begnadigt in dem Geliebten!"
Unsere Herzen können unmöglich den Gedanken fassen, daß
wir Ihm gleich sind, wenn wir nicht verstehen, wie Gott
unS betrachtet. Laßt uns nie vergessen, daß wir trotz aller
Wut Satans, trotz aller gegenteiligen Meinungen der ungläubigen
Menschen, in Christo auserwählt sind vor diesem
allen, vor Grundlegung der Welt! Möchten wir jeden Tag
erfunden werden in der Erwartung Seiner Ankunft und des
glückseligen Augenblicks, wo wir unsern geliebten Herrn
sehen und Ihm auch hinsichtlich unsers Leibes gleich sein
78
werden! Der Herr ist nahe! „Ermuntert einander mit
diesen Worten!"
„Er wurde innerlich bewegt."
„Und als Jesus heraustrat, sah Er eine große
Volksmenge und wurde innerlich bewegt über sie, denn
sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und Er
sing an, sie vieles zu lehren." (Mark. 6, 34.)
Wie köstlich ist es, in einer Welt des Elends und
der Not Einen Zu besitzen, der alle Bedürfnisse kennt, sie
gleichsam zu Seinen eignen macht, und dessen erbarmende
Liebe sich uns sichtbar und fühlbar offenbart!
„Er wurde innerlich bewegt." Diese Gefühle waren
nicht vorübergehender Natur; nicht nur damals fand das
menschliche Elend eine Stätte in dem Herzen des Herrn. O
nein; Er, welcher „derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit,"
wird, obwohl Er jetzt auf dem Throne des Vaters
in der Herrlichkeit sitzt, immer noch innerlich bewegt,
wenn Er herabblickt auf all das Elend und die Not hie-
nieden, wenn Er das Seufzen und Flehen vernimmt,
das in immer dringenderen Lauten zum Throne der
Gnade emporsteigt.
Wenn der Hirte Israels innerlich bewegt ward bei
dem Anblick der Kinder Abrahams, die wie Schafe ohne
Hirten in der Wüste umherirrten, wie tief muß dann
Seine Bewegung sein, wenn Er jetzt auf die von neuem
weit zerstreuten Kinder Gottes blickt! Welch eine schreckliche
Verwüstung haben die „verderblichen Wölfe" in der
„Herde Gottes" angerichtet! Wie haben die Verkündiger
„verkehrter Dinge" die Jünger abgezogen „hinter sich
her!" (Apstg. 20, 29. 30.) Welch eine Spaltung und
79
welch ein Aergernis haben diejenigen angerichtet, die „nicht
unserm Herrn Jesu Christo, sondern ihrem eigenen
Bauche dienen!" Sicherlich muß dies alles das Herz
Dessen tief bewegen, welcher „die Versammlung geliebt
und sich selbst für sie hingegeben hat." (Eph. 5, 25.)
Doch war dies das Einzige, daß Jehova's Volk
„wie Schafe war, die keinen Hirten haben?" Hatten sie
nicht auch selbst gesündigt? Standen ihre Herzen in
der rechten Gesinnung zu Ihm, dem guten Hirten? Hatten
sie standhaft in „dem Bunde" beharrt? O, der Herr
wußte nur zu wohl, daß dies durchaus nicht der Fall
war. Er kannte die lange, traurige Geschichte dieses verkehrten,
hartnäckigen Volkes von Anfang bis zu Ende.
Wie oft hatte Er Seine Hände vergeblich nach ihnen ausgestreckt,
wie oft umsonst durch Seine Propheten, durch
-Gnadenerweisungen und Gerichte zu ihnen geredet! Sie
harten sich geweigert, in Seinen Geboten zu wandeln; sie
hatten Seinen Bund gebrochen und die großen Wunderwerke
vergessen, die Er sie hatte schauen lassen. Und
doch ward der Herr innerlich bewegt über sie! „Er war
barmherzig und vergab ihre Ungerechtigkeiten." (Ps. 7».)
Wenden wir jetzt unsern Blick auf die Kirche des
lebendigen Gottes, so müssen wir fragen: Hat sie auch
nur durch falsche Lehrer und schlechte Führer gelitten?
Hat sie eine bessere Geschichte hinter sich als das Volk
Israel? Ist sie weniger verkehrt und halsstarrig gewesen?
Hat sie Sein Wort gehalten? Standen die
Herzen derer, die Er mit Seinem eignen kostbaren Blute
erlöst hat, stets in der rechten Gesinnung zu Ihm? Ach!
wie wohl weiß der Herr, daß die höheren Vorrechte und
besseren Verheißungen, die ihnen zu Teil geworden sind,
80
nur einen um so tieferen Fall, um so größere Sünde
und verhältnismäßig eine um so schwächere Antwort auf
Seine Liebe hervorgebracht haben. Ja wahrlich, jedes
gläubige Herz weiß dieses. Wie köstlich nun, in unsern
Tagen sich zu Dem wenden zu dürfen, dessen Mitgefühl nie
aufhört, der die Deinigen, die in der Wett sind, liebt
bis ans Ende!
Tief bewegt von erbarmender und vergebender Liebe,
„fing Er an, sie vieles zu lehren." Auch heute noch
redet der Herr zu uns, und wenn Er auch im Himmel
ist, so ist der Himmel doch offen für uns, und für den
Glauben giebt es keine Entfernung. Fehler und Unwissenheit
umgeben uns von allen Seiten. Um ein richtiges
Gefühl über die ersteren zu haben und der letzteren
zu Hülfe zu kommen, ist es unbedingt notwendig, wahre
Gemeinschaft mit Ihm zu machen, der, erhaben über allem
Bösen, alles sieht. Von Ihm allein können wir lernen,
in allem eine Gelegenheit zur Ausübung der Liebe zu
finden. Wünschen wir, in irgend welchem Blaße den Schafen
Christi in diesen letzten, bald zu Ende gehenden Tagen
zu dienen, so bedürfen wir sehr, die Bedeutung jener
Worte zu erwägen, die der Herr vor Alters an den
Propheten Sacharja richtete: „So spricht Jehova der
Heerscharen, sagend: Richtet ein wahrhaftiges Gericht und
er weis et Güte und Barmherzigkeiten einer dem
andern!" (Kap. 7, 9.) Vor allem aber haben wir nötig,
im Geiste viel mit jenem treuen und „barmherzigen Hohenpriester"
zu verkehren, der in allem versucht worden ist,
gleichwie wir, ausgenommen die Sünde, und der Mitleid
Zu haben vermag mit dem Schwachen und Irrenden.
81
Bruchstücke.
Wenn ein Gläubiger in Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit
wandelt, so verändert dies zwar nicht seine
Stellung vor Gott, noch benimmt es ihm sein Anrecht
an dieselbe, aber es bringt ihm einen großen, unersetzlichen
Verlust, indem es ihn des Genusses dieser Stellung
und der Gemeinschaft mit Gott beraubt. Und ich glaube,
dies ist einer der Gründe, weshalb so viele Gläubige
immer wieder und wieder von der Hinwegnahme ihrer
Sünden zu hören begehren. Gerade weil sie nicht treu
sind in ihrem Wandel, kommen sie nie zu wahrer Ruhe.
Ihr Gewissen verklagt sie, und sie fühlen immer von
neuem das Bedürfnis, zu hören, daß Gott unsrer Sünden
und Uebertretungen nie mehr gedenken will. Der Gedanke
an den „heiligen" Gott hat für sie stets etwas
Beängstigendes. Sie haben keine Freimüthigkeit zu diesem
Gott, noch fühlen sie sich glücklich in dem Lichte Seiner
Gegenwart. Sie kommen selten zu dem Genusse ihrer
wahren Stellung vor Gott, da ihr praktischer Zustand
dieser Stellung nicht entspricht.
Die Kraft Gottes ist gerade passend für die Schwachheit
des Gläubigen, und umgekehrt, die Schwachheit des
Gläubigen gerade passend für die Kraft Gottes. So
passen wir einer zum andern.
Alles, was wir hienieden thun, ist stets in Uebereinstimmung
mit dem Zustande, in welchem wir uns
augenblicklich befinden, nicht aber immer in Uebereinstimmung
mit unsrer Stellung. Es ist für uns, die wir
ettvaS von unsrer Stellung verstanden haben, Gefahr vor-
82
Handen, daß wir unsern Zustand übersehen. Wir sind
beunruhigt, bis wir unsre Stellung kennen; eine größere
oder geringere Gesetzlichkeit ist so lange in uns wirksam,
bis wir diese Stellung erkannt und eingenommen haben.
Einer Seele, die sie zuerst kennen lernt, ist es gerade so zu
Mute, als wenn die Sonne aufginge nach einer finstern Nacht.
Aber wenn eine solche Seele dabei stehen bleibt, so wird sie
sicher über kurz oder lang Rückschritte machen. Wie
mancher Gläubiger hat sich unaussprechlich gefreut, als er
seine wunderbare Stellung in Christo vor Gott kennen
lernte, aber wie bald hat er diese Freude wieder verloren,
weil er nicht wachsam genug gewesen ist, einen dieser
Stellung entsprechenden Zustand zu bewahren! Die Stellung
ist unser ohne jede Anstrengung von unsrer Seite, aber
die Bewahrung eines entsprechenden Zustandes erfordert
stete Wachsamkeit, unaufhörliches Gebet, unermüdlichen
Kampf. Unser Zustand muß sowohl der Heiligkeit des
Gottes entsprechen, mit dem wir es zu thun haben, als
auch passend sein, um dem Bösen in diesem gegenwärtigen
Zeitlauf in der rechten Weise zu begegnen. Je mehr er
ein solcher ist, desto mehr sind wir fähig, zu handeln
nach der Kraft, die in uns wirkt.
Unser Pfad durch die Wüste ist mit zahllosen Gnadenerweisungen
Gottes bestreut, und doch braucht nur eine
Wolke von der Größe einer Hand am Horizont aufzusteigen,
um uns jene reichen Segnungen mit einem Male
vergessen zu lassen. Und wie oft zeigt es sich am Ende,
daß gerade diese Wolke, vor der wir uns so sehr fürchteten,
nichts als Segen über uns ausgegossen hat
83
Nichts entehrt Gott mehr, als die Offenbarung eines
klagenden Geistes von Seiten derer, die Ihm angehören.
Es erfordert einen himmlischen Geschmack, um sich
stets von „dem Brode ans dem Himmel" zu nähren.
Die Natur kann an einer solchen Nahrung keinen Geschmack
finden. Sie wird sich immer wieder nach Aegypten
zurücksehnen, und deshalb muß sie im Tode gehalten werden.
Das Manna war so rein und zart, daß es keine
Berührung mit der Erde vertragen konnte. Es siel auf
den Tau (Vergl. 4. Mos. 11, 9.) und mußte gesammelt
werden, ehe die Sonne aufging. Ein jeder Israelit
mußte daher frühe aufstehen und seine tägliche Portion
einsammeln. Ebenso ist es jetzt mit dem Volke Gottes.
Das himmlische Manna muß jeden Morgen frisch gesammelt
werden. Das Manna von gestern genügt nicht
für heute, noch das heutige für morgen. Wir müssen
uns Tag für Tag von Christo nähren, mit immer neuer
geistlicher Energie; anders werden wir aufhören zu wachsen.
Das neue Leben in dem Gläubigen kaun nur durch
Christum genährt und erhalten werden. Und wenn ich
mit Gott durch die Wüste wandle, so werde ich völlig
mit der Nahrung zufrieden sein, die Er mir darreicht;
und diese Nahrung ist Christus.
Es ist höchst beklagenswert, Christen zu finden, die
nach den Dingen dieser Welt trachten. Es beweist nur
zu klar, daß sie des himmlischen Manna's überdrüßig
geworden sind und es als eine „lose Speise" betrachten.
Sie dienen dem, was sie töten sollten.
84
Gerade so wie im natürlichen Leben der Hunger
in demselben Maße zunimmt, wie die Kräfte des Körpers
angestrengt werden, ebenso fühlen wir im geistlichen Leben
um so mehr das Bedürfnis, uns jeden Tag von Christo
zu nähren, je mehr unsre erneuerten Fähigkeiten und
Kräfte in Ausübung kommen.
Zu wissen, daß wir Leben haben in Christo, verbunden
mit einer vollkommenen Vergebung und Annahme
vor Gott, ist eine Sache; aber eine ganz andere ist
es, in täglicher, praktischer Gemeinschaft mit Ihm zu
fein. Sehr viele bekennen, Vergebung und Frieden in
Jesu gefunden zu haben, während sie sich in Wirklichkeit
von allerlei Dingen nähren, die in gar keiner Verbindung
mit Ihm stehen.
Das Verhalten eines Menschen zeigt stets am getreuesten
seine Wünsche und Absichten an. Wenn ich
daher einem Christen begegne, der seine Bibel vernachlässigt,
während er Zeit genug findet, Zeitungen und
andere weltliche Sckriften zu lesen, so kann ich in meinem
Urteil über ihn nicht im Unklaren sein. Ich kann ruhig
sagen, daß er ungeistlich ist, daß er sich nicht von Christo
nährt, nicht für Ihn lebt, noch für Ihn zeugt.
Man hört oft Personen, sei es im Gebet. oder bei
andern Gelegenheiten, hohe Bekenntnisse machen und Ausdrücke
der tiefsten Hingebung äußern, .während in der Stunde
der Prüfung nicht die nötige geistliche Kraft vorhanden ist,
um das auszuführen, was die Lippen geredet haben.
Ein Wort
über kirchliche Unabhängigkeit.
i.
ES ist eine höchst gefährliche Sache, das persönliche
Urteil mit dem Gewissen zu vermengen. Die
völlig gereifte Frucht dieser Vermengung sehen wir in
dem gegenwärtigen Zustande des Protestantismus: das
persönliche Urteil wird dazu benutzt, um die Verwerfung
alles dessen zu rechtfertigen, mit welchem der Einzelne
nicht einverstanden ist. Die Verschiedenheit zwischen dem
persönlichen Urteil und dem Gewissen ist einfach. Wir
alle erkennen die Autorität eines Vaters an. Wenn es
sich nun um eine Sache des Gewissens handelt, sei es
in bezug auf die Autorität Christi oder das Bekenntnis
Seines Namens, so kann selbstverständlich die väterliche
Autorität nicht berücksichtigt werden. Ich bin verpflichtet,
Christum mehr zu lieben, als Vater und Blutter. Wenn
ich aber die Autorität meines Vaters in allem verwerfe,
worin mein persönliches Urteil von dem seinigen betreffs
dessen, was recht ist, abweicht, so hat alle Autorität aufgehört.
Es mag Fälle geben, in welchen ich ängstlich
nach dem, was meine Pflicht ist, zu suchen habe, und in
denen nur ein geistliches Unterscheidungsvermögen zu einem
richtigen Urteil kommen kann. Solche Fälle giebt es in
dem ganzen christlichen Leben. Wir müssen geübte Sinne
haben, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden —
86
nicht uuweise sein, sondern verstehen, was der Wille des
Herrn ist; und solche Uebungen sind nützlich.
Doch die Vermengung eines Urteils, welches ich
mir einfach über das, was richtig ist, bilde, mit dem
Gewissen ist im Grunde nichts anders, als eine Vermengung
des Willens mit dem Gehorsam. Ein
wahrhaftiges Gewisfen ist immer gleichbedeutend mit Gehorsam
gegen Gott; aber wenn ich das, was ich einsehe,
für genügend erachte zur Bestimmung meines Thuns, so ist
eine verderbenbringende Wirkung unausbleiblich. Unterwirft
man sich nur dann der Autorität eines Vaters, wenn er, selbst
in unwichtigen Dingen, eine Schriftstelle für das, was er
wünscht, anzuführen vermag? Erhebt ein solcher Grundsatz
nicht das eigene Ich und den eigenen Willen auf den Thron?
Doch ich gehe zu der Sache über, von der ich eigentlich
reden will. Nehmen wir an, in einer Versammlung
ist jemand wegen einer bösen Sache ausgeschlossen worden.
Alle erkennen an, daß ein solcher, wenn er in Wahrheit
gedemütigt ist, wieder ausgenommen werden sollte. Die
Versammlung glaubt, daß er wirklich gedemütigt ist; ich
hingegen bin überzeugt, daß er es nicht ist. Man nimmt
ihn auf. Soll ich nun mit der Versammlung brechen,
oder mich weigern, mich ihrer Handlung zu unterwerfen,
weil ich glaube, daß sie im Irrtum ist? Nehmen wir
den umgekehrten Fall an — ein Fall, der das Herz noch
mehr auf die Probe stellt — daß ich nämlich von der
Demütigung des Betreffenden überzeugt bin, während die
Versammlung eS nicht ist. Was soll ich jetzt thun? Ich
unterwerfe mich einfach einem Urteil, das ich für irrig
halte, und blicke auf den Herrn, daß Er es berichtigen
möge. Es ist dann eine Demut vorhanden, welche das
87
eigene Ich an den ihm gebührenden Platz stellt und die eigene
Meinung andern gegenüber nicht zur Geltung bringen will,
obwohl man überzeugt sein mag, daß man im Recht ist.
Hiermit steht eine andere Frage in Verbindung, daß
nämlich die Handlung der einen Versammlung für die
andere bindend ist. Unabhängige Versammlungen erkenne
ich nicht an, weil die Schrift es nicht thut. Da ist nur
ein Leib, der Leib Christi, und alle Christen sind Glieder
desselben; und die Versammlung Gottes an einem Orte
repräsentirt die ganze Versammlung und handelt in ihrem
Namen. Daher werden im ersten Briefe an die Korinther,
wo dieser Gegenstand behandelt wird, in der Anrede an
die Versammlung zu Korinth alle Christen mit eingeschlossen;
die Versammlung, als solche, aber wird als der
Leib behandelt und örtlich verantwortlich gemacht, die
Reinheit der Versammlung aufrecht zu halten; der Herr
Jesus wird als in ihr gegenwärtig betrachtet, und was
gethan wurde, geschah in dem Namen des Herrn
Jesu Christi. Dies wird völlig außer acht gelassen,
wenn man, wie es oft geschieht, im Blick auf eine Versammlung,
von sechs oder sieben fähigen, einsichtsvollen
und von einer Anzahl unwissender Christen spricht. Man
setzt die Gegenwart des Herrn in der Mitte einer Versammlung
bei Seite. Das Fleisch, sagt man, ist oft
wirksam in der Versammlung; aber warum setzt man
voraus, daß es in einer Versammlung wirkt, und vergißt,
daß es in einer einzelnen Person wirken kann?
Und ferner, wenn der Herr in der Versammlung
ist, warum redet man davon, daß man zuerst dem Herrn
und dann der Versammlung gehorchen müsse? Dies ist
nichts anders, als das Aufstellen eines persönlichen Urteils
88
gegenüber dem Urteil einer Versammlung, die in dem
Namen Christi mit Seiner Verheißung zusammenkommt
(wenn sie nicht in dieser Weise zusammenkommt, so habe
ich nichts mit ihr zu thun); ich sage dadurch einfach, daß
ich mich für weiser halte, als diejenigen, die so versammelt
sind. Ich verwerfe es durchaus als schriftwidrig, wenn
man sagt: „Zuerst Christus und dann die Versammlung."
Wenn Christus nicht in der Versammlung ist, so erkenne
ich sie gar nicht an. Jener Ausspruch setzt voraus, daß
die Versammlung Christum nicht hat, indem er aus Christo
und der Versammlung zwei Parteien macht. Ich kann einer
Versammlung gegenüber meine Meinung äußern und ihr
behülflich sein, weil ich ein Glied Christi bin und daher, wenn
es anders eine Versammlung ist, zu ihr gehöre. Aber wenn
ich sie als eine Versammlung Gottes anerkenne, so kann ich
nicht annehmen, daß Christus nicht in ihr ist. Ich leugne
dadurch einfach, daß sie eine Versammlung Gottes ist. Vielfach
fehlt das Verständnis über den wahren Charakter der
Versammlung Gottes. Dies kann uns nicht Wundern; allein
es verfälscht notwendig das Urteil über den in Frage
stehenden Punkt; man fragt alsdann nicht, ob ein Wort der
Schrift dafür vorliege, sondern sagt einfach: „Ich sehe das
Wort dafür nicht ein." Man traut somit dem eigenen Urteil
mehr zu, als demjenigen der Andern und der Versammlung
Gottes. Es ist eine andere Sache, wenn Lästerungen
gegen Christum in Frage stehen. Es wäre wirklich
Bosheit, eine solche Frage auch nur für einen Augenblick
auf den oben beschriebenen Boden zu stellen. Jeden Versuch,
solche Lästerungen durch kirchliche Fragen oder durch
Berufung auf das persönliche Gewissen zuzudecken, verabscheue
ich mit völligem Abscheu.
89
Der Leser erlaube mir, über Fragen von geringerer
Wichtigkeit noch ein Wort zu sagen. Angenommen, ich
gehöre zu einer Versammlung, welche nach meiner Mell
nung irgend eine Sache in verkehrter Weise beurteilt. Soll
ich nun meine persönliche Meinung ihr aufd rang en?
Wenn nicht, was habe ich zu thun? Soll ich die Versammlung
Gottes verlassen, wenn es eine solche ist (wenn
nicht, so gehe ich nicht hin)? Wenn ich nicht in einer
Versammlung bleiben will, weil sie mit mir nicht in allen
Punkten übereinstimmt, so kann ich zu keiner Versammlung
Gottes in dieser Welt gehören. Alles dieses ist einfach
eine Leugnung der Gegenwart und Hülfe des Geistes
Gottes und der Treue Christi gegen Sein Volk. Ich
kann keine göttliche Demut darin entdecken.
Wenn eine Versammlung als solche in einem Falle
der Zucht geurteilt hat, nachdem alle brüderliche Mitteilungen
und Vorstellungen angehört worden sind, so
sage ich mit Bestimmtheit, daß eine andere Versammlung
im Blick hierauf ihre Handlung aunehmen sollte. Wenn
der Böse in Korinth hinausgethan war, sollte Ephesus
ihn aufnehmen? Wo war dann die Einheit, wo der
Herr inmitten der Versammlung? Was mich aus dem
System hinausgeführt hat, war die Einheit des Leibes;
wo diese nicht anerkannt, und wo nicht aus Grund derselben
gehandelt wird, dahin werde ich nicht gehen. Unabhängige
Versammlungen halte ich für ebenso verkehrt oder
noch verkehrter, als die Nationalkirche. Und jede Versammlung,
die unabhängig von der andern handelt und
in einer von ihr unabhängigen Weise Personen ausnimmt, hat
jene Einheit verworfen und ist eine unabhängige Versammlung.
Die praktische Einheit des Leibes ist verschwunden.
»0
Niemand aber wird mich je zu einer solchen Bosheit
verleiten können, die Aufnahme von Lästerern als eine
kirchliche Frage zn behandeln. Wenn jemand mit solchen
zu wandeln wünscht, oder ihre Duldung am Tische des
Herrn unterstützt, so werde ich keine Gemeinschaft mit
ihm machen. Es ist meine bestimmte Ueberzeugung, daß
die von solchen Leuten verteidigten Grundsätze einen
Mangel an persönlicher Demut verraten und das wahre
Wesen der Versammlung Gottes zerstören. Doch ich will
die beiden Fragen nicht mit einander vermischen. Ich
gebe nicht zu, daß man mir meine geistliche Freiheit nehme.
Wir sind eine Herde, nicht ein umzäunter Hof. (Vergl.
Joh. 10.) Aber in Fragen der Zucht, wo kein Grundsatz
der Wahrheit verleugnet wird, stelle ich nicht mein Urteil
demjenigen der Versammlungen Gottes in den Dingen,
die ihrer Sorge von Gott anvertraut sind, gegenüber.
Wenn ich es thue, so stelle ich mich dadurch selbst als
weiser hin und beachte nicht das Wort Gottes, welches
der Versammlung gewisse Pflichten auferlegt hat — einer
Versammlung, die Er an ihrem Platze ehren wird.
Ich füge hinzu, daß es vor allem wichtig ist, in dem,
was wir erkannt haben, zu gehorchen. Ueber die möglichen
Forderungen nachzusinnen, die im Gehorsam an uns gestellt
werden können, da, wo wir lieber frei wären, unsern
eigenen Weg zu gehen, ist eine zweite Sache. „Dem, der
da hat, wird mehr gegeben werden." Das, was wir erkennen,
im Gehorsam zu thun, ist der beste Weg, um
Fortschritte in der Erkenntnis zu machen.
Weiter wird gesagt, „daß die Anerkennung Christi
als Herr das Band der Einheit zwischen den Versammlungen
bilde." Allein die Schrift redet, wenn es sich um
91
Einheit handelt, tein Wort über Versammlungen, noch
über ein Band zwischen den Versammlungen, noch besteht
endlich die Einheit aus einer Vereinigung von Versammlungen.
Herrschaft ist durchaus persönlich, und es ist
ichriftwidrig, von einem Herrn des Leibes zu reden.
Ehristus ist Herr über einzelne Personen; Er ist Haupt
des Leibes, Haupt über alle Dinge. Einheit besteht nicht
durch Herrschaft. Sicher wird der persönliche Gehorsam,
gleich jeder wahren Gottseligkeit, zur Bewahrung der Einheit
beitragen; aber die Einheit ist eine Einheit des Geistes,
und zwar in dem Leibe, nicht in Leibern. Sowohl
der Brief an die Epheser, als diejenigen an die Korinther
geben uns bestimmte Belehrung darüber, daß die Einheit
in dem Geiste und durch denselben ist, und daß Christus
in dieser Beziehung den Platz des Hauptes, nicht den
des Herrn hat; der letztere Titel bezieht sich aus Christen
versönlich. Der Irrtum, von dem ich eben gesprochen,
würde, wenn man ihn praktisch aussührte, die ganze Stellung
der Versammlungen verfälschen, bloße Dissidenten
aus ihnen machen und in keiner Weise den Gedanken
Christi entsprechen.
2.
Autorität mit Unfehlbarkeit zu vermengen,
ist eine armselige und leicht zu durchschauende Sophisterei.
In hundert Fällen kann man verpflichtet sein, zu gehorchen,
wo von Unfehlbarkeit keine Rede ist. Wäre es nicht so,
so könnte eS in der Welt überhaupt keine Ordnung mehr
geben. Unfehlbarkeit ist nicht in ihr vorhanden, wohl
aber ein gutes Teil Eigenwillen; und wenn da, wo es
keine Unfehlbarkeit giebt, auch kein Gehorsam, keine Ergebung
in das, was von andrer Seile entschieden ist, mehr
92
bestehen soll, so ist jede Schranke sür den Eigenwillen
beseitigt, und das Bestehen jeder öffentlichen Ordnung unmöglich
gemacht. Es handelt sich darum, ob man zu
etwas befugt, nicht ob man unfehlbar ist. Ein Vater ist
nicht unfehlbar, aber er besitzt eine ihm von Gott gegebene
Autorität, und es ist Pflicht, sich derselben zu unterwerfen.
Ein Polizeibeamter ist nicht unfehlbar, aber
er hat die Befugnis, in den Fällen Autorität auszuüben,
welche seiner Gerichtsbarkeit unterworfen sind. Es mag
Diittel gegen den Mißbrauch der Autorität geben, oder
in gewissen Fällen auch eine Verweigerung des Gehorsams
am Platze sein, wenn eine höhere Autorität uns
dazu zwingt, wie z. B. ein Gewissen, das durch Gottes
Wort geleitet wird. „Wir sollen Gott mehr gehorchen,
als den Menschen." Aber nienials wird in der Schrift dem
menschlichen Willen als solchem Freiheit gegeben. Wir sind
geheiligt zu dem Gehorsam Christi. Und dieser Grundsatz
— unsere Erfüllung des Willens Gottes in einfältigem
Gehorsam, ohne daß wir jede Frage, die erhoben
werden könnte, zu lösen suchen — ist ein Pfad des
Friedens, welchen viele derer, die sich für weise halten,
verfehlen, weil eS der Pfad der Weisheit Gottes ist.
Das Hineinbringen der Unfehlbarkeitsfrage ist daher
eine bloße Sophisterei, welche den Wunsch verrät, einen
freien Willen zu haben, sowie das Vertrauen, daß das
persönliche Urteil über allem steht, was bereits entschieden
ist. Es giebt eine richterliche Autorität in der
Kirche Gottes, und wenn dies nicht der Falt wäre, so
würde sie die schrecklichste Ungerechtigkeit auf Erden sein,
weil jede Ungerechtigkeit durch den Namen Christi geheiligt
werden würde. Und dies ist es, was von jenen, welche
93
die hier behandelten Fragen angeregt haben, gesucht und
verteidigt wird: daß nämlich, welche Ungerechtigkeit oder
welcher Sauerteig auch in einer Versammlung geduldet werden
möge, die Versammlung selbst nicht davon durchsäuert werden
könne. Solche Behauptungen haben in gewissem Sinne auch
Gutes gewirkt, indem jede aufrichtige Seele und ein jeder,
der nicht das Böse zu rechtfertigen sucht, sie von Herzen
verabscheut und verwirft.
Die Versammlung Gottes übt ihre richterliche
Autorität aus Gehorsam gegen das Wort aus: „Ihr,
richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen
sind, wird Gott richten; thut den Bösen von euch selbst
hinaus." Und ich wiederhole noch einmal: wenn die
Versammlung diese Autorität nicht auSübt, so wird sie
gleichsam zur Beglaubigerin jeder Art von Sünde und
Schlechtigkeit, und ich versichere in der bestimmtesten Weise,
daß, wo dieselbe ausgeübt wird, andere Christen verpflichtet
find, sie zu achten. Für die Thätigkeit des Fleisches in der
Versammlung sind Heilmittel vorhanden in der Gegenwart
des Geistes Gottes unter den Gläubigen und in der
unumschränkten Autorität des Herrn Jesu Christi; aber
diese Heilmittel finden sich sicher nicht in der traurigen
und ganz schriftwidrigen Anmaßung derer, welche einem
jeden, der es sich in den Kopf setzt, für sich selbst,
unabhängig von dem, was Gott fest gestellt hat,
zu urteilen, dazu die Befugnis zuerkennen. Dies ist, von
dem günstigsten Gesichtspunkte aus betrachtet, nicht so sehr
persönliche Anmaßung, obwohl dies sein wahrer Charakter
ist, der Charakter des seit den Tagen Cromwell's so wohlbekannten
und schriftwidrigen Systems des Jndependentis-
mus, nach welchem jede christliche Gemeinde, als eine
94
freiwillige Vereinigung, von der andern unabhängig ist»
Vielmehr wird hierdurch die Einheit des Leibes, sowie die
Gegenwart und Thätigkeit des Heiligen Geistes in demselben
direkt geleugnet.
Nehmen wir an, wir bildeten eine Körperschaft von
Freimaurern, und ein Mitglied wäre nach den Ordensregeln
von einer Loge ausgeschlossen. Einige Logen
glaubten nun, es wäre dem Betreffenden Unrecht geschehen,
aber anstatt von der ersten Loge zu erwarten, daß sie den
Fall noch einmal untersuche, würden sie den Ausgeschlossenen
auf ihre eigene unabhängige Autorität hin aufnehmen
oder abweisen — wo wäre dann die Einheit des Freimaurersystems
? Sie hätte offenbar aufgehört zu bestehen.
Eine jede Loge wäre ein unabhängiger, für sich selbst
handelnder Körper. Es wäre nutzlos zu behaupten, daß
ein Unrecht geschehen und die Loge nicht unfehlbar sei.
Die Befugnis der Logen, Autorität auszuüben, und die
Einheit des Ganzen wären dahin. Das System wäre
aufgelöst. Es mag für derartige Schwierigkeiten Vorsorge
getroffen fein, und dies ist ganz gut, wenn es notwendig
ist. Aber das, was die unzufriedenen Logen thun, ist
nichts anders, als eine Anmaßung des Vorrangs über
die erste Loge und muß unfehlbar die Auflösung des
Freimaurerordens herbeiführen.
Ich verwerfe in der bestimmtesten Weise die
vorgebliche Befugnis einer einzelnen Kirche oder Versammlung,
eine andere zu richten. Es ist dies eine schriftwidrige
Leugnung der ganzen Art und Weise, wie die
Versammlung Gottes zusammengefügt ist. Es ist Unabhängigkeit
— ein System, das ich schon vor vierzig
Jahren gekannt habe und dem ich mich niemals anschließen
95
würde. Wenn jemand dieses System liebt, so muß er
sich ihm eben anschließen; es ist vergebliche Mühe, zu
behaupten, daß es nicht Unabhängigkeit sei. Unabhängigkeit
ist einfach ein System, in welchem jede Kirche für sich
selbst, unabhängig von der andern, urteilt, und das ist
alles, was man fordert. Ich streite nicht mit denen,
welche dieses System vorziehen, indem sie selbständig zu
urteilen lieben; nur bin ich völlig überzeugt, daß es in
jeder Hinsicht durchaus schriftwidrig ist. Die Kirche ist
kein willkürliches System; sie ist nicht gebildet aus einer
Anzahl unabhängiger Körperschaften, welche jede für sich
selbst handelt. Man hat nie daran gedacht, was man
auch als Heilmittel betrachten mochte, daß Antiochien
Heiden zulassen und Jerusalem sie zurückweisen, und doch
alles vorangehen konnte nach der Ordnung der Versammlung
Gottes. Es findet sich in dem Worte keine Spur von
solcher Unabhängigkeit und Unordnung. Dasselbe lehrt
vielmehr und enthält alle möglichen thatsächlichen Beweise
dafür, daß es nur einen Leib auf der Erde gab, dessen
Grundlage der Segnung jene Einheit bildete, deren
Bewahrung die Pflicht eines jeden Christen war. Der
Eigenwille mag wünschen, daß es sich anders verhalten
möchte, aber sicherlich nicht die Gnade, noch auch der
Gehorsam gegen das Wort.
Es mögen sich Schwierigkeiten erheben, die nicht, von
einem apostolischen Mittelpunkt, wie er sich in jenen
Tagen zu Jerusalem befand, geordnet werden können.
Wir haben einen solchen Mittelpunkt nicht mehr: aber
unsere Zuflucht ist die Wirksamkeit des Geistes in der
Einheit des Leibes, die Thätigkeit der heilenden Gnade
und hülfreicher Gaben, sowie die Treue eines gnädigen
96
Herrn, welcher verheißen hat, uns nie zu verlassen noch
zu versäumen. Was in Jerusalem geschah nach dem
15. Kapitel der Apostelgeschichte, ist ein Beweis, daß die
schriftgemäße Versammlung nie an eine unabhängige Handlungsweise,
worauf man jetzt besteht, gedacht oder eine
solche angenommen hat. Die Thätigkeit des Heiligen
Geistes entfaltete sich in der Einheit des Leibes, und so
ist es immer. Die Handlungsweise, wie sie durch den
Apostel in Korinth vorgeschrieben wurde, (und dieselbe
ist als Gottes Wort bindend für uns) betraf die ganze
Versammlung Gottes, und deshalb wendet sich der
Apostel in seiner Anrede an alle Christen. Könnte wohl
jemand behaupten, daß jede Versammlung noch einmal für
sich selbst zu urteilen hatte, ob der Manu, welcher in Korinth
richterlicher Weise hinausgethan war, ausgenommen werden
dürfe, und daß jene richterliche Handlung für nichts
gegolten habe, oder doch nur für Korinth wirksam gewesen
sei, und daß Ephesus oder Kenchreä nachher nach Belieben
habe handeln können? Welchen Zweck hätte dann die
ernste Handlung und Anweisung des Apostels gehabt?
Nun, jene Autorität und jene Anweisung ist auch heute
noch für uns das Wort Gottes.
Ich weiß Wohl, daß man sagen wird: „Sie haben
Recht; aber Sie können dieses Wort nicht richtig befolgen,
da das Fleisch wirksam sein kann." Allerdings ist die
Möglichkeit vorhanden, daß das Fleisch sich wirksam
erweis:; aber ich bin völlig überzeugt, daß das, was die
Einheit der Versammlung leugnet, was sich eigenmächtig
erhebt und dieselbe in unabhängige Körperschaften zersplittert,
daß dies die Auflösung der Kirche Gottes bedeutet, schriftwidrig
und nichts als Fleisch ist. Dasselbe ist deshalb.
!)7
was mich betrifft, verurteilt, bevor ich einen Schritt weiter
gehe. Ohne Zweifel kann das Fleisch wirksam sein, aber für
demütige Seelen giebt es, wie ich bereits gesagt habe, ein
Heilmittel, ein gesegnetes, köstliches Heilmittel, in der Hülfe
des Geistes Gottes, in der Einheit des Leibes und in
der Liebe und Sorge des treuen Herrn, nicht aber in
deni anmatzungsvollen Willen, der sich eigenmächtig erhebt
und die Versammlung Gottes leugnet. Meine Antwort
ist daher, daß der Einwurf jener eine Sophisterei ist,
indem sie Unfehlbarkeit mit einer göttlich angeordneten
Autorität verwechseln — einer Autorität, welche von
demütigen Herzen, in denen die Gnade wohnt, anerkannt
wird. Das System, welches man erstrebt, ist der
anmaßende Geist der Unabhängigkeit, eine Verwerfung
der ganzen Autorität der Schrift in ihrer Belehrung über
die Versammlung; es stellt mit einem Wort den Menschen
an den Play Gottes.
Wenn zwei oder drei mit einander versammelt sind,
so bilden sie offenbar eine Versammlung und, wenn dem
Worte gemäß versammelt, eine Versainnilung^ Gottes;
wenn sie aber keine Versammlung Gottes sind, was sind
sie dann? Sind sie die einzige Versammlung an einem
Orte, so bilden sie Versammlung Gottes an diesem
Orte, wiewohl ich in praktischer Beziehung dagegen bin,
diesen Titel anzuiiehmen, weil die Versammlung Gottes
an einem Orte eigentlich alle dort wohnenden Gläubigen
umfaßt; und es ist Gefahr vorhanden, daß man diesen
Namen annimmt, indem man den allgemeinen Verfall der
Äirche aus dem Auge verliert und sich anmaßt, etwas
zu sein. Indessen ist es in dem gesetzten Falle
nicht falsch. Wenn irgendwo eine solche Versammlung
— 9!^ —
besteht, und es wird, unabhängig von derselben, eine
zweite durch den Willen des Menschen aufgerichtet, so ist
nur die erste moralisch, in Gottes Augen, die Versammlung
Gottes. Die zweite ist es durchaus nicht, weil sie in
Unabhängigkeit von der Einheit des Leibes aufgerichtet
ist. Ich verwerfe völlig und ohne Zögern das ganze
independentistische System als schriftwidrig und als ein
wirkliches Uebel. Nachdem die Einheit des Leibes wieder
dargestellt und die fchriftgemäße Wahrheit derselben bekannt
ist, ist jenes System einfach ein Werk des Feindes.
Unkenntnis der Wahrheit ist unser gemeinsames Los in
vielen Beziehungen; aber Widerstand gegen dieselbe ist
etwas ganz anderes. Ich weiß, daß behauptet wird, die
Kirche sei jetzt so sehr im Verfall, daß eine schriftgemäße
Ordnung, der Einheit des Leibes gemäß, nicht aufrecht
erhalten werden könne. Ein jeder, der so spricht, muß,
wenn er anders ehrlich ist, bekennen, daß er eine schrift-
widrige Ordnung, oder besser Unordnung, sucht. In
Wahrheit ist eS in diesem Falle durchaus unmöglich, zum
Brotbrechen zusammen zu kommen, es sei denn in Auflehnung
gegen das Wort Gottes; denn die Schrift sagt: „Ein
Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle sind
des einen Brotes teilhaftig." Wir bekennen, ein Leib
zu sein, so oft wir Brot brechen, die Schrift weiß von
nichts anderem; und man wird finden, daß die Schrift
ein zu starkes und vollkommenes Band ist, als daß
menschliche Vernünfteleien es zerreißen könnten.
I. N D.
9»
Betrachtungen über die Epistel an die Römer.
(Schluß.)
Kapitel 9.
Die Lehre des Briefes ist mit dem achten Kapitel
beendigt. Die zwei Hauptfragen, um die es sich für den
sündigen Menschen handelt: seine Schuld und sein sündhafter
Zustand, oder das, was er gethan hat, und das,
was er ist, sind vollständig betrachtet worden. Christus
ist für unsre Sünden gestorben, so daß wir (die Gläubigen)
gerechtfertigt sind, und wir sind mit Christo gestorben,
so daß wir von der Macht der Sünde und des
Fleisches befreit werden. Alle Thaten des Fleisches sind
uns vergeben, und wir sind nicht mehr im Fleische,
sondern in Christo. Deshalb giebt eS für uns keine
.Verdammnis und keine Trennung von Gott mehr.
Doch diese an und für sich vollkommene Lehre ließ
noch eine schwierige Frage unbeantwortet, nämlich die Frage
hinsichtlich des Zustandes der Juden. Der Apostel hat ausführlich
dargethan, daß der Jude schuldig sei, weil er das
Gesetz übertreten habe, und daß es also keinen Unterschied gebe
zwischen dem Juden und dem Heiden; alle haben gesündigt, sind
vor Gott schuldig und Seinem Gericht verfallen. Daß
die Juden das Gesetz übertreten hatten, konnten sie nicht
leugnen, aber sie konnten sich berufen auf die ihnen in
Abraham und andern Vorvätern gemachten unbedingten
Verheißungen. Und dieser Schwierigkeit begegnen die Kapitel
9 bis 11.
Es giebt allerdings unbedingte Verheißungen, die
dem Volke Israel gemacht sind. Zunächst aber find nicht
alle, welche zu dem Stamme Israel gehören, dadurch
Israel; und, was noch wichtiger ist, sie haben Den, in
100
welchem diese Verheißungen erfüllt werden füllten und in
dem ihnen die Erfüllung derselben angeboten wurde, verworfen,
und dadurch haben sie alles Anrecht auf diese Erfüllung
verloren. „Sie haben sich gestoßen an dem Stein
des Anstoßes." Dann aber, nachdem alle Segnung, für sie
nicht minder wie für die Heiden, eine Sache der reinen
Gnade geworden, zeigt der Apostel, daß Gott, der unveränderlich
treu ist, aus Gnade alles erfüllen wird, was
Er verheißen hat. Den Beweis dieser Grundsätze finden
wir in den Kapiteln 9 bis 11.
Zunächst giebt der Apostel seiner unveränderlichen
Liebe zu seinem Volke Ausdruck. Sein Herz war mit
Trauer erfüllt über die Beseitigung desselben, ja, er war
so weit entfernt von aller Gleichgültigkeit in dieser Beziehung,
daß er, anstatt des geliebten Volkes, lieber sich
selbst als verflucht von Christo getrennt gesehen hätte. Wie
Christus selbst über Jerusalem weinte wegen der Halsstarrigkeit
des Volkes, als Er von dem Gipfel des Del-
berges aus die Stadt vor Seinen Augen ausgebreitet
liegen sah, oder wie einst Mose (2. Mose 32, 32.) für
Las götzendienerische Volk eintrat, so begegnen wir hier in
dem Apostel dem Ausdruck derselben Gefühle der Liebe
und des Schmerzes. Sein Wunsch war nicht der Ausdruck
einer ernsten, ruhigen Erwägung, auch gehörte er
nicht der Gegenwart an, sondern er war ausgestiegen aus
einem Herzen, das durch den Gedanken an die Verwerfung
des von Gott geliebten Volkes — seiner Verwandten nach
dem Fleische — tief niedergedrückt war. Es war der
Ausruf eines Herzens, das seine überströmenden Gefühle
nicht zu unterdrücken vermochte. Er zählt ihre Vorrechte
auf — denn sein Herz war noch erfüllt von alle dem,
101
was ihnen in Verbindung mit Gott gehörte — bis zu
dem Messias hin, der dem Fleische nach von ihnen ab-
stammte. Auch spricht er nicht, als ob das Wort Gottes sein
Ziel verfehlt hätte; denn nicht alle, welche von Israel ab-
stammen, sind deshalb auch Israel, noch sind sie alle
Kinder, weil sie Abrahams Samen sind. In Isaak allein
hat der Same seine Kindes-Stellung vor Gott. Die
Kinder nach dem Fleische sind dadurch nicht auch Kinder
Gottes, sondern allein die Kinder nach der Verheißung
werden als Samen gerechnet. Ismael gehörte nicht zu
diesem Samen Gottes; denn das Wort: „Nach dieser
Zeit Will ich kommen, und Sarah wird einen Sohn haben/'
ist ein Verheißungswort und bezog sich nicht aus Ismael.
Wollte man einwenden: „Aber Hagar war ja auch unreine
Sklavin, ein Kebsweib," so war dies doch bei Rebekka
nicht der Fall, und zu ihr wurde gesagt in bezug cutt
die Kinder, die von ihr, von ein und derselben Frau, in
ein und derselben Geburt geboren werden sollten, und
zwar bevor dieselben geboren waren und weder Gutes
noch Böses gethan hatten (auf daß der Vorsatz Gottes
nach der Gnadenwahl feststnudet: „Der Größere wird
dem Kleineren dienen;" wie geschrieben steht: „den Jakob
habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehaßt." Wenn
also die Juden nicht die Unumschränktheit Gottes anerkennen,
sondern auf ihrer Abstammung von Abraham nach
dem Fleische bestehen wollten, so mußten sie auch die
Edomiter und Jsrnaeliter zulassen, um Anteil an den Verheißungen
zu haben; davon aber wollten sie nichts wissen.
Doch, so wichtig dies auch sein mag, so ist es doch
nicht alles, was der Apostel als Beweis seiner Auseinandersetzung
anzuführen hat. Er fragt: „Ist denn
— 1l>2 —
Ungerechtigkeit bei Gott? — das sei ferne!" Nach
Seinem göttlichen Recht kann Er ohne Zweifel Barmherzigkeit
erweisen, wem Er will, wie Er auch zu Mose
sagt: Ich werde Barmherzigkeit ausüben, au wem ich
will. Es liegt also nicht an dem, der da will, noch an
dem, der da läuft, sondern an Gott, der Barmherzigkeit
erweist. Und bei welcher Gelegenheit hat Gott zu Mose
jenes Wort gesagt? Als Israel das goldene Kalb gemacht
hatte — zu einer Zeit, wo Gott, wenn Er sich nicht in
Seine eigne Unumschränktheit, in welcher Er frei war,
Gnade zu erweisen, zurückgezogen hätte, das ganze Volk,
ausgenommen Mose und Josua, hätte vernichten müssen,
so daß dann, dem fleischlichen jüdischen Grundsatz nach,
die JSmaeliter und Edomiter Erben der Verheißungen
hätten werden müssen, während Israel ausgeschlossen
gewesen wäre. Demselben Grundsatz begegnen wir bei
der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Aegypten.
Gott hatte das Herz Pharao's nicht schlecht gemacht
— das war eS schon — sondern verhärtet, damit Er
Seine Diacht und Seinen Namen verherrliche auf der
ganzen Erde. Er erweist also Barmherzigkeit, wem Er
will, und Er verhärtet, wen Er will. Seine Wege mit
Israel selbst waren ein klarer, unwiderleglicher Beweis
davon; denn anders würden ihre Feinde Erben der Verheißungen
geworden, sie selbst aber ausgeschlossen und der
glorreiche Anfang ihrer Geschichte verfälscht worden sein.
Weiterhin betrachtet der Apostel die Lehre, die mit
dieser Auseinandersetzung in Verbindung steht, und wendet
das Ganze an auf die Wege Gottes mit Israel und mit
den Heiden jener Zeit, indem er den Einwürfen des
Fleisches: wo bleibt da die Verantwortlichkeit des Menschen?
103
warum rechnet denn Gott dem Menschen die Sünde noch
zu? wer hat Seinem Willen widerstanden? entgegentritt.
Der Apostel beantwortet diese Fragen in dreifacher Weise.
Zunächst haben wir, als Geschöpfe Gottes, nicht das
Recht, Sein Thun zu beurteilen; das, was gemacht ist,
kann nicht zu dem, der es gemacht hat, sagen: warum
hast du mich also gemacht? Dieses absolute Recht Gottes
bildet die Grundlage der Auseinandersetzungen des Apostels.
Wenn die Rechte der Geschöpfe aufrecht erhalten werden
müssen, wie viel mehr muß dann der allmächtige
Gott die Deinigen haben! Er richtet die Menschen, aber
die Menschen sind nicht fähig, Ihn zu richten. Hierauf
geht der Apostel zu den Thatsachen über und zeigt, wie
Gott die Bösen, um Seine von ihnen verachtete Macht
zu bestätigen, mit vieler Langmut getragen hat und Seinen
Zorn wider die halsstarrige Bosheit in ihnen offenbart;
wie Er dagegen den Reichtum Seiner Herrlichkeit an den
Gefäßen der Begnadigung kund thut, die Er zur Herrlichkeit
zuvorbereitet hat. Gott unterwirft sich nicht
dem Gutachten der Menschen. Die Ordnung Seiner
geoffenbarten Wege aber ist, daß Er die Bösen, für
welche das Gericht passend ist, trägt und die Gefäße der
Barmherzigkeit, d. h. die Christen aus den Juden und an?
den Heiden, für die Herrlichkeit zuvarbereitet.
Die Kraft und Tragweite der Auseinandersetzungen
des Apostels ist also diese: Wenn Gott nicht ganz frei
nach Seiner Gnadenwahl und nach Seinem bestimmten
Vorsatz handeln sollte, und die Juden sich stützen wollten
auf ihre natürliche Abstammung (wie sie dies wirklich
thaten), so mutzten sie auch die Jsmaeliter zulasfen; verweigerten
sie aber deren Zulassung unter dem Vorwande,
104
daß Ismael der Sohn einer Sklavin gewesen sei, so
konnten sie die Edomiter doch unter keinem Vorwand
zurückweisen. Aber nicht allein das; die Juden hätten,
mit alleiniger Ausnahme der Familie von Mose und
oielleichr derjenigen von Josua, selbst ausgeschlossen werden
müssen, weil sie nur durch den Willen Gottes am Sinai
verschont geblieben waren. Weil Gott aber thut, was
Gr will, so errettet Er auch Seelen aus der Mitte der
Heiden, wie in Hosea geschrieben steht. Der Apostel sagt
in Vers 24: „uns, die Er auch berufen hat, nicht allein
aus den Juden, sondern auch aus den Nationen." Demnach
findet der 2l>. Vers seine Anwendung auf das Volk
Israel, der 26. aber auf die Heiden, die nicht Sein
Volk genannt sind, sondern „Söhne des lebendigen
Gottes." Petrus, der an die Juden schreibt, führt blos
die erste Stelle an. Zum Beweis dafür, daß die Beteiligung
Israels von Gott vorhergesehen und geweissagt
war, führt Paulus noch eine Stelle aus dem Propheten
Jesaia au. Nur ein Ueberrest sollte verschont werden;
wäre dies nicht der Fall gewesen, so wären sie „wie
Sodom geworden und Gomorra gleich gemacht worden."
Tie Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachgestrebt,
halten also die Gerechtigkeit erlangt, die Gerechtigkeit aber,
die aus Glauben ist; während Israel, dem Gesetz der
Gerechtigkeit nachstrebend, das Ziel verfehlte. Und warum?
Weil sie die Gerechtigkeit vermittelst des Gesetzes suchten
und nicht durch den Glauben. Denn sie haben sich gestoßen
an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht:
„Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und
einen Fels des Aergernisses, und ein jeglicher, der an
Ihn glanbt, wird nicht beschämt werden."
105
Kapitel 10.
Auf diesen Gegenstand, den Unterschied zwischen der
gesetzlichen Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit aus Glauben,
der Gerechtigkeit Gottes, geht der Apostel dann noch
näher ein. Derselbe ist von der höchsten Wichtigkeit.
Gesetzliche Gerechtigkeit ist menschliche Gerechtigkeit.
Zwar giebt es keine solche, aber das Gewissen fühlt, daß
der Mensch Gerechtigkeit haben muß, und es hat Recht.
Wenn man Vertrauen zu sich selbst hat, so maßt man
sich an, diese Gerechtigkeit vollbringen und sie Gott zur
Annahme darbieten zu können. Daß der Mensch verantwortlich
ist, ist völlig wahr; aber er hat die Erfüllung
seiner Verantwortlichkeit nicht allein nie durchgeführt,
sondern er hat nicht einmal den Anfang damit gemacht,
weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht Unterthan ist
und es nicht sein kann. Der fleischliche Mensch ist gegen
Gott. Die Gerechtigkeit Gottes ist in Gott selbst, in
Seinem Wesen; sie wird nach der Gnade gegen die
Menschen ausgeübt und ihnen durch Christum zugerechnet.
Die eigene Gerechtigkeit ist nichts als Hochmut und Mangel
an Gewissen; sie findet sich nur da, wo das Herz nicht
durch das Licht Gottes erleuchtet ist. Denn das Licht
Gottes läßt uns klar erkennen, daß wir Sünder sind,
und bringt uns dieses vor Gott zum Bewußtsein. In
diesem Lichte kann uns auch das Gesetz, vom Heiligen
Geiste angewandt, von der Sünde überzeugen, aber es
kann keine Gerechtigkeit für uns bewirken; denn der
Dienst des Gesetzes ist der Dienst deS Todes und der
Verdammnis. (2. Kor. 3.)
Die Gerechtigkeit Gottes ist in dem Evangelium
geoffenbart, (Röm. 1, 17.) und wir sind diese Gerechtig-
106
leit in Christo geworden. (2. Kor. 5, 21.) Untersuchen
wir, auf welche Weise dies geschehen ist. Auf dem
Kreuze ist Christus für uns zur Sünde gemacht worden
und hat dort alle Sünden des Gläubigen getragen. In
dieser Stellung hat Er Golt vollkommen verherrlicht:
Seine Majestät, Seine Wahrheit, Seine Gerechtigkeit
wider die Sünde, Seine Liebe zu den Sündern, ja alles,
was Er ist, und zwar dadurch, daß Er Seinen Gehorsam
bis zum Tode und Seine Liebe gegen Seinen Vater in
völliger Selbstaufopferung erwiesen hat. Der Beweis
der Gerechtigkeit Gottes, und zwar in betreff dessen, was
Er selbst, was die Sünde und was das Verhältnis der
Sünde zu Ihm ist, ist nun darin gegeben, daß Gott
Christum, der Ihn in allem, was Er ist, in dieser
Stellung der Sünde vollkommen verherrlicht hat — da,
wo alles dieses durch die Sünde des Menschen veruuehrt
worden war — verherrlicht und den gestorbenen Menschen,
Seinen eigenen Sohn, zu Seiner Rechten gesetzt und mit
göttlicher Herrlichkeit gekrönt hat. So sagt der Herr im
Blick auf Seinen Tod, nachdem Judas hinausgegangen
war: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und
Gott ist verherrlicht in Ihm. Wenn Gott verherrlicht ist
in Ihm, so wird auch Gott Ihn verherrlichen in sich
selbst, und alsbald wird Er Ihn verherrlichen." (Joln 13,
31. 32.) Der Menschensohn hat Gott auf dem Kreuze
verherrlicht, und Gott hat Ihn bei sich selbst verherrlicht;
ein Mensch ist in die Herrlichkeit Gottes hinausgestiegen.
(Siehe Joh. 17, 4. 5 und Phil. 2, 5—11.) Darin ist
die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, daß Er dem Christus,
der Ihn verherrlicht hat, einen Platz bei sich selbst in
göttlicher Herrlichkeit gegeben hat. In Joh. 16, 10 wird
107
Lies bestimmt erklärt: Das Herniederkommen und die
Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde ist der
Beweis der Gerechtigkeit, während in der Welt keine vorhanden
war, da sie nicht an den Sohn glaubte, sondern
Ihn verworfen hatte. Ebenso ist die Gegenwart des
Heilands im Himmel, zur Rechten Gottes, der Beweis
der Gerechtigkeit Gottes: dieselbe Person, die von der
Welt verworfen wurde, ist von Gott ausgenommen worden
und ist jetzt, als in Gnade gekommen, für immer von
der Welt getrennt.
Jetzt aber erhebt sich die Frage: Wie können wir
hieran teil haben? Nun, weil das Werk, welches Ihn in
die Herrlichkeit gebracht hat, für uns vollbracht worden
ist. Er hat Gott dadurch verherrlicht. Würden wir,
die wir an Ihn glauben, nicht gerechtfertigt sein und
Ihm gleich gemacht werden, so würde Er „die Frucht der
Mühsal Seiner Seele" nicht sehen. Es macht einen Teil
der Gerechtigkeit Gottes aus, Ihm diese Frucht zu geben.
Persönlich ist Er allerdings verherrlicht; aber ein Erlöser
ohne Erlöste würde den Lohn Seines Werkes und Seiner
Leiden verloren haben. Wir bilden einen Teil der Verherrlichung
Christi, und es ist eine tiefe Quelle der
Freude für unsre Seelen, daß wir durch unser Gleichsein
mit Ihm in Ewigkeit den Beweis von dem Werte des
Werkes Christi bilden werden: Gott erweiset nur Seine
Gerechtigkeit gegen Christum, wenn Er uns dieselbe Herrlichkeit
mit Ihm giebt. Wie sicher ist unsre Hoffnung!
Wir werden in Ihm die Gerechtigkeit Gottes in Ewigkeit sein.
Die Juden wollten ihre eigene Gerechtigkeit nach
dem Gesetz haben, eine menschliche Gerechtigkeit, wenn
eine solche überhaupt vorhanden gewesen wäre, was aber
108
nicht der Fall war; deshalb stießen sie sich an Christo,
dem Steine des Anstoßes, weil Er zu diesem Zweck erniedrigt
werden sollte. Sein Tod war nötig, um uns
zu erlösen und die Gerechtigkeit, ja die Herrlichkeit, nach dem
Ratschluß Gottes für uns zu erwerben. So war also Christus
des Gesetzes Ende, jeglichem Glaubenden zur Gerechtigkeit.
Unmöglich konnte das Gesetz noch länger als Regel
und Maßstab der Gerechtigkeit für den Menschen festgehalten
werden, nachdem die göttliche Gerechtigkeit in
Christo geoffenbart und den Glaubenden geschenkt war.
Die Gerechtigkeit nach dem Gesetz war eine menschliche und
dazu gar nicht vorhandene; die dem Glaubenden nach der
Gnade zugerechnete Gerechtigkeit war eine göttliche und vollbrachte.
Das Gesetz hat für die, welche unter dem Gesetz waren,
seine Gültigkeit nicht verloren, denn die, welche unter dem
Gesetz gesündigt haben, werden nach dem Gesetz gerichtet
werden. Aber wir sind mit Christo und in Ihm gestorben,
und das Gesetz herrscht nur über einen Menschen,
so lange er lebt. Jeder, der die menschliche Gerechtigkeit
haben will, muß sie für sich selbst erfüllen; denn, wer
die Forderungen des Gesetzes thut, wird dadurch leben.
Der Apostel führt dann eine Stelle aus dem fünften
Buche Mose (Kap. 30, 12 — 14.) an, worüber ich einige
Worte sagen möchte. In diesem Buche hatte Mose die
Gebote Gottes verkündigt, au deren Beobachtung der
Besitz des Landes geknüpft war, in welches Israel eingeführt
werden sollte. Er hatte die Segnungen als Folge
des Gehorsams und den Fluch als Folge des Ungehorsams
vorgestellt. Dann wird in dem angeführten 30. Kapitel
vorausgesetzt, daß Israel in Folge seines Ungehorsams
das Land verlieren würde, und es wird eine Verheißung
109
gegeben in betreff dessen, was die Barmherzigkeit des Herrn
thun würde, nachdem das in Gefangenschaft schmachtende
Volk durch die Gnade zur Buße geleitet sein wird. Da
sich diese Verheißung in Christo erfüllen wird, so Wender
der Apostel die Verse 12—14 im 30. Kapitel auf Christum
an. Die Erfüllung des Gesetzes ist für Israel in einem
fremden Lande nicht möglich; wenn aber das Volk mir
feinem Herzen zu Jehova und zum Gehorsam zurückgekehrt
sein wird, dann wird Gott es segnen, obgleich das
Gesetz nicht bewahrt werden konnte. Da also das Thun
des Gesetzes unmöglich war, so wird diese Segnung statt-
finden auf Grund einer Gerechtigkeit nach dem Glauben,
wie Paulus dies im 6. Verse andeutet. Christus wird
hier daher, weil Er selbst für einen Juden der Gegenstand
der Hoffnung war, als der Wiederhersteller des
Volkes eingeführt. Der Apostel sagt: Es ist nicht nötig,
weit zu geben, biuuus- oder Hinabzusteige», nm Christum
zu finden. Wenn das Wort, welches Christum nach der
Kraft des Heiligen Geistes als auferweckt aus den Toten
offenbart, im Herzen ist, wenn man sich mit aufrichtigem
Herzen zu Ihm bekennt, so wird man errettet. Denn
mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit
dem Munde, das heißt öffentlich, legt man Bekenntnis ab
zur Errettung. Und dies gilt ebensowohl für die Heiden,
als auch für die Juden; denn „ein jeglicher, der an Ihn
glaubt, (wer es auch sei) wird nicht beschämt werden?'
Da ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche; denn
derselbe Herr, der Herr über alle, ist reich an Gnade
gegen alle, die Ihn anrufen. Wie schön ist dieser Vers,
wenn man ihn mit Kap. 3, 22. 23 vergleicht! Dort ist
kein Unterschied, denn alle haben gesündigt — hier ist
110
kein Unterschied, denn derselbe Herr über alle ist reich an
Gnade gegen alle, die Ihn anrufen. „Denn ein jeglicher,
(wer es auch sei) der den Namen des Herrn anrufen wird,
wird errettet werden." (Vers 13.) Um Ihn aber anrufen
zu können, muß man an Ihn glauben, und um an Ihn
glauben zu können, muß man von Ihm gehört haben, um
aber von Ihm zu hören, muß Er verkündigt werden, und
dazu muß ein Predigerda sein. Wie geschrieben steht: „Wie
lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium des Friedens,
das Evangelium des Guten —d.h. göttlicher Segnungen —
verkündigen!" Aber nicht alle haben dem Evangelium gehorcht,
wie JesaiaS sagt: Herr, wer hat unsrer Verkündigung geglaubt?
So wird also der Glaube durch eine Verkündigung
bewirkt, die Verkündigung aber ist durch das Wort Gottes.
Der Apostel weist dann auf das Verhältnis der
Juden und Heiden, dieser Verkündigung gegenüber, hin.
Von den Juden sagt Jesaias: Wer hat geglaubt, was
wir verkündigt haben? Es war aber der Vorsatz Gottes,
daß das Zeugnis bis an das Ende der Erde erschallen
und von den Heiden gehört werden sollte. Denn Mose
erklärt, daß Gott Israel durch ein Nicht-Volk und durch
eine unwissende Nation erbittern und zum Neid reizen
würde. — — — — — — —
Hiermit schließen die Betrachtungen über den Römerbrief
ab. Leider war es, wie schon früher mitgeteilt,
dem Schreiber derselben, I. N. Darby, nicht vergönnt,
seine wertvolle Arbeit zu Ende zu führen. Sein körperlicher
Zustand war in den letzten Wochen und Monaten
seines Hierseins ein so leidender, daß ihm die Fortsetzung
des Werkes unmöglich wurde.
111
„Ich warte auf Christum."
„Ich warte auf Christum," so sagt heute so mancher
Christ. Aber ach! wie sehr ist zu befürchten, daß dieses
Warten bei vielen keine lebendige Wirklichkeit, kein herzerhebender
Gedanke mehr ist! Wartest du wirklich
aus Christum, mein lieber Leser? Wenn ich auf der Reise
bin zur Heimat und mein Herz sehnt sich nach dem Anblick
der Meinen, so bekümmert es mich wenig, ob ich
unterwegs hie und da eine unbequeme Herberge finde.
Vielleicht wünsche ich, daß sie besser sein möchte; aber
ich bin nicht unglücklich darüber, weil ich weiß, daß ich
nur wenige Tage bleiben und bald das ersehnte Ziel
erreichen werde, wo die Liebe der Meinen mich alles
erlittene Ungemach vergessen läßt.
Gehst du so durch diese Welt? Wartest du jeden
Tag auf die Erscheinung unsers Herrn und Heilandes
Jesu Christi, des Sohnes Gottes vom Himmel, der uns
dorthin führen wird, wo ein unverwesliches, unbeflecktes
und unverwelkliches Erbteil unser wartet, wo die Liebe
eines Vaterherzens uns empfängt und der Herr uns für
immer und ewig bei sich selbst haben wird? Nichts ist
von größerer praktischer Wichtigkeit für unser Tagewerk
und unsern Dienst hienieden, als ein stetes Warten auf
den Sohn Gottes vom Himmel, ein unverrücktes Ausschauen
nach dem Hellen, glänzenden Morgenstern. Ist
dies in Wirklichkeit bei uns vorhanden, so drückt es
unserm ganzen Thun und Lassen, unserm Denken und
Fühlen seinen Stempel auf und giebt unserm Leben einen
ganz besondern Charakter. Dasselbe wird dann zn einem
112
Gegenstände, den Gott benutzt „zu Lob und Herrlichkeit
und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi."
Doch fragen wir uns aufrichtig: Welch eine Wirkung
würde die Ankunft Christi auf unsere Seelen ausüben?
Würde sie uns bereit finden, um mit jubelndem
Herzen aus einer Welt voll mannigfacher Versuchungen
zu Ihm zu gehen, der uns zuerst geliebt und uns so
teuer erkauft hat? Oder würde sie uns überraschen?
Würde sie uns beschäftigt und verwickelt finden in allerlei
Dinge, die wir dahinten lassen müßten? Was sind die
Gefühle unsers Herzens, wenn van der Ankunft des Herrn
Jesu die Rede ist? Wallt es über von Freude und Sehnsucht
nach Ihm? Oder bleibt es kalt und unberührt?
Jung oder alt — würde die Ankunft des Herrn uns in
Verbindung finden mit Dingen, die wir über Bord zu
werfen hätten? oder mit diesem Gefühl: Er, auf den ich
so lange gewartet habe, kommt jetzt, um mich zu sich zu
nehmen; alle Versuchungen, alle Herzensübungen haben
jetzt ein Ende? Hierin liegt die Ursache des großen Unterschiedes
zwischen den Christen. Ist die Erfüllung des
Willens des Herrn der Zweck meines Lebens, das, was
mein ganzes Thun und Lassen regiert, so werde ich hie-
nieden die für mich notwendigen Uebungen und Prüfungen
erfahren, aber Seine Ankunft wird dann auch für meine
Seele nichts anders sein, als die Erfüllung ihres sehnlichsten
Wunsches. Er kommt, um mich zu sich zu
nehmen. Nichts ist dann köstlicher für mich, als dieser
Gedanke.
„Ich liebe."
(Pst 116.)
„Ich liebe." Mit diesem kurzen, aber inhaltsreichen
Satze beginnt einer jener Psalmen, welche die Gefühle
des treuen gläubigen Ueberrestes Israels nach seiner Befreiung
aus der Macht seiner Feinde und aus dem Ofen
der Trübsale zum Ausdruck bringen. Der ganze Psalm
redet von der Gnade und Treue Jehova's im Erretten.
Der Gläubige, der in den Drangsalen gewesen ist und
da die Hülfe des Herrn auf sein Schreien erfahren hat,
erfreut sich darin, aufzuzählen, was Jehova an ihm gethan
hat, und voll Lob und Dank anzuerkennen, was Er
ist. Doch sehr bemerkenswert und überaus köstlich ist
die Art und Weise, wie der Gläubige beginnt. Sein
Herz treibt ihn, der Liebe und den Zuneigungen Ausdruck
zu geben, welche ihn erfüllen. Er nennt den Gegenstand
seiner Liebe nicht, ebenso wenig wie Maria am Grabe,
wenn sie dem Herrn antwortet: „Herr, wenn du Ihn
weggetragen, so sage mir, wo du Ihn hingelegt hast, und
ich werde Ihn wegholen." (Joh. 20, 15.) Es ist ganz
selbstverständlich, wer der Gegenstand dieser Liebe ist.
Wer könnte es anders sein, als der „Ausgezeichnete vor
Zehntausenden," an welchem „alles sehr köstlich" ist?
Welch ein glückseliger Augenblick ist es, wenn zum
ersten Male die wahre, göttliche Liebe ins Herz einzieht,
wenn der Glaube an Jesum, den Heiland des Sünders,
114
diese erste, lieblich duftende Blüte treibt! Seine Person
und Sein Werk füllen die Seele ganz und gar aus und
lassen keinen Raum mehr für andere Dinge. Liebe charak-
terisirt den aus Gott Geborenen. Wo keine Liebe ist,
da ist auch kein Leben aus Gott. In einem natürlichen
Menschen kann es wohl natürliche Liebe geben, aber
wahre Liebe, Liebe zu Gott, Liebe zu den Brüdern, ja
Liebe zu dem, was in sich selbst vielleicht gar nicht liebenswürdig
ist, kennt er nicht. „Denn die Liebe ist aus
Gott; und ein jeglicher, der liebt, ist aus Gott geboren
und kennet Gott." (1. Joh. 4, 7.) Wie kann der
natürliche Mensch einen Gott lieben, den er nicht kennt?
Erst wenn er erfahren hat, wer Gott ist, wenn er durch
den Glauben einen Blick gethan hat in die unergründlichen
Tiefen Seiner Liebe und Gnade, mit einem Wort,
wenn er aus Gott geboren ist — erst dann liebt er „Den,
der geboren hat," und „den, der aus Ihm geboren ist."
Seine ganze Natur ist verändert; was er früher haßte,
liebt er jetzt; die Gegenwart Gottes, die er früher fürchtete
und mied, ist jetzt sein liebster Aufenthaltsort geworden;
diejenigen, welche er einst verspottete und deren
Gesellschaft er floh, sucht er jetzt auf, freut sich mit ihnen
und trauert mit ihnen. Kurz, „er liebt." Er hat Liebe
erfahren und wünscht Liebe zu üben.
Nichts köstlicheres giebt es für Gott, als wahre
Liebe — das, was Sein eigenes Wesen ausmacht — in
denen thätig zu sehen, die Er für sich erkauft hat durch
das Blut Seines Eingeborenen. Er ist Liebe, und je
mehr wir Liebe offenbaren, desto mehr kommt Sein Bild,
Seine Natur in uns zum Vorschein. Nichts hat solchen
Wert in den Augen Gottes, wie die Liebe. Glaube,
115
Hoffnung, Ausharren, Fleiß, Erkenntnis in den Wegen
Gottes, Tugend, Gottseligkeit — so schön und begehrenswert
diese Dinge an und für sich sind, so reichen sie doch
nicht zu der Liebe hinan. Sie ist das Höchste und
Größeste; Glaube und Hoffnung hören aus, die Liebe
aber bleibt ewig. Darum ist auch da, wo die Liebe
nicht mehr in ihrer ersten Frische vorhanden ist, das Köstlichste
für das Herz des Herrn — das, was allem andern
erst seine Weihe giebt und einen duftenden Wohlgeruch
verleiht — verschwunden. „Ich kenne deine Werke und
deine Arbeit und dein Ausharren, und daß du die Bösen
nicht ertragen kannst .... aber ich habe wider dich,
daß du deine erste Liebe verlassen hast," so
klagt der Herr in dem Sendschreiben an die Versammlung
zu Ephesus. Mit welcher Macht redet dieses zu
unsern Herzen gerade in der jetzigen Zeit, wo inmitten
vieler Arbeit und ausgedehnter Thätigkeit oft so wenig
wahre Liebe und infolge dessen so wenig Duldsamkeit und
Tragsamkeit und so wenig Eifer für die Ehre des Herrn
gefunden wird! Was war es, das Petrus befähigte,
nachdem er wiederhergestellt war, die Herde Christi zu
weiden? Seine Liebe zu Christo. Darin war die Liebe
zu den Schafen eingeschlossen. Er besaß das, was ihn
allein befähigen konnte, seinen Auftrag Gott wohlgefällig
auszuführen.
Welch ein inniges Verbundensein mit Jehova und
welch ein Verständnis Seiner Gedanken verrät es daher,
wenn der Psalmist zuerst seiner Liebe Ausdruck giebt!
Und warum liebt er? Weil er in den Tagen der größten
Drangsal und der tiefsten Not die Hülfe des Herrn erfahren
hat. Der Herr hat sein Schreien gehört und
116
Sein Ohr nicht vor der Stimme seines Flehens verschlossen.
Das Gebot, Jehova zu lieben, erweckt, so ost
es auch wiederholt werden mag, keine Liebe zu Ihm in
der Seele; aber die Offenbarung Seiner Gnade und
Liebe erweckt Gegenliebe und ruft Zuneigungen hervor,
die nie vorher gekannt wurden. Als ihn die Wehen des
Todes umfingen und die Bedrängnisse Scheols fanden,
da rief er an den Namen Jehova's: „O Jehova, errette
meine Seele!" (V. 4.) Und was war die Folge? Er
kann jetzt sagen: „Gnädig ist Jehova und gerecht, und
unser Gott ist barmherzig." (V. 5.) Die Barmherzigkeit
Jehova's sah ihn in seinem Elend, und nach Seiner
Gnade und Gerechtigkeit hat Er ihn errettet. Deshalb
will er Ihn „anrufen in allen seinen Tagen." Er hat
den Wert, die Macht und die Güte Gottes kennen gelernt,
er hat erfahren, welch eine mächtige Stütze der
Herr in der größten Drangsal ist und wie Er zu erretten
vermag. Deshalb will er Ihn anrufen, so lange er lebt.
Und erfährt nicht der Sünder genau dasselbe, wenn
er zu einem Bewußtsein seines Zustandes vor Gott erwacht?
Was sieht er? Ein Leben voll Sünde und Ungerechtigkeit,
einen Pfad, bedeckt mit unzähligen Ueber-
tretungen der Gebote Gottes, und dem gegenüber einen
heiligen und gerechten Gott, einen Gott, der zu rein von
Augen ist, um das Böse zu sehen, der Licht ist und gar
keine Finsternis in Ihm, der keinen Flecken von Sünde
in Seiner reinen und heiligen Gegenwart dulden kann.
Angst und Schrecken erfüllen seine Seele, Tod und Gericht
stehen drohend vor ihm, und aus tiefster Not schreit
er zu Gott: „O Gott, erbarme Dich meiner! O Gott,
errette meine Seele!" Und dann erfährt er, daß Gott
117
nicht nur Licht, sondern auch Liebe ist, daß Er nicht will
den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und
lebe, ja daß Freude ist im Himmel, Freude vor den
Engeln Gottes, Freude in dem Herzen Gottes selbst, wenn
ein Sünder, ein armes, elendes, verdammungswürdiges
Geschöpf, Buße thut. Welch eine Entdeckung! Ueberwältigt
von einer solchen Liebe sinkt er nieder und betet an. Die
Barmherzigkeit Gottes sah ihn in seinem traurigen,
verderbten Zustande, die Liebe bereitete einen Weg, auf
dem er errettet werden konnte, und ging ihm nach auf
seinen eigenen bösen Pfaden, die Gnade vergab alle
seine Vergehungen, und die Gerechtigkeit rechtfertigte
ihn. „Gott aber, weil Er reich ist an Barmherzigkeit,
wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt,
als wir in den Vergehungen tot waren, hat uns
mit dem Christus lebendig gemacht, (durch Gnade seid
ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen
in den himmlischen Oertern in Christo Jesu, auf daß Er
erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen
Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in
Christo Jesu." (Eph. 2, 4—7.) Der begnadigte, errettete
Sünder ist so vollkommen sicher gestellt, die Gerechtigkeit
Gottes so völlig befriedigt, ja alles, was in Gott ist, so
vollkommen verherrlicht, daß er sich nicht nur der Gnade
und Barmherzigkeit, sondern auch der Gerechtigkeit Gottes
rühmen kann. Kraft des auf Golgatha geflossenen Blutes
Jesu ist Gott gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der
des Glaubens an Jesum ist. (Vergl. Röm. 3, 21 — 26.)
Eine unbeschreibliche, erquickende Ruhe erfüllt das
Herz, sobald es diese Wahrheiten erkennt und von der
schweren Last, die es bedrückte, befreit worden ist. Doch
118
nur der „Einfältige" lernt diese Ruhe kennen, nur der,
welcher sich rückhaltlos dem Zeugnis Gottes über seinen
Zustand unterwirft und mit kindlicher Einfalt annimmt,
was Gott ihm in Seiner Gnade darbietet. „Wenn ihr
nicht werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in
das Reich der Himmel eingehen." (Matth. 18, 3.) Der
auf seine Vernunft und die Kräfte seines Geistes vertrauende
und seinem eigenen Willen folgende Mensch kommt
nicht zu Jesu und lernt deshalb nie die Ruhe kennen,
die der Herr dem mühseligen, beladenen Menschenherzen
umsonst anbietet und umsonst giebt. Ruhelos denkt und
sinnt, forscht und grübelt er; nie aber findet er wahre
Befriedigung, nie kann er sagen: Jetzt bin ich völlig
zufrieden, völlig glücklich. Eine Enttäuschung folgt
der anderen. In dieser Welt giebt es keine Ruhe,
giebt es nichts, was das Herz in Wirklichkeit befriedigen
könnte. Nur in Jesu und in dem Glauben an Ihn ist
Ruhe und in Seiner Erkenntnis wahre Befriedigung zu
finden.
Und so wie nur der Einfältige zu Jesu kommt, so
ist es auch der Einfältige, der von Jehova auf dem
rechten Wege und inmitten der Gefahren und Schwierigkeiten
bewahrt wird. Denn der Einfältige, der in seinen
Augen nichts ist und wohl weiß, daß es ihm an Kraft
und Weisheit mangelt, blickt zu Gott empor und läßt sich
von Ihm leiten. Wie schön ist eine solche Gesinnung,
aber ach! wie wenig wird sie bei uns gefunden, wie schwer
wird es uns oft, an ihr fest zu halten! Der Einfältige
vertraut nicht auf seinen eigenen Verstand , sondern ist
demütig, und Jehova bewahrt ihn. Gott ist treu, Er
kann sich selber nicht verleugnen. Er ist gnädig, barm
119
herzig und gerecht. Welch eine Zuflucht, in Gotl selbst
Schutz und Sicherheit zu finden! Diese Erfahrung hat
auch der Ueberrest gemacht; er war erniedrigt, aber der
Herr hat ihn errettet, denn „Jehova bewahrt die Einfältigen."
(V. 6.) Während er in der Bedrängnis, dem
Tode nahe war, setzte er sein Vertrauen auf Jehova,
und er wurde nicht zu Schanden. Jehova hat wohlgethan
an ihm, und er kann zu seiner Seele sagen: „Kehre
wieder, meine Seele, zu deiner Ruhe!" (V. 7.) O, wie
wird das kleine, schwergeprüfte Häuflein des treuen Ue-
berrestes die köstliche Ruhe des tausendjährigen Reiches
genießen! Es wird wandeln vor Jehova im Lande der
Lebendigen. (V. 9.) Derselbe Herr, den sie einst verworfen
haben, und der lange Zeit hindurch Sein Angesicht
vor ihnen verbarg, um sie zu prüfen und zu läutern,
um ihre „Schlacken aufs lauterste zu fegen und wcgzu-
nehmen all ihr Zinn," (Jes. 1, 25.) wird von neuem
Sein Antlitz freundlich über ihnen leuchten lassen. Er
wird ihnen „Ruhe geben von ihrer Mühsal und von
ihrer Unruhe und dem harten Dienst, darin man sie hat
dienen lassen;" „sie werden auf deu Wegen weiden, und
auf allen Höhen wird ihre Weide sein. Sie werden nicht
hungern und nicht dürsten, und die Hitze und die Sonne
wird sie nicht stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen
und wird sie leiten an die Wasserquellen." (Jes. 14, 3;
49, 9. 10.) Ja, wie herrlich wird diese Ruhe für sie
sein, nach all den dunklen, schweren Tagen, wie selig und
erquickend nach all ihrer Plage und Mühsal!
Und wie lieblich tönt dieses Wörtchen „Ruhe" auch
in unsre Ohren! Es ist wahr, wir sind, was unsre
Seelen betrifft, zur Ruhe gebracht. Wir können mit dem
120
Psalmisten sagen: „Du hast meine Seele errettet vom
Tode, meine Augen von Thränen, meinen Fuß vom
Straucheln." (V. 8.) Der Tod ist nicht mehr ein Schrecken
für uns, er ist „unser," und der zweite Tod hat keine
Gewalt mehr über uns; wir haben nicht länger Ursache,
zu trauern und zu klagen, sondern uns „allezeit zu
freuen in dem Herrn," und wir sind von der Macht
Satans und der Herrschaft der Sünde befreit, so daß
wir wandeln können zur Ehre des Herrn und durch Seine
Macht davor bewahrt werden, zu straucheln. Aber dennoch
befinden wir uns, so lange wir hienieden pilgern, in der
Wüste, sind den Schwierigkeiten und Gefahren des Weges
und den Versuchungen dieser Welt ausgesetzt und haben
allezeit zu wachen und zu kämpfen. Wir sind noch nicht
in unsre ewige Ruhe eingegangen, sondern werden ermahnt,
allen Fleiß anzuwenden, um in dieselbe einzugehen.
(Hebr. 4, 11.) Aber sie kommt! Bald sind wir
am Ziele unsers Weges angelangt, bald ist der letzte
Kampf gestritten und der letzte Seufzer ausgestoßen. Wir
sind ans dem Wege zu unsrer himmlischen Heimat, zu
unsrer ewigen, seligen Ruhe. „Also bleibt noch eine
Sabbatruhe dem Volke Gottes." O wie herrlich ist dieses!
Wie erhebt es uns über die nichtigen Dinge dieser Welt
und läßt uns alles so eitel, so schal und verwerflich erscheinen
! Ja, geliebte Brüder, wir werden wandeln, nicht
„nur im Lande der Lebendigen," sondern „im Hause
des Vaters" immer und ewiglich, vereinigt mit unserm
geliebten Herrn, mit Ihm alle Seine Herrlichkeit teilend
und allezeit Ihn anbetend und bewundernd. O, möchte
diese glückselige Hoffnung lebendiger in unsern Herzen
sein! Der Herr wolle uns fähiger machen, unsern Blick
121
von allem, was uns hienieden umgiebt, abzuwenden und
nach Oben zu richten, dahin, wo der Christus ist!
Doch kehren wir zu unserm Psalm zurück. „Ich
glaubte, darum redete ich; ich bin sehr gedrückt gewesen.
Ich sprach in meiner Bestürzung: Alle Menschen sind
Lügner!" (V. 10. 11.) Die Seele des frommen Juden
war tief bekümmert in ihrer Not, aber sie vertrante auf
Gott. Der Glaube war in ihr thätig und befähigte sie,
sich über die Umstände zu erheben. Sie suchte nicht so
sehr Trost und Hülfe, als Gott selbst. Dies ist sehr
beachtenswert. Der Herr selbst stand vor ihr. Alle
Menschen erwiesen sich als unzuverlässig, der Herr allein
blieb. Aehnliches erfuhr auch Paulus auf seinem schwierigen,
leidensvollen Pfade. Auch er war zu Zeiten völlig
verlassen, doch der Herr stand ihm bei. Obwohl allenthalben
bedrängt, war er doch nicht verengt, keinen Ausweg
sehend, doch nicht ohne Ausweg, verfolgt, doch nicht
verlassen, niedergeworfen, doch nicht umkommend. Der
Glaube war in ihm thätig, und so konnte er inmitten der
schwierigsten Umstände sagen: „Da wir aber denselben
Geist des Glaubens haben, (nach dem, was geschrieben
steht: „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet;") so
glauben auch wir, darum reden wir auch." (2. Kor. 4,13.)
Mögen die Drangsale noch so groß sein und die Schwierigkeiten
sich noch so hoch auftürmen, der Glaube rechnet
auf Gott und weiß, daß Er nicht verfehlen wird, zur
rechten Zeit einen Ausweg zu schaffen. Darum redet er
frei und offen darüber. In vollkommener Weise erfuhr
der Herr selbst die Unzuverlässigkeit der Menschen, als
Er hienieden war. Obwohl. Er in Seiner Gnade den
Jüngern sagen konnte: „Ihr seid es, die mit mir aus
122
geharrt haben in meinen Versuchungen," so kam doch die
Stunde, wo Er sagen und fühlen mußte: „Ihr werdet
euch alle an mir ärgern in dieser Nacht und mich allein
lassen."
Vielleicht findet der Herr es für gut, auch uns nach
unserm geringen Maße in Umstände zu führen, wo wir
entdecken, daß auf den Menschen kein Verlaß ist, um uns
dahin zu bringen, auf Ihn allein unser Vertrauen zu
setzen und in Ihm allein unsre Zuflucht zu suchen. Und
wenn die Prüfung dies in uns bewirkt, welch ein reicher
Gewinn! Wie sehr sind wir geneigt, uns auf menschliche
Stützen zu lehnen und zu irdischen, menschlichen Hülfs-
guellen unsre Zuflucht zu nehmen! Wie schwach ist unser
Glaube, wie gering unser Vertrauen auf den lebendigen
Gott, der unser Vater geworden ist und gleichsam Seine
Ehre zum Pfande unsrer Bewahrung und Erhaltung eingesetzt
hat! Er wird uns in keiner Not verlassen. „Er,
der doch Seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern
Ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird Er uns mit
Ihm nicht auch alles schenken?" Was könnte uns scheiden
von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,
unserm Herrn? Nichts im Himmel und auf Erden,
keine Macht der Menschen oder der Teufel.
Angesichts der großen Errettung, die der Gläubige
erfahren hat, kommt ersetzt zu der Frage: „Was soll ich
Jehova wiedergeben für alle Seine Wohlthaten an mir?"
(V. 12.) Wahrlich, eine berechtigte, natürliche Frage, die
in jedem Herzen, das die Liebe Gottes kennen gelernt hat
und Seiner Errettung teilhaftig geworden ist, aufsteigen
wird! Doch was kann der Gläubige thun für Den, dem
der Erdkreis und Seine ganze Fülle gehört, der die
123
Himmel gemacht hat und der der Hülfe von feiten Seiner
Geschöpfe nimmer bedarf? Was kann er dem Gott bringen,
für den „der Libanon nicht hinreicht zum Brennen und
sein Getier nicht hinreicht zum Brandopfer," der da sagen
kann: „Silber und Gold ist mein?" Wie kann er dem
Gott des Himmels und der Erde Seine Wohlthaten vergelten?
Was kann er Ihm Wohlgefälliges bringen? Der
Psalmist giebt selbst Antwort auf diese Fragen, die einzige,
die überhaupt gegeben werden kann. Er sagt: „Den
Becher der Errettungen will ich nehmen und anrufen den
Namen Jehova's. Ich will Jehova bezahlen meine Gelübde,
ja in der Gegenwart Seines ganzen Volkes."
(V. 13. 14.) Er kann zu der Herrlichkeit Gottes nichts
hinzufügen, aber er kann das nehmen, was er von Gott
empfangen hat, und es anbetend Ihm darbringen. Er
kann Gott preisen und von Seiner Güte singen. Und
er will dieses thun in Gegenwart des ganzen Volkes.
Alle sollen hören, welch große Dinge der Herr an ihm
gethan hat. Er war gebunden und geknechtet, aber der
Herr hat ihn befreit und seine Bande gelöst. (V. 16.)
Als ein Befreiter und Erretteter kann er Gott jetzt anbeten;
erfleht nicht mehr um Errettung und mach t Jehova Gelübde
— er ist errettet, und als solcher erfüllt er seine
Gelübde und betet an. Welch eine schöne Stellung!
Und diese Stellung gehört heute schon dem Christen.
Er ist errettet, aus der Macht Satans befreit und aus
dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf herausgenommen. Er
ist auferweckt mit Christo und in Ihm versetzt in die
himmlischen Oerter, er ist eine neue Schöpfung, er ist
versöhnt, gerechtfertigt, und alle seine Bande sind gelöst.
Und als solcher ist er fähig gemacht, als ein heiliger
124
Priester vor Gott hinzutreten, „um darzubringen geistliche
Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum."
(1. Petr. 2, 5.) Es ist sein glückseliges Vorrecht, mit
allen Heiligen, inmitten der Versammlung, Dem Ehre und
Anbetung zu bringen, „der uns liebt und uns von unsern
Sünden gewaschen hat in Seinem Blut und uns gemacht
hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und
Vater." (Offbg. 1, 5. 6.) Er hat Freimütigkeit zum
Eintritt in das Heiligtum droben durch das Blut Jesu,
und ist berufen, hinzuzutreten „mit wahrhaftigem Herzen,
in voller Gewißheit des Glaubens, die Herzen besprengt
und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen
mit reinem Wasser." (Hebr. 10, 22.)
Ist es nun eine Anerkennung der großen Dinge, die
Gott an uns gethan hat, oder ist es eine Entehrung
Seines großen und herrlichen Namens, wenn Christen
aus irgend welchem Grunde sich weigern, diese Stellung
anzuerkennen und diesen Platz einzunehmen? Ist es Glaube
oder Unglaube, wenn sie, trotzdem das Wort Gottes so
klar und unzweideutig über diese Dinge redet, sagen:
Diese Stellung ist höchst gefährlich, ich wage nicht, sie
einzunehmen? Es sieht aus wie Demut, aber es ist nichts
als Unglaube und Eigenwille. Der Glaube nimmt Gott
einfach bei Seinem Worte und glaubt dem, was Er sagt,
ohne zu zweifeln und zu überlegen. Er blickt nicht auf
sich, noch mißt er die Gabe, die ihm angeboten wird,
nach seiner Würdigkeit ab, sondern Er blickt auf Gott
und mißt die Gabe an der Größe, Macht und Liebe
Gottes und an der Würdigkeit Jesu Christi, Seines Eingeborenen.
Würde uns Gott nach unserer Würdigkeit
geben, was würden wir empfangen? Darum laßt uns in
125
voller Gewißheit des Glaubens nehmen, was Gott uns
giebt, und je mehr wir von der Köstlichkeit und Unermeß-
lichkeit Seiner Gabe verstehen, um so mehr Ihn preisen.
„Dir will ich opfern Opfer des Dankes und anrufen
den Namen Jehova's. Ich will Jehova bezahlen meine
Gelübde, ja, in der Gegenwart Seines ganzen Volkes, in
den Vorhöfen des Hauses Jehova's, in deiner Mitte,
Jerusalem." (V. 17—19.) Der Tempel, das HauS
Jehova's, mag heute zerstört darniederliegen, aber die Zeit
kommt, wo er in neuer, herrlicher Pracht, nach der Beschreibung
des Propheten Hesekiel, wieder aufgebaut werden
wird. Der Glaube weiß, daß alles, was Jehova gesagt
hat, erfüllt werden wird. „So spricht Jehova der Heerscharen,
sagend: Siehe, ein Mann, Sein Name ist Sproß,
und Er wird aufsprossen aus Seinem Orte und den Tempel
Jehova's bauen. Und Er wird den Tempel Jehova's
bauen, und Er wird Herrlichkeit tragen und wird sitzen
und herrschen auf Seinem Throne." (Sach. 6, 12. 13.)
Der Herr selbst, „der Sproß," wird den Tempel wieder
aufbauen und „Jerusalem Frohlocken und Seinem Volke
Freude" schaffen. (Jes. 65, 19.) „Jehova baut Jerusalem,
die Vertriebenen Israels sammelt Er." (Ps. 147,2.)
Die Stimme des Jubels und des Frohlockens wird wieder
gehört werden in den Straßen Jerusalems und in den
Vorhöfen des wieder erbauten Tempels Jehova's. „Denn
in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet
werden. Die Berge und die Hügel werden vor euch ausbrechen
in Jubel, und alle Bäume des Feldes werden
mit den Händen klatschen." (Jes. 55, 12.) „Das ganze
Land wird sich umwandeln wie die Ebene.... und sie
werden darin wohnen, und es wird kein Bann mehr sein,
126
und Jerusalem wird sicher wohnen." (Sach. 13, 11.)
„Und der Name der Stadt soll von selbigem Tage an
sein: Jehova daselbst." (Hes. 48, 35.)
Wir haben schon gesagt, welch ein Teil des Christen
wartet. So herrlich die Segnungen Israels auch sein
mögen, seine Erwartungen sind noch höher, um so viel
höher, als der Himmel über der Erde ist. Seine Hoffnung
geht ins Vaterhaus hinaus. Da wird er weilen
und wohnen, da wird er ein- und ausgehen mit den zahllosen
Scharen der Erlösten, da wird er das Lamm schauen
nud mit lautem Jubel verkündigen, was es an ihm gethan
hat. In Ewigkeit wird die Versammlung oder die Kirche
Gottes ihren besondern Platz haben. Wenn diese Schöpfung
vergangen nnd ein neuer Himmel und eine neue Erde
geschaffen sein werden, dann kommt sie hernieder aus dem
Himmel von Gott, wie eine für ihren Mann geschmückte
Brant, die Herrlichkeit Gottes habend. Sie ist „die
Hütte Gottes bei den Menschen," und „Gott wird bei
ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und Gott
selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und Er wird jegliche
Thräne abwischen von ihren Augen, und der Tod wird
nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Pein
wird mehr sein: denn das Erste ist vergangen." (Offbg. 21,
3. 4.) Dann ist die Zeit gekommen, wo der Sohn dem
Vater alles übergeben und Gott „alles in allem" sein
wird. Der unveränderliche Zustand ewiger Segnung,
ewiger Ruhe nnd ewiger Glückseligkeit ist dann gekommen.
Alles ist neu gemacht, und Gott ruht mit Wonne in Seiner
neuen Schöpfung, und zwar für ewig.
Der Psalm schließtunit den Worten: „Lobet Jehova!"
Wenn die Freude des Herzens eine gewisse Höhe erreicht
127
hat, so strömt sie über. Das Herz kann sie nicht allein
mehr fassen, es muß andern sein Glück mitteilen und sie
auffordern, sich mit ihm zu freuen und mit ihm zu loben
und anznbeten. Ja, „es ist gut, Psalmen zu singen
von unserm Gott, denn es ist lieblich; es geziemt sich
das Lob."
T, möchten auch wir jeden Tag neue Ursache finden,
unsern Gott zu preisen und anzubeten! Seine Größe ist
unausforschlich, Sein Reichtum unergründlich, Seine
Wege unausspürbar, Seine Liebe unendlich und Seine
Gnade unermeßlich. Möchten auch wir uns gegenseitig
ermuntern, den Namen unsers Gottes zu erhöhen, Ihm
zu dienen und Ihm unser ganzes Leben zu weihen!
Einige Bemerkungen über den Wert
des Abendmahls.
Tas Formenwesen der Christenheit, wovon diejenigen
ausgegangen sind, die sich einfach im Namen Jesu versammeln,
hat in vielen von ihnen manche unklare Vorstellungen
über den Tisch des Herrn zurückgelassen. Es
ist deshalb wichtig, in dem Worte Gottes zu untersuchen,
was der Herr durch die Einsetzung dieses Gedächtnisses
Seiner Person und Seines Todes beabsichtigte. Auf der
anderen Seite sind diese Gläubige, die sich dem Worte
gemäß versammeln und, nach dem Beispiele der Jünger
in TroaS, (Apstgsch. 20.) jeden ersten Wochentag zusammen-
tommen, „um Brot zu brechen," in Gefahr, sich an die
häufige Wiederholung dieses Mahles in einer Weise zu
gewöhnen, daß sie in das Gegenteil der äußeren Feier
128
lichkeit verfallen, womit die Landeskirche diese Handlung
umgiebt. Dort nimmt man ja an der sogenannten „Kommunion"
nur in längeren Zwischenräumen, dann aber
mit aller Feierlichkeit in der äußeren Form, teil, weil
man leider das Wesen wenig versteht.
Das Abendmahl ist nur das Vorrecht der Erlösten,
der Glieder des Leibes Christi, dieses „einen" Leibes,
welcher das unmittelbare Werk des Herrn selbst ist. Seine
Glieder sind „alle in einem Geiste zu einem Leibe
getauft." (1. Kor. 12, 13.) Das Brechen des Brotes
unter ihnen ist der Ausdruck der Einheit dieses Leibes:
„Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn
wir alle sind des einen Brotes teilhaftig." (1. Kor. 10,
17.) Daher ist es so wichtig, sich auf dem Boden der
Einheit dieses Leibes zu versammeln; jedes Versammlen
auf einem andern Boden muß einen sektirerischen Charakter
tragen.
Nach den beiden ersten Evangelien (Matthäus und
Markus) fand die Einsetzung des Abendmahls während
der Feier des jüdischen Passah statt. Im Evangelium
Johannes (Kap. 13.) finden wir eigentlich weder das
Passah, noch die Einsetzung des Abendmahls, obwohl das,
was uns dort mitgeteilt wird, geschichtlich an demselben
Abend und bei derselben Gelegenheit stattfand. Johannes
spricht nur von einem gemeinschaftlichen Abendessen des
Herrn mit Seinen Jüngern. Dies hat seinen Grund in
der Eigentümlichkeit dieses Evangeliums, welches die Offenbarung
des Vaters und des ewigen Lebens ist. Im
Evangelium Lukas, dessen Charakter allgemeiner ist, werden
Passah und Abendmahl getrennt dargestellt, indem wir
die Feier des Passah im 14.—18., die Einsetzung des
129
Abendmahls im 19. u. 20. Verse des 22. Kapitels finden.
Der Herr, geboren unter Gesetz, (Gal. 4, 4.) ißt das
Passah mit Seinen Jüngern; sie bildeten Seine Familie.
(2. Mose 12, 3. 4.) Er betrachtet sie als die Erstlinge
des treuen Ueberrestes Israels. Dieses Passah war das
Letzte, so zu sagen der Abschluß des Vorbildes, welches
am folgenden Tage durch das Opfer Christi seine Erfüllung
finden sollte: „Denn auch unser Passah, Christus,
ist geschlachtet." (1. Kor. 5, 7.) Mit Sehnsucht hatte
der Herr sich gesehnt, dieses Passah mit Seinen Jüngern
zu essen, ehe Er litt, und Er erklärt ihnen, daß Er „nicht
mehr davon essen werde, bis es erfüllt sein werde im
Reiche Gottes." Auch sagt Er, daß Er nicht mehr von
dem Gewächs des Weinstocks (der Freude des Reichestrinken
Werde, bis dieses Reich (d. i. das tausendjährige)
komme. Und nachdem Er so diesem treuen Ueberrest gezeigt
hat, daß die Aufrichtung des Reiches noch der Zukunft
angehöre, setzt Er das Abendmahl ein, indem Er
gleichsam in Seinen Gedanken diesen treuen jüdischen
Ueberrest in Christen verwandelt und ihnen sagt: „Ich
kehre in das Haus meines Vaters zurück, wo ich euch
teil mit mir gebe; ich gehe hin, euch dort eine Stätte zu
bereiten und komme wieder, euch zu mir zu nehmen; aber
während meiner Abwesenheit thut dies zu meinem Gedächtnis."
Doch bevor wir von dem Werte des Abendmahls,
reden, verweilen wir noch einen Augenblick bei den Umstünden,
unter welchen der Herr es eingesetzt hat. Während
Er mit den Seinigen in dem Obersaal das Passah aß,
beriet man sich in der Stadt, wie man Ihn umbringen
sollte. Die „Dinge, welche Ihn betrafen," gingen ihrer
130
Bollendung entgegen. Aber anstatt die Gedanken der
Seinigen auf Seine Umstände zu richten, ist Er beschäftigt,
ihnen ein Zeichen Seiner Liebe zu geben und sie verstehen
zu taffen, was Er während Seiner Abwesenheit von ihrer
Liebe erwartet. Der Apostel Paulus erinnert uns daran,
daß der Herr dieses Mahl einsetzte „in der Nacht,
da Er überliefert ward." In der Nacht vor
Seinem Tode, im Bewußtsein der Verräterei des Judas
und alles dessen, was Ihm auf dem Kreuze bevorstand,
zeigte Er den Seinigen, wie Sein Herz nur mit ihnen
beschäftigt war und wie Er sehnlich begehrte, daß sie sich
Seiner während der Zeit Seiner Abwesenheit gemeinschaftlich
erinnern sollten. Ein Herz, welches Ihn liebt,
findet etwas überaus Köstliches in der Thatsache, daß der
Herr gewünscht hat, daß wir uns Seiner erinnern.
Wohl ist das Abendmahl das Gedächtnis Seines
Todes, Seines vollkommenen Werkes für uns, und Er
hat uns darin für die ganze Dauer unsers Weges eine
Erinnerung an die Vollkommenheit und Unwandelbarkeit
dieses Werkes geben wollen; aber beachten wir wohl, daß
der Herr sagt: „Thut dieses zu meinem Gedächtnis."
Er zeigt uns dadurch, welch einen Wert Seine anbetungswürdige
Person für unsre Herzen haben sollte. Er sagt
gleichsam: „Erinnert euch meines Werkes zum Gedächtnis
meiner Person." Dies ist von hoher Wichtigkeit;
denn man sieht nicht selten, daß Christen sich anstrengen,
auf ihre Weise das Werk Christi hervorzuheben, während
sie die Heiligkeit und die Herrlichkeit Seiner anbetungswürdigen
Person wenig beachten.
„Thut dieses zu meinem Gedächtnis!" Wie könnten
unsre Herzen unempfindlich sein für diesen Wunsch? Sein
131
Auge ruht auf den Seimgen, die auf der Erde versammelt
find, und Er selbst ist in ihrer Mitte. Es ist eine
Freude für Sein Herz, daß es in dieser Welt, wo Er
verworfen wurde, einige giebt, die glücklich sind, in Seinem
Namen versammelt zu sein, um Seiner zu gedenken. Und
wir thun das, indem wir Ihn erwarten: „Denn so oft
ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt
ihr den Tod des Herrn, bis Er kommt." (1. Kor.
11, 26.) Er ist gestorben, um uns zu erretten, Er
kommt wieder, um uns zu sich zu nehmen, und zwischen
diesen beiden großen Thatsachen gedenken wir Seiner.
Der Tod Christi — die Ankunft Christi — das Abendmahl
zwischen beiden! Ich habe euch erkauft, sagt Er,
gedenkt meiner während meiner Abwesenheit, dann werde
ich kommen, euch zu mir zu nehmen.
ES ist bemerkenswert, wie die beständige Erwartung
des Herrn sich an die häufige Feier des Abendmahls
knüpft. Als der Herr gen Himmel fuhr, bezeugten die
Engel den Jüngern, daß Er auf dieselbe Weise wiederkommen
werde. Dann kam der Heilige Geist auf sie
hernieder, und wir lesen, daß „sie verharrten in der
Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen
des Brotes und in den Gebeten..... und indem
sie täglich einmütig im Tempel verharrten und zu Hause
das Brot brachen, nahmen sie Speise mit Frohlocken
und Einfalt des Herzens, lobten Gott und hatten Gunst
bei dem ganzen Volk." (Apstgfch. 3.) Ebenso sehen wir
in Apstgsch. 20, 7, daß die Gläubigen in Troas am
ersten Wochentage versammelt waren, um Brot zu
brechen. ES war dies der besondere Zweck ihres Zusammenkommens.
132
Ferner finden wir in den Episteln, daß der Apostel
die Heiligen gelehrt hatte, beständig den Herrn zu erwarten.
Den Korinthern sagt er: „Ihr verkündigt den
Tod des Herrn, bis Er kommt;" (1. Kor. 11, 26.)
weiterhin schreibt er ihnen: „Siehe, ich sage euch ein
Geheimnis: wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir
werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in
einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen
wird es, und die Toten werden auserweckt werden unverweslich,
und wir werden verwandelt werden." (1. Kor.
15, 51. 52.) Durch die Worte: „wir werden verwandelt
werden," stellt sich der Apostel hier, wie in 1. Thess.
4, unter die Zahl derer, welche noch am Leben sein
werden, wenn der Herr kommt. Ueberhaupt stellten der
Herr und Seine Apostel diese Ankunft stets so dar, als
wenn sie stattfinden würde während der Dauer des Lebens
derer, welchen sie angekündigt wurde. Es war und ist
eine gegenwärtige Hoffnung. Die ersten Christen erwarteten
den Herrn zu ihren Lebzeiten, und wir haben
im 3. und 20. Kapitel der Apostelgeschichte gesehen, daß
sie das Abendmahl häufig feierten.
DaS Brotbrechen und die Erwartung des Herrn
sind also, wie wir gesehen haben, enge mit einander verbunden;
man verkündigt den Tod des Herrn, bis Er
kommt. Deshalb finden wir auch, daß die Christen, sobald
sie die Ankunft des Herrn und die persönliche Gegenwart
des Heiligen Geistes, welcher mit der Braut ruft:
„Komm!" aus den Augen verloren, auch kein Bedürfnis
mehr hatten, häufig das Brot zu brechen, während in
unsern Tagen, nachdem die herrliche Wahrheit von der
Ankunft des Herrn zur Aufnahme der Heiligen wieder
133
auf den Leuchter gestellt worden, das Bedürfnis von
neuem erwacht ist, nach dem Beispiel der ersten Christen,
an jedem Tage des Herrn das Brot zu brechen. Der
Ausgangspunkt des Abendmahls ist also das Kreuz —
der Zielpunkt: die Ankunft des Herrn.
Wir gedenken des Todes des Herrn, als unsrer vollkommenen
Befreiung. Er hat Seinen Leib für uns gegeben
und Sein Blut vergossen, um uns von unsern
Sünden rein zu waschen; aber wir feiern Seinen Tod
zum Gedächtnis der anbetungswürdigen Person, die sich
so für uns hingegeben hat. Und während wir dies thun,
sind wir in Verbindung mit Ihm als dem Lebendigen,
welcher tot war, aber lebt in die Zeitalter der Zeitalter und
die Schlüssel des Todes und des Hades hat. (Offbg. 1, 18.)
Wir verkündigen also Seinen Tod, bis Er kommt, mit
dem Bewußtsein unsrer Vereinigung mit Ihm in Seinem
Auferstehungsleben.
Die Feier des Abendmahls ist eine gemeinschaftliche
Sache; ein Einzelner kann es nicht feiern. Die
gemeinschaftliche Teilnahme an diesem Mahle ist der Ausdruck
der Einheit des Leibes, denn wir, die Vielen, sind
ein Brot, ein Leib, denn wir alle sind des einen
Brotes teilhaftig. (1. Kor. 10, 17.) Jeder zur Feier
des Abendmahls aufgerichtete Tisch muß diesem Grundsatz
der Einheit des Leibes entsprechen.
Um am Abendmahl teil zu haben, muß man nicht
allein bekehrt, sondern auch mit dem Heiligen Geist versiegelt
sein; „denn in ein/m Geiste sind wir alle zu
einem Leibe getauft." (1. Kor. 12, 13.)
Bevor wir jedoch auf die Einsetzung dieses Gedächtnismahles
des Todes des Herrn näher eingehen, möchten
134
Wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Heiligkeit und
Vollkommenheit des Herrn als Mensch hienieden lenken.
Er hat die menschliche Natur angenommen, um für uns
sterben zu können. Er war ein wirklicher Mensch, und
dies ist von der höchsten Wichtigkeit. Ohne Zweifel war
Er der Sohn Gottes, ja Er war Gott selbst, aber Er war
auch wirklicher Mensch hienieden. Indes blieb Er als
solcher ganz und gar allein bis nach Seinem Tode und
Seiner Auferstehung; erst dann hatte Er Brüder, und zwar
kraft der Erlösung, welche Er für sie am Kreuze vollbracht
hat. Er war der zweite Mensch, der letzte Adam,
welcher an der gefallenen Natur des ersten nach keiner
Seite hin und in keiner Weise teil haben durfte, noch
konnte. Denn was ist Sein Ursprung als Mensch? „Der
Heilige Geist wird über dich kommen," so sagte der Engel
zu Maria, „und die Kraft des Höchsten wird dich
überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren
wird, Gottes Sohn genannt werden." (Luk. 1, 35.)
Er war also selbst hinsichtlich des Fleisches geboren aus
dem Heiligen Geiste, ohne Sünde. Er hat an Fleisch
und Blut teil genommen, (Hebr. 2, 14.) aber Er war
das Gegenbild des in 3. Mose 2 beschriebenen Speisopfers,
ohne Sauerteig, mit Oel gemengt. „Was aus
dem Fleische geboren ist, ist Fleisch; und was aus dem
Geiste geboren ist, ist Geist." (Joh. 3, 6.) So ist der
Herr, selbst hinsichtlich des Fleisches, im Schoß der Jungfrau,
aus dem Geiste geboren; Er war also ein Mensch
aus dem Geiste. Deshalb öffnet sich auch der Himmel
über einem solchen Menschen; (Matth. 3.) der Geist
kommt auf Ihn hernieder, und der Vater verkündigt, daß
dieser Mensch Sein geliebter Sohn sei, an dem Er Wohl
135
gefallen gefunden habe. Zum erstenmal begegnen wir
einem Menschen auf der Erde, welcher als solcher ein
Gegenstand des Wohlgefallens des Himmels ist. — Er
ist gerechtfertigt worden im Geiste. (1. Tim. 3, 16.)
Seine Werke, Seine Worte, alles in Ihm war der Beweis
Seines Ursprungs, als eines Menschen aus dem
Geiste. So hat Sein Leben Seinen Ursprung gerechtfertigt,
ebenso wie daS Leben des natürlichen Menschen
dessen Ursprung als Sünder beweist. — In Hebr. 9, 14
wird von Christo gesagt, daß Er durch den ewigen
Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat. Sein
ganzes Leben war ein Speisopfer, ein Feueropfer lieblichen
Geruchs dem Jehova, und Sein Tod zugleich ein Sünd-
opfer und ein Brandopfer. „Er hat sich selbst für uns
hingegeben als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu
einem duftenden Wohlgeruch." (Eph. 5, 2.) Deshalb, wenn
Er durch die Gnade für uns in den Tod ging, so that Er
es als der Heilige Gottes. „Du wirst Deinen Heiligen
nicht hingeben, Verwesung zu sehen." (Apostgsch. 2,27.31.)
Denn so wenig Er in irgend welcher Weise an der gefallenen
Natur Adams teil haben konnte, als Er von der
Jungfrau geboren wurde, ebenso wenig konnte Er teil
daran haben, als Er im Grabe lag; und Seine Auferstehung
war der Beweis dessen, was Er war: „Er ist
als Sohn Gottes in Kraft erwiesen, dem Geiste der Heiligkeit
nach, durch Toten-Auferstehung." (Röm. 1, 4.)
Dieses Geheimnis der Person des Sohnes Gottes war
so groß, daß, wie Er selbst sagt, niemand Ihn kannte, als
nur der Vater. (Matth. 11, 27.) Niemand kann die Vereinigung
der Gottheit und der Menschheit in dieser heiligen
Person, „Gott geoffenbart im Fleische," verstehen; es ist
I3ti
eine unergründliche Herrlichkeit, die Gott allein kennt. Der
Mensch dieser Welt spottet darüber, aber der Christ betet an!
Es ist den Menschen gestattet worden, diese anbetungswürdige
Person im Garten Gethsemane zu binden, zum
Hohn mit Purpurmantel und Dornenkrone umher zu führen,
zu schlagen und endlich ans Kreuz zu nageln, wo sie
öffentlich dem Spott preisgegeben wurde, „damit Er durch
Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte." (Hebr. 2, 9.)
(Schluß folgt.)
Zu spät!
Zu spät! Wahrlich, ein kurzes, aber ein ernstes
Wort! Ein Wort, das unabweisliche Folgen in sich
birgt. Mit welcher Reue und mit welchem Kummer ruft
mancher dieses Wort aus, ohne im Stande zu sein, etwas
an seiner furchtbaren Wirklichkeit zu ändern! Mag er
auch noch so oft verzweifelnd wiederholen: „Hätte ich
doch so und so gehandelt!" mag er die Hände
ringen und unter strömenden Thränen die verlorene Zeit,
den versäumten rechten Augenblick zurückwünschen — es
ist zu spät, unwiderruflich zu spät!
Ein jeder hat sicher in der einen oder andern Weise,
in höherem oder geringerem Maße, in wichtigeren oder
unwichtigeren Dingen die Bedeutung dieser ernsten Worte
erfahren. Wenn man die Welt durchreisen und der Ursache
all des Elends, das in ihr herrscht, all der Thränen,
die in ihr vergossen werden, nachforschen könnte, so würde
man finden, daß das meiste Elend, die meisten Thränen
sich auf Versäumnis der rechten Zeit, auf Gleichgültigkeit
und Leichtsinn zurückführen lassen. Der eine erfährt die
137
traurigen Folgen einer verwahrlosten Erziehung, der andre
betrauert das Verwerfen eines guten Rates, der dritte
bejammert ein verlorenes Leben, der vierte die Folgen
seines Eigensinns, seines Jähzorns, seiner Thorheit oder
was es sonst sein mag. Hier möchte einer gern sein
ganzes, sauer erworbenes Vermögen darum geben, wenn
er eine übereilte That ungeschehen machen könnte, dort
wäre ein anderer bereit, zehn Jahre seines Lebens einzubüßen,
wenn ihm dadurch nur noch einmal angeboten
würde, was er einst leichtsinnig verschmähte. Wenn es
nur möglich wäre, die verlorene Zeit noch einmal zu
leben, eine vorschnelle That ungeschehen, ein übereiltes
Wort ungesprochen zu machen — wie mancher würde
mit Freude und Dankbarkeit jede Gelegenheit dazu ergreifen,
kostete es, was es wollte. Aber es ist unmöglich.
Wie ein nagender Wurm, der jede Freude vergällt
und das Leben unerträglich macht, lebt in dem einen
Herzen der Gedanke an einen unbewachten Augenblick, in
dem andern die Erinnerung an den ersten Schritt auf der
abschüssigen Bahn der Sünde, in dem dritten das Bild
einer glücklichen Zeit, die durch eignes Verschulden verloren
wurde.
Doch so oft auch das „Zu spät!" aus dem Munde
eines Menschen ertönen und so oft es beweint oder beklagt
werden mag, so kommt doch eine Zeit, wo es verstummt.
Einmal schließt der Tod die klagenden Lippen,
das unruhige, bekümmerte Herz hört auf zu schlagen,
und alle Reue, alle Gewissensbisse haben für dieses Leben
ein Ende. Aber dann kommt die Ewigkeit! Und so
ernst ein „Zu spät!" für dieses Leben sein mag, so ist
es doch noch weit ernster, weit schrecklicher im Blick auf
138
die endlosen Zeitalter der Ewigkeit. Wenn es möglich
wäre, für einen Augenblick den Schleier zu lüften und
einen Blick hinüber in das „Jenseits" zu werfen, welch
ein Jammergeschrei, welche Klagen über ein verlorenes,
so rasch dahin geflogenes Leben würde man hören!
Tausende und Millionen sehnen sich dort nach der Zeit
zurück, wo ihnen das Wort der Gnade verkündigt wurde,
und erinnern sich, wie Gott ihnen nachgegangen ist und sie
gewarnt hat, um sie vor dem ewigen Verderben zu bewahren.
Der eine sieht die Thränen seiner Mutter, ein
anderer hört die bittende Stimme seines Vaters, einem
dritten klingt der gute Rat seines Freundes vorwurfsvoll
in den Ohren, wieder andere werden unaufhörlich verfolgt
von den lieblichen Worten Jesu: „Kommt her zu mir,
alle Mühselige und Beladene, und ich will euch Ruhe
geben!" Aber es sind jetzt Worte, die ihnen nicht Ruhe,
sondern Unruhe bringen. Wie viele Seufzer auch ausgestoßen
und wie viele Thränen geweint werden mögen,
es ist alles „zu spät!" Schreckliches Wort! Zu spät
für ewig! Der Gedanke daran erfüllt das Herz mit
Schreck und Entsetzen, und doch ist es die Wahrheit.
Kein Widerrufen, keine Umkehr ist dann mehr möglich.
Keine Minute der Vergangenheit kehrt wieder, kein Wort
der Gnade wird mehr gehört, so sehnlich es auch begehrt
werden mag. Es ist zu spät, für immer und ewig
zu spät!
O ihr, die ihr noch ohne Jesum auf dieser Erde
wandelt, für die es noch heißt: „Siehe, jetzt ist die Zeit
der Annehmung, siehe, jetzt ist der Tag des Heils," möchtet
ihr doch bedenken, wie schrecklich das „zu spät!" in der
Ewigkeit klingen wird! Ihr, für die Jesus noch bereit
139
steht, um euch mit offnen Armen zu empfangen, an welche
Er das freundliche, ermunternde Wort richtet: „Wer zu
mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen," bedenkt
es doch, wie gern manche Seele, die bereits in die Ewigkeit
hinübergegangen ist, an eurer Stelle sein würde, um
dann die Zeit der Gnade besser zu benutzen, als sie es
gethan hat! Ihr, an welche so manches Mal die Bitte
gelangt ist: „Wir bitten euch an Christi Statt, als ob
Gott durch uns ermahnte: „Lasset euch versöhnen mit
Gott!" „bedenkt es, daß diese Bitte in der Ewigkeit nicht
mehr gehört werden wird! Ja, ihr alle, die ihr diese
Zeilen leset und Jesum noch nicht kennt, die ihr Ihn
noch nicht besitzt als euern Erlöser, in dessen Blut Vergebung
ist für alle Sünden, laßt dieses Wort der Warnung
in eure Herzen dringen, auf daß das „Zu spät!"
nie auf euch seine Anwendung finden möge!
Denkt nicht, daß dieses: „für ewig zu spät," im
Widerspruch stehe mit der Liebe und Gnade Gottes. Wohl
ist die Liebe Gottes so groß, daß Er Seinen eingeborenen
Sohn für Sünder in den Tod gab, wohl ist Seine Gnade
so überströmend, daß sie für jeden Sünder, so viel BöseS
er auch gethan haben möge, völlig hinreicht; aber diese
Liebe und Gnade hören für den Sünder auf, sobald er
diese Erde verläßt. Dann ist für ihn „die Zeit der An-
nehmung" zu Ende und „der Tag des Heils" vorüber.
Und ich möchte fragen: Ist dies nicht völlig genügend?
Ist dem Menschen nicht Zeit genug gelassen, sich zu bekehren
? Wendet Gott nicht alle Mühe auf, um den verlorenen
Sünder mit seinem Zustande bekannt zu machen
und ihm die Gnade vorzuhalten? Giebt es irgend ein
Hindernis, das dem Sünder im Wege stände, um errettet
140
zu werden? Ist von feiten Gottes nicht alles geschehen,
um den Menschen vor einer ewigen Verdammnis zu bewahren
? Hat Er nicht Jesum gegeben, den Sohn Seiner
Liebe, und ladet Er nicht den Sünder ein, umsonst zu
nehmen, was Er für ihn bereitet hat? Was verlangst du
noch mehr? Alle, die Jesum besitzen, preisen Gott für
die Geduld, die Er ihnen bewiesen, und für die Langmut,
mit welcher Er sie getragen hat, anstatt zu klagen, daß
die Zeit, welche ihnen zur Bekehrung gegeben worden, zu
kurz war. Nein, mein lieber Leser, die Hindernisse, welche
man so oft anführen hört, werden in der Ewigkeit mit
keiner Silbe erwähnt werden. Die erbärmliche Ausflucht,
daß man sich doch selbst nicht bekehren könne, oder daß
man nicht wisse, ob man auserwählt oder nicht auserwählt
sei, wird dort gewiß von niemandem vorgebracht
werden; denn alle ohne Ausnahme werden dort in dem
durchdringenden Licht der Gegenwart Gottes stehen und
sich selbst als die Ursache ihres Verderbens anklagen
müssen. Jeder Mund wird verstopft werden, und auf
tausend wird der Mensch nicht eins zu antworten wissen.
Wie ernst ist dieses alles! Möchte doch ein jeder, der
diese Zeilen liest, sich durch die Liebe Gottes ziehen lassen,
so lange die Zeit der Gnade noch währt, damit nicht
auch in seinem Ohre dereinst das schreckliche „Zu spät!"
Wiedertöne! Möchte er eilen zu Jesu, zu Dem, der gekommen
ist, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist!"
„Heute, wenn ihr Seine Stimme höret, verhärtet
eure Herzen nicht!" (Hebr. 3, 7. 8.)
„Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große
Errettung vernachlässigen?" (Hebr. 2, 3.)
Jericho und Achor.
(Josua 6 u. 7.)
1.
Bevor ich beginne, möchte ich den Leser bitten, die
beiden angedeuteten Kapitel, Josua 6 u. 7, mit Aufmerksamkeit
zu lesen. Sie schildern in treffender und eindringlicher
Weise die doppelte Wirkung, welche die Gegenwart
Gottes auf Sein Volk ausübt. In Kapitel 6 werden wir
belehrt, daß die göttliche Gegenwart einen vollständigen Sieg
über die Macht des Feindes sicherte, und in Kapitel 7, daß
sie ein unnachsichtliches Gericht über das Böse forderte,
welches sich in der Mitte des Volkes zeigte. Die Ruinen
von Jericho erläutern den ersten Grundsatz, der große
Haufe Steine im Thale Achor den zweiten.
Diese beiden Dinge gehen stets mit einander. Dieselbe
Gegenwart, welche den Sieg sichert, fordert Heiligkeit.
Möchten wir diese Wahrheit stets in unsern Herzen
bewahren! Sie hat sowohl eine persönliche, als auch eine
allgemeine Anwendung. Wollen wir mit Gott wandeln,
oder besser gesagt, soll Gott mit uns wandeln, so müssen
wir alles richten und hinwegthnn, was nicht in Seine
heilige Gegenwart paßt. Er kann bei Seinem Volke kein
ungerichtetes Böses dulden. Er kann vergeben, heilen,
wiederherstellen und segnen, aber Er kann das Böse nicht
ertragen. „Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes
Feuer." „Denn es ist die Zeit, daß das Gericht anfange
am Hause Gottes." (Hebr. 12, 29; 1. Petr. 4, 17.)
142
Sollte der Gedanke hieran irgend ein aufrichtiges
Kind Gottes entmutigen oder niederdrücken? Keineswegs.
Es sollte uns nicht entmutigen, wohl aber sehr wachsam
machen im Blick auf unsre Wege, Gewohnheiten, Worte
und Werke. Wir brauchen nichts zu fürchten, so lange
Gott mit uns ist, aber Er kann in den Seinigen unmöglich
das Böse gutheißen, und ein jeder, der in Wahrheit
die Heiligkeit liebt, wird Ihm hierfür von Herzen
danken. Er wird nicht für einen Augenblick den Maßstab
der Heiligkeit Gottes zu erniedrigen wünschen. Alle,
die in Wahrheit Seinen Namen lieben, freuen sich der
kostbaren Wahrheit, daß die Heiligkeit Seinem Hause geziemt
für immer und ewig. „Seid heilig, denn ich bin
heilig." Es handelt sich nicht darum, was wir sind,
sondern was Er ist. Unser Charakter und Wandel sollen
sich bilden nach dem, was Gott ist. Welch eine Gnade
und welch ein Vorrecht!
Gott muß die Seinigen sich selbst gleich haben. Wenn
sie dies vergessen, so wird Er sie sehr bald daran erinnern.
Wenn Er in Seiner unendlichen Gnade Seinen Namen
und Seine Herrlichkeit mit uns verbindet, so geziemt es
uns sicher, wohl auf uns acht zu haben, damit wir keine
Schmach auf diesen Namen bringen und den Glanz dieser
Herrlichkeit nicht trüben. Ist dies eine gesetzliche Knechtschaft?
O nein, es ist im Gegenteil eine hohe, heilige
Freiheit. Wir können versichert sein, daß wir nie weiter
von jeder Gesetzlichkeit entfernt sind, als wenn wir jenen
Pfad wahrer Heiligkeit wandeln, welcher allen denen geziemt,
die den Namen Christi tragen. „Da wir nun
diese Verheißungen haben, Geliebte, so laßt uns uns selbst
reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des
143
Geistes und die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes/'
<2. Kor. 7, 1.)
Diese große Wahrheit gilt für alle Zeiten. Was
tvar es, das die hohen Mauern und gewaltigen Bollwerke
Jericho's in einem Augenblick umstürzte? Es war die
Gegenwart Jehova's. Ja, wenn das ganze Land von
Dan bis Bersaba mit Festungen übersät gewesen wäre,
so würden sie doch alle durch dieselbe unbesiegliche Biacht
dem Boden gleich gemacht worden sein. Doch was bedeutete
die demütigende Niederlage vor der unansehnlichen
Stadt Ai? Wie kam es, daß die Heere Israels, die so
eben noch über Jericho triumphirt hatten, mit Schmach
bedeckt vor einer Handvoll Menschen fliehen mußten? Ach!
die Antwort ist schmerzlich, aber für uns höchst belehrend.
Möchten wir uns durch dieselbe warnen lassen und Nutzen
aus ihr ziehen! Sie ist zu unsrer Belehrung durch den
Heiligen Geist niedergeschrieben worden, und wehe einem
jeden, der sein Ohr vor Seiner warnenden Stimme verschließt!
Hier ist die Antwort:
„Und die Kinder Israel begingen Untreue an dem
Verbannten; und Achan, der Sohn Charmi's, des SohneS
Sabdi's, des Sohnes Serahs, vom Stamme Juda, nahm
von dem Verbannten; und der Zorn Jehova's entbrannte
über" — wen? Ueber Achan allein, oder über seine
Haushaltung oder Familie? O nein, sondern — „über
die Kinder Israel." (Kap. 7, 1.) Die ganze Gemeinde war
gleichsam in das Böse eingeschlossen. Woher kam dies ?
Die göttliche Gegenwart verlieh dem ganzen Volke den
Charakter der Einheit und verband sie so innig mit einander,
daß alle in die Sünde des Einzelnen eingeschlossen
waren. Sie bildeten eine Gemeinde, eine Versammlung,
144
und daher war es unmöglich, daß sich einer von ihnen
auf einen getrennten, unabhängigen Boden stellen konnte.
Die Sünde des Einzelnen war die Sünde aller, weil Jehova
in ihrer Mitte wohnte. Die ganze Versammlung
hatte sich von dem Bösen zu reinigen, bevor Jehova sie
zu weiteren Siegen führen konnte. Hätte Er ihnen erlaubt,
über Ai zu triumphiren, so würde dies bewiesen
haben, daß Er gleichgültig war gegen die Sünde Seines
Volkes. Doch dies anzunehmen, wäre eine Lästerung
Seines heiligen Namens.
„Und Josua sandte Männer von Jericho gen Ai, die
bei Beth-Aven liegt, östlich von Bethel, und sprach zu
ihnen und sagte: Gehet hinauf und kundschaftet das Land
aus. Und die Männer gingen hinauf und kundschafteten
Ai aus. Und sie kehrten zurück zu Josua und sprachen
zu ihm: Laß nicht das ganze Volk hinaufziehen, bei zweitausend
Mann oder bei dreitausend Mann mögen hinaufziehen
und Ai schlagen" — dies war leichter gesagt als
gethan — „bemühe nicht das ganze Volk dahin, denn
ihrer sind wenig" — doch viel zu viel für Israel mit
einem Achan im Lager. „Und es zogen vom Volke hinauf
bei dreitausend Mann, aber sie flohen vor den Männern
von Ai. Und die Männer von Ai schlugen von ihnen
bei sechs und dreißig Mann und jagten ihnen nach bis
vor das Thor bis Sebarim und schlugen sie am Abhange.
Da zerschmolz das Herz des Volkes und ward wie Wasser.
Und Josua zerriß seine Kleider und fiel auf sein Angesicht
zur Erde vor der Lade Johova's bis an den Abend, er
nnd die Aeltesten Israels, und sie warfen Staub auf ihre
Häupter." (V. 2 — 6.)
Das war eine unerwartete, niederschmetternde Er
145
fahrung. „Und Josua sprach: Ach Herr, Jehova, warum
hast Du dieses Volk je hinüberziehen lassen über den
Jordan, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, um
uns zu Grunde zu richten? O, hätten wir es uns gefallen
lassen und wären jenseits des Jordans geblieben! Bitte,
Herr, was soll ich sagen, nachdem Israel den Rücken gekehrt
hat vor seinen Feinden? Und werden es die Kananiter und
alle Bewohner des Landes hören, so werden sie uns umzingeln
und unsern Namen ausrotten von der Erde. Und
was willst Du Deinem großen Namen thun?" (V. 7—9.)
Josua, der treue und geehrte Knecht Gottes, verstand
nicht, daß gerade die Herrlichkeit dieses „großen Namens"
die Niederlage zu Ai nötig machte. In dieser Herrlichkeit
gab es noch andere Elemente als Macht. Da gab es auch
Heiligkeit, und gerade diese machte es für Gott unmöglich,
da zu sein, wo ungerichtetes Böses vorhanden war. Josua
Hütte schließen können und sollen, daß in dem Zustande
des Volkes etwas nicht in Ordnung sein mußte. Dieselbe
Gnade, welche ihm por Jericho den Sieg verliehen hatte,
würde sicher auch zu Ai nicht gefehlt haben, wenn alles
in Ordnung gewesen wäre. Aber ach! dies war nicht
der Fall, und daher gab es Niederlage anstatt Sieg.
Wie konnten sie siegen mit einem „Bann" in ihrer Mitte?
Unmöglich. Entweder mußte Israel das Böse richten,
oder Jehova sah sich genötigt, Israel zu richten. Die
göttliche Gegenwart erforderte ein unbedingtes Gericht über
das Böse; und ehe dieses Gericht ausgeübt war, konnte
von der weiteren Eroberung Kanaans keine Rede sein.
„Deinem Hause geziemt die Heiligkeit, Jehova, für lange
Tage." (Ps. 93, 5.)
„Und Jehova sprach zu Josua: Stehe auf! warum
146
liegst du da auf deinem Angesicht? Israel hat gesündigt"
— nicht blos Achan — „und auch haben
sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe,
und auch haben sie von dem Verbannten genommen und
auch gestohlen und es auch verleugnet und es auch unter
ihre Geräte gelegt. Und die Kinder Israel werden
nicht vermögen, zu stehen vor ihren Feinden;
sie werden den Rücken kehren vor ihren Feinden, denn sie
sind zum Bann geworden. Ich werde fortan nicht mehr
mit euch sein, wenn ihr nicht den Bann vertilgt aus eurer
Mitte." (V. 11. 12.)
Dies ist äußerst ernst. Die ganze Versammlung
wird für das Böse verantwortlich gemacht. „Ein wenig
Sauerteig durchsäuert die ganze Masse." Der Unglaube
mag fragen, wie denn die Sünde eines Einzelnen alle angehen
konnte, aber das Wort Gottes entscheidet die Frage
in ganz unzweideutiger Weise. „ Israelhat gesündigt" —
„sie haben meinen Bund übertreten" — „sie haben gestohlen"
— „sie haben verleugnet." Die Versammlung
war eins — eins in ihren Vorrechten und eins in
ihrer Verantwortlichkeit. Die Sünde des Einzelnen war
die Sünde aller, und alle waren berufen, sich zu reinigen,
indem sie den Bann aus ihrer Mitte Hinwegthaten. Nicht
ein einziges Glied jener großen Gemeinde blieb von der
Sünde Achans unberührt. Dies mag der Natur unerklärlich
erscheinen, aber es ist die göttliche Wahrheit. Und
so wie es einst in der Versammlung Israels war, so ist
es sicherlich auch heute in der Kirche Gottes. Keiner
konnte sich in Israel auf einen unabhängigen Boden
stellen, und noch viel weniger ist dies in der Kirche GotteS
möglich. Da waren sechsmalhunderttausend Männer,
147
die, menschlich gesprochen, gar nichts davon wußten, was
Achan gethan hatte, und doch sagte Gott zu Josua:
„Israel hat gesündigt." Alle waren eingeschlossen, alle
waren verunreinigt und hatten sich zu reinigen, ehe Jehova
wieder mit ihnen ziehen konnte. Die Gegenwart Gottes
in der Mitte der Gemeinde machte die Einheit aller aus,
und ebenso ist die Gegenwart des Heiligen Geistes in
der Kirche Gottes, dem Leibe Christi auf der Erde, das
Band einer göttlichen, unauflöslichen Einheit. Wer daher
von Unabhängigkeit redet, leugnet die Grundwahrheit der
Kirche Gottes und beweist ohne alle Frage, daß er nichts
von ihrem Charakter, noch von ihrer Einheit versteht.
Doch wenn sich nun Böses in eine Versammlung
eingeschlichen hat, wie ist demselben zu begegnen. Hören
wir, was Jehova zu Josua weiter redet. „Stehe auf,
heilige das Volk und sprich: Heiliget euch auf morgen.
Denn so spricht Jehova, der Gott Israels: Ein Bann
isr in deiner Mitte, Israel, du wirst nicht vermögen, zu
stehen vor deinen Feinden, bis ihr den Bann hinwegthut
aus eurer Mitte." (V. 13.) Waren sie eins in ihren
Vorrechten? Waren sie eins in dem Genuß der Herrlichkeit
und Macht, welche die Gegenwart Gottes verlieh?
Eins in dem glänzenden Triumph zu Jericho? Niemand
wird dies in Frage stellen. Aber warum wollen wir
dann zweifelnd fragen, ob sie auch eins waren in ihrer
Verantwortlichkeit, eins im Blick auf das Böse in ihrer
Mitte und auf alle seine demütigende Folgen? Sicher,
wenn es eine Einheit gab in dem Einen, so gab es auch
eine Einheit in dem Andern, ja in allem. Wenn Jehova
der Gott Israels war, so war Er der Gott von allen,
der Gott eines jeden Einzelnen, und diese herrliche That-
148
fache bildete die Grundlage ihrer hohen Vorrechte sowohl,
als auch ihrer Verantwortlichkeit. Unmöglich konnte es
einen Bann in ihrer Mitte geben, ohne daß jedes Glied
der Gemeinde dadurch verunreinigt wurde. Nichts kann
die ernste Wahrheit aufheben, daß ein wenig Sauerteig
die ganze Masse durchsäuert.
Doch wie ist das Uebel zu entdecken? Die Gegenwart
Gottes macht eS offenbar. Dieselbe Macht, welche
die Mauern von Jericho umgeworfen hatte, enthüllte und
richtete die Sünde Achans. Die Gegenwart Gottes hat
stets diese doppelte Wirkung.
2.
In den WegenGottes mitSeinem Volke sind also Vorrecht
und Verantwortlichkeit unzertrennlich und innig mit einander
verbunden. Es ist ein trauriger, verhängnisvoller Fehler,
von Vorrechten zu reden und sie genießen zu wollen,
während man die daraus entspringende Verantwortlichkeit
aus dem Auge verliert. Wie groß waren z. B. die Vorrechte
Israels i Wer könnte das hohe Vorrecht würdig
schätzen, Jehova in der Mitte wohnend zu haben? Bei
Tag und bei Nacht war Er dort, um sie zu bewachen
und zu schützen, um jedem ihrer Bedürfnisse zu begegnen,
ihnen Brot aus dem Himmel zu geben und Wasser aus
dem Felsen hervorzubringen. Mit Gott in ihrer Mitte
hatten sie nichts zu fürchten. Er sorgte für alle ihre
Bedürfnisse; Er sah nach ihren Kleidern, daß sie nicht
veralteten, und nach ihren Füßen, daß sie nicht schwollen;
Er bedeckte sie mit Seinem Schilde, daß kein Pfeil sie
treffen konnte, und Er stand zwischen ihnen und jedem
Feinde. Niemand konnte sie antasten.
So groß waren ihre Vorrechte; aber beachten wir
14»
auch wohl, welch eine Verantwortlichkeit damit verbunden
war! „Denn Jehova, dein Gott, wandelt inmitten deines
Lagers, um dich zu retten und deine Feinde vor dir
dahinzugeben; und es soll dein Lager heilig
sein, daß Er nichts Schamwürdiges unter
dir sehe und sich abwende von dir." (5. Mos.
23, 14.) Hatte sich Jehova in Seiner unendlichen Gnade
herabgelassen, inmitten Seines Volkes zu wohnen und
ihr Reisegefährte zu sein, so durften sie nie vergessen,
daß Er nicht nur ein gnädiger, sondern auch ein heiliger
Gott war, und daß Seine Gegenwart eine heilige Reinheit
und Absonderung von dem Bösen erforderte. Nichts
durfte in dem Lager geduldet werden, was mit der Heiligkeit
und Reinheit, die der Gegenwart des Heiligen Israels
geziemte, im Widerspruch stand. „Gott ist gar sehr erschrecklich
in der Versammlung der Heiligen und furchtbar
über alle, die um Ihn her sind." (Ps. 89, 7.) Hätte
Achan daran gedacht, so würde es ihn gelehrt haben, die
Habsucht seines Herzens im Keime zu ersticken und so
die ganze Gemeinde vor vielem Schmerz zu bewahren.
Wie schrecklich ist der Gedanke, daß ein Mann, um eines
kleinen persönlichen Gewinnes willen, das ganze Volk in
die tiefste Trauer stürzte und — was noch schlimmer
ist — den heiligen Gott entehrte und betrübte, der in
Seiner wunderbaren Güte Seine Wohnung unter ihnen
aufgeschlagrn hatte! O, möchten wir doch alle, wenn
wir uns versucht fühlen, irgend eine verborgene Sünde
Zu begehen, uns fragen: „Wie kann ich so etwas thun?
Wie kann ich den Heiligen Geist betrüben, der in mir
ist, und Sauerteig in die Versammlung Gottes bringen?"
Laßt uns nie vergessen, daß unser persönlicher Wandel
150
einen unmittelbaren Einfluß auf alle die Glieder des
Leibes ausübti Entweder wir befördern oder wir hindern
die Segnung aller. Wir sind nicht unabhängige, selbständige
Teile, sondern Glieder eines Leibes, der durch die
Jnwohnung des Heiligen Geistes zu einem unauflöslichen
Ganzen verbunden ist; und wenn wir in einer weltlichen^
fleischlichen und gleichgültigen Gesinnung wandeln, so be-
nüben wir den Geist und fügen allen Gliedern Schaden
zu. „Aber Gott hat den Leib zusammengefügt . . .
auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei, sondern die
Glieder dieselbe Sorge für einander haben. Und wenn
ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein
Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit."
(1. Kor. 12, 24—26.)
Vielleicht fällt es uns schwer, diese wichtige Wahrheit
zu erfassen; aber entweder müssen wir sie annehmen,
oder jener traurigen Irrlehre beistimmen, daß jeder Christ
für sich selbst unabhängig sei und mit dem ganzen Körper
der Gläubigen in keiner Verbindung stehe. Wenn ich in
Wahrheit ein Glied an dem Leibe Christi bin, dessen
Glieder alle durch die persönliche Jnwohnung des Heiligen
Geistes mit dem Haupte verbunden sind, so folgt notwenig
daraus, daß mein Wandel und Verhalten auf die übrigen
Glieder Einfluß haben muß, ebenso wie alle Glieder des
menschlichen Körpers es fühlen, wenn ein Glied leidet.
Ist die Hand krank, so fühlt das auch der Fuß. Und
woher kommt dies? Weil das Haupt es fühlt. Der
Schmerz teilt sich zunächst dem Haupte und von dort aus
den Gliedern mit.
Achan war nicht ein Glied eines Leibes, wie der
Gläubige es ist; aber dennoch sehen wir, wie sein Ver
151
halten die ganze Versammlung berührte. Dieses ist nm
so treffender, weil die Wahrheit von dem einen Leibe
noch nicht geoffenbart war. Diese konnte erst geoffenbart
werden, nachdem das große Werk der Erlösung vollbracht
war, das Haupt sich auf den Thron Gottes gesetzt und
den Heiligen Geist herniedergesandt hatte, um den Leib
zu bilden. Wenn nun die verborgene Sünde Achans
Einfluß hatte auf das fernste Glied der Gemeinde
Israels, wie viel mehr, dürfen wir sagen, berührt die
verborgene Sünde eines Gliedes am Leibe Christi alle
die übrigen Glieder. Möchte diese ernste Wahrheit stets
vor unsern Augen und Herzen stehen!
Wir kommen jetzt zu der Art und Weise, wie die
Sünde Achans enthüllt und ihm selbst vor Augen gestellt
wurde. Auch dieses ist sehr ernst. Achan hatte wenig
daran gedacht, wessen Auge auf ihm ruhte, als er seine
Missethat, verborgen vor seinen Brüdern, ausführte. Er
hatte jedenfalls geglaubt, daß alles in bester Ordnung
sei, als er das Geld und den Mantel im Innern seines
Zeltes verbarg. Unglücklicher, bedauernswerter Mann!
Wie schrecklich ist die Sucht nach Geld, wie schrecklich die
verblendende Macht der Sünde! Sie verhärtet das Herz,
ertötet das Gewissen, verfinstert den Verstand und verdirbt
die Seele und brachte in dem vorliegenden Falle
Trauer und Schmerz über sechshunderttausend Menschen.
„Und Jehova sprach zu Josua: Stehe auf! warum
liegst du da auf deinem Angesicht?" Alles hat seine bestimmte
Zeit. Da ist eine Zeit, auf dem Angesicht zu
liegen, und eine Zeit, auf den Füßen zu stehen — eine
Zeit demütigen Niederbeugens und eine Zeit entschiedenen
Handelns. Die unterrichtete Seele wird die richtige Zeit
152
für beides kennen. „Israel hat gesündigt, und auch haben
sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten
habe .... Stehe auf, heilige das Volk und sprich:
Heiliget euch auf morgen. Denn so spricht Jehova, der
Gott Israels: Ein Bann ist in deiner Mitte, Israel, du
wirst nicht vermögen, zu stehen vor deinen Feinden, bis
ihr den Bann hinwegthut aus eurer Mitte." Das Volk
Gottes, das Seinen Namen trägt und Seine Wahrheit
bekennt, muß heilig sein und sich unbefleckt von der Welt
erhalten; anders muß Er die Zuchtrute nehmen und
ernstlich mit ihnen reden. „Und ihr sollt herzutreten am
Morgen nach euern Stämmen; und eS wird geschehen,
der Stamm, den Jehova treffen wird, soll herzutreten
nach den Geschlechtern, und das Geschlecht, das Jehova
treffen wird, soll herzutreten nach den Häusern, und das
Haus, das Jehova treffen wird, soll herzutreten nach den
Männern." (V. 17.)
Welch eine Aussicht für den armen, unglücklichen
Achan! Er mochte vielleicht die Hoffnung hegen, unter
den vielen Tausenden Israels zu entrinnen. Aber wie
sehr täuschte er sich! Seine Sünde mußte ihn finden.
Dieselbe Gegenwart, welche persönliche Segnungen brachte,
enthüllte auch mit erschreckender Treue die verborgensten
persönlichen Sünden. Ein Entrinnen war unmöglich.
Gott selbst brachte den Sünder ans Licht; Er zog ihn
aus seinem Schlupfwinkel hervor, damit er die Strafe
für seine Bosheit fände.
Wie wunderbar sind die Wege Gottes! Zunächst
werden die zwölf Stämme herzugerufen, und der Stamm
Juda wird durch das Los getroffen. Allein dieser Stamm
war so zahlreich, daß nach menschlichen Begriffen immer
153
noch ein Herausfinden des Thäters höchst unwahrscheinlich
war. Ja, bei Menschen war es unmöglich, aber nicht so
bei dem allsehenden und allwissenden Gott, dessen „Augen
die ganze Erde durchlaufen." „Und Josua ließ die Geschlechter
Juda's herzutreten, und es ward getroffen das
Geschlecht der Serahiter." Der Kreis zieht sich immer
enger zusammen; das Los Jehova's trifft mit untrüglicher
Sicherheit. „Und er ließ das Geschlecht der Serahiter
herzutreten, und es ward getroffen Sabdi." Immer näher
kommt das Verhängnis. Die Familie ist bestimmt, und
jetzt treten die Haushaltungen herzu, „nach den
Männern." „Und es ward getroffen Achan, der Sohn
Eharmi's, des Sohnes Sabdi's, des Sohnes Serahs,
vom Stamme Juda." So fand das durchdringende Auge
Jehova's den Sünder unter sechshunderttausend Männern
heraus und stellte ihn vor der ganzen versammelten Menge
Seines Volkes blos. O, was wird während dieser Handlung
in dem Herzen Achans vorgegangen sein! Wer
könnte die Gefühle beschreiben, die den unglücklichen, schuldbewußten
Mann bestürmt haben müssen, der, im Bewußtsein
des ernsten Urteilsspruches Jehova's, die Möglichkeit
des Entrinnens immer mehr schwinden sah? Der Herr
hatte zu Josua gesagt: „Und es soll geschehen, wer getroffen
wird mit dem Bann, der soll mit Feuer verbrannt
werden, er und alles, was er hat, weil er den Bund
Jehova's übertreten, und weil er eine Schandthat in
Israel verübt hat." (V. 15.)
„Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer." Er kann
das Böse bei den Seinigen nicht dulden. Dieses erklärt
die ernste Scene vor uns. Der natürliche Verstand mag
darüber nachgrübeln und sich verwundert fragen, wie denn
154
das Wegnehmen einer geringen Menge Silbers und Goldes
und eines Mantels aus der Beute einer eroberten Stadt
solch schreckliche Folgen nach sich ziehen und eine so furchtbare
Strafe auf den Schuldigen bringen konnte. Doch
wir müssen uns erinnern, daß der natürliche Verstand
ganz und gar unfähig ist, die Wege Gottes zu verstehen.
Aber nicht allein das; wir können auch mit Recht fragen:
Wie konnte Gott das Böse in Seinem Volke gutheißen?
Wie konnte Er damit vorangehend Wenn Er im Begriff
stand, Gericht über die sieben Völker Kanaans zu bringen,
konnte Er da gleichgültig sein gegen die Sünde inmitten
Seines Volkes? Sicherlich nicht. „Dich allein habe ich
gekannt von allen Geschlechtern der Erde, deshalb werde
ich dich züchtigen für deine Ungerechtigkeiten." Gerade die
Thatsache, daß Gott sich mit Israel verbunden hatte, war
die Ursache, daß Er mit ihnen handeln mußte in heiliger
Zucht.
Es ist die größte Thorheit, wenn der Mensch über
die. Strenge des göttlichen Gerichts oder über den scheinbaren
Mangel eines angemessenen Verhältnisses zwischen
der Sünde und der Strafe zu klügeln und zu rechten beginnt.
All solches Klügeln ist falsch, ja schlecht und
gottlos. Was war es, das Elend, Trauer, Armut, Krankheit,
Schmerz und Tod in diese Welt hineinbrachte? Was
war die Quelle aller dieser traurigen Erscheinungen? Nichts
anders als jene kleinliche Sache — wie der Mensch es
nennen würde — daß Eva von der verbotenen Frucht
nahm und aß. Aber gerade diese kleine, geringfügige
Sache war schrecklich in den Augen Gottes — sie war
Sünde, Sünde wider Gott! Und was war nötig, um
diese Sünde zu sühnen? Was steht ihr gegenüber als der
155
einzig passende Ausdruck des Gerichts Gottes? Der Brand
in dem Thäte Achor, oder die ewigen Flammen der Hölle ?
O nein, etwas weit höheres und weit ernsteres! Das
Kreuz des Sohnes Gottes! Der Tod Christi,
dieses reinen und fleckenlosen Lammes! Der schreckliche
Schrei aus der Tiefe Seiner geängstigten Seele: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Daran
möge sich ein jeder erinnern und aufhören, zu klügeln und
mit Gott zu rechten. (Schluß folgt.)
Einige Bemerkungen über den Wert
des Abendmahls.
(Schluß.)
Wir kommen jetzt auf den Wert des Abendmahls
zurück. Die Teilnahme an diesem Mahle ist die Gemeinschaft
des Leibes und Blutes desHerrn,
der für uns am Kreuze starb. Möchten wir am Tische
des Herrn, zur Freude unsrer Seelen, den Gedanken
Jesu bei Einsetzung dieses Festes recht erfassen! Der
Feind sucht den Christen die Wirklichkeit dieser Segnung
zu rauben. Der Katholizismus macht aus dem äußeren
Zeichen einen Abgott, indem er lehrt, daß der Leib, das
Blut, die Seele und die Gottheit Jesu Christi sich zusammen
in dem Brote befinden; er macht aus dem Abendmahl
ein Sakrament der Nicht-Versöhnung durch die
Lehre, daß das Blut und das Fleisch zusammen in der
Hostie enthalten seien. Die lutherische Lehre, obwohl sie
Blut und Fleisch getrennt hält, steht in den äußeren
Zeichen den wirklichen Leib und das wirkliche Blut Christi
und verliert dadurch die ganze moralische Tragweite der
156
Einsetzung. Andere wieder verfallen in das entgegengesetzte
Extrem, indem sie in diesem Mahle nur Brot und
Wein, ohne die Gemeinschaft mit dem Opfer Christi, erblicken.
Untersuchen wir darüber das Wort.
In Luk. 22, 19. 20 lesen wir: „Und Er nahm
Brot und dankte und brach und gab es ihnen und sprach:
Dies ist mein Leib, der für euch gegeben ist; dieses thut
zu meinem Gedächtnis! Desgleichen auch den Kelch nach
dem Mahle und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund
in meinem Blut, das für euch vergossen ist."
Die Teilnahme an dem Brote des Abendmahls drückt
also die Gemeinschaft mit dem Leibe des für unsre
Sünden auf dem Kreuze leidenden und sterbenden Christus
aus. Der Herr sagt von diesem Brote: „Dies ist mein
Leib, der für euch gegeben ist." Damit will Er uns
nicht veranlassen, in diesem Brote buchstäblich Seinen
Leib zu sehen, sondern Er will unsern Geist, unser Herz„
unsern Glauben auf jenen erhabenen Augenblick hinlenken,
wo Er sich in Seiner anbetungswürdigen Person auf dem
Kreuze mit unsrer Schuld belud, als unser Stellvertreter
im Gericht Gottes. Wenn ich meinen Freunden das Bild
meines Vaters zeige, so sage ich: „Das ist mein Vater."
Ich sage nicht: „Das ist ein Stück Leinwand, auf dem
sich ein meinen Vater vorstellendes Gemälde befindet;"
und doch ist es nichts anderes. Wenn aber jemand beleidigende
Aeußerungen über dieses Bild thun würde, so
würde ich diese nur als eine Beleidigung meines Vaters
betrachten können. Es würde mir niemals der Gedanke
kommen, in diesem Bilde den wirklichen Körper meines
Vaters zu sehen, und doch ist es für mich tausendmal
mehr wert, als ein bloßes Stück Leinwand.
157
In 1. Kor. 11 erinnert der Apostel an die Einsetzung
des Abendmahls, wie sie ihm direkt durch den
Herrn geoffenbart worden war. Paulus war das aus-
erwählte Werkzeug zur Offenbarung des Geheimnisses von
der Versammlung, dem Leibe Christi. Da das Brotbrechen
der Ausdruck der Einheit des Leibes auf der Erde
ist, so sollte der Apostel, dem die Offenbarung dieser Einheit
anvertraut war, vom Herrn selbst, und nicht von einem
der bei jenem Abendessen anwesenden Apostel, die Worte
empfangen, durch welche Jesus das Abendmahl einsetzte.
Er sagt in Vers 23: „Denn ich habe von dem Herrn
empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der
Herr Jesus in der Nacht, da Er überliefert ward, Brot
nahm, und als Er gedankt hatte, es brach und sprach:
Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies thut zu meinem
Gedächtnis." Ja, in Wahrheit, er ist für uns, dieser
Leib, in welchem Er unsre Sünden getragen hat; er
ist für uns, nicht für die Welt, welche ihn verachtet;
wir find in Gemeinschaft mit diesem Leibe.
Im zehnten Kapitel desselben Briefes zeigt der
Apostel den Korinthern, wie sehr sie sich erniedrigten, wenn
sie teilnahmen an dem Essen der Götzenopfer, und beweist
ihnen, daß sie sich dadurch eins machten mit den
Götzen selbst und sich in die Gemeinschaft der Teufel
begaben. Doch beachten wir, wie er zu dieser Schlußfolgerung
kommt; er zieht sie aus der wunderbaren Thatsache,
welche er in den Worten ausdrückt: „Der Kelch
der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft
des Blutes des Christus? Das Brot, das wir
brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des
Christus?" Welch eine gesegnete Sache ist es doch, dieses
158
Brot zu essen und diesen Kelch zu trinken! Wir sind so
in Gemeinschaft mit dem kostbaren Opfer Christi auf
dem Kreuze. Wenn wir um den Tisch des Herrn versammelt
sind und nach Seinem Beispiele danken, bevor
wir das Brot brechen und den Kelch unter uns teilen, so
geben wir dadurch Zeugnis, daß wir mit Dankbarkeit in
die Gedanken' des Herrn eingehen, der uns durch das
Genießen des Brotes und des Kelches mit Seinem Opfer
Gemeinschaft machen läßt. Laßt uns daher stets daran
denken, welchen Wert dieses Opfer hat, das für uns am
Kreuze dargebracht wurde!
Die Korinther machten sich des Leibes und Blutes
des Herrn schuldig, indem sie auf unwürdige Weise bei
ihren Mahlzeiten das Brot aßen und den Kelch des
Herrn tranken, (1. Kor. 11, 20—22.) und als Züchtigung
dafür waren viele unter ihnen schwach und krank und
nicht wenige sogar entschlafen.
Im Gegensatz zu den Korinthern, welche den Tisch
des Herrn mit Gleichgültigkeit behandelten, giebt es für
Personen, die ein zartes Gewissen haben, aber wenig in
der Gnade befestigt sind, eine andere Schwierigkeit. Es
ist vielleicht etwas zwischen ihnen und dem Herrn vorgefallen,
worüber sie sich vor Ihm haben demütigen müssen;
aber obwohl sie sich völlig vor Ihm gerichtet haben, wagen
sie es doch nicht, an Seinem Tische teil zu nehmen. Ja,
gerade ihre völlige Zerknirschung erzeugt in ihnen den Gedanken,
daß sie des Tisches des Herrn unwürdig seien,
und sie halten sich deshalb, als eine Art von Buße,
von demselben fern. Diese Seelen sind in dieser Beziehung
in einem Irrtum befangen; denn der Apostel
sagt in 1. Kor. 11, 28: „Der Mensch aber prüfe sich
15S
selbst, und also esse er von dem Brote und trinke
von dem Kelche." Indem wir uns selbst prüfen,
erkennen wir an, daß der Tisch des Herrn Rechte hat
an unsre Gewissen; wir verurteilen die Sünde, welche
den Tod des Herrn notwendig gemacht, aber durch die
Gnade in diesem Tode ihr Gericht gefunden hat. Sind
so die Rechte Gottes und Sein Gericht über die Sünde
in dem Gewissen anerkannt, so soll man essen von dem
Brote und trinken von dem Kelche.
Ich füge noch einige Worte hinzu über eine Stelle
in Joh. 6, welche oft auf das Abendmahl angewandt
wird, dadurch aber ihren eigentlichen Sinn verliert und
leicht die Bedeutung des Abendmahls verfälschen kann.
Es sind dies die Verse 53—56: „Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Wenn ihr nicht esset das Fleisch des Sohnes
des Menschen und trinket Sein Blut, so habt ihr kein
Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch isset und mein
Blut trinket, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auf-
erweckeu am letzten Tage; denn mein Fleisch ist wahrhaftig
Speise, und mein Blut ist wahrhaftig Trank. Wer
mein Fleisch isset und mein Blut trinket, der bleibt in
mir und ich in ihm." In dieser Stelle zeigt der Herr
die unumgängliche Notwendigkeit Seines Todes als Erlöser.
Sollten wir das Leben haben, so war es nötig,
daß Sein Blut von Seinem Körper getrennt, und daß
Sein Tod Speise und Trank für uns wurde, als die
Befreiung und das Ende von unserm gefallenen Zustande
und von unsern Sünden. Unser ganzer Zustand in Adam
hat im Tode des Herrn sein Ende gefunden. Nur in
einem gestorbenen Eh'ristus konnten wir aus dem Tode,
in dem wir lagen, errettet werden, und indem wir mit
160
einem gestorbenen und jetzt auferstandenen Christus in
Verbindung gekommen sind nnd uns durch den Glauben
von Seinem Fleische und von Seinem Blute nähren, haben
wir das Leben, das Leben nach dem Tode, das ewige
Leben. Der Herr spricht hier von Seinem zukünftigen
Tode: „Und das Brot aber, das ich geben werde, ist
mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben
der Welt." (V. 51.) Er betont die Notwendigkeit Seines
Todes, auf daß wir das Leben hätten, redet aber nicht
von der Erinnerung und dem Gedächtnis an diesen Tod,
durch welchen wir nun das Leben empfangen haben.
Wenn an dieser Stelle von der Teilnahme am Abendmahl
die Rede wäre, so würde zweierlei die Folge
davon sein: Erstens, niemand würde das Leben haben,
bevor er das Abendmahl genossen hätte: „Wenn ihr
nicht esset das Fleisch des Sohnes des Menschen und
trinket Sein Blut, so habt ihr kein Leben in
euch selbst." Der Uebelthäter am Kreuz zum Beispiel
hätte das Leben nicht gehabt. Zweitens, alle,
welche das Abendmahl genommen hätten, wären errettet:
„Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, hat
ewiges Leben." Dies ist sehr beachtenswert; denn
dann hätten alle, die je das Abendmahl gefeiert haben,
das ewige Leben. Deshalb sage ich, daß die direkte
Anwendung dieser Stelle auf das Abendmahl den Sinn
derselben verfälscht und das Abendmahl seiner wahren
Natur beraubt. Nur diejenigen, welche das Fleisch
des Sohnes des Menschen gegessen und Sein Blut getrunken
haben, haben Recht am Abendmahl, nicht aber,
um dort das Leben zu empfangen, sondern weil sie es
besitzen durch den Tod ihres Heilandes.
161
Möchten wir mit Einsicht und wahrer Gottseligkeit
den geistlichen Wert dieses Gedächtnisses des Todes unseres
Erlösers genießen!
Was nun den Kelch betrifft, so wird es nützlich sein,
zu untersuchen, was uns das Wort über das Blut
sagt. Wenn wir daran denken, welch eine große Menge
Blutes durch das Schlachten der Opfertiere vergossen
worden ist, als Vorbild der Vergießung des kostbaren
Blutes Christi, so können wir uns eine geringe Vorstellung
machen von dem Werte, den Gott dem Blute Seines
Opferlammes beilegt.
Schon gleich nach dem Falle des Menschen 'machte
Jehova Gott Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen,
welche doch nur von geschlachteten Tieren herrühren konnten.
Abel verstand denn auch, daß ein blutiges Opfer
nötig war zwischen Gott und dem Sünder, und so opferte
er von den Erstlingen seiner Herde. Später brachten
Noah, Abraham und Jakob dem Herrn solche Opfer dar,
und zwar bevor noch eine Verordnung bestand, welche
dieselben vorschrieb. Dann richtete Gott in Israel den
Opferdienst ein, durch welchen eine Menge Blut vergossen
wurde, betreffs dessen in der Epistel an die Hebräer gesagt
wird: „Christus aber, gekommen als Hoherpriester
der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren
und vollkommneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht
(das ist nicht von dieser Schöpfung ist), auch nicht mit
Blut von Böcken oder Kälbern, sondern mit Seinem
eignen Blut, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen,
als Er eine ewige Erlösung erfunden hatte.
Denn wenn das Blut von Stieren und Böcken und die
Asche einer jungen Kuh, auf die Unreinen gesprengt, zur
162
Reinigkeit des Fleisches heiligt, wie viel mehr wird das
Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst
ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen
von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen!
.. . Daher auch der erste Bund nicht ohne Blut
eingeweiht worden ist. Denn als jegliches Gebot, nach
dem Gesetz, von Moses zu dem ganzen Volke geredet
war, nahm er das Blut der Kälber und Böcke mit Wasser
und Purpurwolle und Mop und besprengte sowohl das
Buch selbst, als auch das ganze Volk, und sprach: „Dies
ist das Blut des Bundes, den Gott für euch geboten
hat." And auch die Hütte und alle die Gefäße des Dienstes
besprengte er gleicherweise mit dem Blute; und fast alle
Dinge werden mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne
Blutvergießung ist keine Vergebung." (Hebr. 9, 11 — 14.
18-22.)
Alles dieses zeigte vorbildlich die Notwendigkeit der
Vergießung des Blutes Christi. Gott hat Christum dargestellt
zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an
Sein Blut. (Röm. 3, 25.) Der Herr sagt, daß der,
welcher Sein Fleisch isset und Sein Blut trinket, ewiges
Leben habe. (Joh. 6, 54.) Wir haben die Erlösung
durch Sein Blut. (Eph. 1, 7.) Wir haben Freimütigkeit
zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut
Jesu. (Hebr. 10, 19.) Wir sind gekommen zu dem
Blute der Besprengung. (Hebr. 12, 24.) Wir sind
erlöst worden von unserm eiteln, von den Vätern überlieferten
Wandel, nicht mit verweslichen Dingen, Silber-
oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blute
Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken;
welcher zwar zuvorerkannt ist vor Grundlegung der Welt,
163
aber geoffenbart worden am Ende der Zeiten um unsertwillen.
(1. Petri 1, 18—20.) Das Blut Jesu Christi,
Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. (1. Joh.
1, 7.) Dem, der uns liebt und uns von unsern Sünden
gewaschen hat in Seinem Blute . . . Ihm sei die
Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter I
Amen. (Offbg. 1, 5.)
Dieses kostbare Blut ist aus Seiner durchbohrten
Seite hervorgeflossen, als Er schon gestorben war. „Als
sie aber zu Jesu kamen und sahen, daß Er schon gestorben
war, brachen sie Ihm die Beine nicht, sondern einer
der Kriegsknechte durchbohrte mit einem Speer Seine Seite,
und alsbald kam Blut und Wasser hervor." (Joh. 19,
33. 34.) Derselbe Apostel sagt im fünften Kapitel seiner
ersten Epistel: „Dieser ist es, der gekommen ist durch
Wasser und Blut, Jesus der Christus; nicht durch das
Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut."
Dieses Blut ist einer von den drei Zeugen, welche „einstimmig"
sind in ein und demselben Zeugnis, nämlich
„daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses
Leben ist in Seinem Sohne" — nicht in dem ersten
Adam.
Einen solchen Wert legt das Wort dem Blute Christi
bei. Was aber macht dieses Blut so überaus kostbar?
Es ist das Blut eines Lammes ohne Fehl und Flecken.
Es ist das Blut Dessen, der sich ohne Flecken durch den
ewigen Geist Gott geopfert hat.
Der Tod unsers anbetungswürdigen Heilandes war
also nötig, damit die Vergießung dieses kostbaren Blutes
stattfinden konnte, als Gegenbild des Blutes aller der
Opfer, die seit dem Falle des Menschen geschlachtet worden
164
waren. Es war nötig, daß Sein Blut von Seinem
Fleische getrennt wurde. Er hat uns diesen Kelch gegeben
mit den Worten: „Trinket alle daraus; denn dies
ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele
vergossen wird zur Vergebung der Sünden," (Matth. 26,
27. 28.) und: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem
Blute, das für euch vergossen ist." (Luk. 22, 20.) In
1. Kor. 11 wird noch hinzugefügt: „Dies thut, so oft
ihr trinket, zu meinem Gedächtnis." Die Teilnahme an
diesem Kelche ist also ebenfalls die Gemeinschaft mit dem
Opfer des Heilandes auf dem Kreuz. „Der Kelch der
Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft
des Blutes des Christus?" (1. Kor. 10, 16.)
Wunderbare Thatsache! Der Herr fordert uns auf,
den Kelch zu trinken zu Seinem Gedächtnis, und das ist
nichts Geringeres, als die Gemeinschaft Seines kostbaren
Blutes. Indem wir daran teilnehmen, segnen wir diesen
Kelch durch Danksagung und setzen mit Anbetung unser
Siegel auf die Thatsache, daß wir, indem wir ihn trinken,
Gemeinschaft haben mit dem vergossenen Blute unseres
Heilandes. Es giebt für die Christen, welche einigermaßen
der Absicht des Herrn entsprechen, nichts Köstlicheres,
als so in der Wüste ihres anbetungswürdigen
Heilandes zu gedenken und Ihm gemeinschaftlich ihre Loblieder
zu singen.
Der Herr hat den Seinigen sowohl das Brot als
auch den Kelch, jedes für sich und nach einander, gegeben,
und wir haben versucht, den Wert eines jeden
einzelnen vorzustellen; jedoch dürfen wir nicht aus dem
Auge verlieren, daß beide zusammen unserm Glauben
die Wirklichkeit des Todes des Herrn verkündigen. „Denn
165
so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt
ihr den Tod des Herrn, bis Er kommt."
(1. Kor. 11, 26.)
Welch eine Fülle von Gedanken vereinigt sich in der
Feier des Abendmahls! Der Herr wollte, daß wir uns
Seiner erinnerten, als des Gegenstandes der geistlichen
Gefühle, aber auch zugleich als des Herrn, der verworfen,
verraten und für uns gestorben ist, und der durch
das Gericht, welches Er erduldet, unserm Zustande in
dem ersten Adam ein Ende gemacht hat. Dann verkündigen
wir in dem Abendmahl auch die Wiederkunft unsers
Herrn. Ferner giebt eS uns das köstliche Bewußtsein,
daß wir mit allen Gliedern Christi auf der Erde in
Ihm vereinigt sind, und wir verkündigen die große Thatsache
der Einheit des Leibes. Endlich wirkt der
Tod des Herrn auf unsre Gewissen, um bei uns die
praktische Trennung von der Sünde, die einen solchen
Tod nötig machte, hervorzubringen und aufrecht zu halten.
Alles dieses und noch vieles andre vereinigt sich in unsern
Gedanken an diesem Tische. Wir lernen dadurch verstehen,
wie das Abendmahl die Grundlage des Gottesdienstes
bildet, und wie wir, gereinigt vom bösen Gewissen,
einen freien Zugang haben zu der heiligen Gegenwart
Gottes in Seinem Heiligtum. Wir mußten vollkommen
gemacht sein, um nahen zu können. Wir mußten
gereinigt sein und kein Gewissen mehr haben von Sünden,
um Anbetung darbringen zu können. Und das ist es gerade,
was das Opfer Christi hervorgebracht hat. „Denn
durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht,
die geheiligt werden." (Hebr. 10, 14.) „Da wir
nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das
166
Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen
Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang,
das ist Sein Fleisch .... so laßt uns hinzutreten mit
wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens,
die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen
und den Leib gewaschen mit reinem Wasser."
(Hebr. 10, 19—21.) Aus dieser Grundlage sind wir
die wahren Anbeter, welche der Vater gesucht hat,
und von denen Er die Anbetung empfangen wollte in
Verbindung mit der Offenbarung Seines Vaternamens,
von denen das Lob Ihm dargebracht werden sollte, geleitet
durch den Sohn in der Mitte der Versammlung. (Vergl.
Psalm 22, 22 und Hebr. 2, 12.) Wir beten Gott an,
als Gott und als Vater, im Geist und in Wahrheit.
Schließlich geht noch etwas anderes aus dem bisher
Gesagten hervor, nämlich, daß das wirkliche Verständnis
der Feier des Abendmahls unsre Herzen dahin leitet, die
Heiligkeit der Person Christi nach allen Seiten hin zu
wahren und Ihm treu zu sein bis in die kleinsten Einzelheiten.
Wie aber verträgt es sich hiermit, wenn man
sich weigert, entschieden Zeugnis abzulegen gegen alles,
was diese heilige Person herabwürdigt, wenn man ferner
den Tisch des Herrn aufzurichten vorgiebt und doch zugleich
den Grundsatz der Einheit des Leibes beiseite setzt,
der im Brotbrechen seinen Ausdruck findet?
Möchten diejenigen, die der Herr so unaussprechlich
liebt und die Er erkauft hat durch Sein Blut, mehr Verständnis
haben für den Wert Seiner Person und Seines
Werkest Möchten sie ihr Glück darin finden, in Seinem
Namen versammelt zu sein, um gemeinschaftlich Seiner zu
gedenken, bis Er kommt! Möchten wir zu denen gehören,
167
welche der Herr als diejenigen anerkennen kann, die Sein
Wort bewahren und Seinen Namen nicht verleugnen l
Ja, laßt uns festhalten, was wir haben, auf daß niemand
unsre Krone nehme!
Jesus allein.
Wenn ich mich einsam fühle,
Verlassen und bedrückt,
So eil' ich hin zu Jesu,
Allzeit Er mich erquickt.
Bin ich versucht, schleicht Zweifel
Sich ein in mein Gemüt,
Ein Blick, ein Schrei zu Jesu,
Und Satan gleich entflieht.
Wenn vor der Sorgen Schwere
Mein schwaches Herz erbebt,
Wenn Stürme mich umtosen,
Das Meer sich wild erhebt,
Wenn alles mir entgegen
In diesem Thränenthal —
Wie scheucht ein Blick auf Jesum
Die Sorgen allzumal!
Wie köstlich ist's, zu wandeln
Mit Jesu ein und auS!
Er leitet Seine Schäslein
Getreu ins Vaterhaus.
Nichts kann mich jemals reißen
Aus Seiner starken Hand,
Stets hält mich fest und sicher
Der Liebe ew'ges Band.
168
Sollt' alles hier auch schwinden,
Worauf ich einst vertrant,
Und selbst der Freund mich lassen,
Auf den ich fest gebaut —
Ich weiß, mein Heiland-Jesus
Hält, was Sein Mund verspricht,
Trotz Welt, trotz Tod und Teufel
Läßt Er mich ewig nicht.
Er selbst ist mit im Schiffe,
Es steht in Seiner Hut,
Er steuert's durch die Wellen
Und Riffe treu und gut.
Bald langt es an der Küste
Des Himmels sicher an,
Bald ist der Lauf vollendet,
Bald ist das Werk gethan!
Wie voll wird dann ertönen
DaS Lob der sel'gen Schar!
Ein neues Lied sie singen
Dem Lamme immerdar.
Ja, Dank Dir, teurer Jesus,
Mein Heiland und mein Herr!
Jetzt und in alle Zeiten
Anbetung Dir und Ehr'!
Jericho und Achor.
(Josua 6 u. 7.)
(Schluß.)
3.
Der Christ sollte stets fähig sein, den Einwürfen,
welche der Unglaube im Blick auf die Wege und Handlungen
der Regierung Gottes macht, mit einer ruhigen
und entschiedenen Antwort zu begegnen. „Sollte der Richter
der ganzen Erde nicht Recht thun?" Wenn das Geschöpf
ein Recht hat, über den Schöpfer zu urteilen, so ist es
mit aller Regierung in dem weiten Weltall vorbei. Wenn
wir einen Menschen ein Urteil über die Wege Gottes aussprechen
hören, so drängt sich uns unwillkürlich die Frage
auf: „Wer hat denn eigentlich ein Recht, zu richten?"
Hat der Mensch Gott zu richten, oder Gott den Menschen?
Wenn das erstere der Fall ist, dann giebt es überhaupt
keinen Gott, und wenn das letztere, so hat der Mensch in
ehrerbietigem Schweigen sein Haupt zu beugen und seine
Unwissenheit und Thorheit anzuerkennen.
Wenn der Mensch die Regierungswege Gottes verstehen
und ergründen könnte, so wäre er thatsächlich nicht
länger ein Mensch, sondern er wäre Gott. Welch eine
Thorheit ist es daher, wenn ein armer, unwissender und
kurzsichtiger Sterblicher es versucht, ein Urteil über die
tiefen Geheimnisse der göttlichen Regierung zu fällen! Ein
solches Urteil ist nicht nur völlig wertlos, sondern auch
170
gottlos, es ist ein lästerlicher Angriff auf den Thron,
die Natur und den Charakter Gottes, für welchen der
Mensch sich sicherlich vor dem Richterstuhle Christi zu verantworten
haben wird, wenn er nicht vorher Butze thut
und Vergebung findet in dem Blute des Kreuzes.
Der Ungläubige mag sich versucht fühlen, das Gericht,
welches über Achan kam, zu streng zu nennen, er mag Vergleiche
anstellen zwischen der Sünde und der Strafe und
es ein Unrecht nennen, daß die Kinder Achans für die Sünde
ihres Vaters mitbützen mußten. Doch wir erwidern auf
alles dieses einfach: „Sind wir befugt, zu richten?" Wenn
jemand glaubt, er sei befugt, so drückt er dadurch aus,
daß er Gott für unfähig hält, die Welt zu regieren, und
daß eigentlich der Mensch Seine Stelle einnehmen sollte.
Das ist in der That die Wurzel der ganzen Sache. Der
Unglaube möchte gern gänzlich von Gott befreit fein und
den Menschen an die Stelle Gottes setzen. Wenn Gott
wirklich Gott ist, so liegen ohne alle Frage Seine Wege,
die Handlungen Seiner Regierung, die Geheimnisse Seiner
Vorsehung, Seine Ratschlüsse und Seine Gerichte weit
außer dem Bereich jeder menschlichen Beurteilung. Weder
Menschen, noch Engel, noch Teufel können die Gottheit begreifen.
Möchten die Menschen dies anerkennen und ihre
eitlen Vernünfteleien fahren lassen! Möchten sie die Sprache
Hiobs annehmen, nachdem seine Augen geöffnet waren:
„Und Hiob antwortete Jehova und sprach: Ich weiß, daß
Du alles vermagst und in nichts, woran Du denkst, verhindert
werden kannst. „Wer ist's, der den Ratschluß
verdunkelt ohne Kenntnis?" So habe ich nun ausgesprochen,
was ich nicht verstand, zu wunderbar für mich, was ich
nicht kannte. „Höre doch, und ich will reden, ich will
171
-ich fragen, und du belehre mich!" Mit dem Gehör des Ohres
habe ich von Dir gehört, aber nun siehet Dich mein Auge.
Darum verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche."
(Hiob 42,1 — 6.) Wenn die Seele in diesen Zustand kommt,
so hören alle ungläubige Fragen mit einem Male auf.
Doch wenden wir uns zu der feierlich-ernsten Scene im
Thale Achor zurück, indem wir uns erinnern, daß „alles,
was zuvor geschrieben, zu unsrer Belehrung geschrieben
worden ist." Möchten wir daraus lernen, mit heiligem
Eifer gegen die ersten Anfänge und Keime des in unserm
Herzen wirkenden Bösen zu wachen! Ueber diese sollte
der Mensch zu Gericht sitzen, nicht aber über die reinen
und vollkommenen Wege der göttlichen Regierung.
Die Worte Josua's an Achan sind ernst und wichtig:
„Mein Sohn, gieb doch Jehova, dem Gott Israels, Ehre
und thue Ihm Bekenntnis; thue mir doch kund, was du
gethan hast, verhehle es nicht vor mir." (V. 19.) Hier
ist die überaus wichtige Sache: „Gieb doch Jehova, dem
Gott Israels, Ehre." Alles kommt hierauf an. Die Ehre
des Herrn ist der einzig vollkommene Maßstab, nach
welchem alles gerichtet werden muß. Für das Volk Gottes
gilt zu allen Zeiten und in allen Lagen die Frage:
„Was ist passend für die Ehre Gottes?"
Im Vergleich mit dieser Frage sind alle andern minder
wichtig. Es handelt sich nicht darum, was für uns passend
ist, oder was wir ertragen und gutheißen können. Dies
ist in der That sehr unwichtig. Woran wir stets zu
denken und wofür wir zu sorgen haben, ist die Ehre und
Verherrlichung Gottes. Alles, was mit dieser Ehre nicht
in Uebereinstimmung steht, ist auch nicht passend für uns
und sollte weggethan werden.
172
Wie gut wäre es gewesen, wenn Achan hieran gedacht
hätte, als sein Ange auf den verbannten Schätzen
ruhte! Wie viel Elend und Schwerz würde er sich und
seinen Brüdern erspart haben! Doch ach! der Mensch
vergißt dieses, wenn die Lust seine Augen verblendet und
Eitelkeit und Habsucht sein Herz regieren; er geht voran
in der Befriedigung seiner Begierden, bis das Gericht
eines heiligen, die Sünde hassenden Gottes ihn erreicht.
Und dann maßt er sich noch an, ein solches Gericht für
unwürdig eines gnädigen und wohlwollenden Gottes zu
erklären. Welch eine Anmaßung! Der Mensch möchte sich
gern einen Gott machen, der seinen Gedanken und seiner
Einbildung entspricht, der es mit der Sünde nicht so
genau nimmt und allerlei Böses ertragen kann. Der
Gott der Bibel, der Gott und Vater unsers Herrn Jesu
Christi, gefällt dem Menschen nicht; er paßt nicht für
seine ungläubigen Vernünfteleien. Einen solchen Gott
will er nicht.
„Und Achan antwortete Josua und sprach: Fürwahr,
ich habe gesündigt an Jehova, dem Gott Israels, und so
und so habe ich gethan. Ich sah unter der Beute einen
schönen Mantel aus Sinear und zweihundert Sekel Silbers
und eine goldene Zunge, fünfzig Sekel ihr Gewicht, und
mich gelüstete darnach, und ich nahm sie; und siehe, sie sind
verborgen in der Erde im Innern meines Zeltes, und das
Silber darunter." (V. 20. 21.) Ach! der unglückliche
Mann hatte nur an eins gedacht, an die Befriedigung
seiner Habsucht. Er sah, ihn gelüstete, er nahm
und verbarg; und damit hielt er die Sache für beendigt.
Er wähnte sich unbemerkt und völlig sicher in dem Besitz
seines gestohlenen Gutes. Er dachte nicht an den Gott,
173
der alles sah, vor dessen Augen alles bloß und aufgedeckt
ist, und der seine Sünde vor allen offenbar machen würde.
Er hatte mit allen seinen Brüdern den bestimmten Befehl
Jehova's gehört: „Allein hütet euch vor dem Verbannten,
auf daß ihr euch nicht verbannet, und nehmet von dem
Verbannten und das Lager Israels" — nicht nur das
Zelt dessen, der persönlich das Verbot Gottes übertrat,
sondern das ganze Lager — „zum Banne machet
und es in Trübsal bringet. Und alles Silber und alles
Gold und alle ehernen und eisernen Geräte sollen Jehova
heilig sein; in den Schatz Jehova's soll es kommen."
(Kap. 6, 18. 19.)
Diese Worte waren so klar und deutlich, daß niemand
sie mißverstehen konnte. Es bedurfte nur eines aufmerksamen
Ohres und eines gehorsamen Herzens. Doch anstatt
das Wort Gottes in seinem Herzen zu verbergen, auf daß
er nicht sündigte, trat es Achan unter seine Füße, um
seine sündigen Wünsche zu befriedigen. O, wie schrecklich
ist es, dem armen Herzen zu erlauben, den nichtigen
Dingen dieser Welt nachzutrachten! Was sind sie alle
wert? Wenn wir alle die Kleider haben könnten, die jemals
in Babylon gemacht, all das Gold und Silber, das je
auf der Erde gesunden wurde, alle die Perlen und
Diamanten, die jemals an Königen, Fürsten und Edlen
dieser Welt glänzten — würden sie im Stande sein, uns
auch nur für eine Stunde wahres Glück zu verleihen?
Könnten sie einen einzigen Strahl himmlischen Lichtes in
unsre Seele fallen lassen? Könnten sie uns nur für einen
Augenblick einen reinen geistlichen Genuß bereiten? Niemals.
Sie sind in sich selbst nichts als vergänglicher
Staub, der von Satan zum Verderben der Menschen
174
gebraucht wird. Alle die Reichtümer dieser Welt sind
nicht wert, mit einer Stunde heiliger Gemeinschaft mit
unserm Gott und Vater und unserm Herrn und Heiland
verglichen zu werden. Warum sollten wir deshalb die
Schätze dieser Welt begehren? Ist es nicht genug, daß
Gott allen unsern Bedürfnissen begegnen will und begegnet
ist in Christo Jesu? Warum sollten wir unsre Herzen
richten aus die Reichtümer, Ehren oder Vergnügungen
einer verderbten Welt, die von Satan, dem Erzfeinde
unserer Seelen, regiert wird? Wie gut wäre es für Achan
gewesen, wenn er sich mit dem zufrieden gegeben hätte,
was der Gott Israels ihm schenkte! Wie glücklich hätte
er sein können, wenn er sich begnügt hätte mit der Güte
und Freundlichkeit Jehova's und mit der Ruhe, die ein
gutes Gewissen verleiht!
Doch ach! er war es nicht; und daher begegnen wir
der ergreifenden Scene im Thale Achor, deren Schilderung
das stärkste Herz mit Schrecken erfüllt. „Und Josua
sandte Boten hin, und sie liefen zum Zelte, und siehe,
es war verborgen in seinem Zelte, und das Silber darunter.
Und sie nahmen es aus dem Innern des Zeltes und
brachten es zu Josua und zu allen Kindern Israel und
stellten es hin vor Jehova. Da nahm Josua und ganz
Israel mit ihm Achan, den Sohn Serahs, und das
Silber und den Mantel und die goldene Zunge und seine
Söhne und seine Töchter und seine Ochsen und seine
Esel und seine Schafe und sein Zelt und alles, was er
hatte, und sie brachten sie hinauf in das Thal Achor.
Und Josua sprach: Wie hast du uns in Trübsal gebracht!
Jehova wird dich in Trübsal bringen an diesem Tage;
und ganz Israel steinigte ihu mit Steinen, und sie
175
verbrannten sie mit Feuer und bewarfen sie mit Steinen.
Und sie errichteten über ihm einen großen Steinhaufen,
der bis auf diesen Tag ist; und Jehova ließ ab von der
Glut Seines Zornes, darum nannte man den Namen
dieses Ortes das Thal Achor (d. i. Trübsal) bis auf
diesen Tag." (V. 22—26.)
Wie ernst ist alles dieses! Welch einen Warnungsruf
läßt es in unsere Ohren dringen! Laßt uns nicht
versuchen, unter dem Einfluß einer einseitigen Gnadenlehre,
die Schärfe und den tiefen Ernst dieser Schriftstelle
abzuschwächen! Laßt uns mit Aufmerksamkeit die Inschrift
jenes schrecklichen Denkmals im Thale Achor lesen! Wie
lautet sie? „Gott ist gar sehr erschrecklich in der Versammlung
der Heiligen und furchtbar über alle, die um
Ihn her sind." Und: „Wenn jemand den Tempel Gottes
verdirbt, diesen wird Gott verderben." Und endlich: „Unser
Gott ist ein verzehrendes Feuer."
Wahrlich, ernste, erforschende Worte! Sie sind nötig
in diesen Tagen eines gleichgültigen, leichtfertigen Bekenntnisses,
wo die Lehre von der Gnade so viel auf
unsern Lippen ist, aber die Früchte der Gerechtigkeit so
wenig in unserm Leben hervorkommen. Möchten sie uns
lehren, ernstlich zu wachen über unsre Herzen und über
unsern persönlichen Wandel, damit die Sünde nicht ihre
traurigen, schmerzlichen Früchte bringe zur Verunehrung
unsers Herrn und Zur Betrübnis und zum Schaden derer,
die mit uns durch die Bande der Gemeinschaft verbunden
sind!
4.
Wir finden in Hosea 2 eine bemerkenswerte Anspielung
auf „daS Thal Achor." Obgleich diese Stelle
176
nicht gerade in Verbindung steht mit den Wahrheiten,
welche uns augenblicklich beschäftigen, so möchten wir derselben
doch im Vorbeigehen kurz Erwähnung thun.
Jehova redet dort durch den Mund Seines Propheten
von Israel und spricht: „Darum siehe, ich werde sie locken
und sie in die Wüste führen und ihr zum Herzen reden.
Und ich werde ihr von dannen ihre Weinberge geben und
dasThalAchor zu einer Thür derHoffnung;
und sie wird daselbst singen wie in den Tagen
ihrer Jugend, und wie an dem Tage, da sie heraufzog
aus Aegypten." (V. 14. 15.) Welch eine rührende Gnade
strahlt aus diesen Worten hervor! „Das Thal Achor,"
der Ort der „Trübsal," der Ort tieser Beschämung und
Demütigung, der Ort, wo das Feuer des gerechten Zornes
Jehova's die Sünde Seines Volkes verzehrte — dasselbe
Thal soll dereinst „eine Thür der Hoffnung" für Israel
werden; dort soll das Volk singen wie in den Tagen
seiner Jugend. Wie wunderbar, in dem Thale Achor
von Lobliedern zu hören! Welch herrliche Triumphe der
Gnade! Welch eine glückselige, gesegnete Zukunft für
Israel!
„Und es wird geschehen an selbigem Tage,
spricht Jehova, daß du mich nennen wirst: Mein Mann,
und mich nicht mehr nennen wirst: Mein Baal. Und ich
werde wegschaffen die Namen der Baalim aus ihrem Munde,
und ihrer wird nicht mehr gedacht werden bei ihren Namen.
Und ich werde an selbigem Tage einen Bund
für sie machen mit den wilden Tieren des Feldes und
mit den Vögeln des Himmels und den kriechenden Tieren
der Erde, und Bogen und Schwert und den Krieg werde
ich zerbrechen aus dem Lande und werde sie in Sicher
177
heit wohnen lassen. Und ich will dich mir verloben
in Ewigkeit, und ich will mich dir verloben in Gerechtigkeit
und in Recht und in Gnade und in Barmherzigkeit;
und ich will dich mir verloben in Treue, und
du wirst Jehova kennen." (V. 16—20.)
Wir bitten jetzt den Leser, sich mit uns zu den ersten
Kapiteln der Apostelgeschichte zu wenden. Wir finden
dort dieselben beiden Resultate der Gegenwart Gottes in
der Mitte Seines Volkes, denen wir in den beiden unsrer
Betrachtung vorliegenden Kapiteln begegnet sind, nur in
noch weit herrlicherer Entfaltung, als hier. Am Tage
der Pfingsten kam Gott, der Heilige Geist, hernieder, um
die Kirche zu bilden und Seine Wohnung in ihr aufzuschlagen.
Diese große und glorreiche Thatsache war gegründet
auf die Erfüllung des Werkes der Versöhnung
und auf die Verherrlichung Christi zur Rechten des Vaters.
Wir können hier diese Wahrheit nicht weiter verfolgen;
wir möchten die Aufmerksamkeit des Lesers nur darauf
hinlcnken, daß sich auch hier die beiden genannten praktischen
Folgen der Gegenwart des Herrn — Vorrecht und
Verantwortlichkeit — enge mit einander verbunden finden.
War Er in der Versammlung, um zu segnen, so war
Er auch da, um zu richten.
Die gesegnete Folge der verwirklichten Gegenwart
des Heiligen Geistes bestand darin, die Herzen der Gläubigen
in heiliger und lieblicher Gemeinschaft mit einander
zu verbinden und sie dahin zu leiten, ihre persönlichen
Interessen dem gemeinsamen Wohl aufzuopfern. „Alle
die Gläubigen aber waren zusammen und hatten alles
gemein; und sie verkauften die Güter und die Habe und
verteilten sie an alle, je nachdem irgend einer Bedürfnis
178
hatte." (Apstg. 2, 44. 45.) Welch gesegnete Früchte l
Wenn wir nur auch heute mehr davon sähen! Es ist
wahr, die Zeiten haben sich geändert, aber Gott ist derselbe
geblieben und ebenso die Wirkung Seiner Gegenwart,
wenn sie in Wahrheit verstanden und verwirklicht
wird. Wir befinden uns allerdings nicht mehr in Apostelgeschichte
2. Die Zeit der Pfingsten ist vorüber, und die
bekennende Kirche liegt in hoffnungslosem Verfall. Alles
das ist leider nur zu wahr; aber Christus, unser Haupt,
bleibt in all Seiner lebendigen Kraft und unveränderlichen
Gnade derselbe. „Der feste Grund Gottes stehet" —
ebenso fest und unerschütterlich heute, wie in den Tagen
der Pfingsten. Hier giebt es, Gott sei Dank! keinen
Wechsel, und deshalb können wir mit allem Vertrauen
sagen, daß sich da, wo die Gegenwart des Herrn verwirklicht
wird, auch dieselben lieblichen Früchte zeigen werden,
wie ehemals, und wäre es nur durch „zwei oder drei."
die im Namen Jesu versammelt sind. Nicht daß in derselben
Weise, wie damals, die Güter von den Einzelnen
wieder zusammengebracht werden, um alles gemein zu
haben; aber dieselbe Gnade, welche einst diese besondere
Form annahm, wird die Herzen aufs engste mit einander
verbinden und in ihnen die Bereitwilligkeit wirken, nicht
nur ihren Besitz, sondern auch ihr Leben zum Besten der
Andern aufzuopfern.
Laßt uns nicht vergessen, daß — obwohl wir uns
nicht in den erfrischenden Tagen der Pfingsten, sondern
in den „schweren Zeiten" der „letzten Tage" befinden —
der Herr dennoch mit denen ist, „die Ihn anrusen aus
reinem Herzen," und Seine Gegenwart ist alles, was wir
bedürfen. Laßt uns Ihm vertrauen, uns auf Ihn stützen
179
und zusehen, daß wir stets in einer Stellung sind, in
welcher wir auf Seine Gegenwart rechnen können, in einer
Stellung gänzlicher Absonderung von alledem, was Er
„Ungerechtigkeit" nennt, von „den Gefäßen zur Unehre"
in dem „großen Hause," sowie von allen, welche eine
Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen!
Dies sind die unumgänglich nötigen Bedingungen,
unter welchen die göttliche Gegenwart durch irgend eine
Gemeinschaft von Christen verwirklicht werden kann. Wir
mögen zusammenkommen und uns zu einer Versammlung
vereinigen, wir mögen bekennen, auf göttlichem Boden zu
stehen, und uns die Versammlung Gottes nennen, wir
mögen endlich alle jene Schriftstellen auf uns beziehen,
welche nur auf diejenigen ihre Anwendung finden, die
wirklich durch den Heiligen Geist zu dem Namen Jesu
versammelt sind — wenn aber die notwendigen Bedingungen
fehlen, wenn wir nicht „den Herrn anrufen aus reinem
Herzen," wenn wir mit „Ungerechtigkeit" und mit „Gefäßen
zur Unehre" verbunden sind, so dürfen wir nicht
erwarten, die Gegenwart des Herrn verwirklichen zu
können. Ebenso gut hätte Israel es erwarten können
mit einem Achan im Lager. Um göttliche Resultate
zu erzielen, müssen göttliche Bedingungen vorhanden und
erfüllt sein.
Wir reden jetzt nicht von der Errettung der Seele,
so köstlich und wichtig diese ist. Unser Gegenstand ist
die unzertrennliche Verbindung zwischen Vorrecht und Verantwortlichkeit
bei allen denen, die des Herrn Volk zu
sein bekennen, und wir möchten es mit allem Ernst auf
die Seele des Lesers binden, daß, trotz des hoffnungslosen
Verfalls der bekennenden Kirche, es dennoch das
180
glückselige Vorrecht von zweien oder dreien ist, im Namen
Jesu versammelt zu sein, getrennt von all dem Bösen
und all den Irrtümern um uns her, in Anerkennung
unsrer gemeinsamen Sünde, im Gefühl unsrer Schwachheit
und im Aufblick zu Ihm, daß Er bei uns sein und
uns segnen möge nach der unveränderlichen Liebe Seines
Herzens. Für alle, die so versammelt sind, hat unser
gnädiger und treuer Herr Segnungen ohne Maß. Sicher
werden sie fühlen, daß sie sich nicht in den Tagen von
Apostelgesch. 2 befinden, sondern in der Zeit leben, von
welcher der Apostel Paulus in 2. Timoth. 2 redet. Doch
Christus ist ebenso völlig genügend für diese Tage, wie
Er es war für jene. Die Schwierigkeiten mögen oft
groß sein, aber Seine Hülssquellen sind unerschöpflich.
Es wäre Thorheit, die Schwierigkeiten zu leugnen, aber
es wäre ebenso sehr Unglaube, die Allgenugsamkeit Christi
für alle Lagen und Umstände, für alle Schwierigkeiten
in Frage zu ziehen. Er hat verheißen, bei den Seinigen
zu sein „alle Tage, bis zur Vollendung des Zeitalters."
Aber Er kann keine Unaufrichtigkeit, noch unwahres Wesen
bei den Seinigen dulden. Er erwartet Wirklichkeit und
„Wahrheit im Innern."
O, möchten wir es nie vergessen, daß unser Gott
Seine Wonne hat an der Aufrichtigkeit unsrer Herzen
und der Redlichkeit unsrer Vorsätze und Absichten! Er wird
ein Herz, das auf Ihn traut, nimmer beschämen; aber
wir müssen Ihm auch völlig vertrauen. Es genügt nicht,
von einem Vertrauen auf Ihn zu reden, während wir
uns auf unsre eignen Anordnungen und Vorkehrungen
verlassen. Gerade hierin fehlen wir in so trauriger Weise.
Wir lassen Ihm nicht Raum, zu handeln in unsrer Mitte,
181
und berauben uns dadurch, weit mehr, als wir denken
können, der gesegneten Offenbarung Seiner Gegenwart
und Gnade in unsern Zusammenkünften. Sein Geist ist
gehindert, und wir fühlen uns arm und trocken, während
wir jubeln könnten in der Fülle Seiner Liebe und der
Macht Seines Dienstes. Unmöglich kann Er diejenigen
täuschen, welche, in Anerkennung ihres wahren Zustandes,
ernstlich auf Ihn blicken. Er kann sich selbst
nicht verleugnen, und Er wird niemals den Seinigen vorwerfen,
daß sie zu viel auf Ihn gerechnet hätten.
Wir haben in der gegenwärtigen Zeit keine besondere
Machtentfaltung in unsrer Mitte zu erwarten. Wir haben
weder Sprachen, noch Gaben der Heilungen, noch Wunder,
noch erfahren wir solch außerordentliche Offenbarungen
der Thätigkeit der Engel für uns, wie sie in den Tagen
der Apostel geschahen. Auch haben wir keine solch plötzliche
und schreckliche Ausübung des Gerichts zu erwarten,
wie sie uns in der Geschichte von Anamas und Sapphira
begegnet. Solche Dinge würden nicht im Einklang stehen
mit dem gegenwärtigen Zustand der Dinge in der Kirche
Gottes. Ohne Zweifel besitzt unser Herr Jesus alle
Macht im Himmel und auf Erden, und Er könnte, wenn
es Ihm so wohlgefiele, diese Macht heute so gut ausüben,
wie in den Pfingsttagen. Aber Er thut es nicht, und
wir können den Grund leicht verstehen. Wir haben gesündigt
und gefehlt und sind abgewichen von der heiligen
Autorität des Wortes Gottes. Dies dürfen wir nie vergessen.
Unser Teil ist es jetzt, in demütiger, niedriger
Gesinnung einherzugehen. Wir sollten zufrieden sein mit
einem sehr niedrigen und verborgenen Platze. Es würde
uns übel anstehen, wenn wir einen hervorragenden Platz
182
oder eine bevorzugte Stellung in dieser Welt suchen wollten.
Wir können nie zu klein sein in unsern eigenen Augen.
Doch zu gleicher Zeit können wir, wenn wir uns
an unserm richtigen Platze befinden und im rechten Geiste
stehen, völlig auf die Gegenwart Jesu rechnen; und wir
dürfen versichert sein: da, wo Er ist, wo Seine gnädige
Gegenwart gefühlt wird — da können wir die gesegnetsten
Resultate erwarten; sie wird sowohl unsre Herzen
in wahrer brüderlicher Liebe mit einander verbinden und
uns anleiten, gegen alle Menschen in Gnade und Freundlichkeit
zu handeln, als auch uns treiben, alles das Hinwegzuthun,
was Seinen Namen verunehren und Seiner
Kirche oder Versammlung Schaden bringen könnte.
Wie sollen wir die Schrift lesen ?
Es ist sehr schwierig, die richtige Weise vorzuschreiben,
in welcher wir die Heilige Schrift lesen und studiren
sollten. Die unendlichen Tiefen des Wortes Gottes erschließen
sich, gleich den unerschöpflichen Hülfsguellen, die
in Gott selbst sind, und den moralischen Herrlichkeiten der
Person Christi, nur dem Glauben und dem Bedürfnis.
Es sind nicht hohe Verstandeskräfte und besondere Veranlagungen
des Geistes, die wir bedürfen; was uns not
thut, ist die ungekünstelte Einfalt eines Kindes. Derselbe
Gott, der die Schriften eingab, muß auch unsern Verstand
öffnen, um ihre köstlichen Belehrungen aufnehmen
zu können. Und Er wird dies thun, wenn wir nur in
wirklicher Aufrichtigkeit des Herzens auf Ihn warten.
Indessen dürfen wir nie die wichtige Thatsache aus
-em Auge verlieren, daß unsre Erkenntnis nur in dem
183
Maße wachsen wird, als wir das, was wir erkannt haben,
in unserm praktischen Wandel verwirklichen. Es genügt
nicht, sich niederzusetzen und wie ein „Bücherwurm" die
Bibel von Anfang bis zu Ende durchzustudiren. Wir können
unsern Kopf mit einer Menge biblischer Wahrheiten anfüllen
und die Lehren der Bibel und den Buchstaben der
Schrift auswendig kennen, ohne dadurch die geringste
geistliche Kraft zu empfangen. Wir müssen an das Wort
Gottes herantreten, wie ein Durstiger zu der Quelle, ein
Hungriger zu dem gedeckten Tisch und ein Seemann zu
seiner Karte eilt. Wir müssen zu ihm gehen, weil wir es
nicht entbehren können — nicht nur, um es zu studiren,
sondern um uns von ihm zu nähren. Die Triebe der
göttlichen Natur führen uns naturgemäß zu dem Worte
Gottes, so wie das neugeborne Kind begierig ist nach der
Milch, durch welche es wachsen muß. Der neue Mensch
wächst nur dadurch, daß er sich von dem Worte nährt.
Wir sehen daraus, von welch praktischer Wichtigkeit
die Frage ist, wie wir die Schrift lesen sollen. Sie steht
in inniger Verbindung mit unserm ganzen moralischen und
geistlichen Zustand, mit unserm täglichen Wandel und
unsern Gewohnheiten und Wegen. Gott hat uns Sein
Wort gegeben, um durch dasselbe unsern Charakter zu
bilden, unser Verhalten zu leiten und unser ganzes Thun
und Lassen zu regieren. Wenn daher das Wort keinen
bildenden Einstuß und keine leitende Macht auf uns ausübt,
so ist es die größte Thorheit, eine Menge von Schriftwahrheiten
in unserm Verstände aufzuhäufen. Dies kann
uns nur aufblähen und irreleiten. Es ist äußerst gefährlich,
von Wahrheiten zu reden und sich des Besitzes derselben
zu rühmen, ohne daß Herz und Gewissen davon
— < 184 —
berührt sind; es betrübt den Geist, macht das Herz gleichgültig,
das Gewissen gefühllos und ist jedem wahrhaft
frommen Gemüt anstößig. Nichts ist mehr dazu angethan,
uns völlig den Händen des Feindes zu überliefern,
als eine ausgedehnte Kopf-Kenntnis der Wahrheit ohne
ein zartes Gewissen und ein aufrichtiges Herz. Gerade
dieses bloße Wkennen der Wahrheit, ohne daß dieselbe
aus das Gewissen Einfluß ausübt und in dem praktischen
Leben zu Tage tritt, ist eine der besonderen Gefahren
unsrer Zeit. Weit besser ist es, nur wenig, aber dieses
Wenige in Wirklichkeit und Aufrichtigkeit zu wissen, als
eine Menge von Wahrheiten zu bekennen, die kraft- und
wirkungslos in meinem Kopse ruhen und keinen bildenden
Einfluß auf mein Leben ausüben. Viel lieber will ich
ausrichtig in Römer 7 sein, als nur meiner Einbildung
nach in Römer 8. In dem ersten Falle bin ich sicher,
daß ich zurechtkommen werde, in dem letzteren aber weiß
niemand, wo ich enden mag.
Was den Gebrauch menschlicher Schriften bei dem
Studium des Wortes Gottes anbetrifft, so ist große Vorsicht
nötig. Ohne Zweifel kann und will der Herr die
Schriften Seiner Diener zu unsrer Unterweisung und
Auferbauung benutzen, ebenso wie Er ihren mündlichen
Dienst dazu gebraucht. Ja, in dem gegenwärtigen, zertrennten
Zustande der Kirche ist es wunderbar, die reiche
Gnade und zarte Sorge des Herrn zu bemerken, womit Er
die Schriften Seiner Knechte benutzt, um Seine teuer Erkauften
zu nähren und zu pflegen. Aber dennoch ist für uns
große Vorsicht nötig, damit wir nicht diese schätzenswerte
Gabe des Herrn mißbrauchen und dahin kommen, gleichsam
mit geborgtem Kapital Handel zu treiben. Wenn
185
wir wirklich abhängig sind von Gott, so wird Er uns stets
das Richtige geben — das rechte Buch und die für uns
passende Nahrung.
Aber vergessen wir nicht, daß menschliche Schriften,
so gut und gesegnet sie sein mögen, dennoch immer menschliche
Schriften bleiben, daß derMensch, wenn auch der
begabteste und aufrichtigste, in ihnen zu uns redet. Die
Heilige Schrift dagegen ist die Stimme Gottes, und
das geschriebene Wort gleichsam die Kopie des lebendigen
Wortes, des Sohnes Gottes. Gott selbst redet zu uns,
und der Heilige Geist führt uns in Sein Wort ein und
offenbart uns die unergründlichen Tiefen desselben. Die
Schrift ist es, die uns zurechtweist und uns unterweist in
der Gerechtigkeit, daß wir „vollkommen seien zu allem
guten Werke völlig geschickt." Sie ist die „vernünftige,
unverfälschte Milch," durch welche wir wachsen zur Errettung.
Laßt uns deshalb nach ihr begierig fein, wie
neugeborene Kindlein! Laßt sie unS lesen mit immer
neuem Hunger, mit einem aufrichtigen, unterwürfigen
Herzen, mit aller Demut und Ehrerbietung! Lassen wir
uns durch das Wort richten! Möge es in Wahrheit
eine Leuchte für unsere Füße und ein Licht auf unserm
Wege sein!
„Auf daß ich Christum gewinne!"
Das kurze Wort, welches die Ueberschrift dieses Artikels
bildet, vergegenwärtigt uns den ernsten Wunsch
eines Btannes, der in Christo einen Gegenstand gefunden
harte, welcher alle seine Gedanken und Wünsche in Anspruch
nahm und sein Herz regierte. Es ist der Ausruf eines
186
Herzens, dessen einziges Begehren es war, in der Erkenntnis
und Wertschätzung des Gesegneten zu wachsen, der alle
Himmel mit Seiner Herrlichkeit erfüllt. Die ganze Stelle,
aus welcher die obigen Worte herausgenommen sind, ist
voll lebendiger Kraft und Schönheit. Wir führen sie hier
an: „Aber was mir Gewinn war, das habe ich um
Christi willen für Verlust geachtet; ja wahrlich, ich achte
auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, um dessen willen ich
alles eingebüßt und es für Dreck achte, auf daß ich
Christum gewinne und in Ihm erfunden werde, nicht
habend meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern
die durch den Glauben an Christum ist — die Gerechtigkeit
aus Gott durch den Glauben." (Phil. 3, 7 — 9.)
Beachten wir besonders die Worte: „Was mir Gewinn
war." Der Apostel spricht hier nicht von seinen Sünden,
von seiner Schuld, von Dingen, deren er sich als Mensch
hätte schämen müssen. O nein; er redet von seinen Ehren,
von seinen Auszeichnungen, von seinen religiösen und
moralischen Vorzügen, mit einem Wort, von Dingen, die
dazu angethan waren, ihn zu einem Gegenstand des Neides
für seine Mitmenschen zu machen. Alle diese Dinge aber
achtete er für Verlust, auf daß er „Christum gewinne."
Ach, wie wenige unter uns verstehen etwas hiervon!
Wie wenige erfassen die Bedeutung und wahre Kraft des
Ausdrucks: „Auf daß ich Christum gewinne!" Die
meisten von uns sind zufrieden, an Christum zu denken,
als die Gabe Gottes, die Er dem Sünder schenkt. Wir
begehren nicht, ihn als unsern Preis zu gewinnen durch
das Aufgeben alles dessen, was die Natur liebt und schätzt.
Diese beiden Dinge sind durchaus verschieden. Als arme,
187
elende, schuldige und verdammungswürdige Sünder werden
wir nicht aufgefordert, etwas zu thun, oder zu geben oder
aufzugeben. Wir werden eingeladen, ja genötigt, zu nehmen,
umsonst zu nehmen. „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab." „Die Gabe Gottes
ist ewiges Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn."
„Wenn du die Gabe Gottes kanntest und wer es ist, der
zu dir spricht: Gieb mir zu trinken, so würdest du Ihn gebeten
haben, und Er hätte dir lebendiges Wassers gegeben."
Alles dieses ist vollkommene, segensreiche Wahrheit.
Gott sei dafür gepriesen! Aber dann giebt es eine andere
Seite der Frage. Was meinte Paulus damit, wenn er
sagte: „Auf daß ich Christum gewinne?" Er besaß Christum
schon als die freie Gabe Gottes. Er hatte Ihn im Glauben
von Gott empfangen. Was bedurfte er nun noch mehr?
Er wünschte Christum zu gewinnen, als seinen Preis,
mochte es auch alles kosten, was er besessen hatte. So wie
Christus, der wahre Kaufmann, alles verkaufte, was Er
hatte, um die in Seinen Augen so „sehr kostbare Perle"
zu besitzen, wie Er sich Seiner Herrlichkeit entäußerte
und alle Seine Ansprüche als Mensch und als Messias
aufgab, um die Kirche für sich selbst zu besitzen — so
gab auch Paulus in seinem Maße alles auf, um jenen
herrlichen, unschätzbaren Gegenstand zu haben, der seinem
Herzen am Tage seiner Bekehrung geoffenbart worden war.
Er sah in dem Sohne Gottes eine solche Schönheit nnd
Vortrefflichkeit, eine solche moralische Herrlichkeit, daß er
freiwillig alle die Ehren, Auszeichnungen, Vergnügungen
und Reichtümer dieser Welt preisgab, damit Christus
jeden Winkel seines Herzens ausfüllen und alle seine
Kräfte in Anspruch nehmen möchte. Er begehrte Ihn
188
nicht nur zu kennen, als Den, der seine Sünden hinweggethan
hatte, sondern auch als Den, der alle die Wünsche seines
Herzens befriedigen und alles, was die Erde zu geben
vermochte, beiseite setzen konnte.
Lassen wir unsern Blick ein wenig auf diesem Gemälde
ruhen, mein lieber Leser! Betrachten wir diesen
treuen Diener Gottes in seiner Dahingabe, in seinem ernsten
Streben und Verlangen, Christum zu gewinnen und in Ihm
erfunden zu werden. Können wir nicht für uns eine beherzigenswerte
Lehre aus seinen Worten ziehen? Steht
nicht die Gesinnung, die ihn beseelte und in seinem ganzen
Wandel zum Ausdruck kam, in direktem Gegensatz zu dem
kalten, selbstsüchtigen, weltliebenden und vergnügungssüchtigen
Geiste unsrer Tage? Enthalten seine Worte
nicht einen scharfen Tadel im Blick auf die Gleichgültigkeit
und Herzlosigkeit, deren wir uns leider so oft anklagen
müssen und die in zahl- und namenlosen Fällen zum
Ausdruck kommen? Wo finden wir unter uns dieses
Streben und Sehnen, Christum zu gewinnen und in Ihm
erfunden zu werden? O möchten wir doch alle „also gesinnt"
sein, wie der treue, gesegnete Apostel es war, möchten
wir „in denselben Fußstapfen wandeln" und „seine Nachfolger"
werden! Er konnte sagen: „Eins aber thue
ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach
dem, was davorne ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel anschauend,
hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes
nach oben in Christo Jesu." Möchte dieses Eine sich
auch bei uns mehr und mehr finden!
189
„Du hast mein Wort bewahrt."
In Joh. 14, 23 bezeichnet der Herr das Bewahren
oder Halten Seines Wortes als einen Beweis der Liebe
zu Ihm. „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein
Wort — nicht „meine Worte" — halten." In Offenbarung 3
wird uns das Bewahren Seines Wortes als einer der
besonderen Charakterzüge Philadelphia's vorgestellt. Es
ist daher offenbar, daß wir demselben nicht zu viel Gewicht
beilegen können und wohl daran thun, zu untersuchen,
was denn das Halten des Wortes Christi bedeutet. Es
ist mehr als Gehorsam; man könnte sagen, es ist das,
was aus dem Gehorsam entsvringt. Es heißt das Wort des
Herrn so hochschätzen, daß man es in das Herz einschließt,
wo es dann durch die Macht des Heiligen Geistes wirksam
wird, göttliche Gedanken nnd Zuneigungen erweckt,
von dem Bösen trennt und reinigt, so wie Christus selbst
rein ist. So in dem Herzen bewahrt, wird es das Licht
für den täglichen Pfad des Gläubigen und regiert sein
ganzes Leben. Dann müssen wir uns erinnern, daß das
Wort Christi — d. i. die Summe Seiner Mitteilungen
an die Seinigen — thatsächlich die Offenbarung Seiner
selbst ist. Jede Vorschrift, die uns durch die Schriften
gegeben wird, ist daher ein Zug Seines eigenen Lebens.
Wenn wir z. B. ermahnt werden, „als Auserwählte Gottes,
Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Güte, Niedrig-
gesinntheit, Milde und Langmut anzuziehen," (Kol. 3,12.)
so geschieht es, weil Er auf Seinem Wege durch dies
Welt alle diese Dinge zur Schau trug, ja, weil Er dies
in That und Wahrheit ist. Denn diese Dinge sind nur
die Strahlen der Herrlichkeit, welche wir mit aufgedecktem
190
Angesicht in Ihm, der jetzt zur Rechten Gottes sitzt, entdecken.
Christus selbst ist deshalb, sowie Er in Seinem Worte
geoffenbart ist, unser einziges Muster, unser Maßstab für
Wandel und Heiligkeit; wenn wir daher Sein Wort halten,
so wird nur das, was Ihm wohlgefällig und mit Ihm
in Uebereinstimmung ist, von uns angenommen, alles
andere aber verworfen werden.
Der Ausdruck: „das Wort Christi halten oder bewahren,"
umfaßt also den ganzen Boden, auf welchem
der Gläubige steht — sein Leben und seinen persönlichen
Wandel, sein Verhältnis zu Christo und zu den übrigen
Gläubigen, mit denen er ein Glied am Leibe Christi bildet,
sowie endlich seine und ihre Thätigkeit im Gottesdienst
und im Werke des Herrn. Es ist indes möglich, daß
wir Sein Wort halten in bezug auf die äußere Stellung,
die wir einnehmen, und uns der Erkenntnis in demselben
rühmen, während wir es in Wort und Wandel verleugnen.
Wenn wir dies thun, so ist es der sichere Beweis, daß
wir uns selbst betrügen und einen laodicäischen Geist in
uns nähren. Ist jedoch der aufrichtige Wunsch in
unserm Herzen, Sein Wort zu halten, so werden wir es
unausgesetzt dazu benutzen, alle unsre Wege und Handlungen,
alle unsre Verbindungen, all unser Thun, sei es in
oder außer der Versammlung, in seinem Lichte zu prüfen.
Es braucht kaum gesagt zu werden, daß dies der
Pfad ist, auf dem wir allein Segnung erwarten können.
Es ist der Gegenstand des ganzen 5. Buches Mose,
ja, in gewissem Sinne, eines jeden Buches der Heiligen
Schrift. Wir finden es immer wieder bewahrheitet, daß
das Volk Gottes, so oft es seine Freude fand an Seinem
Worte, in ungestörtem Glück und in Sicherheit wohnte
191
und Tag für Tag die Güte, Gnade und Liebe des Herrn
erfuhr. Sobald es aber dieses Wort vernachlässigte, oder
gar verwarf, geriet es in Schwierigkeiten und Elend.
Das belehrt uns unzweideutig, daß das Mittel zu unsrer
Wiederherstellung, mögen die Zeiten und Umstände sein,
welche sie wollen, in einer aufrichtigen Rückkehr zu dem
Worte Christi besteht. Wir müssen beginnen mit Selbstgericht,
indem wir uns selbst und unsre Wege durch das
Wort beurteilen: „Denn das Wort Gottes ist lebendig
und wirksam und schärfer, denn jegliches zweischneidige
Schwert und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele
und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes,
und ein Urteiler der Gedanken und Gesinnungen des
Herzens; und kein Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern
alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen,
mit dem wir es zu thun haben." (Hebr. 4, 12. 13.)
Wir sollten mit allem Ernst untersuchen, wo und wie
wir zuerst von dem Worte abgewichen, alles prüfen, womit
wir durch diese Abweichung in Verbindung gekommen
sind, und ungesäumt hinwegthun, was nicht dem Worte
entspricht, so schön und anziehend es uns auch bisher
geschienen haben mag. Demütigen wir uns dann vor
Gott mit Bekenntnis und wahrem Gebrochensein des
Herzens und Geistes, bitten wir Ihn um die Gnade, daß
Sein Wort reichlich in uns wohne, so werden wir uns
bald von neuem Seiner Gegenwart und Seiner Segnungen
erfreuen. Der Herr Jesus muß den ersten Platz
in unserm Herzen haben, und praktisch geben wir Ihm
diesen Platz, wenn wir Seinem Worte unterworfen sind.
Sicher ist unser gegenwärtiger Zustand ein schwacher,
und die „schweren Zeiten," von welchen Paulus an
192
Timotheus schreibt, sind über uns gekommen; aber dennoch
können wir mit aller Gewißheit sagen, daß da, wo
eine Anzahl von Christen durch die Gnade Gottes
und die Macht Seines Geistes dahin geleitet wird, mit
aufrichtigem Herzensentschluß das Wort Christi zu halten,
reiche, unbegrenzte Segnungen ihr Teil sein werden. Sie
werden in einer bisher ungekannten Weise die Gegenwart
des Herrn in ihrer Mitte erfahren, wenn sie in Seinem
Namen versammelt sind; sie werden das Zeugnis Seines
Wortes begleitet sehen von der Kraft des Geistes und
persönlich den Genuß der reichsten aller Segnungen erfahren
— Christus selbst wird sich ihren Herzen offenbar
machen. (Joh. 14, 21- 23.) Möge der Herr in unsern
Herzen wirken und den sehnlichen Wunsch in uns wachrufen,
erfunden zu werden in dem Halten Seines Wortes
um Seines Namens willen!
Der Tod.
Es giebt zwei Gesichtspunkte, von welchen aus man
den Tod betrachten kann. Von feiten der Natnr betrachtet,
ist der Tod höchst schrecklich; er ist der letzte Feind des
Menschen, sein furchtbarster Gegner. Alles, was ich als
Mensch besitze, wird der Tod mir nehmen. Reichtümer,
Ehren, Würden, Vergnügungen, kurz alles, was das
menschliche Herz schätzt, was das Glück des Menschen
dieser Welt ausmacht und das Leben verschönert — alles
muß ich dahinten lassen, wenn der Tod seine kalte Hand
auf mich legt. Besäße ich auch zehnmal so viel, als
Salomo in den Tagen seiner höchsten Herrlichkeit sein
eigen nannte, ja, könnte ich über die Schätze des Weltalls
193
gebieten — nichts vermöchte mich zu retten vor dem
grausamen Könige der Schrecken, nichts auch nur für
eine Minute Aufschub von ihm zu erwirken. Wenn der
Tod kommt, so muß ich scheiden. Ich mag weinen
und klagen, flehen und seufzen, ich mag die geschicktesten
Aerzte zu Rate ziehen, die kostbarsten Arzneien einnehmen
und meine treuesten Freunde an mein Lager rufen — alles,
alles ist vergebens. Ich muß hinweg von allen meinen
Freuden, von allen meinen Vergnügungen und Liebhabereien,
hinweg von Freunden und Bekannten. Und
wohin? Das ist die ernste, überaus wichtige Frage, welche
früher oder später ihre Beantwortung finden muß. Es
nützt nichts, diese Frage von sich abzuweisen und sie im
Geräusch des täglichen Lebens zu vergessen zu suchen.
Sie tritt einmal an einen jeden heran und muß dann
beantwortet werden. Ja, wohin führt der Tod den
natürlichen Menschen? Zum Gericht und zu einer finstern,
nie endenden Ewigkeit! Welch ein überwältigender Gedanke l
Doch es giebt, wie gesagt, noch eine andere Seite,
von welcher aus man diese Frage betrachten kann. Hast
du jemals 1. Kor. 3, 22 gelesen? Dort werden die
wunderbaren Reichtümer, welche der Gläubige in Christo
besitzt, aufgezählt. „Alles ist euer," sagt der Apostel,
und unter diesem „allen" nennt er auch „den Tod."
Welch ein merkwürdiges Besitztum: „der Tod!" „Der
Tod ist euer." Wie ist das möglich? Wie konnte eS
geschehen, daß der meist gefürchtete Feind des Menschen —
sein bitterster Gegner, vor dem er mit Angst znrück-
schreckt — ein Teil seines Eigentums wurde? Das Kreuz
Christi liefert die Antwort. Christus starb für unsere
Sünden, „nach den Schriften," Er, der Gerechte, für
194
die Ungerechten. So hat Er dem Tode seinen Stachel
genommen — denn der Stachel des Todes ist die Sünde —
und seinen Charakter für den Gläubigen vollkommen verändert.
Er hat ihn aus einem schrecklichen Feinde zu
einem Freunde gemacht. Christus ist in den finstern
Strom des Todes hinabgestiegen, hat seine Fluten ausgetrocknet
und ihn für die Seinigen zu einem Pfade gemacht,
der sie hinüberleitet in ihr herrliches Erbe, aus
einer Welt der Sünde in das Reich des Lichts und
der Liebe.
So ist der Tod unser. Welch ein wunderbarer
Wechsel! Vom Standpunkte der Natur aus betrachtet,
gehört der Mensch dem Tode, vom Standpunkte des Glaubens,
der Tod dem Menschen. In der alten Schöpfung
giebt es gar nichts, was der Tod uns nicht nimmt.
In der neuen Schöpfung dagegen ist nichts, waS der Tod
uns nicht giebt. Alle unsre Segnungen und Vorrechte,
ja alles, was wir als Christen besitzen, verdanken wir
dem Tode. Wir haben Leben durch den Tod, Vergebung
der Sünden durch den Tod, ewige Gerechtigkeit durch
den Tod, ewige Herrlichkeit durch den Tod — und zwar
durch den kostbaren Tod Jesu Christi.
Welch eine glorreiche Thatsache: der Tod ist unser!
Sollten wir ihn noch länger fürchten? Sicherlich nicht.
Sein Charakter ist so völlig für uns verändert, daß er,
wenn er an uns herantritt, nur kommt, um uns den
besten Dienst zu erweisen, nämlich unsere Verbindung mit
alledem, was sterblich ist, zu lösen, das Band zu durchschneiden,
welches uns an einen Schauplatz der Trauer
und des Elends knüpft, uns zu befreien von einer Welt
der Sünde und der Bosheit und uns in die köstliche
Ruhe, die unaussprechlichen Segnungen der Herrlichkeit
und in die ungestörte Gemeinschaft unsers Herrn
und Heilandes einzuführen.
Woher kommt's nun, daß die Christen sich dennoch oft
so sehr vor dem Tode fürchten? Weil sie ihn von dem
195
Standpunkt der Natur und nicht von dem des Glaubens
aus betrachten. Weil sie zu viel in der Sphäre der
Natur und zu wenig in jener Sphäre leben, in welche
der Tod Christi sie eingeführt hat. Würden wir mehr
in der Kraft des himmlischen Lebens und weniger „als
Menschen" wandeln, würden wir unsre Herzen weniger
an die Dinge um uns her hängen, sondern mehr suchen,
was „droben" ist, so würden unsre Gedanken und Gefühle
hinsichtlich des Todes auch ganz andere sein. Wir
würden mit dem Apostel sagen können: „Ich habe Lust,
abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit
besser." Der Herr gebe uns Gnade, daß wir mehr über
den Dingen leben, die uns umgeben, zum Preise Dessen,
der uns in Seine lebendige Gemeinschaft berufen hat!
„Sterben ist Gewinn."
(Phil. 1, 21.)
Wo ist, o Tod, dein Stachel,
O, HadeS, wo dein Sieg?
Seitdem am Stamm des Kreuzes
Dess' Mund erblassend schwieg,
Der nach dem schweren Kampfe
Mit Satans finstrer Macht,
Als Sieger triumphirend
Ausrief: „Es ist vollbracht!"
Wohl netzen heiße Thränen
Die Wange — und das Herz
Will brechen schier in herbem,
Unsäglich tiefem Schmerz,
Wenn Gott in Seiner Weisheit
Ruft eins der Deinen ab,
Wenn du vielleicht das Liebste
Still senkest in das Grab.
196
Doch ist es recht, zu klagen?
Jst's Eigenliebe nicht,
Wenn dann dein Mund, im Schmerze
Verzagend, also spricht:
„Warum, o Vater, nahmst Du
„Mir doch das Liebste fort?
„Seitdem ist mir die Erde
„Ein öder, leerer Ort."
O armes Herz, wie thöricht
Macht dich dein Leid und Harm!
Erheb' den Blick nach oben,
Wo in des Heilands Arm
Du siehst, was du geliebet,
In ungetrübtem Glück —
Möcht'st du es wirklich wünschen
Auf diese Erd' zurück?
Jst's nicht von allem Jammer
Und aller Sünde fern?
Ausheimisch von dem Leibe,
Einheimisch bei dem Herrn?
Nicht da, wo weder Trauer,
Noch Klage wird gehört,
Wo weder Pein noch Leiden
Das Glück der Sel'gen stört?
Jst's nicht bei Christo droben
In ew'ger, sel'ger Ruh'? —
Du sagst, du liebst's so innig —
Und dennoch seufzest du?
Nicht länger darfst du klagen,
Denn was du gabst dahin,
Hat sicher nichts verloren,
Nein: „Sterben ist Gewinn!"
Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans.
„Und Mose und Aaron gingen hinein und sprachen
zu Pharao: So spricht Jehova, der Gott Israels: „Laß
mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten
in der Wüste!"" (2. Mos. 5, 1.)
Welch eine Fülle von Wahrheiten liegt in diesem
kurzen Gebote des Herrn eingeschlossen! Es ist eine jener
vielumfassenden, gedankenreichen Stellen, welche sich hie
und da in dem Worte Gottes zerstreut vorfiuden, und die
vor unsern Augen und Herzen ein weites Feld der kostbarsten
Wahrheiten erschließen. Sie macht uns in einfacher,
kräftiger Sprache mit dem gesegneten Vorsatz des Gottes
Israels bekannt. Sein Volk völlig aus Aegypten, dem
Hause der Knechtschaft, zu befreien, damit eS Ihm in der
Wüste ein Fest feiere. Nichts konnte im Blick auf das
Volk Sein Herz befriedigen, als dessen völlige Trennung
von dem Lande des Todes und der Finsternis. Er wollte
es nicht nur befreien von den Ziegelöfen und Frohnvögten
Aegyptens, sondern auch von seinen Tempeln und Altären,
von allen den Gewohnheiten und Verbindungen, den
Grundsätzen und Sitten seiner Bewohner. Mit einem
Wort, es mußte ein vollkommen abgesondertes Volk sein,
ehe es Ihm in der Wüste ein Fest halten konnte.
Und so wie es einst mit Israel war, so ist es heute
mit uns. Auch wir müssen ein in voller und bewußter
Weise befreites Volk sein, ehe wir Gott in Wahrheit
198
dienen, Ihn anbeten und mit Ihm wandeln können. Es
ist nicht genug, daß wir die Vergebung unsrer Sünden
und unsre gänzliche Befreiung von Schuld, Zorn, Gericht
und Verdammnis kennen, sondern wir müssen auch von
dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf und allem, was dazu
gehört, befreit sein, ehe wir dem Herrn einsichtsvoll zu
dienen vermögen. Die Welt ist für den Christen dasselbe,
was Aegypten für Israel war, mit dem Unterschiede
natürlich, daß unsere Trennung von der Welt nicht örtlich
oder physisch, sondern moralisch und geistlich ist. Israel
verließ Aegypten dem Leibe nach; wir verlassen die Welt
dem Geiste und dem Grundsätze nach. Israel verließ
Aegypten thatsächlich, wir verlassen die Welt im Glauben.
Es war für das Volk eine wirkliche, durchgreifende Trennung,
und ebenso ist es für uns. „Laß mein Volk
ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste."
1. Gegen eine solch strenge Absonderung macht Satan,
wie uns allen Wohl bekannt ist, stets viele Einwendungen.
Der erste Einwurf, den er damals durch den Mund
Pharao's erhob, lautete: „Gehet hin und opfert euerm
Gott in dem Lande." (2. Mos. 8, 25.) Das waren
listige, klug berechnete Worte, ganz dazu angethan, ein
Herz zu bethören, das nicht in inniger Gemeinschaft mit
Gott stand und Seine Gedanken kannte. Ist es nicht,
hätte mit scheinbar vollem Recht gefragt werden können,
sehr entgegenkommend von feiten des Königs von Aegypten,
euch die Duldung eurer besondern Art von Gottesdienst
anzubieten? Ist es nicht ein hoher Beweis von Weitherzigkeit
und Wohlwollen, daß er eurer Religion einen
Platz in seinem Reiche geben will? Gewiß, ihr dürft eure
Religion ebenso gut ausüben, wie andere Leute. Da ist
199
Raum für alle. Warum fordert ihr denn Trennung?
Warum wollt ihr euch nicht mit euern Nachbarn auf
gleichen Boden stellen? Eine solche Engherzigkeit, wie ihr
sie offenbart, ist überflüssig und verkehrt.
Solche Worte mochten sehr vernünftig und klug klingen.
Aber was bedeuteten sie angesichts der deutlichen und bestimmten
Erklärung Jehova's: „Laß mein Volk ziehen!" ? Nichts
mehr und nichts weniger, als Ungehorsam. Die Worte
des Herrn ließen keine falsche Deutung zu; sie konnten
nicht mißverstanden werden. Es war unmöglich, einem
solchen klaren Gebot gegenüber in Aegypten zurückzubleiben.
Die überzeugendsten Vernunftgründe zerrinnen wie Nebel
in der Gegenwart der gebietenden Stimme Jehova's, des
Gottes Israels. Wenn Er sagt: „Laß mein Volk ziehen,"
so müssen wir gehen, und wenn alle Macht der Erde und
der Hölle, der Menschen und der Teufel wider uns wäre.
Alles Ueberlegen, Streiten oder Disputiren ist nutzlos;
wir müssen gehorchen. Die Aegypter mögen ihren eignen
Gedanken folgen; aber Jehova denkt für Israel, und die
Folge wird lehren, wer von beiden Recht hat.
Der Leser erlaube uns, im Vorbeigehen ein Wort
über die „christliche Engherzigkeit" zu sagen, von der wir
heutzutage so viel reden hören. Die eigentliche Frage ist:
„Wer hat die Grenzen oder Schranken des christlichen
Glaubens festzustellen? Ein Mensch oder Gott, menschliche
Meinung oder göttliche Offenbarung?" Sobald diese Frage
gelöst ist, erscheint die ganze Sache nicht mehr schwierig.
Viele schrecken zurück vor dem bloßen Worte: „Engherzigkeit."
Was ist denn eigentlich Engherzigkeit, und was ist
Weitherzigkeit? Nun, wir glauben, daß sich wahre Engherzigkeit
stets da vorfindet, wo man sich weigert, die
200
ganze Wahrheit Gottes aufzunehmen und sich durch
dieselbe leiten zu lassen. Ein Herz, das durch menschliche
Meinungen und Vernünfteleien, durch weltliche Grundsätze,
durch Eigenliebe und Eigenwillen regiert wird, ein solches
Herz erklären wir ohne Zögern für enge. Andrerseits
nennen wir ein Herz, welches sich der Autorität Christi
unterwirft und sich ehrerbietig vor der Stimme der
Heiligen Schrift beugt, das sich standhaft weigert, ein
Haarbreit über den geoffenbarten Willen Gottes, das geschriebene
Wort, hinauszugehen, ein Herz, das alles ohne
Ausnahme verwirft, was sich nicht auf ein: „So spricht
der Herr!" gründet — ein solches Herz nennen wir weit.
Ist dies nicht vollkommen richtig, mein lieber Leser?
Ist nicht das Wort Gottes — Seine Gedanken und
Sein Wille — weit umfassender und vollständiger, als
das Wort und der Geist des Menschen? Findet sich nicht
in den Heiligen Schriften eine unendlich größere Höhe,
Tiefe und Breite, als in allen menschlichen Schriften der
Welt? Erfordert es nicht eine viel ausgedehntere Weite
des Herzens und eine weit innigere Hingebung der Seele,
sich durch die Gedanken Gottes leiten zu lassen, als durch
unsere eignen Gedanken oder diejenigen unsrer Mitmenschen?
Auf diese Fragen giebt es wohl nur eine Antwort; und
daher läßt sich der ganze Gegenstand in das einfache, aber
so vielsagende Wort zusammenfassen: „Wir müssen so
enge sein, wie Christus, und so weit, wie Er."
Ja, hierin liegt die Lösung dieser, wie jeder andern
Schwierigkeit. Wir müssen alles von diesem gesegneten
Standpunkt aus betrachten; dann wird unser Blick ungetrübt
und unser Urteil ein gesundes sein. Bildet aber
der Mensch oder unser eignes Ich unsern Ausgangspunkt,
201
betrachten wir von dort aus alles um uns her, so sind
wir außer stände, ein gesundes Urteil zu fällen. Unsre
Augen sind kurzsichtig und verblendet, unser Herz und
Geist ohne wahres, göttliches Licht. Wir beurteilen und
betrachten alles falsch.
Ein einfältiges Auge und ein aufrichtiges Herz wird
alles dieses verstehen und ohne Zögern anerkennen. Und
in der That, wenn das Auge nicht einfältig und das Gewissen
dem Worte nicht unterworfen ist, wenn das Herz
nicht wahrhaft für Christum schlägt, so ist es verlorene
Zeit und Mühe, es von der Wahrheit des Gesagten überzeugen
zu wollen. Welchen Nutzen könnte es haben, mit
einem Manne zu streiten, der, anstatt dem Worte Gottes
zu gehorchen, nur seine Schärfe abzustumpfen sucht? Nicht
den geringsten. Es ist eine hoffnungslose Aufgabe, jemanden
überführen zu wollen, der nie die moralische
Kraft und Bedeutung des Wortes: „Gehorsam" kennen
gelernt hat.
In der Antwort Mose's aus den ersten Einwurf
Satans giebt es etwas ungemein Schönes. Er sagt:
„Es geziemet sich nicht, also zu thun, denn wir würden
der Aegypter Greuel opfern dem Jehova, unserm Gott;
siehe, wenn wir der Aegypter Greuel vor ihren Augen
opferten, würden sie uns nicht steinigen? Drei Tagereisen
wollen wir ziehen in die Wüste und Jehova,
unserm Gott, opfern, so wie Er zu uns reden wird."
(2. Mos. 8, 26. 27.) Die Gegenstände ägyptischer Anbetung
waren völlig unpassend, um sie Jehova als Opfer
darzubringen. Aber nicht nur das; viel wichtiger noch
war es, daß Aegypten nicht der rechte Platz war, um
dem wahren Gott daselbst einen Altar aufzurichten.
202
Abraham hatte keinen Altar, als er nach Aegypten hinabzog.
Er verließ seinen Gottesdienst und das Land seiner
Fremdlingschaft, als er sich dem Süden zuwandte; und
wenn Abraham dort nicht hatte anbeten können, so vermochte
es auch sein Same nicht. Ein Aegypter hätte
fragen können: Warum nicht? Aber es ist etwas anderes,
eine Frage zu stellen, als die Antwort zu verstehen.
Wie hätte ein Aegypter die Gründe verstehen können,
welche einen wahren, treuen Israeliten bei seinem Verhalten
leiteten? Unmöglich. Wie hätte er in die Bedeutung
jener „dreitägigen Reise" eindringen können? „Deswegen
erkennet uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht erkannt
hat." (1. Joh. 3, 1.) Die Beweggründe, welche den
wahren Gläubigen leiten, und die Gegenstände, welche ihn
beseelen, liegen weit über dem Gesichtskreis der Welt.
Wir können versichert sein, daß ein Christ, je mehr die
Welt seine Beweggründe verstehen und wertschätzen kann,
um so weniger seinem Herrn treu ist.
Wir reden selbstverständlich von den wahren Beweggründen
eines Christen. Ohne Zweifel giebt es
in dem Leben eines treuen Christen vieles, das die Welt
bewundern und achten kann. Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit,
Wahrheitsliebe, selbstlose Freundlichkeit, Sorge für die
Armen, Selbstverleugnung — alles das sind Dinge,
welche die Welt wohl verstehen und wertschätzen kann.
Trotzdem aber wiederholen wir mit allem Nachdruck die
Worte des Apostels: „die Welt erkennet uns nicht."
Wenn wir begehren, mit Gott zu wandeln, wenn wir
Ihm ein Fest feiern wollen, wenn es der aufrichtige und
ernste Wunsch unsers Herzens ist, einen wirklich himmlischen
Wandel zu führen, so müssen wir völlig mit der
203
Welt, sowie mit dem eigenen Ich brechen und unsern Platz
außerhalb des Lagers nehmen mit einem von der Welt
verworfenen, aber in den Himmel aufgenommenen Christus.
Möchten wir dies thun mit wahrem Herzensentschluß zur
Verherrlichung Seines glorreichen, heiligen Namens!
2. Der zweite Einwurf Satans ist dem ersten sehr
nahe verwandt. Wenn es ihm nicht gelingt, Israel ganz
in Aegypten zurückzuhalten, so will er wenigstens versuchen,
sie so nahe wie möglich zu halten. „Und Pharao
sprach: Ich will euch ziehen lassen, daß ihr Jehova, euerm
Gott, opfert in der Wüste, nur entfernt euch nicht
so gar weit." (Kap. 8, 28.)
Der Sache Christi wird weit mehr geschadet durch
ein scheinbares, teilweises, halbes Aufgeben der Welt, als
durch ein völliges Bleiben in ihr. Ein unentschiedener,
wankelmütiger Bekenner schwächt das Zeugnis und verun-
ehrt den Herrn weit mehr, als einer, der sich nie von der
Welt getrennt hat. Ferner dürfen wir wohl sagen, daß
zwischen dem Aufgeben gewisser weltlicher Dinge und dem
Aufgeben der Welt selbst ein sehr großer Unterschied besteht.
Es mag jemand gewisse Formen der Weltlichkeit
ablegen und dennoch zu gleicher Zeit der Welt in seinem
tiefsten Innern einen Platz aufbewahren. Er mag das
Theater, den Ballsaal, den Billardtisch und die Musikhalle
aufgeben und trotz alledem an der Welt hangen.
Ja, wir sind imstande, einige der schlechten Zweige abzuhauen,
um nur mit um so größerer Zähigkeit an dem
alten Stamme festzuhalten. Dies ist unserer ernstesten
Beachtung wert. Das, was Hunderte von bekennenden
Christen bedürfen, ist, nach unserer festen Ueberzeugung,
ein völligerer Bruch mit der Welt — ja, mit der Welt
204
in der ganzen, umfassenden Bedeutung des Wortes. Es
ist durchaus unmöglich, einen guten Anfang, oder gar
geistliche Fortschritte zu machen, so lange das Herz mit
den heiligen Ansprüchen Christi gleichsam spielt. Wir
behaupten mit aller Bestimmtheit, daß in Tausenden von
Fällen, wo Seelen über Befürchtungen und Zweifel, über
Unruhe und Beschwertheit, über Mangel an Licht, Trost,
Friede und Freude klagen, die Ursache darin zu suchen
ist, daß sie nie in Wirklichkeit mit der Welt gebrochen
haben. Entweder suchen sie dem Herrn ein Fest zu
feiern in Aegypten, oder sie bleiben doch so nahe, daß sie
leicht wieder zurückgezogen werden können, so nahe, daß
sie weder das Eine, noch das Andere, weder kalt, noch
warm sind, und daß aller Einfluß, den sie besitzen mögen,
wider Christum und für den Feind der Seelen ausschlügt.
Wie können solche Seelen glücklich sein? Wie kann
ihr Friede fließen gleich einem Strome? Wie können sie
wandeln in dem Lichte des Vaterantlitzes Gottes, oder
in dem Genuß der Gegenwart des Herrn? Wie können
die gesegneten Strahlen jener Sonne, welche in der neuen
Schöpfung scheint, sie erreichen inmitten der dumpfen
Atmosphäre, die das Land des Todes und der Finsternis
einhüllt? Unmöglich! Sie müssen brechen mit der Welt
und sich selbst mit ganzem Herzen und aller Entschiedenheit
Christo übergeben. Da muß, wenn wir so reden
dürfen, ein ganzer Christus für das Herz und ein
ganzes Herz für Christum sein. Hierin beruht das
große Geheimnis der Fortschritte eines Christen. Wir
müssen einen richtigen Anfang machen, bevor wir fortschreiten
können, und um richtig zu beginnen, müssen wir
alle die Bande, die uns mit der Welt verknüpfen, zer
205
reißen, oder besser gesagt, wir müssen die Thatsache
glauben und praktisch verwirklichen, daß Gott sie für uns
in dem Tode unsers Herrn Jesu Christi zerrissen hat.
Das Kreuz hat uns für immer von dem gegenwärtigen,
bösen Zeitlauf getrennt. Es hat uns nicht nur von den
ewigen Folgen unsrer Sünden befreit, sondern auch von
der Macht und Herrschaft der Sünde und von den Grundsätzen
und Gewohnheiten einer Welt, die in den Händen
des Bösen liegt.
Es ist eins der Meisterstücke Satans, daß er bekennende
Christen dahin bringt, sich mit einem Blick auf das
Kreuz zu ihrer Errettung zu begnügen, während sie in
der Welt zurückbleiben, oder sich doch „nicht so gar weit
von ihr entfernen." Vor dieser gefährlichen Schlinge
können wir den christlichen Leser nicht ernst genug warnen.
Eine aufrichtige Hingebung des Herzens an einen verworfenen
und verherrlichten Christus und eine innige
Gemeinschaft mit Ihm vermögen uns allein vor diesem
Fallstrick zu bewahren. Um mit Christo zu wandeln, an
Ihm uns erfreuen und von Ihm uns nähren zu können,
müssen wir von dieser gottlosen, bösen Welt getrennt sein
— getrennt von ihr in unsern Gedanken und Gesinnungen,
in den Neigungen unsrer Herzen, getrennt, nicht nur von
ihrem offenbaren Bösen, von ihrer Thorheit und Eitelkeit,
sondern auch von ihrer Religion, von all ihrem Thun und
Treiben.
Indes möchte man uns hier fragen: „Ist das
Christentum denn nichts anders, als ein Ablegen, ein
Ausleeren und Aufgeben? Besteht es nur aus Verboten
und Verneinungen?" Wir antworten mit Liefer Freude des
Herzens: Nein! tausendmal nein! Das Christen
206
tum ist vorherrschend bejahend, durchaus wirklich, göttlich
befriedigend. Was giebt es uns für das, was es uns
nimmt? Es giebt uns „unermeßliche Reichtümer" für
„Dreck und Kot." Es giebt uns ein „unverwesliches
und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, welches aufbewahrt
wird in den Himmeln," für einen eitlen, schnell
verschwindenden Tand. Es giebt uns Christum, die
Wonne des Herzens Gottes, den Gegenstand der Anbetung
des Himmels und der Lieder der Engel, das ewige Licht
der neuen Schöpfung, statt einiger Augenblicke sündigen
Vergnügens und schuldigen Genusses. Es giebt uns endlich
eine Ewigkeit der reinsten Freuden und kostbarsten
Segnungen im Hause des Vaters, statt einer Ewigkeit
schrecklicher Qual in den Flammen der Hölle.
Was sagst du zu diesen Dingen, mein lieber Leser?
Ist das nicht ein guter Tausch? Findest du hierin nicht
die mächtigsten Beweggründe, um die Welt anfzugeben?
Man hört Christen zuweilen die Gründe aufzühlen, weshalb
sie diese oder jene Form der Weltlichkeit aufgegeben
haben; aber wir meinen, alle diese Gründe sollten sich in
einem einzigen vereinigen, und dieser sollte so lauten:
„Ich habe Christum gefunden, und deshalb habe
ich die Welt aufgegeben." Niemand findet es schwer,
Kohlen für Diamanten, Asche für Perlen, Dreck für Gold
hinzugeben. Und ebenso ist es für einen Menschen, der
einmal die Kostbarkeit Christi geschmeckt und erfahren hat,
nicht mehr schwierig, die Welt anfzugeben. Nein, es würde
eine Schwierigkeit für ihn sein, wenn er in ihr zurückbleiben
sollte. Wenn Christus das Herz erfüllt, so ist
die Welt nicht nur für eine Weile ausgeschlossen, sondern
sie wird stets fern gehalten. Wir wenden dem
207
Lande Aegypten nicht nur den Rücken, sondern entfernen
uns auch weit genug, um nie wieder dahin zurückzukehren.
Und zu welchem Zwecke thun wir das? Um unthätig die
Hände in den Schoß zu legen? Um alles verloren zu
haben und nichts mehr zu besitzen? Um niedergeschlagen,
gedrückt, traurig und melancholisch zu sein? O nein, sondern
um „dem Herrn ein Fest zu feiern." Wir
halten dieses Fest allerdings noch in der Wüste, aber
wenn wir Christum bei uns haben, so begehren wir nichts
weiter mehr. Wir haben an Ihm genug, und die Wüste
wird zum Himmel. Er ist, gepriesen sei Sein Name!
das Licht unsrer Augen, die Freude unsrer Herzen, die
Speise unsrer Seelen; ohne Ihn würde der Himmel kein
Himmel für uns sein, aber in Seiner herrlichen, herzerquickenden
Gemeinschaft verwandelt sich selbst die Wüste
in den Vorhof des Himmels. Wir genießen im voraus
etwas von den gesegneten Dingen, die in Ewigkeit unser
Teil sein werden.
Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur ist das
Herz völlig von Christo erfüllt und befriedigt, sondern
auch das Gemüt ist vollkommen beruhigt im Blick auf
alle die Einzelheiten unsers Weges durch diese Welt —
im Blick auf die Schwierigkeiten, die Fragen, welche sich
erheben können, die Verwicklungen, denen diejenigen fortwährend
begegnen, welche die hohe Segnung nicht kennen,
Christum zu ihrem Standpunkte zu machen und alles in
unmittelbarer Verbindung mit Ihm zu betrachten. Wenn
ich z. B. in irgend einem Falle berufen bin, für Christum
zu handeln, und ich betrachte die Sache, anstatt sie einfach
nach ihrer Bedeutung für Ihn und Seine Verherrlichung
zu beurteilen, nach ihren Folgen für mich, so werde ich
208
ganz gewiß in Finsternis und hoffnungslose Verlegenheit
hineingeraten und zu einem verkehrten Schluß kommen.
Wenn ich aber einfach auf Ihn blicke und untersuche, wie
die Sache zu Seiner Verherrlichung ausschlagen kann, so
werde ich nicht nur völlig klar sehen, sondern auch mit
glücklichem Herzen und mit fester Entschiedenheit den gesegneten
Pfad gehen, welcher von den Strahlen des Vaterantlitzes
Gottes erleuchtet wird. Ein einfältiges Auge
blickt nie auf die Folgen, sondern unmittelbar auf Christum,
und dann ist alles klar und einfach; der ganze Leib ist
voll von Licht, und der Pfad wird durch eine unerschütterliche
Entschiedenheit gekennzeichnet.
Das ist es, was uns in diesen Tagen weltlicher
Religiosität, selbstsüchtiger Bestrebungen und des Jagens
nach dem Beifall des Menschen so sehr not thut. Wir
bedürfen es, Christum zu unserm alleinigen Standpunkt
zu machen, von Ihm aus das eigene Ich, die Welt
und die sogenannte Kirche zu betrachten, Ihn zum Mittelpunkt
zu haben, um welchen sich alles dreht, von Ihm
aus alles zu beurteilen, ohne im geringsten an die Folgen
zu denken. Stehen und handeln wir in Uebereinstimmung
mit Seinen Gedanken, so können wir die Folgen Ihm
ruhig überlassen. O, möchte es so mit uns sein! Möchten
wir der unendlichen und unveränderlichen Gnade Gottes
erlauben, in unsern Herzen zu wirken und das vor Ihm
Wohlgefällige hervorzubringen! Wir werden dann etwas
von der Fülle, Schönheit und Kraft des Wortes verstehen,
mit welchem wir diesen Artikel eingeleitet haben: „Laß
mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der
Wüste!" (Schluß solgt.)
209
Die eherne Schlange.(4. Mos. 21.)
Die Begebenheit, auf welche wir die Aufmerksamkeit
des Lesers in dieser kurzen Betrachtung richten möchten, ist
bekannt, ebenso ihre Anwendung. Dennoch aber bleibt
sie stets voll von Interesse, und es ist gut, „uns immer
wieder an diese Dinge zu erinnern," obwohl wir „sie
wissen." (Vergl. 2. Petr. 1, 12.) Die Bedeutung der
ehernen Schlange hat der Herr selbst in Seinen denkwürdigen
Worten an Nikodemus erklärt, so daß für die
Einbildung und Phantasie des Menschen nicht der geringste
Spielraum bleibt. „Gleichwie Moses in der Wüste die
Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen erhöht
werden, auf daß jeglicher, der an Ihn glaubt, nicht
verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh. 3,
14.15.) Hier haben wir also die göttliche Bürgschaft, daß
wir dieses treffende Borbild auf unsern gepriesenen Herrn
und Heiland anwenden dürfen. Richten wir jetzt unsre
Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf die Begebenheit
selbst, wie sie uns in 4. Mose 21 mitgeteilt wird.
„Und das Volk redete wider Gott und wider Mose:
Warum habt ihr uns heraufgeführt aus Aegypten, daß
wir sterben in der Wüste? Denn da ist kein Brot und
kein Wasser, und es ekelt unserer Seele vor dieser losen
Speise." (V. 5.) Welch ein Bild von dem menschlichen
Herzen, von dem deinigen und meinigen! „Sie redeten
wider Gott!" DaS ist es, was wir stets thun, wenn
wir murren und uns über unsre Umstünde beklagen. Es
handelte sich in dem vorliegenden Falle nur um Brot und
Wasser, um Speise und Trank. Israel bildete sich ein,
Gott habe sie heraufgeführt aus Aegypten, um sie sterben
210
zu lassen, während Er sie thatsächlich von den Ziegelöfen
und Frohnvögten Aegyptens erlöst hatte, damit sie Ihm
ein Fest feierten in der Wüste.
So war also gerade das Gegenteil von dem, was
sie sagten, der Fall. Und so ist es stets. Wenn wir
auf unsre verzagten, ungläubigen Herzen lauschen, so
werden sie uns sicher die gröbsten Lügen vorspiegeln, Lügen
in bezug auf Gott, auf Seinen Charakter, Seine Natur,
Seine Handlungen und Seine Wege. Alle Klagen über
unsre Umstände sind Lügen in bezug auf Gott. Und
woher kommen sie? Von dem Vater der Lügen, von der
alten Schlange, dem Teufel, von demselben, der sich in
den Garten Eden schlich und unsre ersten Eltern mit ihrer
Lage unzufrieden machte, der in ihnen den Glauben erweckte,
daß Gott nicht gütig sei, und daß sie nicht so
wohl daran wären, wie sie es sein könnten und sein
sollten. Das ist von jeher seine Thätigkeit gewesen nnd
wird es stets bleiben, so lange Gott ihm zu wirken erlaubt.
Wir sollten uns stets hieran erinnern. Laßt uns
nicht vergessen, daß alles Murren und Klagen thatsächlich
ein Reden wider Gott ist! Es ist die Stimme der Schlange,
redend durch den Mund eines Menschen. Wenn wir nicht
wachsam sind, so drückt Satan zunächst den Stachel der
Unzufriedenheit in unser Herz, und nicht lange nachher
dringen die Laute der Unzufriedenheit über unsre Lippen.
Wir reden wider Gott. Beachten wir die ernsten Folgen,
welche dieses Reden für das Volk Israel hatte: „Da
sandte Jehova feurige Schlangen unter das Volk, die das
Volk bissen, und es starb viel Volks aus Israel." (V. 6.)
Das war eine tiefernste, praktische Unterweisung für ihre
Herzen. Sie hatten gelauscht auf die Stimme der Schlange,
211
und so mußten sie auch den Biß der Schlange fühlen.
Es ist eine ernste, verantwortliche Sache, über unsre Umstände
zu murren. Thatsächlich erheben wir dadurch Anklage
gegen Gott. Wir sagen dadurch einfach, daß wir
uns in Seinen Händen nicht glücklich fühlen, und wenn
wir da nicht glücklich sind, wohin können wir anders gebracht
werden, als in die Hände der Schlange? Es giebt
hier keinen sogenannten neutralen Boden. Wenn wir mit
der Handlungsweise Gottes mit uns nicht zufrieden sind,
so muß Er uns dahingeben, damit wir die Behandlung der
Schlange kennen lernen. Möchten wir alle dieses ernstlich
erwägen! Es verwundet thatsächlich das Herz Gottes und
überliefert uns den Händen Satans, wenn wir in einem
Geiste murrender Unzufriedenheit einhergehen. Wir brauchen
nicht zu sagen, daß es eine schreckliche Sünde ist und notwendig
zu bittern Folgen führen muß. Laßt uns daher
sorgfältig gegen diese Sünde Wachen! Möchten wir in
einem glücklichen, zufriedenen und dankbaren Geiste, mit
einem wirklich unterwürfigen Herzen einhergehen! Möchten
wir allem, was uns begegnet, mit einem: „Ja, Vater,
denn also war es wohlgefällig vor Dir!" begegnen. Auf
diese Weise wird die Schlange überwunden nnd Gott
verherrlicht.
Doch kehren wir zu Israel zurück. „Da kam das
Volk zu Mose, und sie sprachen: Wir haben gesündigt,
daß wir wider Jehova und wider dich geredet haben;
bete Zu Jehova, daß Er die Schlangen von uns wegnehme.
Und Mose bat für das Volk." (V. 7.) Jetzt
nahmen sie den ihnen gebührenden Platz ein — den Platz
des Bekenntnisses und des Selbstgerichts. Das ist der
allein passende Platz für einen Sünder, der einzig
212
wahre Boden, auf dem er vor Gott steht. Sie hatten
geredet wider Jehova; jetzt reden sie wider sich selbst.
Dies ist richtig, stets und für alle richtig. „Ich sagte:
Ich will Jehova bekennen meine Uebertretungen, und Du
wirst mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünden."
(Ps. 32, 5.) Welch eine köstliche, unumschränkte, ewigwährende
Gnade! Preis und Anbetung Dem, der die
Quelle, der Kanal und die Kraft dieser Gnade ist —
Ihm, dem Vater, Sohn und Heiligen Geist!
„Und Jehova sprach zu Mose: Mache dir eine feurige
Schlange und setze sie auf eine Stange; und es soll geschehen,
wer gebissen ist und sie ansieht, der wird
leben. Und Mose machte eine Schlange von Erz und
setzte sie auf eine Stange; und es geschah, wenn jemanden
eine Schlange biß, so schaute er zu der ehernen
Schlange auf und lebte." (V. 8. 9.) Hier wird das
göttliche Heilmittel eingesührt: „eine eherne Schlange;"
gerade das Bild dessen, was das Unheil herbeigeführt
hatte, wird unter der Hand Gottes zu dem Mittel der
Befreiung. Die feurigen Schlangen wurden nicht entfernt;
nein, sie durften nach wie vor ihr schreckliches Werk thun.
Aber die Gnade ersah einen Weg der Rettung, und ein
jeder gebissene Israelit, der zu der ehernen Schlange aufschaute,
blieb am Leben und war nachher weit besser daran,
als wenn er nie gebissen worden wäre.
Allerdings mußte er die Bitterkeit der Sünde schmecken;
aber er wurde auch befähigt, die Köstlichkeit der Gnade
zu erfahren, welche Leben aus dem Tode hervorzubringen
und einen vollkommenen Sieg über die ganze Macht der
Schlange zu verleihen vermochte. Denn „gleichwie die
Sünde geherrscht hat im Tode, also" — gepriesen sei
213
Gott in alle Ewigkeit dafür! — „herrscht auch die Gnade
durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unsern Herrn." (Röm. 5, 21.) In einer Welt der
Sünde, in einer Welt der Sünder, wo die Macht der
Schlange überall sichtbar ist und wo der Tod herrscht,
darf daher der arme, gebissene Sünder zu dem großen
Gegenbilde der ehernen Schlange aufschauen — zu jenem
gesegneten Heiland, der für uns auf das Kreuz erhöht,
für uns zum Fluche und zur Sünde gemacht und an
unsrer Statt zerschlagen und gerichtet wurde — und durch
einen Blick, durch einen einzigen Glaubensblick auf Ihn,
ewiges Leben empfangen.
Ja, mein lieber Leser, das ist das kostbare Geheimnis
des Lebens und der Errettung. Alles wird empfangen
durch einen einfachen Blick auf den göttlichen Gegenstand.
Sobald der gebissene Israelit zu der ehernen Schlange
emporschaute, war er gerettet. Er sah und lebte. Er
blickte nicht auf sich selbst, nicht auf seine Wunde, sondern
auf das göttliche Heilmittel. Das war die große, wichtige
Sache, welche er verstehen und erfassen mußte. Es
wäre völlig nutzlos gewesen, auf sich selbst zu blicken. Was
hätte er gesehen? Nichts anders, als ein gebissenes, verwundetes,
sterbendes Geschöpf. Er hätte versuchen können,
seine Wunde zu heilen, um dann, wenn sich sein Zustand
gebessert, auf die eherne Schlange zu blicken; er hätte
verwundert fragen können, welchen Nutzen denn ein Blick
auf die eherne Schlange haben könne. Aber was hätte
ihm alles das geholfen? Es wäre alles vergeblich gewesen,
ganz und gar vergeblich. Es gab nur einen Weg, auf
welchem das Leben zu erlangen war; aber dieser Weg
war göttlich vollkommen, es war ein Blick des Glaubens
214
auf das von Gott vorgesehene Heilmittel. Bevor dieser
Blick gethan war, war nichts geschehen. War er gethan,
so fehlte nichts mehr. In demselben Augenblick, da der
Israelit zu der Schlange aufblickte, lebte er, und er konnte,
ohne einen Schatten von Furcht, die feurigen Schlangen
um sich her kriechen sehen; er wußte jetzt, daß ihre Macht,
ihn zu verderben, verschwunden war. Ein Glaubensblick
ordnete die ganze Sache.
Doch ein jeder hatte diesen Blick zu thun, und zwar
ein jeder für sich selbst. Keiner konnte für den andern
glauben, keiner durch einen Stellvertreter auf die eherne
Schlange blicken. Es war eine durchaus persönliche Sache.
Ein jeder Gebissene durfte den Blick thun; die Thatsache,
daß er gebissen war, gab ihm das Recht dazu.
Aber er mußte auch aufblicken, wenn er anders Leben
haben wollte. Er war einzig und allein auf das Heilmittel
Gottes angewiesen; nur der Glaube konnte ihn
retten. Und so wie es damals mit dem sterbenden
Israeliten in der Wüste stand, so steht es heute mit jedem
sterbenden Sünder. Der Sohn des Menschen ist am
Stamme des Kreuzes erhöht worden, Er ist das einzige
Heilmittel, welches Gott für den Menschen vorgesehen hat.
Eine jede Seele, welche ihr Bedürfnis fühlt, ist willkommen;
sie darf kommen und im Glauben ihren Blick
auf das Kreuz richten. „Wen da dürstet, komme,
und wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst,"
so lautet die allumfassende Einladung Gottes.
Keiner ist ausgeschlossen, alle sind eingeladen und willkommen.
Aber ein jeder muß glauben, oder verloren
gehen. Es giebt da keinen Mittelweg, keinen neutralen
Boden. Blicke und lebe — blicke oder stirb! Ein Blick
215
genügt. In demselben Augenblick, da eine Seele in einfältigem
Glauben auf Jesum blickt, geht sie aus dem
Tode zum Leben hinüber — sie empfängt ein ewiges,
unvergängliches Leben. „Der Sohn des Menschen muß
erhöht werden, auf daß jeglicher, der au Ihn glaubt,
nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe."
Welch eine glorreiche, himmlische Zeitung! Welch
eine gesegnete, köstliche Botschaft! Möchten doch vieler
Ohren geöffnet werden, um zu hören, vieler Herzen, um
zu verstehen, vieler Augen, um diesen einen Glaubensund
Lebensblick zu thun! Doch wie steht es mit dir,
mein lieber Leser? Hast du schon die Entdeckung gemacht,
daß du ein armer, verwundeter, sterbender, verdammungswürdiger
Sünder bist? Hat der Geist Gottes deine Augen
geöffnet und dir deinen wahren Zustand gezeigt? Bist du
zu einem Bewußtsein deiner Schuld und Gefahr erwacht?
Wenn es so ist, warum willst du dann nicht jetzt — in
diesem Augenblick — auf Jesum blicken? Vielleicht
antwortest du: „Wie soll ich denn blicken? Ich weiß garnicht,
was ich unter diesem Blicken auf Jesum verstehen
soll!" Nun, so denke dir, du hättest am ersten des nächsten
Monats eine hohe Rechnung zu bezahlen, aber deine
Mittel seien so völlig erschöpft, daß du nicht einen Pfennig
mehr dein eigen nennen könntest. In deiner höchsten Not
aber käme ein reicher Freund zu dir und sagte: „Sei
unbesorgt über deine Rechnung; blicke einfach auf mich
und vertraue mir: Ich werde sie bezahlen." Sage mir:
Würdest du das verstehen?
Ohne Zweifel! Nun siehe, dieses Bild ist eine schwache
Erklärung von der Bedeutung eines Blickes auf Christum.
Auf Jesum blicken heißt: Ihm vertrauen, in Ihm ruhen,
216
glauben, daß Er deine Stelle vertreten und die Ansprüche
Gottes im Blick auf dich vollkommen befriedigt, daß Er
deine Sünden hinweggethan, deine Schuld bezahlt und
dich in Seiner eignen, unendlichen Annehmlichkeit Gott
nahe gebracht hat. Ewiges Leben, göttliche Gerechtigkeit und
ewige Herrlichkeit — alles das liegt in einem Glaubensblick
auf den Christus, der an das Holz genagelt wurde und
jetzt mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist. Möchte der
Heilige Geist auch dich befähigen, diesen einen Leben- und
Friedengebenden Blick noch heute zu thun!
Ehe wir jedoch diesen Abschnitt schließen, möchten
wir den Leser bitten, seine Aufmerksamkeit auf den
4. Vers in 2. Könige 18 zu richten. Er wird dort die
Worte finden: „Er (Hiskia) schaffte die Höhen ab und
zerbrach die Säulen und rottete die Aschera aus und zertrümmerte
die eherne Schlange, die Mose gemacht hatte;
denn bis zu jenen Tagen hatten die Kinder Israel ihr
geräuchert, und man nannte sie Nehustan" (eherner Götze).
So finden wir also in 4. Mos. 21 die eherne
Schlange als das Heilmittel Gottes, um dem Bedürfnis
des Menschen zu begegnen, und in 2. Kön. 18 dieselbe
Schlange als einen Götzen des menschlichen Herzens, um
Gott auszuschließen. Erinnert uns das nicht lebhaft
daran, welche Anwendung der Mensch auch von dem
Kreuze Christi gemacht hat und noch heute macht? Indem
er Den vergißt, der an dem Kreuze hing, betet er das
Holz an, an welches Er genagelt wurde!
217
Gedanken über das Zusammenkommen der
Gläubigen.
„Laßt uns unser Zusammenkommen nicht versäumen,
wie es bei etlichen Sitte ist." l Hebr. 10, 250
Der Zweck dieser Zeilen ist, einige der gesegneten
Wahrheiten in Erinnerung zu bringen, welche uns das
Wort Gottes im Blick auf das Zusammenkommen der
Heiligen vorstellt. Wir befinden uns in den „schweren
Zeiten," von welchen der Apostel in 2. Tim. 3, 1 redet.
Die Bemühung des Feindes zielt darauf ab, das Zeugnis,
welches Gott inmitten des Verfalls in den „letzten Tagen"
aufgerichtet hat, umzustoßen und die Gläubigen jene
Wahrheiten vergessen zu machen. Daher ist es so dringend
nötig für uns, stets zu den einfachen und köstlichen
Grundsätzen znrückzukehren, welche der Herr in Seiner
Gnade und nach Seinem Wohlgefallen uns kund gethan
hat. Vor allem gilt es, gewisser Punkte eingedenk zu
bleiben, welche von der höchsten Wichtigkeit sind, um uns
in einem Wandel zur Ehre Dessen zu leiten, der uns geliebt
und sich selbst für uns hingegeben hat.
Wenn der Apostel Johannes „der auserwählten Frau"
schreibt, um sie vor den Verführern zu warnen, so redet
er von der Wahrheit, von der Liebe und von dem Gehorsam
— von drei Dingen, welche enge mit einander verbunden
sind und die nicht getrennt werden dürfen, ohne
ihre Wirklichkeit und ihren wahren Ausdruck zu zerstören.
Ferner sagt der Apostel: „die ich liebe in der Wahrheit,"
und weiter: „Dies ist die Liebe, daß wir nach
Seinen Geboten wandeln." (V. 1. 6.)
Es hieße die Wahrheit nicht wirklich erkennen und
besitzen, wenn dieselbe keinen Einfluß auf unser Gewissen
218
ausübte, um uns vor den Gott zu bringen, der ein Recht
hat auf unsern Gehorsam und auf unsere Zuneigungen, um
sie an Den zu fesseln, der die Wahrheit ist. Christus ist
die Wahrheit, weil Er allein uns Gott, die Welt und
den Menschen in ihrer wahren moralischen Natur offenbart.
Diese Offenbarung aber findet nur statt in dem
Leben, welches durch den Heiligen Geist in uns hervorgebracht
wird. „Dies aber ist das ewige Leben, daß sie
Dich, den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast,
Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Der Gegenstand
dieses Lebens ist Christus, die Wahrheit. Sein
Charakter ist die Liebe, wie geschrieben steht: „Die Liebe
ist aus Gott; und ein jeglicher, der liebt, ist aus Gott
geboren und kennt Gott." (1. Joh. 4, 7.) Ohne die
Liebe ist die Erkenntnis der Wahrheit, welche man zu
besitzen vorgiebt, nichts als die Frucht der Ausübung
unserer natürlichen Fähigkeiten.
Die Wahrheit steht also in Verbindung mit einer
göttlichen Person. Der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit,
offenbart dieselbe der Seele, indem Er sie lebendig
macht und auf diese Weise Liebe zu dieser gesegneten
Person in ihr hervorruft. Es ist daher offenbar, daß
die Liebe, die göttliche Liebe, nicht bestehen kann ohne
die Wahrheit. Alles, was die göttliche Wahrheit antastet,
kann nur die göttliche Liebe verletzen. Die Liebe erträgt
die Unwissenheit, sie erbarmt sich des Irrenden und weist
ihn zurecht, sie hofft, daß er zurückgebracht werde, und
hat Geduld; nie aber kann sie etwas dulden, was in irgend
einer Weise die Wahrheit, die Person und die Ehre
Christi antastet. „Sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit,
sondern sie freut sich mit der Wahrheit," (1. Kor. 13, 6.)
219
wie jemand gesagt hat: „Der Prüfstein der wahren Liebe
ist das Aufrechthalten der Wahrheit."
Doch was ist das Resultat und der Beweis der
wahren Liebe? Der Gehorsam. „Wenn ihr mich
liebt," sagt der Herr, „so haltet meine Gebote," und
weiterhin: „Wenn jemand mich liebt, so wird er
mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben."
„Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner
Liebe bleiben; gleichwie ich die Gebote meines Vaters
gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe." „Dies ist
die Liebe Gottes, daß wir Seine Gebote halten."
(Joh. 14, 15. 23; 15, 10; 1. Joh. 5, 3.) Wahre
göttliche Liebe und Gehorsam können nie von einander
getrennt werden. Wenn wir in der Kraft des Heiligen
Geistes die Wahrheit kennen gelernt haben in der gesegneten
Person Christi, der uns geliebt und sich selbst
für uns hingegeben hat, so richten sich die Zuneigungen
des erneuerten Herzens auf Ihn hin; wir erkennen Seine
Autorität als Herr an, und es ist unsre Freude, zu
gehorchen. „Seine Gebote sind nicht schwer," weil das
Ich beiseite gesetzt ist und der Gehorsam als Frucht des
göttlichen Lebens hervorkommt. „Nicht mehr lebe ich,
sondern Christus lebt in mir." Der Christ ist berufen,
Christo zu gehorchen, mit der Wahrheit im Herzen
und der Liebe, als der Quelle von allem, und das ist
Christus. Gehorchen ohne Liebe, ist Gesetz; gehorchen
aus Liebe, ist Christus. Er selbst wandelte auf Erden in
der Liebe, nach der Wahrheit und in einem vollkommenen
Gehorsam. Möchten wir Seinen Fußstapfen nachfolgen!
Der Wandel in der Wahrheit und im Gehorsam ist
aber nichts anders, als der Wandel nach dem Worte, wie
220
der Herr sagt: „Dein Wort ist Wahrheit." (Joh. 17,17.)
„Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre,
zur Ueberführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung
in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes vollkommen
sei." (2. Tim. 3, 16. 17.) Die Schrift allein offenbart
uns Gott, Seine Ratschlüsse, Seine Gedanken und Wege;
sie allein darf Autorität über uns haben, um unsere
Gedanken zu bilden und unsern Wandel zu regeln in
allem. „Der Eingang Deines Wortes erleuchtet, giebt
Einsicht den Einfältigen." (Ps. 119, 130.) Zwar vermag
nur der Heilige Geist uns ein göttliches Verständnis
von dem Worte zu geben und es ans unsre Gewissen und
Herzen anzuwenden. Aber Er ist dem Christen gegeben,
um ihn in die ganze Wahrheit zu leiten. Dies schließt
notwendig jede Einmischung der Meinungen, der Vernunft-
schlüsse und des Willens des Menschen aus und erfordert
eine völlige Unterwürfigkeit und unbedingte Abhängigkeit
der Seele; anders kann der Geist Gottes uns nicht durch
das Wort belehren und leiten. Unsre Sprache sollte stets
sein:. „Rede, Herr, denn Dein Knecht höret."
Das natürliche Herz will von einer solchen Unterwürfigkeit
und Abhängigkeit nichts wissen; es sucht derselben
durch allerlei Vernünfteleien zu entgehen. Es will
hinzufügen, Ausnahmen machen und auslegen, da wo
Gott klar und deutlich geredet hat. Wie sehr haben wir
uns zn hüten vor diesem Geiste der Unabhängigkeit!
Derselbe nahm seinen Anfang im Garten Eden, als Eva
ihr Ohr den Einflüsterungen Satans lieh; er hat seitdem
fortgewirkt und zeigt sich heute überall, selbst unter den
Christen, und bald wird er seine völlige Offenbarung in
dem „Menschen der Sünde" finden, welcher „widersteht
221
und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein
Gegenstand der Verehrung ist." Ach! wie oft zeigt sich dieser
Geist auch in unserm persönlichen Wandel! Anstatt zu
Gott zu sagen: „Laß mich doch Deinen Weg wissen,
daß ich Dich erkenne," (2. Mos. 33, 13.) mühen wir uns
ab, den unsrigen zu finden, je nachdem die Umstände
liegen und es uns am besten gefällt.
Aber besonders im Blick auf den gemeinschaftlichen
Wandel, oder mit andern Worten, im Blick auf das
Zusammenkommen der Gläubigen, hat der Mensch —
indem er die Vorschriften des Wortes vernachlässigte oder
berufen zu sein glaubte, vermeintliche Lücken in demselben
auszufüllen — geglaubt, alles nach seiner Willkür ordnen
zu dürfen, als gäbe es in dem Worte keine bestimmte
Anweisungen über den göttlichen Boden und die göttlichen
Grundsätze dieses Zusammenkommens, zu welchen der Ge-
horsam alle diejenigen hinführen sollte, die da wünschen,
in der Wahrheit und in der Liebe zu wandeln. Laßt
uns deshalb untersuchen, was das Wort Gottes uns
über diese Dinge lehrt.
Man denkt und sagt gewöhnlich, die Christen sollten
sich versammlen als solche, die da einen Glauben haben,
die, erlöst durch denselben Heiland, Kinder eines Gottes und
Vaters und durch die Bande derselben Liebe verbunden
sind; aber im übrigen meint man frei zu sein und sich
einrichten zu dürfen, wie man will, und so gut man
kann. Allerdings ist es unmöglich, Gott gemäß versammelt
zu sein, wenn die eben erwähnten Charakterzüge
fehlen; aber keineswegs bilden dieselben jenen gesegneten
Boden, auf welchem alle die geliebten Kinder Gottes,
nach den klaren Unterweisungen des Wortes, zu
222
sammen kommen sollten, und der einzig und allein
weit genug ist, um sie alle zu vereinigen, und der, wenn
richtig erkannt, allen Spaltungen ein Ende zu machen
vermag.
Dieser Boden ist ein ganz anderer. Bei den Kindern
Israel gab es nur einen einzigen Ort, welchen
Gott erwählt hatte, um Seinen Namen daselbst
wohnen zu lassen. Nur dort durfte Er angebetet werden;
dort war der Mittelpunkt der Zusammenkünfte des
Volkes. Alles, was auf den Gottesdienst Bezug hatte,
war gottgemäß, weil Er selbst es angeordnet hatte. Auf
diese Weise wußten die Israeliten, wiewohl sie in ihrem
Gottesdienste nur die Schatten des Zukünftigen besaßen,
dennoch, was sie anbeteten. Sollten wir geringere Vorrechte
besitzen, als das irdische Volk, die wir doch das
„Ebenbild selbst" haben? Nein, wir besitzen in jeder
Beziehung mehr. Wir haben zwar keinen irdischen Mittelpunkt
des Zusammenkommens. „Es kommt die Stunde,"
sagt der Herr, „da ihr weder auf diesem Berge, noch zu
Jerusalem den Vater anbeten werdet." Die Anbetung
ist nicht an einen besondern Ort gebunden. „Die wahrhaftigen
Anbeter werden den Vater im Geist und in
Wahrheit anbeten." Das ist der Charakter der Anbetung:
„Im Geiste" — im Gegensatz zu einem äußerlichen,
für ein irdisches Volk geziemenden Gottesdienst;
zugleich zeigt es uns die Kraft, in welcher allein der
christliche Kultus ausgeübt werden kann — aber auch
„in Wahrheit," d. h. gemäß der Offenbarung Gottes als
Vater und unseres Verhältnisses zu Ihm. Dieser Wahrheit
gemäß haben wir, ebensowohl wie das irdische Volk,
einen einzigen Mittelpunkt des Zusammenkommens, und
223
dieser steht in Uebereinstimmung mit der Anbetung im Geiste
und mit unserer Stellung als ein himmlisches Volk.
Der Herr Jesus selbst macht uns in dem Worte
mit dem Boden bekannt, auf welchem wir nach den Gedanken
Gottes thatsächlich versammelt sein können, und
wo „Er auch für uns Seinen Namen wohnen"
läßt. Seine Gnade und Weisheit haben denselben bereitet
als einen vollkommenen Zufluchtsort für alle Zeiten, für
alle Orte und für alle Umstände, wie dies Anbetern „im
Geiste und in Wahrheit" angemessen war. „Wo
zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen,"
spricht der Herr, „da bin ich in ihrer Mitte."
Die Worte: „Wo zwei oder drei versammelt
sind," zeigen deutlich, daß weder der Ort von
Bedeutung ist, noch daß die große Zahl die Versammlung
ausmacht, oder ihren Charakter irgendwie
verändert; sie darf so bescheiden sein als möglich. Die
Worte: „In meinem Namen," geben dem Zusammenkommen
seinen eigentümlichen Charakter. Der Ausdruck:
„mein Name" bedeutet alles, was Er ist, und erinnert
an alles, was Er gethan hat. Es ist der Name, welcher
für Gott und für unsere Herzen so kostbar ist, in welchem
wir das Heil haben und der über alle andern Namen ist.
„In Seinem Namen" — oder genauer: „zu Seinem
Namen hin" — versammelt sein," will sagen, daß Er
Der ist, welcher uns gemeinschaftlich beschäftigt, um dessent-
willen wir einzig und allein versammelt sind. Das ist
es, was allein imstande ist, alle Kinder Gottes zu vereinigen.
Es schließt nur das aus, was den Namen
Christi verunehrt. „Da bin ich in ihrer Mitte," ist die
gesegnete Verheißung, welche zur Wirklichkeit wird, sobald
224
das Zusammenkommen wirklich in Seinem Namen geschieht
— eine köstliche Wirklichkeit, die unsern Zuneigungen
entspricht und unsere Herzen stärkt und ermuntert. Der,
welcher uns liebt, ist gegenwärtig, Der, dem alle Gewalt
gegeben ist. Er ist ebenso wirklich da, als Er am Abende
des Anferstehungstages (Joh. 20.) inmitten der Seinigen
war. Seine Gegenwart ist zwar eine geistliche, wie dies
Anbetern im Geiste angemessen ist, aber sie ist wirklich,
und der Glaube erfaßt sie.
Wir besitzen also, ebensowohl wie Israel, einen
einzigen Boden und einen einzigen Mittelpunkt unsers
Zusammenkommens: Wir versammeln uns „in Seinem
Namen," und Er ist in unserer „Mitte." Das Wort
Gottes weist uns keinen andern Boden an. Wie köstlich
ist dies l Dieser Boden kann nie fehlen, und er ist durchaus
einfach, vollkommen genügend, unendlich wertvoll für
das Herz und von völliger Sicherheit für die Seele. Man
versammelte sich nicht anders in den ersten Zeiten. (Vergl.
1. Kor. 5, 4; 14, 25.) Und jetzt, wo alles in Trümmern
liegt, wo das, was einst für einen kurzen Augenblick
durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes
so schön und glänzend dastand, verfallen ist, (Vergl.
Apstgesch. 2, 42—47.) jetzt, wo die Christenheit einem
großen Hause mit Gefäßen zur Ehre und zur Unehre,
gleich geworden ist, wo man nach allen Seiten hin nichts
als Spaltungen und Sekten erblickt — was bleibt uns
da zu thun übrig? Wohin sollen wir uns wenden?
Welcher religiösen Benennung sollen wir uns anschließen?
Wo ist der göttliche Boden, auf welchem man sich versammeln
kann? Wir antworten: „Da, wo er immer
gewesen ist." Gott sei Dank! Dieser Boden bleibt, trotz
aller Untreue des Menschen, so unerschütterlich, wie Christus
selbst. Immer noch können wir uns in Seinem Namen
versammeln, und immer noch ist Er da in der Mitte
derer, die, gestützt auf Seine Verheißung, sich also versammeln,
und wären sie auch nur zu zweien oder dreien.
(Fortsetzung folgt)
Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans.
(Schluß.)
Es ist merkwürdig und doch auch wieder nicht merkwürdig,
zu sehen, wie hartnäckig Satan jeden Zollbreit
Boden verteidigt, wenn es sich um die Befreiung Israels
aus dem Lande Aegypten handelt. Er war bereit, ihnen
zu erlauben, in dem Lande oder doch wenigstens in der
Nähe des Landes ihren Gottesdienst auszuüben; aber
ihrer absoluten und völligen Befreiung von dem Lande
widersetzt er sich mit aller Kraft. Er läßt kein Mittel
unversucht, um diese zu Hintertreiben.
Doch Jehova, gepriesen sei Sein herrlicher Name!
steht über dem großen Feinde des Volkes Gottes; Er
will Sein Volk befreit fehen, und Er führt Seinen
Vorsatz aus trotz der vereinten Macht Satans und des
Menschen. Die Forderungen Gottes können nie um ein
Haarbreit vermindert werden. „Laß mein Volk ziehen,
daß sie mir ein Fest halten in der Wüste!" So lautete
das Gebot Jehova's, und es mußte erfüllt werden, wenn
auch der Feind zehntausend Einwürfe machen mochte.
Die göttliche Herrlichkeit stand in inniger Verbindung mit
der völligen Trennung Israels von Aegypten, sowie von
allen Völkern des Erdbodens. Israel sollte allein wohnen
und nicht unter die Völker der Erde gerechnet werden.
Dem widersetzte sich der Feind, und er wandte seine ganze
Macht und List an, um es zu verhindern. Zwei seiner
226
Einwendungen haben wir schon betrachtet; wir kommen
jetzt zu der dritten.
3. „Und Mose und Aaron wurden wieder zu Pharao
gebracht, und er sprach zu ihnen: Ziehet hin, dienet Jehova,
euerm Gott! Welche sind es, die ziehen sollen?
Und Mose sprach: Mit unsern Jungen und mit unsern
Alten wollen wir ziehen, mit unsern Söhnen und mit
unsern Töchtern, mit unsern Schafen und mit unsern
Rindern wollen wir ziehen, denn wir haben ein Fest Jehova'
s. Und er sprach: Jehova sei so mit euch, wie ich
euch und eure Kindlein ziehen lasse! Sehet, daß ihr
Böses vorhabt! Nicht also! Ziehet doch hin, ihr Männer,
und dienet Jehova, denn dieses habt ihr begehrt. Und man
trieb sie hinaus von Pharao." (2. Mos. 10, 8—11.)
Diese Worte enthalten eine sehr ernste Unterweisung
für die Herzen aller christlicher Eltern und enthüllen zugleich
die listige Absicht Satans. Wenn er die Eltern
nicht in Aegypten zurückhalten kann, so sucht er wenigstens
die Kinder zurückzuhalten, um auf diese Weise das Zeugnis
für die Wahrheit Gottes zu schwächen, Seine Verherrlichung
in Seinem Volke zu verhindern und dem
Volke selbst seine Segnung zu rauben. Die Eltern in
der Wüste und ihre Kinder in Aegypten — welch ein
Widerspruch! ES ist den Gedanken Gottes völlig entgegengesetzt
und macht Seine Verherrlichung in dem Wandel
Seines Volkes unmöglich.
Wie befremdend ist eS, daß christliche Eltern für
einen Augenblick vergessen können, daß ihre Kinder einen
Teil von ihnen selbst bilden! Gottes schöpferische Hand
hat sie dazu gemacht, und sicher, was der Schöpfer zusammengefügt
hat, wird der Erlöser nicht aus einander
227
reißen. Deshalb finden wir immer wieder in der Schrift,
daß Gott einen Menschen mit seinem Hause verbindet.
„Du und dein Haus," ist ein Wort von tiefer, praktischer
Bedeutung. EL schließt die wichtigsten Folgen ein und
enthält reichen Trost für jedes christliche Elternherz; und
wir dürfen Wohl hinzufügen, daß die Vernachlässigung
dieser Wahrheit in tausenden von Familien die traurigsten
Folgen herbeigeführt hat.
Ach! wie viele christliche Eltern haben, infolge einer
durchaus falschen Anwendung der Lehre von der Gnade,
ihren Kindern erlaubt, in Eigenwillen und Weltlichkeit aufzuwachsen!
Und indem sie dies thaten, haben sie sich mit
dem Gedanken getröstet, daß sie nichts thun könnten, und
daß Gott zu Seiner Zeit ihre Kinder, wenn sie anders
in den ewigen Ratschluß eingeschlossen seien, erretten
würde. Sie haben thatsächlich die große praktische Wahrheit
aus dem Auge verloren, daß der Gott, welcher das
Ende bestimmt hat, auch die Mittel anweist, um das
Ende zu erreichen, und daß es die höchste Thorheit ist, das
Ende erreichen zu wollen, ohne jene Mittel zu benutzen.
Soll das nun heißen, daß alle die Kinder christlicher
Eltern notwendig zu der Zahl der Auserwählten Gottes
gehören, daß sie unfehlbar errettet werden müssen, und
daß die Schuld nur an den Eltern liegt, wenn sie verloren
gehen? Nichts von alledem. Wir wissen in dieser
Beziehung nichts von den ewigen Vorsätzen und Ratschlüssen
Gottes. Ihm allein sind alle Seine Werke
von Anbeginn der Welt bekannt. Kein sterbliches Auge hat
jemals einen Blick in das Buch der geheimen Ratschlüsse
Gottes geworfen. Soweit erstreckt sich die Tragweite
jenes Ausdrucks: „Du und dein Haus," nicht. Dennoch
228
lehrt er uns zwei überaus wichtige Dinge. Zunächst
macht er uns mit einem köstlichen Vorrecht, dann aber
auch mit einer heiligen Verantwortlichkeit bekannt. Es ist
ohne alle Frage das Vorrecht aller christlicher Eltern,
für ihre Kinder auf Gott zu rechnen; zugleich aber ist
es ihre bestimmte Pflicht, sie für Gott zu erziehen.
Das sind die beiden Seiten dieser so wichtigen
Frage. Das Wort Gottes trennt nie den Hausvater von
seinem Hause. „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren."
„Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet
werden, du und dein Haus." (Luk. 19; Apstgsch. 16.)
Nach diesem wichtigen Grundsätze handelnd, haben wir
ohne Zögern den Boden Gottes für unsre Kinder einzunehmen
und sie sorgfältig für Ihn zu erziehen, indem wir
für das Resultat auf Ihn rechnen. Wir haben gleichsam
von ihrem ersten Atemzuge an zu beginnen und von Woche zu
Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr ihre Erziehung
nach diesem Grundsatz fortzusetzen. Gerade so wie
ein geschickter und sorgsamer Gärtner seine Fruchtbäumchen,
wenn sie noch jung und biegsam sind, an der Mauer
hinaufleitet, damit sie der erwärmenden und belebenden
Sonnenstrahlen teilhaftig werden, so sollten auch wir
unsere Kinder, so lange sie noch jung und empfänglich
find, für Gott zu bilden suchen. Wäre es nicht höchst
thöricht, wenn jener Gärtner warten wollte, bis die Zweige
alt und knorrig geworden sind? Sie dann noch biegen
und leiten zu wollen, wäre ganz vergebliche Mühe. Und
ebenso würde es den höchsten Grad von Thorheit verraten,
wenn wir unsre Kinder jahrelang unter der bildenden
Hand Satans, der Welt und der Sünde belassen wollten,
um dann mit ihrer Erziehung für den Herrn zu beginnen.
229
Doch man möge uns nicht mißverstehen! Wir denken
durchaus nicht daran, daß die Gnade erblich sei, oder
daß man durch irgend eine Handlung oder durch die Erziehung
Kinder zu Christen machen könne. Nichts liegt
uns ferner! Die Kinder christlicher Eltern müssen ebenso
gut, wie alle andere, durch Wasser und Geist geboren
werden, anders können sie das Reich Gottes nicht sehen,
noch in dasselbe eingehen. Alles dieses ist so klar, wie
die Schrift es machen kann; aber ebenso klar und bestimmt
spricht die Schrift andrerseits von der Pflicht der
Eltern, ihre Kinder „aufzuziehen in der Zucht und Ermahnung
des Herrn."
Was bedeuten diese Worte? Worin besteht diese
Erziehung? Das sind in der That wichtige Fragen für
die Herzen und Gewissen aller christlicher Eltern. Es ist
zu befürchten, daß wenige von uns wirklich verstehen,
was christliche Erziehung ist und wie sie ansgeübt werden
muß. Sie besteht nicht darin, daß wir unsere Kinder
eine Menge von Bibelstellen und geistlichen Liedern auswendig
lernen lassen und die Bibel gleichsam zu einem
Ausgabenbuch für sie machen. Obwohl es sehr gut ist,
dem Gedächtnis des Kindes Bibelverse und gute Lieder
einzuprägen, so müssen wir uns doch wohl davor hüten,
das Christentum dem Kinde zu einer lästigen, beschwerlichen
Sache zu machen. Was uns not thut, ist, unsere
Kinder mit einer durchaus christlichen Atmosphäre zu umgeben.
Stets sollten sie die reine Luft der neuen Schöpfung
einatmen und in ihren Eltern die herrlichen Früchte eines
geistlichen Lebens erblicken — Liebe, Friede, Reinheit,
Zartheit, Freundlichkeit, Selbstlosigkeit, Geduld und eine
liebende Sorge für andere. Diese Dinge üben einen
230
mächtigen moralischen Einfluß auf das empfängliche Gemüt
des Kindes aus, und der Geist Gottes wird sie
sicherlich benutzen, um dadurch sein Herz zu Christo zu
ziehen, zu dem Mittel- und Ausgangspunkt aller dieser
lieblichen Eigenschaften.
Wer könnte auf der andern Seite die verderbliche
Wirkung beschreiben, die es auf unsre Kinder haben muß,
wenn sie an uns Eigenliebe, Zorn, Weltlichkeit oder ein
Trachten nach irdischen Gütern entdecken? Könnten wir
wohl unsere Kinder aus Aegypten herausführen, wenn
die Grundsätze und Gewohnheiten Aegyptens in unserm
ganzen Verhalten zu Tage treten? Vielleicht sagen wir
ihnen, daß wir nicht zu der Welt gehören, daß sie eine
Wüste für uns ist und wir uns auf der Reise zu dem
himmlischen Kanaan befinden; aber was nützt dies, wenn
unsere Wege, unser Thun und Lassen in völligem Widerspruch
stehen mit unserm Bekenntnis? Unsere Kinder
werden nur zu bald diesen großen Widerspruch entdecken;
sie haben dafür ein sehr scharfes Auge. Und wie verhängnisvoll
und verderblich die Folgen sind, können wir
jeden Tag beobachten.
Vielleicht wird man uns erwidern, die Kinder seien
doch verantwortlich, auch wenn ihre Eltern ihre Berufung
nicht erfüllten. Das ist wahr; aber kann dies solche
Eltern auch nur für einen Augenblick entschuldigen,
oder ihre Verantwortlichkeit verringern? Es steht uns
schlecht an, die Verantwortlichkeit unsrer Kinder angesichts
der Thatsache hervorzuheben, daß wir unsrer eigenen nicht
entsprochen haben. Sie sind ohne Zweifel verantwortlich;
aber auch wir find es. Und wenn wir es unterlassen,
unsern Kindern die lebendigen und unwidersprechlichen Be
231
weise zu liefern, daß wir Aegypten für immer verlassen
haben, brauchen wir uns dann zu wundern, wenn sie darin
zurückbleiben? Was kann es nützen, von der Wüste oder
von Kanaan zu reden, während unser ganzes Leben den
Geist der Welt verrät? Unser Leben redet eine weit eindringlichere
Sprache, als unsere Worte, und das erstere
straft die letzteren Lügen. Unsre Kinder urteilen aber
naturgemäß nach unserm Verhalten, nicht nach der Sprache
unserer Lippen. Wenn nun die beiden nicht in Uebereinstimmung
sind, was kann es anders in unsern Kindern
Hervorrufen, als Abneigung gegen alle Religion und den
Gedanken, daß das Christentum ein bloßer Schein ist?
Wie überaus ernst ist alles dieses! Wie sollten sich
alle christliche Eltern mit Aufrichtigkeit in der Gegenwart
Gottes prüfen, ob sie wirklich ihre Kinder in Abhängigkeit
von Gott erziehen und ihnen in allen Dingen ein
treues Vorbild sind! Die Frage der Erziehung unsrer
Kinder ist eine weit wichtigere, als manche von uns zu
denken scheinen. Nur die Macht des Heiligen Geistes
kann uns zu dem wichtigen und heiligen Werke passend
machen in diesen letzten schweren Tagen. Doch die Gnade
Gottes genügt auch hierfür. Wir dürfen das völlige
Vertrauen hegen, daß Gott die schwächste Bemühung
unserseits segnen wird, wenn wir anders aufrichtig
wünschen, unsre Kinder aus Aegypten herauszuführen.
Doch diese Bemühungen müssen geschehen, und zwar mit
dem wirklichen, ernsten Vorsatze unsrer Herzen. Und hier
möchten wir in brüderlicher Liebe allen christlichen Eltern
es ins Gedächtnis rufen, wie wichtig es ist, unsere Kinder
von ihrer frühesten Jugend an an einen unbedingten Gehorsam
zu gewöhnen. Wir glauben, daß in dieser Be
232
Ziehung auch unter uns viel gefehlt wird, und wir haben
uns dafür vor Gott zu richten und zu demütigen. Infolge
einer falschen Zärtlichkeit, oder auch aus Nachlässigkeit
lassen wir unsre Kinder oft ihrem eigenen
Willen und Vergnügen folgen; und haben wir ihnen einmal
erlaubt, diese Bahn zu betreten, so schreiten sie mit
Riesenschritten auf derselben voran. Und was ist das
Ende dieses Weges? Ein überaus trauriges! Wie mancher
Sohn ist auf diesem Wege dahin gelangt, die Ermahnungen
seiner Eltern zu verachten, ihre Autorität völlig von
sich abzuschütteln, die heilige Ordnung Gottes mit Füßen
zu treten und den Familienkreis zu einem Schauplatz der
beklagenswertesten Auftritte zu machen!
Wir brauchen nicht zu sagen, wie schrecklich dieses
ist und wie sehr cs mit den Gedanken Gottes, wie Er
sie uns in Seinem Worte geoffenbart hat, im Widerspruch
steht. Doch haben die Eltern solcher Kinder sich nicht
selbst dafür zu tadeln? Gott hat die Zügel der Regierung
und die Rute der Autorität in die Hände der Eltern gelegt;
wenn sie nun diese Zügel aus Nachlässigkeit ihren
Händen entgleiten lassen, oder aus falscher Zärtlichkeit
und Schwäche die Rute nicht anwenden, brauchen wir
uns dann über die Resultate zu wundern? Eine gute
Erziehung übt einen unermeßlichen Einfluß auf Charakter
und Gemüt des Kindes aus. Wir können es als eine
Regel aufstellen — obwohl es hie und da Ausnahmen
geben mag — daß mehr oder weniger das aus unsern
Kindern wird, was wir aus ihnen machen. Halten wir
sie zum Gehorsam an, so werden sie gehorsam sein; erlauben
wir ihnen, ihrem eigenen Willen zu folgen, so
wird das Gegenteil der Fall sein.
233
Sollen wir denn stets die Zügel straff anziehen und
unaufhörlich die Rute gebrauchen? Durchaus nicht. Eine
allzustrenge Behandlung ist ebenso verkehrt, wie eine zu
zarte. Ein Kind sollte von frühester Jugend an belehrt
werden, daß seine Eltern nur sein Bestes wollen, daß
aber auch ihr Wille unter allen Umständen ausgeführt
werden muß. Nichts ist einfacher als das. Für ein wohlerzogenes
Kind genügt schon ein Blick oder ein Wort,
um es von verkehrten Dingen zurückzuhalten. Das wahre
Geheimnis einer erfolgreichen Erziehung liegt unsers Erachtens
in der richtigen Anwendung der Strenge und der
Zärtlichkeit. Wenn Eltern von Anfang an ihre Autorität
aufrecht halten, so mögen sie so viel Liebe und Zärtlichkeit
beweisen, als ihre Herzen es nur wünschen mögen.
Empfängt das Kind wirklich das Gefühl und Bewußtsein,
daß die Zügel und die Rute unter der Leitung eines
gesunden Urteils und einer wahren Liebe stehen, so wird
es sich verhältnismäßig leicht erziehen lassen.
Mit einem Worte, Festigkeit und zärtliche Liebe sind
die beiden wesentlichen Grundsätze einer gesunden Erziehung
— eine Festigkeit, welche sich nie durch den Eigenwillen
des Kindes, noch auch durch die Gefühle falscher
Zärtlichkeit erschüttern läßt, und eine Liebe, welche jedes
wahren Bedürfnisses und jedes rechtmäßigen Wunsches des
Kindes Rechnung trägt. So handelt unser himmlischer
Vater auch mit uns, und Er ist hierin, wie in allem
andern, unser vollkommenes Vorbild. Wie geschrieben
steht: „Ihr Kinder, gehorcht euern Eltern in allem!" so
steht auch geschrieben: „Ihr Väter, ärgert eure Kinder
nicht, auf daß sie nicht mutlos werden." (Kol. 3, 20. 21.)
Und wenn an einer andern Stelle gesagt wird: „Ihr
234
Kinder, gehorcht euer« Eltern im Herrn, denn das ist
gerecht;" so wird auch sogleich hinzugefügt: „Und ihr
Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern
ziehet sie auf in der Zucht und Ermahnung des Herrn."
(Eph. 6, 1. 4.) Kurz, das Kind muß gehorchen lernen,
zugleich aber muß das gehorsame Kind das Vorrecht genießen,
in dem Sonnenschein elterlicher Zuneigung zu
wandeln. Das ist unsre Ansicht von christlicher Erziehung. *)
Und wir hoffen zum Herrn, daß die obigen Betrachtungen
für die Herzen und Gewissen vieler christlicher Eltern zum
Segen sein mögen, um in ihnen ein tiefes Bewußtsein
von der hohen und heiligen Verantwortlichkeit zu erwecken,
welche im Blick auf ihre geliebten Kinder auf ihnen ruht.
Indem wir jetzt diesen Gegenstand verlassen, kommen wir
zu dem vierten und letzten der Einwürfe Satans gegenüber
dem Gebote Jehova's.
*) Näheres über diesen Gegenstand findet der Leser in einem
(im Verlage des Botschafters) erschienenen Schriftchen: „Du und
dein Haus, oder der Christ -in seinem Hause."
4. „Und Pharao rief Mose und sprach: Ziehet hin
und dienet Jehova, nur eure Schafe und eure Rinder sollen
zurückbleiben; auch eure Kindlein mögen mit euch ziehen."
(2. Mose 10, 24.) Welch eine Hartnäckigkeit! Pharao
giebt jetzt zu, daß die Kindlein mit ihren Eltern ziehen
sollen; er kann sie nicht länger zurückhalten. Gottes Hand
liegt zu schwer auf ihm und auf feinem ganzen Lande.
Aber der Feind hat noch einen letzten Einwurf. Kann
er von dem Volke kein einziges Glied zurückhalten, so sollen
doch wenigstens ihre Schafe und Rinder zurückbleiben.
Er will sie auf diese Weise der Möglichkeit und der Mittel
berauben, dem Herrn zu dienen; er will sie leer entlassen.
235
Doch beachten wir die edle Antwort Mose's, des
treuen Knechtes Jehova's. Sie ist von hoher, moralischer
Schönheit. „Und Mose sprach: Auch Schlachtopfer und
Brandopfer mußt du in unsere Hände geben, daß wir
Jehova, unserm Gott, opfern; so muß auch unser Vieh
mit uns ziehen, nicht eine Klaue darf dahinten bleiben,
denn davon werden wir nehmen, Jehova, unserm Gott,
zu dienen; und" — erwägen wir Wohl diese inhaltsvollen
Worte! — „wir wissen nicht, womit wir Jehova
dienen sollen, bisdaß wirdaselbst hinkommen."
(V. 25. 26.)
Wir müssen völlig und mit klarem Bewußtsein auf
göttlichem Boden stehen, ehe wir uns irgend ein wahres
Urteil über die Natur und die Ausdehnung Seiner Ansprüche
bilden können. So lange wir uns in einer weltlichen
Atmosphäre bewegen und uns leiten lassen durch
einen weltlichen Geist, durch weltliche Grundsätze und
Gegenstände, ist es völlig unmöglich, ein richtiges Bewußtsein
von dem zu haben, was für Gott angenehm und
passend ist. Wir müssen stehen auf dem Boden einer vollbrachten
Erlösung, in dem vollen Lichte der neuen Schöpfung,
getrennt von diesem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf, ehe
wir dem Herrn in der rechten Weise dienen können. Nur
dann, wenn wir durch die mächtige Wirksamkeit des in uns
wohnenden Geistes zu erkennen vermögen, wohin wir durch
den Tod und die Auferstehung Jesu Christi gebracht sind,
wenn wir die Bedeutung der „drei Tagereisen" verstehen,
sind wir fähig, zu unterscheiden, worin ein wahrer christlicher
Dienst besteht. Aber dann werden wir auch völlig
verstehen und erkennen, daß alles, was wir sind und haben,
Ihm angehört. „Wir wissen nicht, womit wir Jehova
236
dienen sollen, bis daß wir daselbst hinkommen." Kostbare,
gesegnete Worte! Möchten wir ihre Kraft und ihre praktische
Anwendung besser verstehen! Mose, der Mann Gottes,
begegnet allen Einwürfen Satans einfach damit, daß er
mit aller Entschiedenheit an dem Gebote Jehova's festhält:
„Laß mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in
der Wüste!"
Das ist zu allen Zeiten und unter allen Umständen
der einzig wahre Grundsatz. Anders ist es unmöglich, Gott
zu dienen. Wir müssen völlig getrennt sein von Aegypten
und von seinen verderblichen Einflüssen. Das Gebot und
der Maßstab Gottes müssen aufrecht gehalten werden trotz
aller Einwürfe und Widersprüche des Feindes. Sobald
wir diesen Maßstab auch nur um eines Haares Breite
verlassen, hat Satan gewonnenes Spiel, und wahrer christlicher
Dienst und wahres Zeugnis für Gott sind unmöglich
gemacht. Möchten wir uns deshalb „unbefleckt
erhalten von der Welt," um unserm Herrn in würdiger
Weise zu dienen, bis Er kommt!
Schwere Ketten einst mich banden,
Doch der Herr zerbrach sie all'!
Herr behüte, Herr bewahre
Deinen Knecht vor jedem Fall!
Gedanken über das Zusammenkommen der
Gläubigen.
(Fortsetzung.)
Von welcher Wichtigkeit ist es daher, sich genaue
Rechenschaft zu geben über die Bedeutung und Tragweite
des Wortes: „im Namen Jesu versammelt!" Wie
bereits gesagt, erinnert uns der Name Jesu an alles das,
237
was Er selbst in Seiner Person und in Seinem Charakter
ist, sowie an das Werk, daS Er vollbracht hat zur
Verherrlichung Seines Gottes und Vaters und zur Errettung
der Seinigen und zu ihrer Versammlung um Ihn.
Jesus heißt: Jehova Erretter. Der, welcher diesen Namen
trägt, ist der eingeborne und vielgeliebte Sohn Gottes,
das Wort, welches Fleisch ward, um uns die völlige
Offenbarung Gottes, als Vater, zu geben. Es ist der
Menschensohn, gekommen, um zu leiden und zu sterben
für unsere Sünden, um das Opfer zur Abschaffung der
Sünde darzubringen, der aber, auferweckt durch die Herrlichkeit
des Vaters, erhöht und zum Herrn und zum
Christus gemacht worden ist. Droben ist Er unsere Gerechtigkeit
vor Gott. Er ist unser großer Hohepriester,
welcher für uns vor Gott erscheint und immerdar lebt,
um für uns zu bitten. Durch Ihn kann stets das Opfer
des Lobes aus unsern Herzen zu Gott emporsteigen. Doch
noch mehr. Gott hat auch alles Seinen Füßen unterworfen
und Ihn, als Haupt über alles, der Versammlung
gegeben, welche Sein Leib ist. Hinaufgestiegen in die
Höhe, hat dieses himmlische Haupt den Heiligen Geist
hernieder gesandt, welcher nicht allein die einzelnen Gläubigen
auf den Tag der Erlösung versiegelt, sondern sie
auch mit Christo vereinigt, als Glieder Seines Leibes,
und in ihnen insgesamt wohnt, als solchen, welche
aufgebaut werden zu einer Behausung Gottes im Geiste.
(Eph. 2, 21. 22.)
Das ist die glorreiche und gesegnete Person Dessen,
der sich in Seiner Gnade herabläßt, in der Mitte von
Zweien oder Dreien, die in Seinem Namen versammelt
sind, Platz zu nehmen. Und was Seinen Charakter be
238
trifft, so stellt uns das Wort Ihn nicht allein dar als
Den, der uns liebt und uns gewaschen hat von unsern
Sünden in Seinem Blute, sondern auch als den Heiligen,
den Wahrhaftigen und den Getreuen. So ist man denn,
indem man Ihn also anerkennt, in Seinem Namen versammelt.
Ohne Zweifel können errettete Seeleu, angezogen
durch die Gnade und Vortrefflichkeit der Person
Jesu, sich auf göttlichem Boden — „in Seinem Namen" —
versammeln, ohne daß sie sich genaue Rechenschaft zu
geben vermöchten über alles das, was Der ist, welcher
sich in ihrer Mitte befindet. Indes dürfen wir die Herrlichkeit
Seiner Person und die Vollkommenheit Seines
Werkes nicht erniedrigen; und zum richtigen Verständnis
des vollen Wertes, sowie des Ernstes des Zusammenkommens
in Seinem Namen ist es wichtig, Den immer
besser kennen zu lernen, um dessen gesegnete Person wir
uns versammeln und in welchem sich alle Hülssguellen
befinden, damit wir wohl gegründet seien in Ihm. Wir
haben alle zn wachsen „in der Erkenntnis unsers Herrn
Jesu Christi." Einem Herzen, das an Ihm hängt, offenbart
Er sich immer mehr. Maria Magdalena mochte noch
sehr unwissend sein, aber sie begehrte nichts anders, als
ihren Herrn, und Jesus giebt sich ihr zu erkennen in
der Fülle Seiner Gnade und als Den, der die Kinder
Gottes in eins versammelt. (Joh. 20.) Dasselbe wird
der Fall sein mit jeder aufrichtigen Seele, die nichts
anders wünscht, als die Verherrlichung Christi.
Aus dem bisher Gesagten geht indessen hervor, daß
das Zusammenkommen im Namen Jesu nur dann eine
Wirklichkeit sein kann, wenn Jesus für uns persönlich ein
Erretter ist, und wir uns der Errettung in bewußter
239
Weise erfreuen, das heißt, wenn wir die Gewißheit haben,
daß unsere Sünden vergeben und daß wir versöhnt sind
und Frieden haben mit Gott durch unsern Herrn Jesum
Christum. Welche Freude erfüllt das Herz, wenn wir,
versammelt im Namen des Heilandes, wissen, daß Derjenige,
in welchem wir eine ewige Erlösung gefunden haben,
in unserer Mitte gegenwärtig ist! Das Zusammenkommen
im Namen Jesu ist also nicht eine bloße Versammlung
von Gläubigen und Nichtgläubigen, nur zu dem Zweck,
eine Predigt zu hören, obwohl der Geist Gottes auch da
wirksam sein kann zum Segen der Seelen. Alle diejenigen,
welche Christum nicht kennen, können sich nicht
in Seinem Namen versammeln. Es sind die Erretteten,
welche dies im Namen ihres Erretters thun. Indessen
mögen, wenn sie also versammelt sind, auch Nichtgläubige
zugegen sein, und diese werden, wenn die Gegenwart des
Herrn verwirklicht wird, durch die Wirksamkeit des Geistes
dieselbe erkennen und ihre gesegneten Wirkungen verspüren
können. (Vergl. 1. Kor. 14, 24. 25.)
Derselbe Jesus, welcher Seine Gegenwart inmitten
derer, die in Seinem Namen versammelt sind, verheißen
hat, ist der Sohn Gottes, der gekommen ist, um uns den
Namen des Vaters zu offenbaren. (Joh. 17, 26.) Ja,
mehr als das; Er hat uns in das Verhältnis der Kindschaft
zu Gott eingeführt. Durch den Glauben an Ihn
werden wir Kinder Gottes; durch den Heiligen Geist wird
uns das Leben aus Gott mitgeteilt, (Joh. 1, 12. 13;
Z, 3. 5; 20, 17. 22.) und der Heilige Geist selbst, indem
Er in uns Wohnung gemacht, hat uns versiegelt auf den
Tag der Erlösung. Er ist der Geist der Sohnschaft, in
welchem wir rufen: „Abba, Vater!" und Er zeugt mit
240
unserm Geiste, daß wir Kinder Gottes sind. (Eph. 1, 13;
Röm. 8, 15. 16.) Wir ersehen hieraus, daß ein Zusammenkommen
im Namen Jesu voraussetzt, daß man das
Leben aus Gott, das ewige Leben besitzt, da es denen
zugehört, die da glauben an den Namen des Sohnes
Gottes; (1. Joh. 5, 13.) zweitens setzt eS voraus, daß
man sich in bewußter Weise seiner Gotteskindschaft erfreut,
da Jesus die Seinigen in dieselbe einführt; schließlich
sieht man, daß es der Heilige Geist ist, der uns um
Jesum versammelt und in uns die Kraft ist, um uns
alles das genießen zu lassen, was ein solches Zusammenkommen
in sich schließt. Es ist also nicht irgend eine
menschliche Einrichtung, durch welche wir uns so vereinigt
finden, sondern der Heilige Geist, welcher, von Christo gegeben,
uns zu Christo führt und uns die Fähigkeit giebt,
Seine Gegenwart zu genießen. Ist das nicht in Wahrheit
das einzig Passende für Kinder Gottes, für solche,
die das Leben aus Gott besitzen? Ist es nicht ein hohes
Glück für sie, sich hienieden schon unter dem Auge des
Vaters versammelt zu finden, und zwar um Den, welcher
der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern?
Aber das ist noch nicht alles. Wenn wir versammelt
sind im Namen Jesu, so erkennen wir Ihn als Herrn
an, als Den, der ein Recht hat an den Gehorsam Seiner
Knechte, welchen Er einen Dienst anweist, wie es für
jeden Einzelnen passend ist. Wenn man sich daher nach
menschlichen Gedanken und menschlichem Gutdünken versammelt,
indem man irgend etwas einführt, was das Wort
nicht bestätigt, so ist das kein Zusammenkommen im
Namen Jesu; denn Jesum als Herrn anerkennen, heißt,
sich der Autorität unterwerfen, welche Er besitzt, um alles
241
zu ordnen und zu leiten; und Er thut dies durch Seinen
Geist in der Mitte derer, welche sich in der Abhängigkeit
von Ihm allein versammeln. Ihn als Herrn anerkennen
heißt, in Wahrheit und Heiligkeit Seinem Worte unterworfen
bleiben. Wenn diese Herrschaft Christi anerkannt
wird, so werden wir erfahren, daß Er, nach Seiner Treue,
inmitten jener „Zwei oder Drei" ist, so groß ihre Schwachheit
und so gering ihr Ansehen in den Augen der Menschen
auch sein mögen. Er ist da als Herr, um sie
durch Seine Macht zu bewahren und ihr Zeugnis zu
Seiner Verherrlichung zu erhalten. Welch eine Gnade
und Sicherheit! Welch eine Segnung! Möchten wir ein
solches Zusammenkommen um Jesum allein immer mehr
schätzen und es in der Kraft des Heiligen Geistes verwirklichen!
Wo könnten wir unter den vortrefflichsten Einrichtungen,
welche die Menschen zum Zweck des Zusammenkommens
zum Gottesdienste getroffen haben, etwas finden,
das den Bedürfnissen des göttlichen Lebens in uns besser
entspräche, als die Gegenwart Jesu unter uns? Diese
aber findet sich nur da, wo man sich in Seinem Namen
versammelt, und zwar in der Unterwürfigkeit unter Ihn,
als Herrn.
Indes ist Christus auch „das Haupt der Versammlung,
welche Sein Leib ist." Das Wort lehrt uns, daß
es „einen Leib und einen Geist" giebt, wie wir auch
berufen worden in „einer Hoffnung" unsrer Berufung.
Man wird nicht geboren als ein Glied dieses Leibes, denn
wir sind von Natur „Kinder des Zornes;" man wird es
auch nicht durch die Wassertaufe, noch durch irgend ein
religiöses Bekenntnis, sondern, wie der Apostel sagt: „In
einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft."
242
(1. Kor. 12, 13.) Der Heilige Geist ist das göttliche
Siegel, das dem Gläubigen aufgedrückt wird, (Eph. 1, 14.)
so daß die Glieder des Leibes aus allen denen bestehen,
welche, nachdem sie „dem Worte der Wahrheit, dem Evangelium
ihres Heils," geglaubt haben, „versiegelt" worden
sind mit dem Heiligen Geiste der Verheißung," welche
Kinder Gottes sind und „den Geist der Sohnschaft"
empfangen haben, „in welchem wir rufen: Abba, Vater!"
Alle Glieder des Leibes sollten sich daher mit vollem Bewußtsein
der völligen, durch Christum vollbrachten Erlösung,
der Vergebung, des Friedens, sowie eines kraft Seines
Werkes vollkommnen Gewissens erfreuen. Aber-leider ist
dies infolge mangelhafter Belehrung nicht immer der Fall.
Der unermeßliche Schatz der Reichtümer der Gnade ist
Wohl da und gehört den Gläubigen, aber sie versäumen
es oft, dieselben zu genießen in der völligen Freiheit,
womit Christus sie frei gemacht hat — denn „wo der
Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."
Von diesem also gebildeten einen Leibe ist Christus
das Haupt, und schon dieses beweist deutlich, daß die
Glieder wirklich des Lebens teilhaftig sein müssen, welches
das Haupt, d. i. Christus im Himmel, besitzt. Anders ist
eine solch innige Verbindung unmöglich. Und in der That sind
sie mit Ihm verbunden durch den Heiligen Geist, welchen
Er gesandt hat, nachdem Er hinaufgestiegen ist in die
Höhe; wie geschrieben steht: „Wer aber dem Herrn anhängt,
ist ein Geist mit Ihm." (1. Kor. 6, 17.) Als
Glieder des Leibes Christi sind wir zugleich je einer des
andern Glieder, desselben Lebens teilhaftig, verbunden mit
demselben Haupte durch denselben Geist. Das Wort Gottes
erkennt keinen andern Leib an und verurteilt ebendeshalb
243
die verschiedenen Benennungen, welche in der Christenheit
bestehen und thatsächlich diese Einheit leugnen. Wir können
uns, wie schon gesagt, nicht im Namen Jesu versammeln,
ohne Ihn als das Haupt der Versammlung anzuerkennen,
welche „Sein Leib ist, die Fülle Dessen, der alles in allem
erfüllt." Diesen Grundsatz der Einheit des Leibes, welcher
aus der Einheit des einen Geistes hervorgeht, haben wir
festzuhalten und zu bezeugen, und zwar sind wir berufen,
dies zu thun als ein Zeugnis gegenüber den fast zahllosen
Benennungen und Sekten der Christenheit; wir
sollen uns befleißigen, ihn zu verwirklichen, indem wir
uns versammeln auf dem einzigen Grunde, welchen uns
das Wort für die schweren Zeiten angiebt, nämlich „im
Namen Jesu," des Hauptes des einen Leibes.
Damit soll nicht gesagt sein, daß diejenigen, welche
sich im Namen Jesu versammeln, indem sie jenen Grundsatz
bekennen und aufrechthalten und sich befleißigen, durch
die Gnade des Herrn ihn zu verwirklichen, den einen Leib
bilden, mit Ausschluß aller übrigen Christen. Keineswegs
l Alle Gläubige, die wirklich mit dem Heiligen Geiste
getauft sind, gehören zu diesem einen Leibe, und wir freuen
uns, sagen zu dürfen, daß es solche Gläubige in allen
Benennungen giebt. Viele von ihnen kennen aber jene
Wahrheit nicht, oder verstehen doch nicht ihre Tragweite
und Wichtigkeit; andere nehmen sie zwar an, suchen aber
nicht, sie zu verwirklichen, oder denken, eine Verwirklichung
derselben sei unmöglich. Nichtsdestoweniger aber besteht
die Thatsache, daß es nur einen Leib giebt, sowie die
Verpflichtung für alle, die diese Wahrheit kennen, dieselbe
aufrechtzuhalten, samt allen ihren Folgerungen, eingedenk
dessen, daß in der Mitte derer, welche im Namen Jesu
244
zusammenkommen, Jesus, das Haupt des Leibes, gegenwärtig
ist. Auf diese Weise werden sie der Wahrheit
Zeugnis geben. Ohne Zweifel haben sie es in der Liebe
zu thun und mit Geduld gegen die Unwissenden, aber der
Wahrheit gemäß und im Gehorsam.
(Fortsetzung folgt.)
Ueberführung, Buße und Vergebung.
In 2. Sam. 12 werden uns diese drei wichtigen
Dinge: Ueberführung, Buße und Vergebung vor Augen
gestellt. Wir werden stets finden, daß dieselben unzertrennlich
mit einander verbunden sind, ja, daß das eine
notwendig aus dem andern hervorgeht.
David hatte sich einer schweren Sünde schuldig gemacht.
Er hatte Uria, den Hethiter, durch das Schwert
der Kinder Ammon ermorden lassen und dann das Weib
Uria's sich zum Weibe genommen. „Aber die Sache, die
David gethan, war übel in den Augen Jehova's." David
indes war blind über das Schreckliche seiner Sünde. Er
war ohne Zweifel verhärtet durch den Betrug der Sünde,
und vielleicht war es ihm nahezu gelungen, das Andenken
an das schreckliche Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht
hatte, aus seinem Herzen zu Verbannen.
Wir sehen hierin ein Bild des Menschen von Natur.
Er lebt in Unabhängigkeit von Gott und deshalb in
Sünde. Denn die Sünde ist Gesetzlosigkeit oder Unabhängigkeit
von Gott, und das ist es, was den natürlichen
Menschen kennzeichnet. Er sündigt, aber er vergißt
es wieder; und wenn hie und da sein Gewissen erwacht
und ihn verurteilt, so entschuldigt er sich, und es
245
gelingt ihm gewöhnlich, sein Gewissen wieder einzuschläfern.
Er sagt sich: „Ich bin nicht so sehr zu tadeln; ich habe
noch lange nicht so schlecht gehandelt, wie der oder jener,
und Gott ist ja barmherzig." Und damit beruhigt er sich
und geht unbeirrt seines Weges weiter.
Ohne Zweifel mußte auch David, der gefallene
König, zu solchen Mitteln seine Zuflucht nehmen, um die
Stimme seines Gewissens zum Schweigen zu bringen, und
wie es scheint, war ihm dies ziemlich gut gelungen. Denn
als der Prophet Nathan zu ihm kam und ihm das
Gleichnis von dem reichen Manne erzählte, der dem Armen
sein einziges Lamm raubt, um es für seinen Gast zu
schlachten, da wurde er zornig und rief: „So wahr Jehova
lebt, der Mann ist ein Kind des Todes, der dieses
gethan hat!" (V. 5.) Ach! wie schnell war er bereit,
andere zu richten — und er urteilte gerecht — aber wie
wenig war er darauf vorbereitet, durch den Propheten des
Herrn gerade jener Sünde beschuldigt zu werden, welche
seinen Zorn in so hohem Maße erregte! Mit welch niederschmetternder
Gewalt müssen die göttlich überführenden
Worte: „Du bist der Mann!" in sein Ohr gedrungen
sein!
Doch das, was Jehova damals durch Seinen Propheten
dem schuldbeladenen Könige zurufen ließ, dasselbe
läßt Er heute jedem Menschen von Natur verkündigen.
Der Mensch mag sich entschuldigen und seinen Nächsten
richten und verurteilen; Gott aber sendet Sein Wort zu
einem jeden und läßt ihm sagen: „Du bist der
Mann!" Ein jeder hat es persönlich mit Gott zu thun, und
das Evangelium überzeugt, durch die Kraft des Heiligen
Geistes, einen jeden von seiner Schuld. Es steht vor dem
246
Menschen und ruft ihm mit unfehlbarer Bestimmtheit zu:
„Du bist ein Sünder! Du bist der Mann!"
Gehst du noch auf den Wegen der Sünde dahin,
mein Leser, ohne Gott und ohne einen Heiland? Bist du
noch nicht überzeugt von deiner Schuld und von deinem
völligen Verderben? Sagst du: „Ich bin moralisch, religiös
und ehrbar? ich halte mich fern von allen Leidenschaften
und Lastern?" Siehe, Gottes Wort ruft dir zu: „Du
bist der Mann!" Das Gesetz Gottes sagt: „Verflucht
ist jeglicher, der nicht bleibt in allem, was geschrieben
ist im Buche des Gesetzes, es zu thun!" Du hast das
Gesetz tausendfach übertreten, und deshalb: „Du bist
der Mann!" Auch sagt es: „Die Seele, welche sündigt,
soll des Todes sterben." Du hast gesündigt, deshalb:
Du bist der Mann! Es handelt sich nicht um deinen
Nächsten, nicht um irgend einen Menschen auf der Welt,
sondern um dich: „Du bist der Mann!" Du stehst
vor Gott als ein überführter, schuldbeladener Sünder,
und deshalb bitte ich dich, die Worte Nathans in ihrer
ganzen Schärfe auf dich anzuwenden.
Jene vier Worte thaten ein Werk in Davids Gewissen,
das die aufrichtigste Buße hervorrief. Sie waren
der Pfeil Gottes, der sich tief in sein Gewissen eingrub
und ihn in ernster Demütigung vor Gott niederwarf.
Hören wir die Sprache seines gebrochenen Herzens: „Sei
mir gnädig, o Gott, nach Deiner Güte! Nach der Größe
Deiner Barmherzigkeit tilge meine Uebertretung! Wasche
mich völlig von meiner Ungerechtigkeit und reinige mich
von meiner Sünde! Denn ich kenne meine Uebertretungen,
und meine Sünde ist stets vor mir. An Dir, an Dir
allein habe ich gesündigt und das Böse in Deinen Augen
247
gethan, damit Du gerechtfertigt seiest in Deinem Reden,
rein in Deinem Richten." (Ps. 51, 1—4.) Eine wahrhaft
göttliche Ueberführung von der Sünde leitet stets
zu einer wahren, unbereubaren Buße. David ist vor das
Angesicht Gottes selbst gestellt; es ist nicht nur eine Sache
zwischen ihm und Uria, sondern er hat gesündigt
gegen Jehova. Hier sehen wir, was Sünde ist; sie
ist stets gerichtet gegen den Herrn. Er ist der Schöpfer
und Erhalter des ganzen Weltalls, und gegen Ihn
sündige ich, wenn ich gesetzlos handle. „Gegen den Herrn"
— „gegen Dich allein habe ich gesündigt" — das ist es,
was die Seele fühlt und bekennt, wenn sie göttlich überführt
wird. Wir mögen gegen unsere Mitmenschen gesündigt
haben, aber im Grunde ist es nichts anderes, als
ein Sündigen, ein Auflehnen Wider Gott.
Mein Leser, Gott „gebietet jetzt den Menschen, allenthalben
Buße zu thun." Hast du Seine Forderungen
anerkannt, hast du Seinem Worte in bezug auf deine
Sünden geglaubt und in wahrer, aufrichtiger Buße deine
Schuld vor Ihm bekannt? Gott erwartet und fordert
Buße, d. h. Er erwartet, daß die Seele ihre Schuld
und ihre Auflehnung gegen Seine Autorität wahrhaft
anerkenne und vor Ihm bekenne. Wahre Bekehrung besteht
nicht in bloßen Gefühlen; o nein, es muß eine
Sache des Herzens und des Gewissens sein. Sie besteht
auch nicht darin, daß ich meine bisherigen bösen Gewohnheiten
ablege, daß ich die Kirche fleißig besuche und meine
Zeit und mein Geld religiösen Zwecken widme. Nein,
mein Freund, du magst alles dieses gethan haben und
dennoch für immer verloren gehen. Du magst es gethan
haben, ohne daß dein Herz und Gewissen die Sünde
248
fühlte, und ohne daß du in wahrer Buße anerkanntest,
daß du gegen den Herrn gesündigt hast. Der Herr Jesus
sagte zu den religiösen Pharisäern, die sich für besser
hielten, als die Galiläer, deren Blut Pilatus mit ihren
Schlachtopfern vermischt hatte: „Wenn ihr nicht Buße
thut, so werdet ihr alle ebenso umkommen." (Luk. 13, 3.)
David stellte sich aus den Boden des schuldigen
Sünders und bekannte dem Herrn seine Uebertretungen,
und der Gott aller Gnade war da, um ihm mit Vergebung
zu begegnen. Sobald David zu Nathan sagt:
„Ich habe gesündigt wider Jehova," erhält er aus dem
Munde des Propheten die Versicherung: „Jehova hat auch
deine Sünde weggenommen, du wirst nicht sterben." Gott
war da, um dem Sünder in Gnade zu begegnen, sobald
sich wahre Buße zeigte und ein aufrichtiges Bekenntnis
hervorkam. Derselbe, gegen den David gesündigt hatte,
war auch allein imstande, die Sünde hinwegzunehmen,
und Er that es. „Jehova hat deine Sünde weggenommen."
Und ist es nicht heute noch gerade so? Gott, der
Gott aller Gnade, begegnet dem von seinen bösen Wegen
bußfertig zurückkehrenden Sünder mit derselben vergebenden
Gnade und errettenden Liebe, wie Er einst dem
David entgegen kam. Jesus, der Sohn Gottes, ist gestorben
für Sünder, für Verlorene; und jetzt ist Gott
fähig, in vollkommener Gerechtigkeit die Sünden zu vergeben
und den Gottlosen, der an den Herrn Jesum
Christum glaubt, zu rechtfertigen. Welch eine Vergebung
muß es sein, die uns von Gott zu teil wird als die
Frucht des kostbaren Blutes Seines geliebten Sohnes!
„OhneBlutvergießenist keineVergebung." Aber Blut ist vergossen
worden, und zwar das Blut des reinen und flecken
249
losen Lammes Gottes. Und dieses Blut ist jetzt droben
vor Gott in dem Innern des Heiligtums, so daß Er nur
Seine Gerechtigkeit erweist, wenn Er den rechtfertigt, der
an Jesum und an Sein vergossenes Blut glaubt. „Diesem
geben alle die Propheten Zeugnis, daß ein jeglicher, der
an Ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfangen wird
durch Seinen Namen." (Apstgsch. 10, 43.)
Von welch hohem, unaussprechlichem Werte sind solche
Worte, mein lieber Leser! Welch eine Fülle des Segens
enthalten sie! Wir haben uns nicht abzumühen, um durch
unsre Anstrengungen Vergebung der Sünden zu erlangen.
O, wie wäre es möglich, sie auf diesem Wege zu finden?
Nein, das Werk ist für immer und ewig vollbracht. „Es
ist vollbracht!" rief der sterbende Heiland, und jetzt sitzt
Er droben in der Herrlichkeit zur Rechten der Majestät
Gottes, als der Gegenstand unsers Glaubens und unsrer
Hoffnung. Wer an Ihn glaubt, wird nicht gerichtet,
wird nimmer beschämt werden. Gott selbst hat Ihn aus
den Toten auferweckt und Ihm Herrlichkeit gegeben, und
wir glauben durch Ihn an Gott, so daß unser Glaube
und unsre Hoffnung auf Gott ist. Könnte es einen
festeren, unerschütterlicheren Boden geben, als Gott selbst
und Sein lebendiges, ewig bleibendes Wort?
Doch erlaube mir die Frage: Kennst du Ihn als
den Gegenstand deines Glaubens und deiner Hofnung?
Kennst du Ihn als Den, der dich errettet hat? Kannst
du sagen, daß durch das kostbare Blut Christi deine
Sünden vergeben und für immer hinweggethan find?
Kannst du die herrlichen Worte auf dich anwenden: „Das
Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller
Sünde?" (1. Joh. 1, 7.) Wenn du diese Fragen bejahen
250
kannst, o dann bist du glückselig zu preisen. Denn: „Glückselig
der, dessen Uebertretung vergeben, dessen Sünde
bedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit
nicht zurechnet und in des Geist kein Trug ist!"
(Ps. 32, 1. 2.) Könnte es ein höheres Glück geben, als
dieses? Sicherlich nicht! Aber dann solltest du jetzt auch
nichts anders begehren, als zur Ehre und Verherrlichung
Dessen zu wandeln, der so viel für dich gethan hat. Möchten
die Worte des treuen Apostels Paulus auch in bezug auf
einen jeden von uns Wahrheit sein: „Er hat mich geliebt
und sich selbst für mich dahingegeben," und deshalb: „Das
Leben für mich ist Christus!" (Gal. 2, 20; Phil. 1, 21.)
Friede, tief wie ein Strom!"
Welch ein köstliches Wort: „Friede!" — Mein
Leser, weißt du, was es heißt: „Frieden mit Gott
zu haben durch unsern Herrn Jesum Christum?"
Die wenigen Worte, welche die Ueberschrift dieses
kurzen Artikels bilden, waren das letzte Zeugnis eines
sterbenden Offiziers. Ein Sprengstück einer Granate hatte
ihm beide Kinnbacken zerschmettert und die Zunge weggerissen.
Er wurde aus dem Kampfe zum Verbandvlatz
getragen. Hier angekommeu, gab er dem ihn behandelnden
Arzte durch Zeichen zu verstehen, daß er etwas zu
schreiben wünsche. Man reichte ihm Papier und Bleistift.
Mit zitternder Hand schrieb er: „Friede, tief wie
ein Strom!" und fügte die Bitte hinzu, das Blatt
seiner Gattin zu übersenden. Wenige Augenblicke nachher
entschlief er.
Du siehst, mein lieber Leser, welch eine Ruhe und
251
welch ein Friede das Herz dieses Kriegsmannes erfüllten.
Sie befähigten ihn, ein solch herrliches Zeugnis zu hinterlassen.
Vielleicht erinnerte ihn das Blut, das in Strömen
aus seiner schrecklichen Wunde floß, an jenes kostbare Blut,
welches auf Golgatha vergossen worden ist, und durch welches
Jesus, der „Fürst des Friedens," für immerdar „Frieden
gemacht hat." (Vergl. Kol. 1, 20.) In seiner Seele gab
es keine Ungewißheit und Unruhe. Er brauchte nicht
mehr zu fragen: „Wie kann ich Frieden mit Gott erlangen?"
oder: „Was muß ich thun, daß ich errettet
werde?" Im Gegenteil, er wußte, an wen er geglaubt
hatte, und daß die Frage der Sünde zwischen Gott und
ihm für ewig geordnet sei durch den Tod und die Auferstehung
Jesu Christi. Er wußte nicht nur, daß Friede
mit Gott gemacht ist „durch das Blut Seines Kreuzes,"
sondern der zur Rechten Gottes verherrlichte Jesus war
Sein Friede. Deshalb bewahrte der „Friede Gottes"
sein Herz und seine Sinne auch in den letzten qualvollen
Augenblicken, und „der Gott des Friedens" war „mit
ihm." Wie wahr und wirklich ist dies, mein Leser, für
jede aufrichtige und einfältige Seele! Der Friede ist
gemacht; (Kol. 1, 20.) der Friede wird verkündigt,
(Apstg. 10, 36.) und Gott ist „der Gott des Friedens."
(Phil. 4, 9.) Was muß das Resultat sein für einen
jeden, der dem Worte Gottes glaubt? Er hat Frieden,
ewigen, unerschütterlichen Frieden.
Was sagst du zu diesem allen, mein lieber, unbekehrter
Leser? Sagst du: „Ich wünsche, ich gliche
jenem Offizier?" Das genügt nicht. Auch Bileam, dessen
trauriges Ende uns in 4. Mose 31, 8 mitgeteilt wird,
sagte einst: „Meine Seele sterbe den Tod des Aufrichtigen,
252
und mein Ende sei gleich dem seinigen!" Aber er wurde
erschlagen im Kampfegegen das auserwählte Volk Gottes.
Sagst du: „Ich weiß, daß es anders mit mir
werden muß, und ich habe den Vorsatz gefaßt, mein
Leben zu ändern?" Auch das genügt nicht, mein Freund.
Hast du nie gehört, daß der Weg zur Hölle mit guten
Vorsätzen gepflastert ist? Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen
sind völlig ungenügend; sie können dir nie Frieden verschaffen.
Du hast mehr als das nötig. Du bedarfst der
Versöhnung mit Gott. Du bist ein Sünder, ein
Feind Gottes und kannst nichts anders aus dir machen.
Da ist kein Friede zwischen einem heiligen Gott und
einem schuldigen Sünder, wohl aber zwischen einem
Heiland-Gott und dem, der an Christum glaubt. Und wie
ist dies möglich? Weil Er (Jesus) „Frieden gemacht
hat durch das Blut Seines Kreuzes." Lausche auf die
Worte des Herrn, die Er nach vollbrachtem Werke in der
Mitte Seiner verzagten Jünger aussprach! Was sagte
Er? — „Friede euch!" und auf Seine durchbohrten
Hände und Füße weisend, zeigte Er ihnen, auf welche
Weise dieser Friede gemacht war. Derselbe, welcher
Frieden gemacht hat, verkündigt Frieden. Glaubst Du
an Ihn? Hast du Frieden mit Gott? Bist du gereinigt
von allen deinen Sünden durch Sein kostbares Blut? O
weise diese Fragen nicht gleichgültig oder gar verächtlich
ab! Beantworte sie vielmehr mit Aufrichtigkeit deines
Herzens! Es handelt sich um dein ewiges Heil, deine
ewige Errettung. „Wer an den Sohn glaubt, hat das
ewige Leben, wer aber dem Sohne nicht glaubt, wird
das Leben nicht sehen, sondern der Zorn
Gottes bleibt auf Ihm." (Joh. 3, 36.)
Das Gebet des Herrn.
(Math. 6, 9—13; Luk. 11, 2-4.)
Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn
und auf welche Personen ist es anzuwenden? Ist sein
Gebrauch auf die Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu
beschränken, oder auch auf die Zeit nach Seinem Tode und
auf die Gegenwart auszudehnen? — Das sind Fragen,
welche oft gestellt werden, und deren Beantwortung schon
mancher aufrichtigen Seele Schwierigkeit gemacht hat.
Unter des Herrn Hülfe wollen wir versuchen, sie in dem
Nachfolgenden Seiner Wahrheit und Seinen Gedanken
entsprechend zu beantworten.
Zunächst sind es nur zwei Evangelisten, Matthäus
und Lukas, welche das Gebet des Herrn, und zwar in
verschiedener Form, erwähnen. Beide Formen sind ohne
Zweifel von gleicher, d. h. göttlicher Autorität, und wenn
Lukas zwei Bitten ausläßt, so hat dies nicht etwa seinen
Grund darin, daß ihm dieselben entfallen seien und sein
Gedächtnis ihn betrogen habe, sondern die Auslassung
steht in enger Verbindung mit dem Gegenstand, der vor
seinem Geiste, oder vielmehr vor dem Geiste dessen stand,
der ihn inspirirte. Das Evangelium nach Matthäus stellt
uns den Herrn in Seinem Charakter als der Messias,
der Sohn Davids vor, der in der Mitte Seines Volkes
erschienen war, nm alle die Verheißungen des Alten Testa
254
ments zu erfüllen. Der Herr redet deshalb dort als
Jehova — Messias, der nicht gekommen ist, um die
Satzungen Seines Knechtes Mose und die Gebote des
Gesetzes aufzulösen, sondern um in Seiner Autorität als
Herr ein neues, himmlisches Licht über dieselben zu verbreiten
und um so den Weg für andere weit höhere Dinge
zu bereiten. Deshalb begegnen wir zu wiederholten Malen
den Worten: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ... .
ich aber sage euch rc." In Uebereinstimmung damit wird
auch in Matthäus das Gebet in direkten Gegensatz gebracht
zu der jüdischen oder pharisäischen Sucht, von den
Leuten gesehen zu werden, und zu ihrem Mangel an
wahrer Frömmigkeit, und der Strom der erhabenen Sprache
desselben wird nicht unterbrochen.
In dem Evangelium nach Lukas tritt der Charakter
Jesu als des Sohnes des Menschen, als dessen, der
gekommen ist, um dem Zustande und den Bedürfnissen
des Menschen (nicht allein des Juden) zu begegnen,
mehr in den Vordergrund. Die erzählten Ereignisse und
Gleichnisse stehen damit in lieblicher Uebereinstimmung.
Wir finden in Lukas die Geschichte der großen Sünderin,
das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter und dem
verlornen Sohne, die Geschichte von dem reichen Mann und
dem armen Lazarus, von Zachäus dem Oberzöllner u. s. w.
In dem ganzen Evangelium tritt unS das anbetungswürdige
Verlangen des Herzens Gottes entgegen, die im
Judentum aufgerichteten engen Schranken zu durchbrechen
und die Ströme Seiner Liebe überallhin ausfließen zu
lassen, wo die Sünde Not und Elend angerichtet hatte.
Deshalb steht hier das Gebet des Herrn auch nicht im
Gegensatz zu der eigengercchten und prahlerischen An
255
betung der Pharisäer, sondern ist vielmehr eins der Elemente,
welche zum geistlichen Leben notwendig sind. In
keinem Evangelium wird uns so oft erzählt, daß der
Herr betete, als gerade in Lukas, und dies ist wieder in
Uebereinstimmung mit dem ganzen Charakter des Herrn in
diesem Teile der Schrift. Er ist der Sohn des Menschen,
der in völliger Abhängigkeit von Gott, dem Vater, durch
diese Welt pilgert und nötig hat — ich sage dies mit
tiefer Ehrerbietung, denn es ist ein Beweis von der Vollkommenheit
Jesu als Mensch — von Gott gestärkt und
erquickt zu werden. Am Ende des 10. Kapitels sehen wir
Maria zu den Füßen Jesu, um aus Seinem Munde
Worte des ewigen Lebens zu vernehmen. Sie hat das
gute Teil, Ihn selbst, das lebendige Wort, erwählt. Doch
außer dem Worte Gottes haben wir ein anderes Element nötig.
Wir sind durch dieses Wort wiedergezeugt und werden
durch dasselbe belehrt, ernährt und gereinigt. Doch trotzdem
bedürfen wir als abhängige, schwache Menschen hienieden
noch etwas anderes und das ist das Gebet. Das
Gebet ist das praktische Mittel, uns in der Gegenwart
Gottes zu erhalten und das Wort nutzenbringend und
heiligend für uns zu machen. Und so finden wir in
Lukas das Gebet des Herrn als eine Antwort auf das
Bedürfnis der Jünger. Sie bitten Ihn: „Herr lehre uns
beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte." Die Auslassung
der dritten Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im
Himmel also auch auf der Erde!" ist ein weiterer Beweis
für die Wahrheit unsrer Behauptung, daß wir in Lukas
auf ganz anderm Boden stehen, als in Matthäus. Für
einen Israeliten war jene Bitte völlig passend. Für ihn
bleibt es stets ein richtiger Wunsch, daß der Wille Gottes
256
auf Erden geschehe, wie im Himmel. Aber was wußte
ein armer Heide von den gerechten Erwartungen Israels
bezüglich der Erde.
Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir den
Unterschied zwischen den beiden Formen des Gebets noch
länger verfolgen. Kehren wir deshalb zu der umfassenderen
Form, wie sie unS von Matthäus gegeben wird,
zurück, um an der Hand der Worte des Herrn unsre erste
Frage: „Welches ist die Bedeutung des Gebets des
Herrn, und auf welche Personen ist es anzuwenden?"
zu beantworten.
Der erste wichtige Punkt, auf welchen ich die Aufmerksamkeit
des Lesers richten möchte, ist die Uebereinstimmung
des Gebets mit dem Platze, den es einnimmt,
und mit dem Zwecke, welchen der Herr verfolgte. Es
findet sich bekanntlich in der sogenannten Bergpredigt, in
welcher der Herr sich an Seine jüdischen Jünger wendet,
um sie aus ihren bisherigen Gedanken, Gefühlen und
Wegen in die neuen Grundsätze des Reiches der Himmel,
das Er aufzurichten im Begriff stand, einzuführen. Wir
müssen dies durchaus festhalten, wenn wir anders die
Bedeutung und den Zweck des Gebets verstehen wollen.
Es ist nicht bestimmt für das ganze Menschengeschlecht
ohne Unterschied. (Dies geht auch deutlich aus dem
Evangelium nach Lukas hervor, wo wir lesen: „Und es
geschah, als Er an einem gewissen Orte betete, da Er
aufgehört, sprach einer Seiner Jünger zu Ihm:
Herr, lehre uns beten.") Es drückt nicht den Zustand,
die Bedürfnisse und Gefühle eines jeden Menschen aus,
der ein gewisses Verlangen nach Gott oder eine gewisse
Furcht vor dem kommenden Zorn hat. Der Zöllner, der
257
sich im tiefen Bewußtsein seiner Schuld und seiner Unwürdigkeit
Gott naht, wagt nicht einmal, seine Augen
aufzuheben, geschweige denn zu sagen: „Vater", oder:
Unser Vater, der Du bist in den Himmeln." Er denkt
nicht im entferntesten daran, die erhabenen Bitten auszusprechen,
mit welchen das Gebet des Herrn beginnt,
noch hat er den Mut, an das Erbarmen Gottes zu
denken und an Seine Bereitwilligkeit, dem Sünder zu
vergeben, wie wir sie in der letzten Hälfte des Gebets
ausgedrückt finden. „O Gott, sei mir, dem Sünder,
gnädig!" das war der richtige und passende Schrei, der
aus seinem zermalmten Herzen hervordrang. Und deshalb
ging er gerechtfertigt hinab in sein Haus, mehr denn
jener Pharisäer, der in seinem Gebet nur seiner Eigengerechtigkeit
Ausdruck gab und Gott für das dankte, was
er und nicht was Gott war.
Wenn wir nun fragen: Wie können wir wissen,
für wen das Gebet des Herrn bestimmt war? so giebt
es zwei Wege, auf welchen wir zu einer richtigen Antwort
kommen können. Zunächst haben wir zu untersuchen,
welche Personen der Herr im Auge hatte und in
welcher Verbindung das Gebet vorkommt, und dann müssen
wir die Natur der Bitten, getrennt und im Ganzen betrachten,
und wir werden finden, daß dieselben mit den
wahren Bedürfnissen derer, für welche das Gebet bestimmt
war, in völliger Harmonie standen.
Es ist offenbar, daß eine große Menschenmenge der
Bergpredigt zuhörte, aber ebenso klar geht aus dem Anfang
des fünften Kapitels hervor, daß der Herr Seine
Worte nicht unmittelbar an die Menge richtete. Er hatte
Seine Jünger vor sich, und für ihre Bedürfnisse trug Er,
258
Sorge, als solche, die sich noch immer unter dem Gesetz
befanden. „Als Er aber die Volksmenge sah, stieg Er
auf den Berg; und als Er sich gesetzt hatte, traten Seine
Jünger zu Ihm. Und Er that Seinen Mund auf, lehrte
sie und sprach: Glückselig die Armen im Geiste w." Die
Jünger bildeten eine Klasse von Personen, die (mit Ausnahme
von Judas) Jesum in Wahrheit als den von
Gott gesandten Messias angenommen hatten. Er hatte
sie auserwählt; sie waren um Ihn versammelt, als Seine
Zeugen, und schon damals in gewisser Beziehung —
wenn auch nach Seinem Tode und Seiner Auferstehung,
in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes,
unendlich weit mehr — von dem übrigen Volke getrennt.
An sie wandte sich der Herr in Seiner Predigt, und sie
waren auch die Personen, an welche Er in Seinem
Gebet dachte.
Obwohl daher die Predigt aus einer bewunderungswürdigen
Darstellung der Grundsätze des Reiches besteht
und große und kostbare Wahrheiten verkündigt, welche
stets bleiben werden, so übersah der Herr in Seiner
Gnade doch nicht die damaligen thatsächlichen Umstände
Seiner Jünger. Im Gegenteil sind viele einzelne Stellen
ihrer vollen Bedeutung nach auf ihre Bedürfnisse anzuwenden
und ihrem Zustande angepaßt. Und der Herr
sorgte nicht nur für sie als Der, welcher infolge Seiner
göttlichen Allwissenheit alles kannte, sondern der als
Mensch, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz,
aus Erfahrung wußte, was sie am meisten bedurften und
wo ihre wahren Gefahren lagen. Denn, obwohl Er
Sohn war, lernte Er an dem, was Er litt, den Gehorsam.
(Hebr. 5, 8.) Der Gehorsam war eine ganz neue
259
Sache für Ihn; nicht als ob Er eine rebellische, widerspenstige
Natur besessen hätte, wie wir — o nein, denn
Er war der Reine, der Heilige, Er war Gott selbst —
sondern weil Er das Wort war, welches alle Dinge, die
sichtbaren und die unsichtbaren ins Dasein gerufen hatte.
Deshalb mußte Er Gehorsam lernen, denn Er hatte
in diesem Sinne nie zu gehorchen brauchen, und Er lernte
ihn auf einem Pfade voller Leiden, wie sie niemand außer
Ihm kennen konnte. Was war nun Sein erster, letzter
und beständiger Gedanke, während Er durch diese Welt
pilgerte und in vollkommener Gnade Seinen Dienst ausübte?
Es war der Name Seines Vaters, wie Er an
einer Stelle sagt: „Der lebendige Vater hat mich gesandt,
und ich lebe des Vaters wegen." Er war gekommen, um
den Namen des Vaters zu offenbaren, und in Uebereinstimmung
damit stellt Er die Gefühle Seines eignen
Herzens als den ersten und vorherrschenden Gedanken
Seiner Jünger in ihrer Unterredung mit dem Vater
dar. Einige der Bitten, welche Er in ihren Mund legen
wollte, waren nur für sie passend, wie z. B. diejenige
bezüglich der Vergebung ihrer Sünden; aber Er
wollte, daß sie mit ihrem Vater, nicht mit sich selbst
beginnen sollten.
Dem entsprechend teilt sich das Gebet naturgemäß
in zwei Hälften. Der erste Teil besteht aus Wünschen,
die der Gerechtigkeit in ihrem weitesten und höchsten Sinne
angemessen sind; es ist, wenn wir so sagen dürfen, die
Atmosphäre, in welcher der Herr selbst hienieden lebte
und sich bewegte. Der zweite Teil setzt sich aus Bitten
zusammen, passend für solche, welche in jeder Beziehung
bedürftig, trotzdem aber die Gegenstände der Gnade waren.
260
Die drei ersten Bitten bilden den einen, die vier letzten
den andern Teil.
Der Titel, mit welchem Gott im Beginn des Gebets
angeredet wird, steht im völligen Einklang mit dem Evangelium
und der damaligen Stellung der Jünger: „Unser
Vater, der Du bist in den Himmeln." Es ist dies ein
Ausdruck, der häufig in dem Evangelium Matthäus, und
zwar hier allein, vorkommt. In dem Evangelium Lukas
heißt eS einfach: „Vater." Woher kommt dieser Unterschied?
Wie schon oben angedeutet, werden die Jünger
bei Matthäus mehr in ihrer Verbindung mit dem irdischen
Volke betrachtet; als solche waren sie gewöhnt, aus die
Erde zu blicken, als den Schauplatz, auf welchem ihr Volk
die verheißene Erhebung und Segnung zu erwarten hatte.
Der Herr aber ist beschäftigt, ihre rein jüdischen Bande
zu lösen, indem Er ihnen einen himmlischen Vater offenbart,
mit welchem sie es fernerhin zu thun haben würden.
Es ist hier nicht „der Herr der ganzen Erde," der den
Jordan zu einer Heerstraße für Sein siegreiches Volk
machte, so daß es trocknen Fußes hindurchziehen und das
Land in Besitz nehmen konnte; noch ist es „der Gott des
Himmels," der in unumschränkter Macht und nach Seinem
höchsten Willen den Nationen in der Person Nebukad-
nezars, die Herrschaft übergab, nachdem Sein Volk in der
traurigsten Weise gefehlt hatte. Aber ebensowenig findet
sich hier die Fülle des Segens, welche die Botschaft enthielt,
die durch Maria Magdalena von feiten des auferstandenen
Herrn den Jüngern gebracht wurde: „Gehe
aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich
fahre auf zu meinem Vater und zu euerm Vater, und
zu meinem Gott und zu eurem Gott."
261
Die Anrede trägt, wenn ich so sagen darf, einen
Zwischen-Charakter. Sie geht über die rein jüdische
Stellung hinaus, erreicht aber nicht die Höhe der christlichen.
Der Vater wird betrachtet, als im Himmel befindlich,
und diejenigen, welche zu Ihm emporblicken, sind auf der
Erde, gleichsam weit von Ihm entfernt und in einem
Zustande der Schwachheit, des Bedürfnisses und der Gefahr,
obgleich mit Herzen, die in einem gewissen Maße
sich nach Seiner Verherrlichung sehnen. *) Der Herr wünscht
ihren ersten Gedanken auf den Vater droben zu richten
und ihren Geist damit vertraut zu machen, auf Ihn zu
blicken, als den unendlich gesegneten und gnädigen und
zugleich höchsten Gott. In jenem Augenblick war das
Gefühl und Bewußtsein der Nähe, welche späterhin ihr
Vorrecht sein sollte, unmöglich. Nichtsdestoweniger behandelt
sie der Herr als wahre Gläubige aus den Juden und leitet
ihre Seelen, indem Er die Autorität des Gesetzes aufrecht
hält und seinen Bereich ausdehnt, zu höheren Dingen.
*) Wie unendlich höher ist die Segnung, welche wir in
Eph. 1, 3 und 2, 6 finden! Dort wird der Christ, selbst während
er noch in dieser Welt ist, betrachtet als versetzt in die himmlischen
Oerter, auf das innigste verbunden mit dem Gott und Vater unsers
Herrn Jesu Christi. Es ist ein unermeßlicher Schritt vorwärts.
Allein wir suchen vergebens nach einer Anspielung
auf das Erlösungswerk, sowohl in dem Gebet, als auch
in der ganzen Bergpredigt. Diejenigen, welche der Herr
zu beten lehrt, werden durchaus nicht als Anbeter betrachtet,
die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden
haben. Sie waren so weit davon entfernt, einen solchen
Platz der Annehmung zu kennen und zu genießen, daß
sie damals eine solche Sprache gar nicht verstanden haben
262
Würden. Es findet sich hier keine Spur von einer Danksagung
dem Vater gegenüber, „der uns fähig gemacht
hat zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Lichte,
der uns errettet h a t aus der Gewalt der Finsternis und
versetzt in das Reich deS Sohnes Seiner Liebe." (Kol.
1, 12. 13.) Alles dieses und noch vieles andere konnte
damals nicht gesagt werden, weil das Werk der Erlösung
wohl verheißen, aber noch nicht vollbracht war. Dies
verleiht dem ganzen Gebet seinen besondern Charakter.
Gott übereilt nichts in Seinen Wegen. Die Gläubigen
konnten nicht eher die Resultate des Leidens Christi und
der Sendung des Heiligen Geistes kennen und genießen,
bis diese beiden glorreichen Thatsachen erfüllt waren.
Nicht daß ich dem Gebet des Herrn oder Seiner Predigt
eine Unvollkommenheit unterschieben wollte — Gott bewahre
mich vor einem solchen Gedanken! Ich betrachte im Gegenteil
einen jeden, der von dem einen oder andern in verächtlicher
Weise redet, als einen Lästerer.
Der Herr begegnet den Jüngern aus dem Boden,
welchen sie damals einnahmen. Hätte Er ihnen die Wahrheiten
mitgeteilt, welche erst geoffenbart wurden, nachdem
Er gestorben und der Heilige Geist herniedergerommen
war, so würde ihnen Seine Sprache völlig unverständlich
geblieben sein. Das Gebet war durchaus passend für
ihren damaligen Zustand und deshalb vollkommen. Ein
Gebet, welches der Stellung, der Erfahrung und Anbetung
entsprochen hätte, die einer vollendeten Erlösung angemessen
sind, würde für sie nicht das vollkommene Gebet gewesen sein.
Nehmen wir als Beispiel einen Majestätsverbrecher,
der im Gefängnis sitzt, und für den eine Bittschrift aufgesetzt
und an den König geschickt wird. Wenn dieselbe
263
richtig abgefaßt ist, so werden wenigstens zwei Dinge
sie kennzeichnen. Zunächst wird sie eine völlige Anerkennung
der beleidigten Majestät und dann ein demütiges, umfassendes
Bekenntnis der Schuld des Gefangenen enthalten.
Denn das ist die einzig passende Sprache unter solchen
Umständen. Der Gefangene mag Grund haben, zu hoffen,
daß seine Bittschrift in den Augen des Königs Gnade
finden werde. Aber diese Hoffnung gründet sich nicht auf
eine Unkenntnis der thatsächlichen Umstände, sondern vielmehr
auf sein freimütiges Bekenntnis und auf die Gnade
des Königs. Die Sprache eines freien Mannes zu führen,
würde ihm nicht geziemen.
Der Zustand derer, die sich unter dem Gesetz befanden,
war der Hauptsache nach demjenigen jenes Gefangenen
gleich, bis die vollbrachte Versöhnung alles änderte.
Sie besaßen Vertrauen auf Gott, daß Er sie retten würde,
und mit Recht; denn dieses Vertrauen gründete sich auf
eine gläubige Würdigung des Charakters Gottes und auf
Seine bestimmten Verheißungen, trotzdem die Israeliten
wußten, was sie selbst waren. Er hatte ihnen wieder
und wieder, durch Wort und Eid, in Vorbildern und
Prophezeiungen, ankündigen lassen, daß Er durch den
Messias die Befreiung aller vollführen würde, die ihr
Vertrauen auf Ihn setzten. Dennoch waren sie noch nicht
in Freiheit gesetzt, so gewiß sie sein mochten, daß es
geschehen würde, weil dies von Seiner Güte und Treue
abhing; und „Gott ist nicht ein Mensch, daß Er lüge."
Aber bis dahin war es nur eine Sache des Begehrens,
nicht des Besitzes, ein ersehntes und erbetenes Vorrecht;
es konnte nicht eher von ihnen als ein beständiges Teil
empfangen und genossen werden, bis der Tod und die
264
Auferstehung Christi es zu einer Forderung der Gerechtigkeit
Gottes machten, so mit dem Gläubigen zu handeln.
In den Psalmen finden wir den Ausdruck der
Gefühle und Erfahrungen des gläubigen Israeliten. Zuweilen
sind die Sprecher voll von Hoffnung, dann wieder
voll von Furcht; in dem einen Augenblick bekennen sie,
Schafe der Weide Gottes zu sein, und im nächsten sind sie
bange, von der Glut Seines Zornes verzehrt zu werden.
Alles dieses war die Erfahrung der Gläubigen, bevor das
Kreuz Christi eS dem Heiligen Geist möglich machte, der
Seele von dem vollkommenen und ewigen Hinwegthun der
Sünden Zeugnis zu geben. Es war gut und von Gott,
daß jene Gläubige ihren Zustand fühlten, aber es war
nicht die Erfahrung, welche der von dem Heiligen Geiste
unterwiesene Christ macht. Und in jenem Zustande befanden
sich die Jünger vor dem Tode des Herrn ebenfalls.
Viele Propheten und Könige hatten begehrt, zu sehen,
was sie sahen, und zu hören, was sie hörten; aber dennoch
war die Versöhnung mit allen ihren herrlichen Folgen
noch eine zukünftige Segnung; ihre Blicke waren auf dieselbe
hingerichtet, aber sie war noch nicht vollbracht. Das
Gebet des Herrn nun war der vollkommene Ausdruck
ihrer Wünsche und Bedürfnisse, bevor jener mächtige
Wechsel eintrat. Ich mache wiederholt hierauf aufmerksam,
da es zu einem klaren Verständnis des Gebets des Herrn
vor allem nötig ist, die Stellung derer zu erkennen,
welchen es ursprünglich gegeben wurde. Stets wird es
mißverstanden werden, wenn man den neuen Boden nicht
in Betracht zieht, auf welchen der Gläubige durch die
vollbrachte Erlösung gestellt ist.
Beachtenswert ist es auch, daß das Gebet der Aus
265
druck persönlicher Bedürfnisse ist. Ich meine nicht, daß
die Jünger eS nicht gemeinsam so gut wie einzeln gebraucht
haben mögen, allein nirgendwo setzt es Christen voraus,
die zu einem Leibe gebildet sind. Ein Gebet für die
Kirche oder Versammlung, als solche, ist es daher nicht;
denn nie geht es über den Begriff einer Gemeinschaft von
einzelnen Gläubigen hinaus, nirgendwo berücksichtigt es das
einigende Band des Geistes, welcher zu einem Leibe tauft.
Dies wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir, so
kurz als möglich, einen Blick auf die einzelnen Teile werfen.
„Geheiligt werde Dein Name," ist die Grundlage
von allem, das erste und stärkste Gefühl eines erneuerten
Gemütes. Hervorfließend aus dem Bewußtsein der Heiligkeit,
welche dem Namen des Vaters angemessen und für
jede Seele, die mit Ihm zu thun hat, sowie für Sein
HauS auf ewig geziemend ist, schließt sich sogleich der
Wunsch nach der Herrlichkeit daran, in welcher alles dem
Herzen und Charakter des Vaters entsprechen wird.
„Dein Reich komme!" Es ist hier nicht gerade das
Reich Christi, sondern dasjenige des Vaters. Wir werden
finden, wenn wir das Evangelium Matthäus sorgfältig
lesen, daß es einen Unterschied giebt zwischen dem Reiche
des Vaters und demjenigen des Sohnes des Menschen.
Am Ende des gegenwärtigen Zeitalters wird der Herr
die Welt als Sein Reich übernehmen und es durch Seine
richterliche Macht, früher oder später, von allem Bösen
reinigen. (Vergl. Kap. 13, 41—43.) Das Reich des
Vaters trägt mehr einen himmlischen Charakter; in denselben
werden nur die Gerechten leuchten wie die Sonne.
Doch es genügt dem Herzen nicht, daß des Vaters
Wille nur im Himmel geschehe. Deshalb lautet die dritte
266
Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch
auf der Erde." Hiermit schließt der erste Teil des Gebets.
Es folgt dann das, was für die Jünger, als die Gegenstände
des göttlichen Mitgefühls, inmitten eines Schauplatzes
des Elends und der mannigfaltigsten Versuchungen,
passend war. Zunächst wird ihr leibliches Bedürfnis bekannt,
dann dasjenige der Seele. „Unser nötiges Brod
gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schulden, wie
auch wir vergeben unsern Schuldnern." Die erste Bitte
bedarf keiner Erklärung, die zweite stellt die Jünger auf
den Boden des barmherzigen Geistes, welcher am Schluffe
des fünften Kapitels ihnen so nachdrücklich von dem Herrn
vorgehalten worden war. ES sollte nicht länger heißen:
„Auge um Auge, Zahn um Zahn," nicht länger sollte
Böses mit Bösem vergolten werden, sondern es galt jetzt,
nur Gutes und allezeit Gutes zu thun. Das vollkommene
Muster für die Jünger war ihr himmlischer Vater, nicht
nur Gott als Gott. In diesem letzeren Charakter hat
Gott von Zeit zu Zeit Sein Gericht über die Bösen
ausgeübt und sie Seinen starken Arm fühlen lassen, und
Er wird dies am Ende in vollkommener, gerechter Weise
thun. Als Vater im Himmel aber läßt Er Seine Sonne
aufaehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte
und Ungerechte. (Es handelt sich hier nicht nm
Seine innigen und ewigen Beziehungen zu Seinen Kindern;
diese genießen Seine Liebe in ihrer ganzen überströmenden
Fülle.) So belehrt denn der Herr auch Seine Jünger
dieselbe vergebende Liebe andern gegenüber zu offenbaren,
und zwar im Bewußtsein ihres eigenen Bedürfnisses derselben.
Israel als Volk war verantwortlich gewesen, nach
dem Gesetz zn wandeln, und der Charakter des Gesetzes
267
war nicht Gnade und Barmherzigkeit, sondern es erforderte
ein gerechtes Gericht über den Schuldigen. Aber jetzt
sollte in den Jüngern ein andrer Grundsatz herrschen,
nicht derjenige einer irdischen, vergeltenden Gerechtigkeit,
sondern einer himmlischen Gnade, welche die Macht hat,
den Sünder umzuwandeln und seine Schuld zu vergeben.
Die gläubigen Juden wurden so aus ihrer alten Stellung
herausgenommen und auf einen ganz neuen Boden versetzt,
wo sie es mit einem Vater im Himmel zu thun
hatten und verantwortlich waren, Seinen Charakter hienieden
wiederzuspiegeln.
Wieder thun wir wohl, uns daran zu erinnern,
welche Personen es waren, die der Herr belehrte, so mit
ihrem Vater zu reden. Es waren Jünger, welchen
auf diese Weise die beständige Notwendigkeit der Abhängigkeit
von dem Vater, sowie des Bekenntnisses ihrer Schuld
-gezeigt wurde. Nichtsdestoweniger wird der Vater gebeten,
die Schuld Seiner Kinder zu vergeben; es handelt sich
hier nicht im Geringsten um einen armen Sünder, der
über seine Sünden in Not ist und Christum nicht kennt.
Die Schrift hat an vielen andern Stellen Vorsorge für
einen solchen getroffen, aber hier stehen ganz andere
Personen in Frage. Macht Gott in irgend einer Weise
oder in irgend einem Maße die Vergebung der Sünden
eines Unbekehrten von der Vergebung, die dieser seinem
Mitmenschen zu Teil werden läßt, abhängig? Ganz
gewiß nicht. Das hieße in der That, an einen Menschen,
der sich in dem niedrigsten Zustande befindet, die höchstmögliche
Anforderung stellen; es hieße, dem Sünder ein
neues und weit verhängnisvolleres Gesetz auslegen, als
das vom Berge Sinai war. Mit einem Wort, es würde
268
das Evangelium leugnen, jede Hoffnung des Sünders
zerstören und die Errettung von Werken und nicht mehr
von der Gnade abhängig machen.
Diese Bitte, welche von Unwissenden oft angeführt
wird, um zu beweisen, daß die Menschen ohne Unterschied
hier gemeint seien, zeigt also gerade, wie völlig unmöglich
es ist, das Gebet des Herrn aus den Menschen von Natur
anzuwenden. Es setzt eine lebendige Verbindung mit Gott
durch den Glauben voraus. Diejenigen, zu welchen der
Herr redete, kannten allerdings weder die Versöhnung,
noch die neuen Rechte, welche die Erfüllung derselben
herbeiführen sollte; aber sie besaßen einen lebendigen
Glauben an den Herrn Jesum — es waren Personen,
die sicher in den Himmel gegangen wären, wenn Gott sie
damals abgerufen hätte. Sie standen insoweit auf demselben
Boden, wie die alttestamentlichen Heiligen; sie
wurden, wie jene, von Gott mit Nachsicht getragen, kraft
eines noch nicht vollendeten, aber sicheren Werkes; sie
waren in den Gedanken Gottes errettet, weil Er auf
jenes Werk hinblickte. Die Jünger besaßen das Vorrecht,
den Herrn in ihrer Mitte zu haben, aber von dem gesegneten,
vollkommenen Heil, welches Er durch Seinen
Tod und Seine Auferstehung herbeiführen wollte , hatten
sie nur eine höchst schwache, dunkle Vorstellung. In
dieser und für diesen Zustand der Dinge wurde das
Gebet des Herrn gegeben.
Weiter werden die Jünger belehrt, den Vater zu
bitten, sie nicht in Versuchung zu führen. Es ist offenbar,
daß eS sich hier nicht um Versuchungen in dem Sinne
von sündigen Begierden handelt; denn Gott versucht niemanden
zum Bösen. Vielmehr sind es Prüfungen und
269
Sichtungen, durch welche Gott die Seinigen nach Seiner
Weisheit gehen läßt. Eine Versuchung in diesem Sinne
war es, wenn Petrus auf die Probe gestellt wurde, ob
er, angesichts der Schmach und Schande, seinen Herrn
und Meister verleugnen würde. Der Herr hatte ihn gewarnt,
aber in seinem hoben Selbstvertrauen ließ der
Apostel die Warnung unbeachtet, schlief, als er hätte
wachen und beten sollen, und fiel infolge dessen wiederholt
in der traurigsten Weise. Es war daher ganz richtig,
wenn die Jünger, im Bewußtsein ihrer Kraftlosigkeit und
ihrer Geneigtheit zu fallen, den Vater baten, sie nicht in
solch versuchungsreiche Umstände zu führen. Die Folge
einer solchen Versuchung ist, daß da, wo es ungerichtetes
Böses im Herzen giebt, dasselbe zur eignen Demütigung
zum Vorschein kommt. Das im Innern verborgen wirkende
Böse wird dadurch ans Licht gebracht. Der Herr Jesus
ging durch jede Art von Versuchung hindurch, zuerst in
der Wüste und dann, am Ende Seines Weges, in Gethsemane,
wo die Macht der Finsternis Ihn aufs Äußerste
bedrängte. Allein E r hatte nichts in sich, auf welches Satan
hätte einwirken können, wie Er auch sagte: „Der Fürst
dieser Welt kommt und hat nichts in mir." In uns giebt
es etwas, das durch die Versuchung zum Vorschein gebracht
wird, und wenn wir uns dann nicht in aller Einfalt auf
den Herrn stützen, so fallen wir in Sünde gegen Ihn.
Deshalb wird auch sogleich die Bitte hinzugefügt: „Sondern
errette uns von dem Bösen." Denn die Wirkung
der Versuchung ist, wie gesagt, das Offenbarwerden deS
Bösen, wenn das Fleisch nicht gerichtet ist, und Satan,
die Quelle und der erste Anreger des Bösen, gewinnt
einen Vorteil über die Seele.
270
Auf die Lobpreisung am Ende des Gebets: „Denn
Dein ist das Reich re." welche sich in vielen Übersetzungen
findet, brauchen wir nicht näher einzugehen, da sie in den
meisten älteren Handschriften fehlt und wahrscheinlich im
Laufe des vierten Jahrhunderts von Abschreibern eingefügt
worden ist. (Schluß folgt.)
Gedanken über das Zusammenkommen der
Gläubigen.
(Fortsetzung.)
Die Kirche ist, was ihre äußere Offenbarung betrifft,
im Verfall. Wer könnte es leugnen? Wäre sie es nicht,
so würde sie in ihrer Gesammtheit der Beweis jener Einheit
des Leibes sein, anstatt das traurige Bild der völligsten
Trennung und Verwirrung darzubieten. Und auch
nur inmitten des Verfalls kann es ein Zeugnis geben,
und zwar nicht nur ein persönliches, wie es ein jeder
wahrer Christ in seinem Wandel durch diese Welt abzulegen
berufen ist, sondern auch ein gemeinschaftliches.
Worin besteht nun dieses Zeugnis? Es ist das Zeugnis
derer, welche in dem Wunsche, „das Wort" des Herrn zu
bewahren und „Seinen Namen" nicht zu verleugnen, und
in dem Begehren, in der Wahrheit und in der Liebe zu
wandeln, darnach trachten, nach den Grundsätzen dieses
Wortes sich zu versammeln. In den finstersten Zeiten
hat Gott stets Seine Zeugen gehabt, obwohl sie oft von
den Menschen ungekannt waren. Zur Zeit des Elias
gab es 7000 in Israel, welche ihre Kniee nicht gebeugt
hatten vor Baal. Sie waren ein Zeugnis gegen die
Abgötterei. Zudem legte der Prophet nicht allein das
gleiche Zeugnis ab, wie diese, sondern er gab auch —
271
und zwar in einer Zeit der völligen Spaltung und des
Verfalls — der Einheit Israels nach den Gedanken
Gottes dadurch Ausdruck, daß er einen Altar errichtete
von „zwölf Steinen," nach der Zahl der Stämme der
Söhne Jakobs, zu welchem das Wort Jehova's geschehen
war, da Er sprach: Israel soll dein Name sein."
(1. Kön. 18, 31.) Ebenso gab es selbst in den finstersten
Zeiten des Papsttums stets etliche, wenig beachtete, verborgene
und oft schrecklich verfolgte Zeugen gegen den
Götzendienst Jesabels. In der jetzigen Zeit, wo die Welt
die Kirche gleichsam überflutet hat, legen nicht minder
manche ein treues Zeugnis ab durch ein Leben der Absonderung
von der Welt. Sollte es aber außerdem bei
der großen Zahl der in der Christenheit bestehenden
Sekten und Benennungen kein gemeinschaftliches Zeugnis
von der Einheit des Leibes geben, einer Einheit, die da
besteht trotz allem, was der Feind gethan hat, um ihre
Offenbarung zu zerstören?
Gott sei Dank! Ein solches Zeugnis hat Er erweckt
in diesen letzten Tagen, indem Er an verschiedenen Orten
etlichen, oft nur „zweien oder dreien," gezeigt hat, aus
welchem Boden sie sich außerhalb jeder Benennung versammeln
können „im Namen Jesu." Und Gott ist mächtig,
dieses Zeugnis zu erhalten trotz allem Widerstand des
Feindes, und trotz der Schwachheit derer, die es ablegen.
Überall da, wo sich selbst nur „zwei oder drei" in Wahr
heit im Namen Jesu nach dem Grundsatz der Einheit des
Leibes versammeln, besteht dieses Zeugnis. Und Er ist
treu, es zu bewahren, wie Er es verheißen hat. — Die
Thür, die der Heilige und Wahrhaftige geöffnet hat, kann
niemand schließen. Sie steht offen vor denen, welche eine
272
kleine Kraft haben, welche Sein Wort bewahren und
Seinen Namen nicht verleugnet haben, und die da
wünschen, alles festzuhalten, was mit diesem kostbaren
Namen in Verbindung steht. Indessen sind jene nichts
anders als ein Zeugnis für die Wahrheit inmitten des
Verfalls. Sie bilden nicht eine Sekte unter vielen andern
Sekten, noch eine lautere, zu dem ursprünglichen Vorbild
zurückgekehrte Kirche (es giebt ja nur eine Kirche); nein,
es ist vielmehr ein schwaches Zeugnis, abgelegt durch
diejenigen, welche inmitten der Verwirrung durch die
Gnade den Boden erkannt haben, auf dem man sich Gott
gemäß versammeln kann, und welche dahin gekommen
sind, um daselbst den Herrn zu finden. Wahrlich ein
gesegneter Boden! Da giebt es Platz für alle wahre
Christen; auf diesem Boden sollten sie sich alle versammeln.
Indes sollten diejenigen, welche in dieser Weise zusammenkommen,
nie vergessen, daß sie nur ein Zeugnis sind;
sobald sie anfangen, sich etwas zu dünken, werden
sie zu einer Sekte. So wie Der treu ist, in dessen Namen
sie sich versammeln, so sollten auch sie Ihm ihre Treue
bewahren in allen ihren Wegen.
Auf diesem Grunde des Zusammenkommens der
Gläubigen, als Glieder des einen Leibes, giebt es dem
Grundsatz nach keinen Raum für Nationalitäten. „Da
ist nicht Jude, noch Grieche .... denn ihr alle seid
einer in Christo Jesu." (Gal. 3, 28.) Ebenso wenig
sind da menschliche Anordnungen und Einrichtungen am
Platze. So groß der Verfall auch sein mag, die göttlichen
Grundsätze bleiben immer dieselben und wir haben uns
an ihnen zu halten. Der Mensch vermag in keiner Weise
zu heilen, was er selbst verdorben hat, aber die Hülfs--
213
quellen des Herrn sind für alle Zeiten vorhanden. Sein
Wort bleibt in Ewigkeit. Und Ihm steht es zu, alles
zu ordnen in Seinem Hause, und Sein Geist ist bei denen,
die sich in Seinem Namen versammeln, um alles zu leiten
„zum Nutzen" und „zur Erbauung." Würde es sich geziemen,
dem eignen Willen da, wo Jesus ist, Spielraum
zu lassen? Sicherlich nicht! Auf diesem Boden stehen wir
außerhalb alles dessen, was die natürliche Thätigkeit und
Unabhängigkeit des Menschen thun und einrichten möchten.
Ach! anstatt zusammen zu kommen im Namen Jesu, des
einen Herrn, der da alles durch Seinen Geist leitet,
haben sich die Christen um verschiedene Fahnen geschart,
indem sie nach ihrem eignen Willen eine Ordnung errichtet
haben, welche zu errichten dem Herrn allein gebührt.
Sie haben sich auf diese Weise in dem großen
Hause der Christenheit zerstreut, um sich innerhalb desselben
in verschiedene Abteilungen einzuschließen, indem
eine jede ihre eignen Satzungen, Glaubensbekenntnisse
und Verfassungen besitzt — alles Dinge, von welchen
wir im Worte Gottes keine Spur finden. Man hat die
göttliche Ordnung verlassen, indem man die alleinige
Autorität Christi, als des Herrn, aus dem Auge verlor,
sowie die alleinige Leitung des Geistes in den Zusammenkünften
der Gläubigen, um zu wirken „zum Nutzen" und
„zur Erbauung" durch diejenigen, welchen Er austeilt,
wie Er will. (1. Kor. 12, 11.) Indem wir uns im
Namen Jesu versammeln, haben wir stets daran zu denken,
daß wir von Ihm allein abhängig sind, und daß kein
Anderer uns leiten sollte, als allein der Heilige Geist.
Doch wie dem auch sein mag, der göttliche Boden
des Zusammenkommens bleibt stets bestehen, und für die,
274
welche sich auf demselben befinden, ist Jesus „in der
Mitte" sammt allen Seinen Hülfsguellen. Inmitten aller
Verwirrung und alles Verfalls, bleibt die Autorität des
Herrn, sowie die Gegenwart deS Heiligen Geistes, welcher
in der Versammlung oder der Kirche Gottes wohnt.
(1. Kor. 3, 16.) Die Fürsorge Christi für die Versammlung,
die Er geliebt und für welche Er sich hingegeben
hat, und die Er nährt und pflegt, hört nie auf. Die
Gaben „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des
Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi," bleiben
ebenfalls, können sich offenbaren und werden nicht aufhören,
„bis wir alle hingelangen zu der Einheit des
Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu
dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses
der Fülle des Christus." (Eph. 4, 7—13.)
Doch sind hier zwei wichtige Bemerkungen am Platze.
Es giebt nach dem Worte nur einen einzigen Boden des
Zusammenkommens; alle Glieder Christi sollten sich da
befinden und in Folge dessen auch die Gaben Christi für
Seine Versammlung: Evangelisten, Hirten und Lehrer.
Jedoch stehen nicht alle auf diesem Boden, und so wie es
daher in den verschiedenen Sekten der Christenheit treue
und dem Herrn ergebene Seelen giebt, so finden sich in
diesen Parteien auch Gaben Christi zur Verkündigung des
Evangeliums und zur Seelsorge. Damit ist aber durchaus
nicht gesagt, daß ich, wenn ich die Wahrheit bezüglich
des Zusammenkommens der Gläubigen erkannt habe,
hinausgehen soll, um jene Gaben aufzusuchen.
Zweitens können errettete Seelen durch den Herrn
auf den Boden des Zusammenkommens in Seinem Namen
geführt werden und dennoch über die Bedeutung und Trag
275
weite der Stellung, die sie eingenommen haben, sehr unwissend
sein. Aber weit entfernt davon, solche zurückzuweisen,
ist es im Gegenteil sehr gut, sie aufzunehmen.
Denn wo sollten sie Fortschritte in der Erkenntnis machen,
wenn nicht da, wo Jesus sich befindet? Wo sollten sie
lernen und an Einsicht zunehmen, wenn nicht da, wo die
Wirksamkeit Seines Geistes ihre freie Ausübung findet?
Nach und nach werden sie, wenn sie anders dem Worte
unterworfen sind, all das Kostbare, was es in dem Namen
Christi giebt, kennen lernen. Gott sei gepriesen! es giebt
um Jesum Platz für alle. Welcher Christ, der seinen
Herrn lieb hat, möchte wissentlich sich von dem Boden
entfernen, bezüglich dessen Jesus gesagt hat: „Da bin ich
in ihrer Mitte?"
Indessen möchte gefragt werden: Giebt es denn auch
einen sichtbaren Ausdruck dieser Einheit des einen, durch
den Heiligen Geist gebildeten Leibes, dessen Haupt Christus
ist und dessen Glieder sich, außerhalb aller menschlichen
Einrichtungen und auf Grund jener Einheit, um Ihn als
Ihren einzigen Mittelpunkt scharen sollten? Gott sei
Dank, ja! Der Herr Jesus, der uns in Seiner Gnade
für unser Zusammenkommen in einer Zeit des Verfalls
«ine Hülfsquelle gegeben, hat uns auch, nach derselben
Gnade einen bleibenden Ausdruck von der Einheit hinterlassen,
von welcher diejenigen Zeugnis ablegen, welche
in Seinem Namen versammelt sind. Und dies ist Sein
Tisch: „denn," sagt der Apostel, „ein Brot, ein Leib
sind wir, die Vielen, denn wir alle sind des einen
Brotes teilhaftig." (1. Kor. 10, 17.) Zwar kann man
im Namen Jesu versammelt sein, ohne gerade das Brot
zu brechen, allein es ist unmöglich, dem Worte gemäß am
276
Tische des Herrn zum Brotbrechen versammelt zu sein,
es sei denn im Namen Jesu, denn es ist Sein Tisch;
und da, wo der Tisch des Herrn in einer im Namen
Jesu gebildeten Versammlung aufgerichtet ist, da ist derselbe
der örtliche Ausdruck der Einheit des einen Leibes,
von welcher man Zeugnis giebt.
„In Seinem Namen" drückt den Charakter des Zusammenkommens
aus; die Einheit des durch den Heiligen
Geist gebildeten Leibes ist der Grundsatz desselben, und
daher ist der Heilige Geist die Kraft, welche dieses Zusammenkommen
bewirkt und die allein darin wirksam sein
sollte, und endlich ist der Tisch, das eine Brot, der
sichtbare Ausdruck dieser Einheit. Ich spreche hier nicht
von alle dem Kostbaren, woran uns das Abendmahl des
Herrn persönlich erinnert, sei es die Liebe, die Person
oder das Werk Dessen, der sich für uns hingegeben und
gewollt hat, daß wir uns Seiner in Seinem Tode erinnern
sollten, noch rede ich von der Bedeutung des Tisches
des Herrn für uns insgesammt betreffs der brüderlichen
Gemeinschaft.
An dieser Stelle möchte ich einige Fragen beantworten,
die nicht selten erhoben werden. Zunächst: Hat ein Christ
nicht das Recht, sich zu vereinzeln, sich gleichsam in seiner
persönlichen Gottseligkeit einzuschließen? Nein; denn wenn
einerseits geschrieben steht: „ein jeglicher, der den Namen
des Herrn nennet, stehe ab von der Ungerechtigkeit" —
wenn es in einem großen Hause Gefäße zur Unehre giebt,
von denen man sich zu reinigen hat — so heißt es
andrerseits auch in demselben Kapitel, und zwar für
unsere Zeiten des Verfalls: „Strebe aber nach Gerechtigkeit,
Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn
277
anrufen aus reinem Herzen." (2. Tim. 2, 19 — 22.)
Das ist keine Vereinzelung. Wo aber könnte man so mit
einander zusammentreffen, wenn nicht auf dem Wege des
Gehorsams, als Glieder des eines Leibes? Ist das nicht
der Weg, auf den der Heilige Geist uns führen will,
und wo wir die Einheit des Geistes bewahren sollen in
dem Bande des Friedens? Sollten nicht diejenigen, welche
den Herrn anrufen aus reinem Herzen, sich in Seinem
Namen vereinigen wollen, um den Vorteil Seiner gnadenreichen
Verheißung zu genießen? Warum gäbe es einen
einzigen Leib, wenn die Glieder vereinzelt bleiben sollten?
Man hört zuweilen von sonst ernsten, in ihrem
persönlichen Wandel treuen Christen die Meinung aussprechen,
daß sie die Gegenwart Jesu besser verwirklichten,
wenn sie allein seien. Aber kommt dies nicht daher, daß
sie viel in sich selbst und auf sich selbst, sowie auf ihre
eigenen Gefühle blicken, anstatt auf Jesum? Sind nicht
gerade solche Personen sehr oft beunruhigt, wenn ihre
Gefühle verschwinden, oder auch nur an Stärke abzunehmen
scheinen? Ist man mit Jesu beschäftigt, so wird man
stets glücklich sein mit denen, welche sich ebenfalls mit
Ihm beschäftigen. Aber ach! wie oft blickt man hin auf
die Fehler und Mängel der andern, anstatt auf Jesum
zu schauen und die Seinigen in Ihm anzusehen und sie
mit derselben Gnade zu betrachten, mit welcher Er sie
betrachtet, und ihnen die Füße zu waschen, sowie Er es auch
thut. (Joh. 13, 14.) O wie glücklich sind wir, wenn
wir uns mit demselben Dienste beschäftigen, welchen
Christus ausübt! Wenn ein jeder den andern höher
achtet, als sich selbst, wenn ein jeder nicht auf das seinige
sieht, sondern auch auf das der andern, wird man sich
278
dann nicht glücklich fühlen, in einerlei Gesinnung, in derselben
Liebe und mit denselben Gefühlen versammelt zu
sein? Und ist es dieses nicht, was sich für die Glieder eines
und desselben Leibes geziemt? Zudem ist das Wort Jesu
untrüglich. Ist es wahr, daß Er mit uns ist in unserm
persönlichen Dienste, in unserm Kampfe wider den Feind,
(Vergl. Matth. 28. 20; Apstgsch. 18, 9. 10; 2. Tim.
4, 17.) daß Seine Liebe in dem Verborgenen unserer
Herzen thätig ist und uns mit Freude erfüllt, so bleibt
es nicht minder wahr, daß Er den zwei oder drei in
Seinem Namen Versammelten Seine besondere Gegenwart
verheißen hat. Welcher Christ, der dieses ernstlich bedenkt,
möchte eine solche köstliche Segnung vernachlässigen?
(Schliis; folgt)
Psalm 84.
Der 84. Psalm beschäftigt sich hauptsächlich mit den
Wohnungen Jehova's. Er beginnt mit den Worten:
„Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!"
Zu allen Zeiten war es die Absicht und der
Wunsch Gottes, eine Wohnung zu haben; deshalb zeigt
Er Mose auf dem Berge ein Muster der Stiftshütte.
In seinem Lobgesang, bei Gelegenheit der Befreiung
Israels und des wunderbaren Durchgangs durch das Rote
Meer, sagt Mose: „Meine Kraft und mein Gesang ist
Iah, und Er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist
mein Gott und ich will Ihn verherrlichen," oder „ich will
Ihm eine Wohnung machen." (2. Mos. 15, 2.) Doch Gott
sagt: „Ich selbst will mir ein Hausbauen;" und dieser
Wunsch Gottes wird am Ende der Zeitalter, nach
dem tausendjährigen Reiche erfüllt werden, wie wir in
Offbg. 21, 3 lesen: „Siehe, die Hütte Gottes bei den
Menschen! Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie
werden Sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein,
ihr Gott."
Das Wort Hütte hat stets den Sinn eines Wohnens
Gottes bei den Menschen. Nachdem daher David gesagt
279
hat: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen!" fügt er hinzu:
„Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem
lebendigen Gott."
„Selbst der Sperling hat ein Haus gefunden, und
die Schwalbe ein Nest für sich, da sie ihre Jungen hinlegt."
(V. 3.) Dorthin blickte die Seele Davids. Gemäß
der Vorsehung Gottes, welche einen Platz der Ruhe für
jedes Geschöpf bereitet hat, sagt er durch den Glauben:
„Nun denn, wenn Du selbst für die Schwalbe und den
Sperling ein Nest gebaut hast, so hast Du auch eins für
mich bereitet; und er fügt hinzu: „Deine Altäre, o Jehova
der Heerscharen, mein König und mein Gott!" Das
ist das Nest oder der Ruheort, welchen er suchte. „Deine
Altäre, o Jehova der Heerscharen!" Und in der That,
die Anbetung Gottes ist die Ruhe der Seele.
Es giebt nur einen Menschen, der hienieden nie einen
Ruheplatz fand, und dieser Eine war Jesus. Er selbst
sagt: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des
Himmels Nester; aber der Sohn der Menschen hat nicht,
wo Er das Haupt hinlege." (Matth. 8, 20.) Und wenn
wir jetzt ein Nest, einen Ruheplatz in Gott besitzen, so ist
es, weil Jesus um unsertwillen ohne Ruhe war hienieden.
„Glückselig, die da wohnen in Deinem Hause —
stets werden sie Dich preisen!" (V. 4.) Glückselig sind,
nicht die Dein Haus besuchen oder dasselbe durchwandeln,
sondern „die da wohnen in Deinem Hause!" Unmöglich
kann man dort wohnen, ohne Ihn unaufhörlich zu preisen.
Indessen sind wir, in einem andern Sinne, nicht immer
in dem Hause. Wir gehen hinaus, um zu dienen, sowie
die Schwalbe ihr Nest verläßt, um Futter für ihre Jungen
zu suchen. Aber da sind Wege, welche zu dem Hause
führen, d. h. mancherlei Wege Gottes mit bezug auf uns,
welche in dem Hause endigen. Diese Wege sind nicht
selten steinigt, dornigt und sehr schmerzlich für das Fleisch;
aber es sind die Wege, auf welchen Gott uns wandeln
zu sehen wünscht, und der, dessen Herz im Hause ist,
wird den rauhen Weg, der zum Hause führt, dem leichten,
280
der von demselben ableitet, weit vorziehen. So waren
z. B. diese Wege für die ersten Jünger Hunger, Gefahren,
Verfolgungen und Tot, mit einem Wort, das Thal von
Baka, das Thränenthal; (V. 6.) alles, was sie fanden,
waren Leiden und schmerzliche Erfahrungen aller Art.
Aber sie „machten es zu einer Quelle." Das ist die
Art und Weise, in welcher für diejenigen, welche auf dem
Wege sind, alle Schwierigkeiten verändert werden; sie
werden zu Quellen gemacht, d. h. zu Quellen der Freude,
der Segnung und der Verherrlichung Gottes. „Ja, mit
Segnungen bedeckt es der Frühregen." Nicht nur kommen
die gewöhnlichen Arten des Beistandes dem zu Hülfe, der
auf dem Wege ist, sondern selbst der Regen, oder die
unmittelbare Hülfe Gottes erscheint unerwartet inmitten
der Wüste.
„Sie gehen von Kraft zu Kraft; vor Gott in Zion
wird ein jeder erscheinen." (V. 7.) Es giebt auf dem
Wege des Christen gleichsam Halteplätze, Prüfungen, aus
denen Quellen hervorsprudeln, die ihn von Kraft zu Kraft
gehen lassen. „Du, unser Schild, siehe, o Gott, und
schaue an das Antlitz Deines Gesalbten!" (V. 9.) Wir
können Gott stets mit Vertrauen Seinen Gesalbten, unsern
Herrn Jesum Christum, vorstellen und so uns trösten im
Blick auf das, was wir in uns selbst sind.
„Denn ein Tag in Deinen Vorhöfen ist besser, denn
sonst tausend; ich wollte lieber auf der Schwelle sein im
Hause meines Gottes, denn zu wohnen in den Zelten der
Gesetzlosen." (V. 10.) Viele der Kinder Gottes sind zufrieden
damit, auf der Thürschwelle zu sein, ja, es giebt
solche, welche sich selbst draußen aufhalten, während wir
eintreten und im Hause wohnen sollten. Doch wenn
unser Unglaube oder die Begierden unsers Herzens, welches
andere Gegenstände zu haben wünscht, als Gott allein,
uns verhindern, Fortschritte zu machen, so haben wir
wenigstens „die Thür," denn Christus ist „die Thür;"
und schon „die Thür" ist weit mehr wert als alles das,
was in der Welt ist.
Gedanken über das Zusammenkommen der
Gläubigen.
(Schluß.)
Es giebt also eine persönliche Gemeinschaft der Seele
mit dem Herrn und mit Gott; man wandelt mit Ihm.
Das aber schließt durchaus nicht die gemeinsame Gemeinschaft
aus, wie geschrieben steht: „Auf daß auch ihr mit
uns Gemeinschaft habet, und zwar ist unsere Gemeinschaft
mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo;"
und weiterhin: „So haben wir Gemeinschaft miteinander."
(1. Joh. 1, 3. 7.) Diese Gemeinschaft wird aber nicht
aufrecht gehalten und bezeugt, wenn man sich von einander
absondert. Wo aber könnten wir sie besser und völliger
verwirklichen, als bei dem Zusammenkommen im Namen
Jesu und an dem Tische des Herrn? Jesus erschien zwar
nach Seiner Auferstehung auch einzelnen Personen, und
dies war köstlich für sie, allein erst in dem Augenblick,
als die Seinen in Schwachheit versammelt waren, kam
Er in ihre Mitte, um ihnen Seine Gaben: Friede,
Freude und den Heiligen Geist, mitzuteilen und sie als
Seine Zeugen in die Welt zu senden. (Joh. 20,19—23.)
Also fügt der sich vereinzelnde Christ sich selbst Schaden
zu und geht einer kostbaren Segnung verlustig.
Andrerseits muß die Gemeinschaft unter einander der
Wahrheit entsprechend sein, denn sie entspringt aus der
282
Thatsache, daß wir Gemeinschaft mit Gott haben und in
dem Lichte wandeln, gleichwie Er selbst in dem Lichte ist.
(1. Joh. 1, 7.) Wir haben daher zu unterscheiden, ob
eine Zusammenkunft wirklich „im Namen des Herrn" geschieht,
und ob das, was Er ist, dabei festgehalten wird.
Wir dürfen nicht unter dem Vorwande der Gemeinschaft
und der Liebe uns mit irgend etwas verbinden, was
die Wahrheit und infolge dessen auch die Ehre des Herrn
verletzt. Denn dies hieße nicht Gemeinschaft mit Gott
haben im Lichte. Bevor wir an einem „Tische" Platz
nehmen, müssen wir uns fragen, ob die Autorität des
Herrn dort praktisch anerkannt wird; denn es ist unmöglich,
an einem Tische teilzunehmen, getrennt von denen, die sich,
an demselben befinden — man macht sich ja eins mit
ihnen. (1. Kor. 10, 18.) Das Brot und der Wein,
welche man mit einander nimmt, sind in der That das
innigste Zeichen der Gemeinschaft. Damit soll nicht gesagt
sein, daß ich als Christ nicht mit andern Christen eine
gewisse Gemeinschaft Pffegen könne, obwohl ich ihnen in
ihre Versammlung nicht folgen kann. Sie zu lieben mit
brüderlicher Liebe, ist mein hohes köstliches Vorrecht, aber
es muß in der Wahrheit geschehen, wenn es anders dem
Willen des Herrn entsprechen soll. Wenn ferner ein Christ
in Unwissenheit mit einem Tische verbunden ist, an
welchem die Rechte des Herrn praktisch nicht anerkannt
werden, so zweifle ich nicht daran, daß er dort persönlich
den Segen genießen kann, der mit der Feier des Gedächtnismahles
des Herrn verknüpft ist. Der Herr antwortet
seinem Glauben. Doch wir dürfen nicht vergessen,
daß der Christ nicht zur Unwissenheit berufen ist. Der
Apostel sagt vielmehr: „Wachset in der Erkenntnis
283
und in der Gnade des Herrn Jesu Christi." Auch müssen
wir uns wohl hüten, daß wir nicht unter dem Vorwande
der Unwissenheit unsern eigenen Willen verbergen; (ich habe
vorhin von solchen gesprochen, denen das Licht des Wortes
über den vorliegenden Gegenstand noch nicht vorgestellt
worden ist.) Endlich giebt es, außer jenem persönlichen
Genuß, den man am Tische des Herrn haben kann, noch
denjenigen, welcher mit der Gegenwart Jesu in einer Zusammenkunft
in Seinem Namen verbunden ist — eine
verlorene Freude für alle, die sich absondern.
Um noch einmal auf den Tisch selbst zurückzukommen,
so giebt es nur einen einzigen Tisch „des Herrn" für
alle die Seinigen, obwohl dieser eine Tisch an verschiedenen
Orten seinen lokalen Ausdruck finden mag in den im
Namen Jesu gebildeten Versammlungen. Hieraus folgt,
daß, wenn wir an einem Orte an einem solchen Tische
teilnehmen, wir auch an jedem andern, auf demselben
Grunde errichteten Tische teilhaben, wo sich derselbe auch
befinden möge. Und es giebt nur einen Tisch, weil es
nur ein Brot, nur einen Leib, einen Geist, einen Herrn,
sowie nur einen wahren Grund des Zusammenkommens giebt.
Die Thatsache, daß es in diesen Tagen des Verfalls
für die Heiligen, für die Kinder Gottes, einen solchen
Grund des Zusammenkommens nach dem Worte und den
Gedanken Gottes giebt, ist so köstlich und von solcher
Tragweite, daß ich noch ein wenig in einige sich eng daran
knüpfende Folgerungen eingehen möchte. Wenn sich an
einem Orte eine Anzahl von Christen, geleitet durch das
Wort und den Geist Gottes, von den mannigfaltigen
religiösen Systemen menschlicher Erfindung oder von den
großen Anstalten, die in den verschiedenen Ländern sich
284
anmaßen, die rechtmäßige Fortsetzung der ursprünglichen
Kirche zu sein, getrennt haben, und „im Namen Jesu" zusammenkommen,
in dem Sinne, wie wir es soeben besprochen
haben, so bilden sie daselbst eine Versammlung. Man
kann jedoch nicht sagen, daß sie die Versammlung
Gottes an jenem Orte ausmachen. Ein solcher Ausdruck
war vielleicht passend zu einer Zeit, als die Versammlung
an einem Orte noch den lokalen Ausdruck von
der ganzen Versammlung bildete, deren Einheit damals
äußerlich sichtbar war. (Vergl. 1. Kor. 1, 2; 10, 32;
2. Kor. 1, 1.) Er würde aber in einer Zeit des Verfalls
und der Verwirrung, wie die gegenwärtige, durchaus unpassend
sein, selbst dann, wenn sich alle wahre Christen
an einem Orte „im Namen Jesu" versammelten. Eine
solche Versammlung aber, so gering die Zahl derer, welche
sie bilden, und so groß ihre Schwachheit auch sein mögen,
ist eine Versammlung Gottes insofern, als sie auf dem
Boden steht, welchen uns das Wort angiebt. Beachten
wir ferner, daß die auf das Haus Gottes bezüglichen
Grundsätze nicht dadurch ihre Anwendbarkeit verloren haben,
daß durch die Untreue des Menschen der Verfall thatsächlich
herbeigeführt worden ist. Jene Grundsätze bestehen
fort, um uns in einer im Namen Jesu gebildeten
Versammlung zu leiten.
Wenn sich nun solche Versammlungen an verschiedenen
Orten in Unterwürfigkeit unter das Wort gebildet haben,
wie dies durch die Gnade des Herrn in den letzten Jahren
wirklich geschehen ist, dürfen sich dieselben dann als unabhängig
von einander betrachten? Darf jeder einzelne sich
absondern und sagen: Was anderswo geschieht, geht mich
nichts an? Keineswegs. Wir können uns in dem Zeug-
285
ms, das wir ablegen, ebensowenig allein stellen, als wir
uns von dem Verfall, in dessen Mitte das Zeugnis abgelegt
wird, ausschließen können. Allein beachten wir
wohl, daß diese Abhängigkeit oder gegenseitige Verbindlichkeit
der Versammlungen nicht die Folge irgend einer
Uebereinkunft oder Organisation ist, noch auch eine menschliche
Organisation nötig macht; sie geht einzig und allein
aus der Wahrheit selbst hervor und kann nur auf den
Grundsätzen derselben beruhen.
Der Boden, auf dem man sich versammelt, ist der
nämliche. Man steht auf demselben als Glieder des
einen Leibes, um demselben Herrn zu gehorchen; derselbe
Geist ist es, der da sammelt, und derselbe Tisch
vereinigt alle diejenigen, welche so versammelt sind, um
an demselben Brote teil zu nehmen, wenngleich an verschiedenen
Orten und unter verschiedenen Völkern. Wie
könnten nun diese Versammlungen von einander unabhängig
sein? Dies zu behaupten, würde heißen, sich von
dem einen Herrn und dem einen Geiste unabhängig erklären.
Die innigste Gemeinschaft verbindet die einzelnen
Versammlungen miteinander, so daß der Apostel sagen kann:
„Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, wenn
ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder
mit." (1. Kor. 12, 26.) Daß Paulus an dieser Stelle
nicht blos an ein Glied der Versammlung zu Korinth
denkt, sondern vielmehr an ein Glied des Leibes Christi
im allgemeinen, geht klar aus dem 12. Verse desselben
Kapitels hervor. Würde man die Einheit des Geistes
bewahren und die Worte verwirklichen: „wir sind alle zu
einem Geiste getränkt," wenn man die Versammlungen
für unabhängig erklären wollte? Eine solche Unabhängig
286
keit wäre die Verleugnung all der Wahrheiten, welche wir
oben behandelt haben und welche sämtlich auf die Thatsache
unsers Zusammenkommens im Namen Jesu Bezug
haben. Er ist „die Wahrheit," Er ist „der Wahrhaftige."
Dürfte man behaupten, in Seinem Namen versammelt zu
sein, wenn man die Wahrheit nicht festhielte?
Auch ist Jesus „der Heilige," und nur insofern wir
diesem Seinem Charakter entsprechen, können wir in
Seinem Namen versammelt sein und an Seinem Tische
teilnehmen. Diese Thatsache hat ohne Zweifel zunächst
eine persönliche Folge in betreff des Tisches: „Der Mensch
aber prüfe sich selbst, und also esse er von dem Brote
und trinke von dem Kelche." Diese Prüfung, welche ein
jeder von uns an sich selbst vorzunehmen hat, soll uns
nicht veranlassen, uns von dem Abendmahl fern zu halten;
im Gegenteil. Das Fleisch will uns allerdings einflüstern,
es sei richtig, wenn wir gefehlt haben, von dem Tische
des Herrn fern zu bleiben. Allein was würde das anders
heißen, als die Sünde annehmen und das Bekenntnis von
dem Werte des Todes Christi fallen lassen? Vielmehr
sollen wir uns selbst prüfen und dann zum Tische des Herrn
gehen. Auf diese Weise werden die Rechte des Todes
Christi in unserm Gewissen von neuem zur Geltung gebracht
— denn alles ist in diesem Tode vergeben und
gesühnt — und wir gehen zum Tische des Herrn, um diese
Rechte als den Beweis der unendlichen Gnade anzuerkennen.
Ebensowenig sollen wir uns von dem Tische des
Herrn aus dem Grunde fernhalten, weil jemand, unsers
Erachtens nach, sich gegen uns vergangen hat. Für solche
Fälle hat das Wort ebenfalls Vorsorge getroffen. (Vergl.
Matth. 18, 15 rc.; Kol. 3, 13.)
287
Allein diese Frage hat nicht nur eine persönliche
Seite. Die Heiligkeit, welche die Person Christi charak-
terisirt, muß auch durch die Versammlung, als solche, an
Seinem Tische aufrecht erhalten werden. Wenn eS in
bezug auf den Wandel des Einzelnen heißt: „Ein jeglicher,
der den Namen des Herrn nennet, stehe ab von
der Ungerechtigkeit," sollte dann nicht dieselbe Trennung
von dem Bösen auch die Versammlung derer charakterisiren,
welche im Namen des Herrn zusammenkommen? „Seid
nicht in einem verschiedenen Joche mit Ungläubigen . . .
sondert euch ab, und rühret Unreines nicht an." (2. Kor. 6.)
Dieser durch das Wort aufgestellte Grundsatz ist sicherlich
auch auf die Versammlung und auf den Tisch des Herrn
anzuwenden. Die Versammlung hat von dem Herrn die
nötige Autorität empfangen, um das Böse zu richten und
sich von demselben zu reinigen. „Thut den Bösen von
euch selbst hinaus," ermahnt der Apostel. (1. Kor. 5, 13.)
Wer ist nun dieser „Böse?" Kann nur der „böse"
genannt werden, welcher in eine der in genanntem Kapitel
aufgezählten Sünden gefallen ist? Offenbar nicht, denn
dann würde ein Mörder am Tische des Herrn bleiben
können. Der Böse ist derjenige, welcher der Natur und
dem Willen Gottes zuwider handelt. Die schlimmste und
bedenklichste Art des Bösen nun ist nicht das, was unsre
Gefühle als Menschen verletzt und schon von der Welt
verurteilt werden sollte, sondern das, was die Wahrheit,
die Herrlichkeit und die Rechte Christi antastet. Wir haben
uns nicht allein von der Befleckung des Fleisches, sondern
auch von derjenigen des Geistes zu reinigen. „Böse" in
dem Sinne der Schrift, ist nicht allein derjenige, welcher
in grobe Sünden fällt, sondern auch der, welcher sich
288
durch den Irrtum verführen läßt und darin beharrt.
Die im Namen Jesu versammelt sind, haben sich vom
Bösen zu reinigen, indem sie „den Bösen" aus ihrer
Mitte hinausthun; wie würden sie sonst dem Charakter
Dessen entsprechen, der „heilig" und „wahrhaftig" ist?
Die Thatsache, daß die Kirche oder Versammlung im
Verfall ist und nicht mehr dasteht, wie in den Tagen des
Apostels Paulus, kann unsre Verpflichtung, einem aus
der göttlichen Natur selbst hervorgehenden Grundsatz zu
gehorchen, nicht schwächen. Wir können nicht in Gemeinschaft
mit Gott sein, wenn wir das Böse dulden. Könnten
wir, wenn wirklich versammelt im Namen Jesu, einem
thatsächlichen, erkannten Bösen in unsrer Mitte zu weilen
erlauben? Wir stehen auf keinem andern Boden, als die
Versammlung zu Korinth damals stand. Der Zustand
des allgemeinen Verfalls, in dessen Mitte die „zwei oder
drei" — wenn wirklich treu — ein Zeugnis sind, erfordert
im Gegenteil ein um so treueres und strengeres
Festhalten an dem Worte. Werfen wir z. B. einen Blick
auf die armen Juden, welche einst unter Esra und
Nehemia in ihr Land zurückkehrten. Was charakterisirte
sie in ihrem Verfall und in ihrer Schwachheit? Das Festhalten
am Worte Gottes und die völlige Trennung von
dem Bösen. Sie thaten diejenigen hinaus, welche sich
durch unerlaubte Ehen verunreinigt hatten, ja, sie schlossen
alle von dem Priestertum aus, welche ihr Geschlechtsregister
nicht aufzuweisen vermochten.
Die Versammlung hat also die Pflicht, sich von dem
Bösen zu reinigen. Auch hat sie die Autorität dazu, so
gering die Zahl derer auch sein mag, welche sie bilden.
Bestände sie auch nur aus zweien oder dreien — sie hat
289
Macht, zu binden und zu lösen. Was ist denn die Quelle
dieser Autorität? Zunächst der Herr selbst, welcher gesagt
hat: „Was irgend ihr auf Erden binden und lösen
werdet, wird im Himmel gebunden oder gelöst sein," und
dann die Thatsache, daß Er gegenwärtig ist inmitten
derer, die in Seinem Namen versammelt
sind. Es handelt sich für die Versammlung
durchaus nicht um Unfehlbarkeit, sondern um Unterwürfigkeit
unter das Wort des Herrn, welcher der Versammlung
Berechtigung und Autorität verleiht. Er ist treu, und
wenn sich eine Versammlung, die in Seinem Namen
zusammenkommt und in Unterwürfigkeit unter das Wort
nach Seiner Verherrlichung trachtet, in die Notwendigkeit
versetzt sieht, zu binden oder zu lösen, oder einen Beschluß
zu fassen, so darf und soll sie auf die Treue des Herrn
rechnen, sowie auf Seine verheißene Gegenwart in ihrer
Mitte und auf die Gegenwart und Wirksamkeit des
Heiligen Geistes, daß derselbe sie bei dem zu fassenden
Beschluß leiten werde. Dies leugnen oder in Frage
stellen, heißt nichts anderes, als die Wirklichkeit der
Verheißung Jesu in Zweifel ziehen oder gar leugnen.
Bevor wir weitergehen, möchte ich noch eins bemerken.
Wir befinden uns nicht allein inmitten des
Verfalls, sondern auch in großer Schwachheit. Daher
kann es vorkommen, daß eine Versammlung in der Erkenntnis
und Verurteilung des Bösen langsam ist, und
daß alles, was sie thut, unter mancherlei Fehlern geschieht.
Was hat nun ein Glied einer solchen Versammlung
zu thun, wenn es das Böse erkennt, bevor die
Versammlung darüber beunruhigt ist? Soll sich ein solcher
von der Versammlung oder von dem Tische des Herrn
290
trennen? Nein; er kann sich an den Schuldigen wenden,
ihn persönlich zurechtweisen und warnen und, wenn er
nicht hören will, ihn meiden und sich von ihm fernhalten.
(Vergl. Tit. 3, 10. 11; Röm. 16, 17; 2. Th ess. 3, 6.)
Was die Versammlung anbetrifft, so hat er Geduld und
Langmut zu üben und auf Gott zu harren, daß Er auf
die Herzen und Gewissen wirken möge, um sie hinsichtlich
des Bösen aufzuwecken. Es mag und wird für ihn
ohne Zweifel nicht ohne Schmerz abgehen, allein es ist
gut, auf Gott zu harren, und der Herr ist treu und wird
alle, die zu Ihm emporblicken, nicht beschämen. Paulus
trennte sich nicht von den Korinthern, er ermahnte sie;
und wir sehen, wie auch der Herr voll von Geduld ist
gegen die Versammlungen, selbst wenn sie sich in dem
traurigsten Zustande befinden mögen. (Vergl. 1. Kor. 5;
Offbg. 2. 8.)
Indem wir jetzt auf den Fall zurückkommen, daß
eine Versammlung einen Beschluß gefaßt hat, so erhebt sich
die Frage: Was sollen die übrigen Versammlungen thun,
die sich auf demselben Boden versammeln, wie jene, und
mit ihr an demselben Tische Gemeinschaft haben? Die
Antwort ist einfach: Sie haben den gefaßten Beschluß
anzuerkennen. Dürfen sie nicht darauf rechnen, daß der
Herr auch jene bewahrt und geleitet haben wird, welche,
in Seinem Namen versammelt, zu einem Beschluß gekommen
sind? Und wenn dies der Fall ist, sollen sie dann
nicht in Unterwürfigkeit und Vertrauen — nicht gegen
eine Versammlung, sondern gegen den stets treuen Herrn
— den gefaßten Beschluß anerkennen, als einen solchen,
der Ihm selbst entspricht und Seine Billigung findet? Es
mag sein, daß es dabei Schwachheiten gegeben hat und
291
manche Fehler begangen worden sind. Ach! woran könnte
der Mensch seine Hand legen, ohne Fehler aller Art zu
begehen? Wollte man aber stets die Fehler in den Vordergrund
stellen, um auf diese Weise den gefaßten Beschluß
zu entkräften, so würde man dadurch nicht nur die Ausübung
jeder Thätigkeit, sich von dem Bösen zu reinigen,
unmöglich machen, sondern auch thatsächlich die Gegenwart
des Herrn inmitten derer, die in Seinem Namen versammelt
sind, sowie die Gegenwart des in der Versammlung
wirkenden Heiligen Geistes leugnen. Der Herr hat
verheißen, in der Mitte der „zwei oder drei" zu sein,
welche in Seinem Namen versammelt sind; Er hat ihnen
Autorität gegeben, zu binden und zu lösen. Ist es nun
nicht eine sehr ernste Sache, die Anerkennung dessen, was
in jener Gegenwart und mit jener Autorität geschehen ist,
unter dem Vorwande der etwa begangenen Fehler zu verweigern?
Könnte man nicht ebenso gut einem Menschen,
der sich vergeht — und „wir alle straucheln oft" — die
Wirklichkeit seines Christentums, seine Verbindung mit
Christo durch den inwohnenden Heiligen Geist und Seine
Gotteskindschaft abstreiten? Einen Versammlungsbeschluß
verwerfen heißt nichts anders, als die Einheit des Geistes
außer Acht lassen; ihn anerkennen, heißt, diese Einheit
und das Vertrauen zu dem Herrn bewahren. Gepriesen
sei Sein Name! Er hat uns nicht berufen, Thatsachen
zu untersuchen, die außer unserm Bereiche liegen, um
auf's neue eine Entscheidung zu treffen, welche bereits von
denen getroffen worden ist, welchen der Herr selbst die zu
entscheidende Frage vorgelegt hat; sondern Er giebt uns
die Versicherung, daß Er in ihrer Mitte ist. Wir
werden ermahnt, „einander unterwürfig zu sein in der
292
Furcht Christi." Möchten wir uns befleißigen, diese Ermahnung
des Geistes zu befolgen und uns hüten, unser
persönliches Urteil über das Urteil derer zu stellen, welche
im Namen Jesu versammelt sind, und welchen Er Seine
Gegenwart zugesagt hat! Möchten wir vor allem bewahrt
bleiben, was uns von der Unterwürfigkeit gegen den Herrn,
von der Abhängigkeit von Ihm und von dem Vertrauen zu
Ihm ableiten will!
Unser teurer Herr und Heiland hat also inmitten des
Verfalls, der Verwirrung der menschlichen Systeme und
der Bemühungen des Feindes, jedes Zeugnis von der
Wahrheit in den schweren Zeiten zu zerstören, in Seiner
Gnade einen einfachen Weg für die Einfältigen bereitet.
Und wie bisher, so wird Er auch fernerhin die bewahren,
welche einfältig auf Ihn blicken, als auf den Heiligen und
den Wahrhaftigen, der da öffnet und niemand schließt, und
schließt und niemand öffnet! Sie dürfen in Frieden das
Glück genießen, sich auf einem Boden versammelt zu finden,
von welchem das Ich, die natürliche Unabhängigkeit, ausgeschlossen
ist, weil Jesus, trotz all ihrer Schwachheit, da ist
mit der ganzen Gnade, Autorität, Vortrefflichkeit und All-
genugsamkeit Seiner gesegneten Person. Auch dürfen sie,
als Glieder des einen Leibes, getauft mit einem
Geiste und gesetzt an einen Tisch, das Glück einer wirklichen
Gemeinschaft genießen. Ist das nicht der einzig
wahre, passende Boden des Zusammenkommens für alle,
welche durch Christum errettet, mit Ihm gestorben und
auferstanden sind, und für die das Alte vergangen und
alles neu geworden ist? Wenn es sich um uns als einzelne
Personen handelt, so erkennen wir nach dem Worte
an — und wir sind glücklich, dies zu thun — daß es
293
mit dem alten Menschen, mit dem I ch aus ist, daß nicht
mehr wir leben, sondern Christus in uns. Sollten wir
denn, wenn es sich darum handelt, versammelt zu sein
zum Dienste und zur Anbetung unsers Gottes und Vaters,
wünschen, einer anderen Regel zu folgen und das „Ich"
wieder aufleben zu lassen? „Im Namen Jesu," Jesus
„in der Mitte," das ist das Passende für den Tag des
Verfalls und zugleich das Paffende für den neuen Menschen.
Laßt uns Acht haben, daß wir nicht in „unser Zusammenkommen"
die Anmaßungen und die Unabhängigkeit des
alten Menschen hineintragen!
O, möchten wir dieses Zusammenkommen im Namen
Jesu hochschätzen als das einzig Wahre, durch Ihn selbst
Angeordnete! Möchten wir durch den Glauben und in der
Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir also versammelt
sind, Seine Gegenwart unter unS verwirklichen, indem wir
einmütig sind, eines Sinnes, dieselbe Liebe haben,
(Phil. 2, 2.) da wir ja ein und denselben Gegenstand
für unsere Herzen besitzen, Jesum selbst, auf welchen
ein und derselbe Geist unsere Gedanken und Zuneigungen
richtet!
Das Gebet des Herrn.
(Matth. 6, 9—13; Luk. 11, 2-4.)
(Schluß.)
Wir kommen jetzt zur Beantwortung der zweiten
Frage: Was war die Absicht des Herrn bezüglich des
Gebrauchs Seines Gebets? Ist dieser Gebrauch auf die
Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu beschränken, oder
auch auf die Zeit nach Seinem Tode und auf die Gegenwart
auszudehnen? Die Antwort auf diese Fragen ist
294
eigentlich schon in dem früher Gesagten eingeschlossen.
Wir haben gesehen, daß das Gebet genau dem Zustande
entsprach, in welchem sich die Jünger befanden, bevor der
Herr Sein Werk vollendet hatte. Hieraus folgt, daß,
sobald die Erlösung eine Thatsache und eine bekannte
Grundlage der Beziehungen zu Gott geworden war, für
diejenigen, welche im Genuß der vollen Resultate des
Erlösungswerkes standen, andere, ihren neuen Umständen
angemessene Gebete passend wurden. Mit andern Worten,
die Bitten jenes aus dem Gefängnis entlassenen Verbrechers
— um unser Bild weiter zu gebrauchen —
können nicht denjenigen gleich sein, welche er im Gefängnis
äußerte, er müßte sich denn in einer großen
Selbsttäuschung befinden. Wenn er nach seiner Befreiung
mit dem Könige zusammentrifft, wird er nicht sein
Gesuch um Begnadigung und Vergebung erneuern, sondern
im Bewußtsein der erhaltenen Begnadigung seinem Herrn
danken und ihm in Treue und Unterwürfigkeit sein Leben
lang dienen.
Aber wir wissen, daß außerdem die Erfüllung der
Versöhnung die Grundlage eines andern erhabenen Vorrechts
wurde, nämlich der Gabe des Heiligen Geistes in
einer Weise, von welcher die alttestamentlichen Heiligen
keine Erfahrung hatten. Wir müssen uns erinnern, daß
es gewisse Wirkungen des Geistes giebt, welche das gemeinsame
Teil aller Gläubigen jedes Zeitalters sind, wie
z. B. die neue Geburt, die Ueberführung von der Sünde
und die Hervorbringung eines heiligen Gehorsams in
Herz und Wandel. Noah, Abraham, David rc. waren
alle aus Gott geboren, sie waren gläubige Männer, und
der Heilige Geist wirkte in ihnen. Die Propheten des
295
Alten Testaments redeten, getrieben von dem Heiligen
Geiste. Aber während dies wohl alle Christen anerkennen,
giebt es eine andere Wahrheit, die nicht so allgemein
erkannt und angenommen wird. Als der Herr im Begriff
stand, Sein Werk auf Erden zu vollenden und zum Vater
zurückzukehren, verhieß Er Seinen Jüngern, ihnen den
Heiligen Geist in einer bisher unbekannten Weise zu
geben. Die Jünger waren dazumal ohne Zweifel Gläubige
und im Besitz des ewigen Lebens. Allein wir hören
aus dem Munde des Herrn kurz vor Seinem Weggang
die Worte: „Es ist euch nützlich, daß ich hingehe." Wie
konnte es nützlich für sie sein, ihren besten Freund und
ihren Heiland zu verlieren? War es für sie nicht weit
besser und in jeder Hinsicht vorzuziehen, wenn Er bei
ihnen blieb? Das Wort des Herrn ist klar und einfach:
„Es ist euch nützlich, daß ich hingehe; denn wenn ich
nicht hingehe, so wird der Sachwalter nicht zu euch
kommen; wenn ich aber hingehe, so will ich Ihn zu euch
senden." (Joh. 16, 7.) Zeigen diese Worte nicht deutlich,
daß den Jüngern eine neue, unermeßliche Segnung zuteil
werden sollte, welche sie bis dahin nicht gekannt und genossen
hatten? Ohne alle Frage. Aber mehr als das.
Manche wollen die Gabe des Heiligen Geistes auf
„Sprachen, Wunderkräfte, Gaben des Dienstes rc." beschränken.
Doch „der Sachwalter" darf nicht mit den
mannigfaltigen Kräften, die Er verleiht und hervorbringt,
verwechselt werden. Der Heilige Geist in Person war es,
welchen der Vater im Namen Jesu senden wollte. In
allen Gläubigen von Anfang an war der Heilige Geist
wirksam gewesen, aber der Herr belehrt hier Seine Jünger,
daß der Geist, außer diesem und über dieses hinaus, nach
296
Seinem Weggang herniederkommen würde, und zwar in
einer persönlichen, unmittelbareren Weise, als bisher, um
in und bei ihnen zu sein bis ans Ende. Der Sohn
Gottes war in einer besonderen Weise herniedergekommen
und hatte Fleisch und Blut angenommen, und jetzt sollte
der Heilige Geist kommen, nachdem Christus Sein Werk
vollendet hatte und hinaufgestiegen war in die Höhe.
Deshalb lesen wir in Apostelgeschichte 2: „Da Er nun
durch die Rechte Gottes erhöht worden und die Verheißung
des Heiligen Geistes vom Vater empfangen, hat Er ausgegossen
dieses, was ihr sehet und höret." Die wunderbaren
Kräfte, welche am Tage der Pfingsten ausgeteilt
wurden, lenkten die Aufmerksamkeit auf diese gesegnete,
göttliche Person, deren Gegenwart eben durch diese Kräfte
angezeigt wurde. Sie waren der äußere Beweis und die
Wirkung dieser nie dagewesenen Gabe, der Verheißung
des Vaters.
Das ist also die große Wahrheit, welche für die
Frage über das Gebet des Herrn von so hoher
Wichtigkeit ist. Dasselbe war bestimmt für solche, die
wahrhaft gläubig waren, für welche aber die Versöhnung
noch in der Zukunft lag und die den Heiligen Geist in
jener völligeren und bisher ungekannten Weise noch nicht
empfangen hatten. In dem Evangelium nach Lukas sagt
der Herr in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von
Ihm gegebenen Gebet: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid,
euern Kindern gute Gaben zu geben wisset, wie viel mehr
wird der Vater, der vom Himmel ist, den Heiligen Geist
geben denen, die Ihn bitten!" Hier finden wir den Ausdruck
ihres wahren Zustandes. Sie waren errettet und
besaßen das Leben aus Gott, und doch sollten sie den
297
Vater bitten, ihnen den Heiligen Geist zu geben; offenbar
nicht, um sie zu Gläubigen zu machen — denn das waren
sie schon — sondern der Heilige Geist sollte ihnen persönlich
gegeben werden, um sie in die vollen Resultate des
Versöhnungswerkes Christi einzuführen und sie, in Gemeinschaft
mit Ihm, dem zur Rechten Gottes verherrlichten
Menschen, zu Gliedern Seines Leibes zn machen. Diese
Vorrechte, die von den Gläubigen vor dem Kreuze weder
gekannt noch genossen werden konnten, sind die wesentlichen
Charakterzüge des Christentums. Deshalb zögere ich nicht,
zu behaupten, daß das Gebet des Herrn, welches den
vollkommenen Ausdruck der Bitten der Jünger in ihren
damaligen Umständen und in ihrem thatsächlichen Zustande
bildete, aus eben diesem Grunde nicht dazu bestimmt war, der
Ausdruck ihrer Gefühle zu sein, nachdem ihre ganze Stellung
und ihr ganzer Zustand verändert war, nachdem das
Werk vollbracht, alle Uebertretungen vergeben und alle
Gläubige, ob Juden oder Griechen, durch den einen Geist
zu einem Leibe getauft und alle zu einem Geiste getränkt
waren.
Die Veränderung war in der That eine so vollständige
und überaus wichtige, daß der Herr selbst die
Jünger in Joh. 16 in feierlicher Weise darauf vorbereitet.
Nachdem Er ausführlich von der Sendung des Sachwalters
und Seines Bleibens in und bei ihnen gesprochen
hat, sagt Er: „An jenem Tage werdet ihr mich nichts
fragen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Alles, was
irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen,
wird Er euch geben. Bis jetzt habt ihr nichts gebeten
in meinem Namen. Bittet, und ihr werdet empfangen,
auf daß eure Freude völlig sei.... . An jenem Tage
298
werdet ihr bitten in meinem Namen re." Was bedeuten
die Worte: „An jenem Tage werdet ihr mich nichts
fragen?" Dies war es, was die Jünger gethan hatten
während Seines Wandels durch diese Welt; sie waren
stets zu Ihm gegangen, als zu ihrem gesegneten und
gnädigen Messias, und sie hatten recht daran gethan.
Nie aber hatten sie bis dahin etwas in Seinem Namen
gebeten. Wie? nie etwas in Seinem Namen gebeten?
Hatten sie nicht das Gebet des Herrn schon seit mehreren
Jahren gebraucht? Ganz gewiß; und dennoch hatten sie
nichts in Christi Namen gebeten. Der Herr stellt Seine
Jünger hier auf einen ganz neuen Boden; nicht länger
sollten sie blos zu Ihm kommen und Ihn bitten, sondern
sie sollten den Vater bitten, und zwar in Seinem Namen.
Was bedeutet eS, in dem Namen Christi zu bitten? Genügt
es, am Ende eines Gebets blos zu sagen: „Wir
bitten dieses im Namen Jesu?" O nein. Die Bedeutung
ist vielmehr diese: Kraft der vollbrachten Erlösung und
der durch den Heiligen Geist bewirkten Verbindung mit
dem Herrn Jesu im Himmel, sollten die Jünger in dieselbe
Stellung versetzt werden, in welcher Er sich befand.
Deshalb heißt es in 1. Joh. 4: „Gleichwie Er ist, so
sind auch wir in dieser Welt;" und ebenso sagt Paulus
in 1. Kor. 6: „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist
mit Ihm." Dies erklärt die Bedeutung des Bittens im
Namen Jesu, oder besser des Bodens, auf welchem es
beruht. Es heißt, den Vater bitten in dem Bewußtsein,
daß alle meine Sünden hinweggethan sind, daß ich in
Christo Gott nahe gebracht bin und in dem vollen Genuß
Seiner Gunst stehe, ohne daß es noch eine Frage oder
eine Wolke zwischen Gott und meiner Seele giebt; es
299
heißt, zu Gott gehen und zu Ihm flehen, als in dem
Besitz der vollen Segnung stehend, zu welcher ein Christus
droben und der Heilige Geist hienieden mich berechtigen.
Der Herr hatte Sein Gebet bereits gegeben, und
die Jünger hatten es ohne Zweifel gebraucht. Doch Er
teilt ihnen jetzt mit, daß sie in eine ganz neue Stellung
eingeführt werden sollten, und daß ihre Gebete eine dieser
neuen Stellung und der darin geoffenbarten vollkommenen
Gnade entsprechende Form anzunehmen hätten. Was ist
die Wirkung, wenn sich Gläubige jetzt selbst in die Stellung
versetzen, in welcher sich die Jünger vor Vollbringung des
Versöhnungswerkes befanden? Sie können niemals wissen,
was es heißt, einen wirklich gegründeten Frieden zu besitzen,
sie können nicht den Platz von Anbetern einnehmen,
die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden
haben. Mit einem Wort, sie gehen, was ihren Genuß
anbetrifft, all der reichen und unermeßlichen Segnungen
verlustig, welche der Tod und die Auferstehung Christi
hervorgebracht haben.
Noch offenbarer ist der Fehler, wenn eine Gemeinschaft
von Gläubigen, oder gar von Gläubigen und Ungläubigen
das Gebet des Herrn als den Ausdruck ihres
gemeinsamen Bedürfnisses und ihrer gemeinsamen Anbetung
annimmt. In der Stelle selbst ist gar kein Gedanke an
einen solchen Gebrauch des Gebets von selten einer Körperschaft.
Nachdem der Herr Seine Jünger aufgefordert hat,
ins einsame Kämmerlein zu gehen, wenn sie beten wollten,
läßt Er das Gebet selbst folgen als die passende Sprache
für eine einzelne Person, um ihre Bedürfnisse Gott vorzutragen.
Alle, welche das Gebet des Herrn, sei es in
Gemeinschaft mit andern, sei es für sich allein gebrauchen,
300
begeben sich — ich wiederhole es — zurück in den Zustand
und die Stellung der Jünger unter dem Gesetz, bevor der
Herr Sein Werk vollbracht hatte, und offenbaren auf diese
Weise, obwohl unbewußt, eine Geringschätzung des Willens
Gottes, des Vaters, des Werkes Christi und des gegenwärtigen
Zeugnisses des Heiligen Geistes. (Vergl. Hebr. 10.)
Wenn eine Seele, die thatsächlich bekehrt ist, aber
wenig von den Wegen des Herrn und von der ganzen
Tragweite Seines vollbrachten Werkes kennt, niederknieen
und ihr Herz in den Worten ausschütten würde, welche
der Herr Seine Jünger lehrte, so würde ich völlig mit
ihr fühlen können; denn ein solcher Zustand des Herzens
und Gewissens ist demjenigen der Jünger, welche um den
Herrn versammelt waren, äußerst ähnlich. Nichtsdestoweniger
ist er jetzt, unter dem Evangelium von der völlig
geoffenbarten Gnade Gottes, kein richtiger. Eine solche
Seele geht gleichsam selbst vor das Kreuz, vor die Erlösung
zurück denn Gott führt sie nicht dahin. Obgleich
sie an Christum glaubt, so ist sie sich doch weder ihrer
völligen Rechtfertigung bewußt, noch weiß sie, daß sie sür
immer in der Gunst Gottes steht. Sie gebraucht ein
Gebet, das den Jüngern gegeben wurde, welche die Gefühle
nicht kennen konnten, die das Herz eines jeden Christen
seit dem Kreuze erfüllen, und welche seine Gebete mehr
oder weniger vor Gott zum Ausdruck bringen sollten.
Obwohl daher eine solche Seele ohne Zweifel in Christo
ihre ewige Sicherheit gefunden hat, so erkennt sie doch
ihre kostbarsten Vorrechte nicht an und macht sich so,
ohne es zu ahnen und zu wollen, einer wirklichen Herabwürdigung
der Leiden und der Verherrlichung Christi schuldig.
ES ist also Thatsache, daß das Gebet des Herrn für
301
Gläubige auf der Erde bestimmt war, bevor Christus starb
und wieder auferstand, und ehe der Heilige Geist vom
Himmel herniedergesandt wurde, um von der vollkommenen
Annahme des Gläubigen in dem Geliebten Zeugnis abzulegen.
Wollen wir Christum in Wahrheit ehren, so müssen
wir Seine Worte so anwenden, wie Er sie gemeint hat.
Haben unsre Seelen verstanden, daß wir Gott nahe gebracht,
daß alle unsre Sünden vergeben sind, und daß
wir den Heiligen Geist empfangen haben, um uns zu
versiegeln und mit einem im Himmel verherrlichten Christus
zu verbinden, so stehen wir auf einem ganz neuen Boden,
und unsre Gebete sollten davon Zeugnis ablegen; wir
sollten dann als geliebte Kinder den Vater bitten im
Namen des Sohnes.
Indessen möchte die Frage erhoben werden: Weshalb
hat der Herr uns das Gebet in Seinem Worte mitgeteilt,
wenn es nicht für den fortwährenden Gebrauch Seines
Volkes bestimmt war? Hierauf antworte ich: der Herr
hat vieles gesagt und gelehrt, was sich nicht auf alle die
Seinigen anwenden läßt, noch auch für sie alle bestimmt
war. Lesen wir z. B. das zehnte Kapitel des Evangeliums
Matthäus. Wir finden in diesem Kapitel viele Grundsätze,
die immer gültig bleiben und zu unsrer steten Belehrung
dienen; aber wer wollte es leugnen, daß die Sendung
der Zwölfe eine rein jüdische war? Wenn wir unter
Anführung des 5. und 6. Verses sagen wollten: „DaS
sind die eignen Worte des Herrn; wir haben auf keinen Weg
der Nationen zu gehen, noch in irgend eine Stadt der
Samariter einzutreten, sondern wir sollen nur zu den
verlorenen Schafen des Hauses Israel gehen," so würde
die Thorheit und Verkehrtheit einer solchen Sprache einem
302
jeden offenbar sein. Wir selbst, von Hause aus arme
Heiden, sind, wenn wirklich errettet, Beweis genug, daß
eine solche Anwendung der Worte des Herrn völlig falsch
sein muß, und man würde auf diese Weise einen einzelnen
Ausspruch der ganzen Lehre des Neuen Testamentes entgegenstellen,
welche gerade jenen Heiden eine überströmende
Gnade verkündigt. Und so wie der Herr damals Seine
Jünger mit einer besondern Botschaft aussandte, so hatte
Er auch vorher in dem Gebete für ihren damaligen Zustand
Vorsorge getroffen. Der Tod Christi hob notwendigerweise
das Verbot, zu den Heiden zu gehen, auf,
dehnte den Boden des Gebets weit aus und legte den
Grund zur Einführung einer ganz neuen Ordnung der
Dinge. Deshalb giebt der Herr auch (am Ende desselben
Evangeliums) den Jüngern nach Seiner Auferstehung den
Auftrag, hinauszugehen und alle die Nationen zu Jüngern
zu machen, und in dem Evangelium Johannes sagt Er
ihnen, im Vorausblick auf Seine Erhöhung zur Rechten
des Vaters, daß sie an jenem Tage den Vater bitten
würden in Seinem Namen, was sie bis dahin nicht
gethan hotten.
So tief ich daher die Schwierigkeiten derer fühle,
welche meinen, den Gebrauch des Gebetes des Herrn auch
auf die Gegenwart ausdehnen zu müssen, so glaube ich
doch, daß sie den Willen und das Wort des Herrn mit
Aufrichtigkeit prüfen sollten. Welches Verständnis kann
da sein, wo nicht einmal erkannt wird, daß das vollbrachte
Erlösungswerk und die Gabe des Heiligen Geistes
eine völlige Veränderung im Blick auf Gewissen, Gemeinschaft,
Anbetung und Wandel hervorgebracht haben?
Diese beiden Thatsachen haben uns aus der Knechtschaft
303
in die Freiheit geführt und infolge dessen auch unsre Gebete
auf eine ganz andre Grundlage gestellt, als sie vor
unsrer Befreiung für uns richtig und passend war.
Daher findet sich in der Apostelgeschichte nicht eine
Spur von einem solchen Gebrauche des Gebets des Herrn,
wie er in der Christenheit seit Jahrhunderten eingeführt
worden ist. Und wenn man die verschiedenen Gebete liest,
welche der Heilige Geist eingab, wie z. B. in dem Briefe
an die Römer, an die Epheser rc., so findet man, daß
überall der Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt
Christi die Grundlage und den wesentlichen Inhalt derselben
bilden. Die Bitten des Apostels gründen sich auf
die glorreichen Thatsachen, auf welchen auch unser Glaube
und unsre Hoffnung ruhen.
Fassen wir zum Schluß das Gesagte noch einmal
kurz zusammen. Wir alle glauben, daß das Gebet des
Herrn göttlich passend war für den Zustand der Jünger
zur Zeit, als der Herr es ihnen gab. Aber aus demselben
Grunde konnte es nicht den vollkommenen Ausdruck
ihrer späteren Beziehungen zum Vater, noch der Zuneigungen,
die diesen Beziehungen angemessen sind, bilden.
Alle diejenigen, welche die Tragweite des Wechsels, der
nach dem Tode Christi eingetreten ist, verstehen, können
aus jedem einzelnen Ausdruck in dem Gebete des Herrn
Nutzen ziehen, obwohl sie es nicht buchstäblich wiederholen.
Aber ein außer Achtlassen der Resultate des vollbrachten
Erlösungswerkes gereicht nicht zur Ehre des Herrn, sondern
ist vielmehr eine Geringschätzung der persönlichen
Gegenwart des Heiligen Geistes, sowie eine freiwillig
erwählte Armut inmitten der Reichtümer der Gnade,
welche über uns ausgeschüttet sind. Ein demütiges und
304
gehorsames Herz wird suchen, den Willen des Herrn
hierin, wie in allem andern, kennen zu lernen und zu thun.
Möchten wir doch stets alles so anuehmen, wie
es der Herr uns in Seinem Worte darbietet! Er wolle uns
Gnade und Kraft schenken, um uns über unsere natürlichen
Gedanken, unsere vorgefaßten Meinungen und hergebrachten
Vorurteile erheben zu können! Möchten wir alle in Ihm
wandeln, gewurzelt und auferbaut in Ihm und befestigt
in dem Glauben, so wie wir gelehrt worden, überströmend
in demselben mit Danksagung! (Kol. 2, 7.)
Bruchstücke.
Wir haben einen mächtigen Gegner, der stets darauf
ausgeht, uns von dem Pfade der Wahrheit und Reinheit
abzulenken und uns zu Fall zu bringen. Wir würden
nicht einen einzigen Augenblick unsern Weg fortsetzen können,
wenn nicht Gott in so gnädiger Weise für alle unsere
Bedürfnisse Vorsorge getroffen hätte in dem kostbaren
Tode und in der unaufhörlich thätigen, allumfassenden
Sachwalterschaft unsers Herrn Jesu Christi. Gepriesen
sei der Gott aller Gnade! Er ist allen unsern Bedürfnissen
in Seiner eignen, vollkommenen Weise begegnet,
und zwar nicht, um uns sorglos, sondern um uns wachsam
zu machen.
Möchten wir stets in dem Bewußtsein der vollkommenen
Reinheit stehen, in welche der Tod Christi uns
eingeführt hat, und in welcher Er uns zu erhalten bemüht
ist! Möchten wir nie vergessen, daß unser anbetungswürdiger
Herr und Heiland genötigt ist, den geringsten
305
Sklavendienst an uns zu versehen, uns die Füße zu
waschen, so oft wir sie im Wandel durch diese versuchungsreiche
Welt beschmutzen!
Die Prüfungen der Wüste stellen die Natur auf die
Probe; sie bringen hervor, was im Herzen ist. Freunde
verlassen uns; so manche Stütze, auf welche wir unser
Vertrauen gesetzt haben, bricht; Mitarbeiter ermüden oder
wenden sich von uns ab; Mirjam's und Aaron's sterben
— aber Gott bleibt. Und wenn unser Herz mit dem
lebendigen Gott erfüllt und unser Auge auf Ihn gerichtet
ist, so brauchen wir nichts zu fürchten. Wenn wir sagen
können: „Der Herr ist mein Hirte," so können wir auch
mit aller Gewißheit hinzufügen: „mir wird nichts mangeln
.... Güte und Huld werden mir folgen alle die
Tage meines Lebens." Die Hülfsquellen des Herrn sind
ganz und gar unerschöpflich. Er kann ein Herz, das Ihm
vertraut, nie beschämen. Laßt uns stets daran gedenken!
Es erfreut das Herz Gottes, wenn wir von Ihm und
Seiner Gnade einen ausgiebigen Gebrauch machen. Nie
wird es Ihm zu beschwerlich, nie ermüdet Er, die Bedürfnisse
der Seinigen zu stillen. Der Weg durch diese
Wüste bringt allerdings zum Vorschein, was in uns
ist — und das ist heilsam für uns — aber er offenbart
auch, was in Gott ist für uns.
Der Mensch möchte lieber in dem Lande der Finsternis
und des Todes bei den Fleischtöpfen sitzen, als
mit Gott durch die Wüste wandern und das Brot aus
dem Himmel essen.
Die Not und das Elend des Menschen haben stets
306
der Gnade und dem Erbarmen Gottes Gelegenheit gegeben,
sich zu entfalten. Als Israel murrte, war der tötliche
Biß der feurigen Schlangen die Antwort. Sobald es
aber seine Sünde bekannte, trat die Gnade Gottes in
Wirksamkeit und verschaffte in der ehernen Schlange ein
untrügliches Heilmittel.
Balak würde gerne das Volk Gottes verflucht haben,
aber, Gott sei gepriesen! Er erlaubt niemandem, Seine
Geliebten und teuer Erkauften anzutasten. Er selbst mag
mit ihnen im Stillen über manche Dinge zu verkehren
haben, aber Er wird niemandem erlauben, auch nur seine
Zunge gegen sie zu spitzen. Vielleicht muß Er sie auf
viele Dinge in ihrem Wandel aufmerksam machen, die
nicht mit Seiner Natur in Uebereinstimmung sind, vielleicht
sie züchtigen und schwere Wege führen, aber nie
wird Er es einem andern erlauben, wider Seine Auserwählten
Anklage zu erheben. Er selbst ist es, der da
rechtfertigt; wer will verdammens
Es handelt sich nicht so sehr darum, was der Feind
über das Volk Gottes denkt, oder was sie über sich selbst
und über einander denken. Die über alles wichtige Frage
ist vielmehr die: Was denkt Gott über sie? Gott kennt
uns vollkommen, mit Ihm allein haben wir es zu thun;
und deshalb können wir in der triumphirenden Sprache
des Apostels sagen: „Wenn Gott für uns ist, wer
wider uns?"
Wir dürfen nie unsre Stellung vor Gott nach unserm
praktischen Zustande messen, sondern haben vielmehr stets
unsern Zustand nach der Stellung zu beurteilen, in welche
307
Gott uns gebracht hat. Sobald wir beginnen, wegen
unsers praktischen Zustandes niedriger von unsrer Stellung
zu denken, als Gott sie uns in Seinem'Worte zeigt,
machen wir jeden Fortschritt im geistlichen Leben unmöglich.
Wenn ich daS Volk Gottes „von der Höhe des Gebirges"
herab betrachte, so sehe ich es so, wie Gott eS
sieht, nämlich bekleidet mit all der Annehmlichkeit Christi,
vollendet in Ihm, angenommen in dem Geliebten. Und
das wird mich befähigen, mit ihnen voranzugehen, mit
ihnen Gemeinschaft zu pflegen und mich über ihre Mängel
und Gebrechen, ihre Schwachheiten und Fehler zu erheben.
Christus sollte stets den Gegenstand und Inhalt
unsrer Anbetung bilden, und Er wird dies thun in demselben
Verhältnis, als wir uns durch den Geist Gottes
leiten lassen. Das Herz weiß davon zu erzählen, wie
oft es leider anders bei uns ist. Wie oft ist, sowohl in
der Versammlung, als auch in dem Kämmerlein, das Herz
beschwert und trocken, die Anbetung schwach und gehindert!
Woher kommt das? Ach! wir sind beschäftigt mit
uns selbst, anstatt mit Christo; und der Heilige Geist,
anstatt fähig zu sein, Sein Werk zu thun, d. h. von den
Dingen Christi zu nehmen und uns mitzuteilen, ist gezwungen,
uns mit uns selbst zu beschäftigen im Selbstgericht,
weil unsre Wege nicht in Uebereinstimmung waren
mit unsrer Berufung.
Es giebt nichts, was das Herz bedürfen könnte und
was es nicht fände in Jesu. Verlangt es nach aufrichtigem
Mitgefühl? Wo könnte es dasselbe finden, wenn
308
nicht in Ihm, der Seine Thränen mit denen der betrübten,
ihres geliebten Bruders beraubten Schwestern zu Bethanien
vermischte? Sehnt es sich nach dem Genuß einer innigen
Zuneigung? Wo gäbe es eine Liebe wie in jenem Herzen,
das aus Golgatha im Tode brach? Sucht es den Schutz
einer wirklichen Macht? Es braucht nur auf Den zu
blicken, der die Welten gemacht hat. Fühlt es das Bedürfnis
nach einer nie irrenden Weisheit? Es kann sich
getrost an Ihn wenden, der uns von Gott zur Weisheit
gemacht ist. Mit einem Worte, wir haben alles in Christo.
Beten und Pläne machen kann nie zusammengehen.
Thue ich das letztere, so stütze ich mich mehr oder weniger
aus meine Pläne. Wenn ich aber bete, so sollte ich mich
ausschließlich auf Gott stützen. Aber nicht eher werde ich
an das Ende meiner Pläne kommen, bis ich an dem Ende
meines eignen Ichs angelangt bin.
Es ist so überaus köstlich, sich von Einem abhängig
zu wissen, der Seine Freude darin findet, uns unaufhörlich
zu segnen. Indes ist es etwas anderes, auf Gott
zu vertrauen, wenn ich den Kanal vor Augen habe, durch
welchen die Segnung fließen soll, als wenn alle Kanäle
verstopft zu sein scheinen.
Gott wünscht Wirklichkeit zu sehen, und wo Er
sie findet, da ehrt Er sie. Er will nicht, daß wir in
Seinen Segnungen, sondern daß wir in Ihm selbst ruhen.
Kanaan und die Waffenrüstung Gottes.
(Einem Vortrage von I. N. D. nachgeschrieben.)
„Uebrigens, meine Brüder, seid stark in dem Herrn
und in der Macht Seiner Stärke. Ziehet an die ganze
Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt wider die
Listen des Teufels. Denn unser Kampf ist nicht wider
Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider
die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis,
wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen
Oertern. Deshalb nehmet die ganze Waffenrüstung Gottes,
auf daß ihr zu widerstehen vermöget an dem bösen Tage
und, nachdem ihr alles ausgerichtet, stehet. Stehet nun,
eure Lenden umgürtet mit Wahrheit und angethan mit dem
Brustharnisch der Gerechtigkeit und beschuhet an den Füßen
mit der Zubereitung des Evangeliums des Friedens: über
alles ergreift den Schild des Glaubens, mit welchem ihr
auszulöschen vermöget alle die feurigen Pfeile des Bösen.
Nehmt auch den Helm des Heils und das Schwert des
Geistes, welches Gottes Wort ist; zu aller Zeit betend mit
allem Gebet und Flehen in dem Geiste, und eben hierzu
wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heilige und
für mich, auf daß mir gegeben werde die Rede im Aufthun
meines Mundes, um mit Freimütigkeit kund zu thun
das Geheimnis des Evangeliums, für welches ich Gesandter
bin in Ketten, damit ich darin unerschrocken sei, so wie ich
reden soll." (Eph. 6, 10—20.)
Es mag im ersten Augenblick befremden, daß in der
Epistel an die Epheser, in welcher sich die vollste Entfaltung
der Vorrechte der Kinder Gottes findet, von
Kampf die Rede ist. Indessen ist uns der Charakter
310
dieses Kampfes oft unbekannt, weil wir unsre Vorrechte
nicht kennen. Wir befinden uns hier in ganz besonderer
Weise im Kampfe, und zwar in einem Kampfe, von dem
wir nichts wissen und der auch nicht beginnt, bis wir die
Vorrechte verwirklichen, welche besonders in diesem Briefe
entfaltet werden.
In der Epistel an die Galater wird auch ein Kampf
erwähnt, aber es ist ein Kampf zwischen Fleisch und
Geist — das Fleisch gelüstet wider den Geist, und der
Geist wider das Fleisch. Im Epheserbriefe aber handelt
es sich nicht um das Fleisch, sondern um die geistlichen
Mächte der Bosheit in den himmlischen Oertern. Wohl
haben wir das Fleisch zu überwinden, und es besteht in
der That eine sehr innige Verbindung zwischen diesen
beiden Kämpfen, aber dennoch sind sie verschieden.
Im Epheserbriefe finden wir eine neue Schöpfung:
Christus ist „hinaufgestiegen in die Höhe, Er hat die
Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben
gegeben." So vollständig hat Er uns aus der Macht
Satans herausgeführt, daß Er uns zu Werkzeugen in
Seinem Dienste machen kann. Er hat uns aus der
Welt herausgenommen und dann wieder in dieselbe gesandt;
(vergl. Gal. 1, 4; Joh. 17, 18.) und wenn wir
so mit Christo vereinigt dastehen — was ja das Vorrecht
aller Christen ist, wenngleich es nicht alle verwirklichen —
so haben wir den ganzen Kampf zu erwarten, der mit
der Stellung verbunden ist, in welche wir gebracht worden
sind. Und in demselben Maße, in welchem wir unsre
Stellung als Gefäße eines himmlischen Dienstes verwirklichen,
erfahren wir auch den besondern Charakter
dieses Kampfes.
311
Man kann den Jordan nicht überschreiten, ohne die
Kananiter und die Perisiter im Lande zu finden. Es
giebt Prüfungen und Gefahren der Wüste, die unsre
Herzen üben — ein jeder kennt mehr oder weniger von
dem ermüdenden Wege, der unsre Herzen übt und offenbar
macht, was in ihnen ist — aber die Erfahrungen
der Wüste sind nicht gleichbedeutend mit dem Kampfe im
Lande. Erst dann, als Josua den Platz der Vorrechte
des Volkes Gottes betrat, befand er sich auf dem Platze
des Kampfes. Gott hat Christum, als Menschen, in die
Herrlichkeit versetzt, weil Er als Mensch Gott bezüglich
der Sünde vollkommen verherrlicht hat. Christus starb
nicht nur für unsre Sünden, sondern wir sind auch mit
Ihm gestorben, (und das gerade ist es, was der Jordan
bedeutet: gestorben mit Christo,) wir sind mit auferweckt
und in Ihm versetzt in die himmlischen Oerter. Also
mit Ihm vereinigt in Seinem Tode und in Seiner Auferstehung,
sind wir zu dem Platze gebracht, an welchem
der ganze Kampf stattfindet. Es ist überaus wichtig und
köstlich, dies genau zu verstehen; so mancher Christ hat
es nicht verwirklicht, so mancher befindet sich noch in
Egypten, kennt zwar den Wert des Blutes an den Thürpfosten,
lebt aber in völliger Unwissenheit über die im
Roten Meere geschehene Befreiung.
Israel hatte nichts anderes zu thun, als „festzustehen
und die Rettung Jehova's zu sehen;" dies entspricht dem
Tode und der Auferstehung Christi. Ich bin nicht mehr
in Egypten: das Gericht, das die Egypter traf, hat
mich gerettet. Gott hat Christum auferweckt und Ihm
Herrlichkeit gegeben, auf daß unser Glaube und unsre
Hoffnung auf Gott sei. Ebenso wie jeder arme Sünder
312
aus dem irdischen Paradiese ausgetrieben ist, weil die
Sünde in dem ersten Adam erfüllt ist, so bin ich in
dem zweiten Adam aus dieser Welt herausgenommen und
in das himmlische Paradies versetzt, weil die Gerechtigkeit
erfüllt ist. Daß Gott Christum auferweckt und Ihm
Herrlichkeit gegeben hat, beweist, daß die Frage der Sünde in
Christo am Kreuze vollständig geordnet worden ist, und kraft
dieses vollendeten Werkes sitzt Er jetzt zur Rechten Gottes.
Der Weg durch die Wüste hat den Zweck, uns zu demütigen
und zu versuchen; unser Ausharren wird von Gott
geprüft, indem Er uns den Pfad führt, auf welchem
Christus völlig treu erfunden wurde. Israel pilgerte
durch jene große und schreckliche Wüste, wo es feurige
Schlangen, Skorpionen und Dürre gab, wo sich kein
Wasser fand. Gott brachte ihnen Wasser hervor aus
dem Kieselfelsen und nährte sie mit dem Manna, um sie
zu demütigen und zu prüfen zu ihrem schließlichen Wohl.
Sie kamen an den Jordan, überschritten ihn, betraten
das Land, aßen von dem alten Korn, und das Land war
ihr Eigentum.
Die Wüste und das Land Kanaan stellen uns zwei
Seiten der christlichen Erfahrung dar, nämlich das Leben
hienieden und die Stellung in den himmlischen Oertern.
Wir sind nicht nur ein Zeugnis für die Welt, sondern
auch für die Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen
Oertern. „Auf daß jetzt den Fürstentümern nnd
den Gewalten in den himmlischen Oertern durch die Versammlung
kund gethan werde die mannigfaltige Weisheit
Gottes." Er „hat uns mitauferweckt und mitsitzen
lassen in den himmlischen Oertern in Christo." Aber
obgleich dies hinsichtlich unsrer Stellung und unsrer An
313
rechte auf das Land völlig wahr ist, so sind die Kana-
niter und Perisiter doch noch im Lande und machen uns
den Besitz streitig. Wir besitzen unsern Platz in der
Macht des Geistes Gottes. Da Christus vorangegangen
ist, so ist unser Platz dem Glauben gewiß, aber die
Kananiter sind noch nicht ausgerottet, die Feinde Christi
sind noch nicht Seinen Füßen unterworfen, und somit wird
der Platz oder die Stellung, in welche die Erlösten des
Herrn gebracht sind, durch Kampf gekennzeichnet. Als
Josua in das Land kam, begegnete er einem Manne mit
gezücktem Schwerte. Kampf sollte die Besitznahme des
Landes charakteristren, und als Josua fragte: „Bist du
für uns, oder für unsere Feinde?" erhielt er zur Antwort:
„Nein, denn als der Fürst des Heeres Jehova's
bin ich jetzt gekommen."
Sie waren die Erlösten des Herrn, — des Herrn
Heer, ja so vollkommen des Herrn, daß Er sie als Seine
Knechte im Kampfe zur Unterwerfung Seiner Feinde gebrauchen
wollte. Aber sie mußten stark sein in dem Herrn
und in der Macht Seiner Stärke; sie konnten die Kämpfe
des Herrn nicht kämpfen, sobald das Fleisch wirksam war.
Mit einem Achan im Lager ist jeder Sieg unmöglich;
wir müssen, um erfolgreich kämpfen zu können, praktisch
tot sein, nicht nur uns für tot halten, sondern „allezeit
das Sterben Jesu am Leibe umhertragen, auf daß auch
das Leben Jesu au unserm Leibe offenbar werde."
Paulus ging als Diener stets in diesem Bewußtsein
einher; es war nicht ein bloßes Bekenntnis, sondern
„Paulus" wurde vollständig niedergehalten, indem er
allezeit das Sterben Jesu an seinem Leibe umhertrug.
Nichts von Paulus trat hervor, sondern Jesus allein.
314
Sobald die Israeliten den Jordan überschritten hatten,
cher Jordan ist ein Bild des Todes und der Auferstehung
mit Christo) wurden sie beschnitten — der Tod
wurde praktisch auf sie angewandt. In gleicher Weise
mußten sie nach dem Durchgang durch das Rote Meer
von dem bittern Wasser, dem Salzwasser, trinken; sie
waren durch dasselbe gerettet worden, und nun hatten sie
es zu trinken. „Herr, durch dieses lebt man, und in
diesem allen ist das Leben meines Geistes." (Jes. 38,16.)
Sobald wir in den himmlischen Oertern anlangen,
empfangen wir das „alte Korn," das Erzeugnis des Landes
— wir finden Christum dort, und wir nähren uns von
Ihm; aber wir müssen beschnitten werden, indem wir
praktisch den Leib des Fleisches ausziehen. Als die
Israeliten nach Kanaan kamen, mußten sie beschnitten
werden; sie kannten wohl ihr Anrecht auf das Land, aber
sie hatten noch nicht den Boden des praktischen Grstorben-
und Auferwecktseins (aus Egypten) betreten. Wenn ein
Mensch praktisch gestorben und auferweckt ist, was hat er
dann noch mit dieser Welt zu thun? Ein gestorbener und
auf diese Weise aus der Welt herausgenommener Mensch
hat, wenn es der Wille Gottes ist, durch die Welt zu
gehen und wieder in derselben zu leben. Unser Weg führt
durch die Wüste zur Herrlichkeit. Als einer, der mit dem
Herrn vereinigt ist, bin ich der Welt ein Zeugnis davon,
was ein himmlischer Christus ist. Ich habe ein Nachfolger
des Herrn, ein Nachahmer Gottes zu sein. Ich
soll andere Seelen dahin zu führen suchen, dieses mit mir
zu genießen. Werden uns nun, wenn wir uns befleißigen,
dem Herrn zu dienen, keine Hindernisse begegnen? Wird
Satan uns gewähren lassen, wenn wir das Volk Gottes
315
auf dem Platze der Treue zu erhalten suchend Wir werden
ohne Zweifel die Schlingen Satans auf dem Wege finden,
mit denen er die Gläubigen in seine Gewalt zu bekommen
sucht, und wir haben uns noch mehr vor seiner List zu
hüten, als vor seiner Gewalt.
Unglaube und Aberglaube in ihren mannigfaltigen
Formen stehen uns entgegen; wir bedürfen daher der
ganzen Waffenrüstung Gottes, sobald wir in den Kampf
treten. Wir werden nicht siegen durch eigne Kraft, wir
bedürfen der Kraft des Herrn und der Macht Seiner
Stärke; wir haben die ganze Waffenrüstung Gottes
nötig, nicht ein Stück darf fehlen. Auch muß die Rüstung
von Gott sein, denn eine menschliche Waffenrüstung wird
den Angriffen Satans nicht zu widerstehen vermögen;
setzen wir unser Vertrauen auf eine solche, so werden wir
einem Feinde, der stärker und listiger ist, als wir, in dem
Kampfe unterliegen. Doch laßt uns jetzt untersuchen,
worin diese ganze Waffenrüstung besteht.
„Stehet nun, eure Lenden umgürtet mit Wahrheit."
Das ist das erste von dem, was wir den subjektiven
Teil nennen möchten: Es handelt sich zunächst um
unsern persönlichen Zustand. Von einer Thätigkeit Gott
gemäß kann nicht eher die Rede sein, bis das Herz vollkommen
in Ordnung ist. Die Lenden sind, wenn gehörig gegürtet,
der Sitz der Stärke und stellen zugleich die inneren Neigungen
und Bewegungen des Herzens dar. Das Bild ist
den Gewohnheiten des Landes entnommen, wo diese Belehrungen
gegeben wurden; man trug lange Gewänder,
die das Arbeiten verhinderten, wenn sie nicht aufgeschürzt
wurden. Wir finden denselben Ausdruck in Hiob 38, 3:
„Gürte doch wie ein Mann deine Lenden."
316
ES ist die Macht der Wahrheit, angewandt auf alles,
was im Herzen vorgeht; es ist nicht so sehr Lehre, als
praktisch angewandte Wahrheit. „Heilige sie durch die
Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit." Gott hat Den,
der die Wahrheit ist, in die Welt gesandt, damit Er gottgemäß
offenbare, was der Mensch ist. Christus ist der
Mittelpunkt des Wortes; Er war das Licht der Welt;
Er machte die Gedanken vieler Herzen offenbar. Er war
hienieden als Mensch und offenbarte, was Gott war, und
dadurch wurde die Welt verurteilt. Er kam und brachte
alles, was göttlich und himmlisch ist in einem Menschen
(in Christo), in direkte Berührung mit alledem, was Gott
in dieser Welt entgegen ist. Satan, als der Gott dieser
Welt, führte den Menschen gegen Christum. Man hört
zuweilen die Meinung aussprechen, daß Satan aufgehört
habe, der Gott und der Fürst dieser Welt zu sein; aber
obgleich das Kreuz sein Anrecht auf diese Titel zu nichte
machte, so wurde er doch gerade erst am Kreuze (da, wo
sich der Mensch unter seiner Anführung offen gegen Gott
stellte) der Fürst derselben. Die Wahrheit kam in die
Welt, Christus selbst, d i e Wahrheit. Die Wahrheit Gottes,
den menschlichen Herzen nahe gebracht und auf sie angewandt,
offenbart deren Gedanken und Gesinnungen. Wenn
ich nun dieses Wort thatsächlich auf mich anwende, alles
in mir durch dasselbe richte, so besitze ich den Gurt
der Wahrheit.
Wenn alles das, was Gott in Seinem Worte gesagt
hat, sowie die unsichtbaren Wirklichkeiten, die Er offenbart,
ihre wahre Kraft und Anwendung für mein Herz haben,
so sind meine Lenden umgürtet, mein Gewand schleift
nicht durch den Kot dieser Welt, meine Gedanken wandern
317
nicht umher, und der Zustand meines Herzens ist gleichsam
aufgeschürzt und so zum Dienst bereit, worin derselbe
auch bestehen mag. Wir treten nicht eher in jenen Kampf
ein, bis wir diese Stellung einnehmeu. Um Satan zu
besiegen und den Streit des Herrn zu führen, muß ich
meine Stellung der Wahrheit gemäß verwirklichen, gerade
so wie Israel den Sieg davontrug, indem es sich an die
Verheißungen Gottes hielt.
Vor allem muß mein Herz völlig geprüft und dem
himmlischen Worte unterworfen sein. „Niemand," sagt
der Herr, „ist hinaufgestiegen in den Himmel." Christus
stellt diese himmlische Wahrheit vor uns und fragt: Stimmt
das, was in deinem Herzen ist, hiermit überein? Wenn
dieses Wort unsere bestimmte Freude wird, so schmecken
und schätzen wir die himmlischen Dinge — alles was liebreich
und was wohllautend ist — die Er uns gebracht
hat. Ich erkenne dann einerseits, daß das Fleisch in mir
völlig gerichtet ist, und erfahre andererseits die Segnung
dessen, was Christus ist. Wo irgend die Lenden umgürtet
sind mit Wahrheit, da wird auch Vertrauen des Herzens
vorhanden sein — die Seele wird feststehen; es wird keine
Umkehr im Kampfe stattfinden, um uns selbst zu richten,
unsere Seelen werden so zu sagen naturgemäß mit Gott
sein, das Herz ist beschäftigt mit Christo, und der Heilige
Geist nimmt von den Dingen Christi und macht sie uns
kund. Sind unsre Lenden so mit Wahrheit umgürtet, so
ist die Folge, daß unser ganzer Zustand durch die Wahrheit
gebildet wird. Das war der Zustand Christi; Er
war die Wahrheit, und mein Zustand wird demjenigen
Christi in dem Maße ähnlich sein, als die Wahrheit Wirkung
auf mein Herz hat. Steht es mit meinen Neigungen
318
und meinem Herzen richtig, so gehe ich im Geiste mit Ihm
durch die Welt. „Stehet nun, eure Lenden umgürtet
mit Wahrheit, und angethan mit dem Brustharnisch der
Gerechtigkeit." Beachten wir, daß es sich hier um praktische
Gerechtigkeit vor Gott handelt; wir brauchen keine Waffenrüstung
vor Gott, wir bedürfen sie gegen Satan.
Bin ich ein wankelmütiger Mann und unternehme
es, Gott zu dienen ohne die Waffenrüstung der Gerechtigkeit
zur Rechten und zur Linken — ohne praktische Gottseligkeit
— so wird Satan dies sicher zum Vorschein
bringen. Wenn ich z. B. predige und mein Wandel ist
ein unbeständiger, so wird die Welt sagen: Du bist nicht
besser als wir, und Satan wird etwas gegen mich vermögen.
Wandle ich aber Christo gemäß, weil mein Herz
in Uebereinstimmung mit Ihm ist, so habe ich den Brust-
harnisch der Gerechtigkeit. Wenn jemand kein gutes
Gewissen hat, so wird er zum Feigling und fürchtet sich,
offenbar zu werden. Mit einem guten Gewissen können
wir kühn voran gehen. Da wo Christus geoffenbart ist,
ist der Zustand der „Wahrheit," und der Wandel ist
völlig in Ordnung. Satan findet keinen Anhaltspunkt
für seine Angriffe.
Sind so meine Lenden umgürtet mit Wahrheit und
bin ich angethan mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit,
so habe ich darauf zu achten, daß meine Füße beschuht
sind mit der Zubereitung des Evangeliums des Friedens.
Ich gehe durch diese Welt mit beschuhten Füßen. „Wie
lieblich sind die Füße derer, welche das Evangelium des
Friedens verkündigen, welche das Evangelium des Guten
verkündigen!" Auf diesem Wege giebt es keine Selbstsucht;
die Selbstsucht sucht stets ihre eigenen Rechte aufrecht zu
319
erhallen, aber das heißt nicht, meine Füße beschuht zu
haben mit Frieden. Das Ich ist unterworfen, wenn ich
Christo Nachfolge. „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig
und von Herzen demütig." Wer von Christo lernt,
trägt den Frieden bei sich, die Seele hat Frieden mit
Gott, das Gewissen ist in Ruhe; die Füße eines solchen
sind beschuht mit Frieden, und er offenbart in der Welt
den Geist und den Charakter Christi. Er ist angethan
mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit. Welches war
der Pfad unsers gepriesenen Herrn in dieser Welt? Bei
Ihm stand nichts in Frage bezüglich Seines Zustandes.
Er ging einher, unberührt von allem, was die Menschen
Wider Ihn bringen mochten; Seine Füße waren beschuht.
Ebenso ist es mit dem, der Christo nachfolgt; er kann
den Geist und den Charakter Christi zur Darstellung
bringen, wohin immer er geht. Es mag der Haß erwachen,
wie es bei Christo der Fall war — Seine vollkommene
Liebe rief den Haß der Menschen hervor —
aber ein unterwürfiger, gottesfürchtiger und aufrichtiger
Mann wird auch als ein friedlicher Btann durch diese
Welt gehen; und mögen auch die Menschen nicht in friedlicher
Weise mit ihm reden, so lebt er doch, so viel an
ihm ist, mit allen Menschen in Frieden. So wird der
Pfad einerseits durch den Geist der Gnade und des
Friedens charakterisirt, und andrerseits sind Gerechtigkeit
und Wahrheit vorhanden.
Es handelt sich also, wie wir gesehen haben, zunächst
darum, daß der Zustand des Herzens ein richtiger ist.
Habe ich dann meine Lenden umgürtet mit Wahrheit, bin
ich angethan mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit, sind
meine Füße beschuht mit Frieden, und ist meine Seele in
320
einem guten, richtigen Zustande, so kann ich den Schild
des Glaubens ergreifen. Stehe ich persönlich aus
dem richtigen Platze, so brauche ich nicht an mich selbst zu
denken. Mit einem Gewissen, das durch nichts beschwert
ist, bin ich frei; wandele ich aber nicht recht, so werde
ich mit mir selbst beschäftigt sein. Das bloße Vorhandensein
einer bösen Natur setzt nicht notwendig ein schlechtes
Gewissen voraus, wohl aber wird ein solches da sein,
wenn dieser Natur nachgegeben wird. Wir sind nicht ermahnt,
die Sünde zu bekennen, sondern die Sünden.
Es ist leicht, Sünde zu bekennen, leicht, zu sagen: „Ich
bin ein armes, sündiges Geschöpf;" aber man sagt das oft,
um die Sünden zu entschuldigen. Wenn ich sündige, so
habe ich darin gefehlt, das Fleisch niederzuhalten. Ich kann
freilich nie sagen, daß ich keine Sünde habe, aber wenn
ich nicht das Sterben Jesu am Leibe umhertrage, wenn
ich mich nicht praktisch für tot halte, so wird das
Fleisch mich sicher täuschen. Wir bedürfen dieser drei ersten
Elemente der Waffenrüstung, und haben dann nicht mehr an
uns zu denken. Praktisch im Lichte stehend, wie Er im
Lichte ist, mit einem Herzen, das in der richtigen Stellung
ist, ergreife ich den Schild des Glaubens, womit wir auszulöschen
vermögen alle die feurigen Pfeile des Bösen.
Dieser Schild setzt voraus, daß ich zu Gott aufblicken
kann mit völligem, gesegnetem Vertrauen. „Wer da sitzt
im Verborgenen des Höchsten, der wird bleiben im Schatten
des Allmächtigen ..... Mit Seinen Fittigen wird Er
dich decken, und Zuflucht wirst du finden unter Seinen
Flügeln, Schild und Tartsche ist Seine Wahrheit.
Du wirst dich nicht fürchten vor dem Schrecken der
Nacht, vor dem Pfeile, der des Tages fliegt." (Ps. 91.)
321
Gott steht über dem Satan. Satan mag seine Pfeile
abschießen, aber sie vermögen den Schild des Glaubens
nicht zu durchbohren. In Christo wurde der Sieg im
Menschen und für den Menschen gewonnen. Satan that
sein Aeußerstes an Christo, indem er Ihn zuerst in der
Wüste versuchte und dann in Gethsemane alle die Schrecken
des Todes vor Ihn stellte; aber er wurde vollständig
überwunden. Alle Macht Satans ist gebrochen und beseitigt.
Christus ist durch den Tod gegangen und hat den
zu nichte gemacht, der die Gewalt des Todes hat. Er
hat nicht nur unsere Sünden hinweggethan, sondern als
Mensch für uns dastehend, hat Er den Teufel völlig
überwunden. Uns wird nicht gesagt, den Teufel zu überwinden,
sondern ihm zn widerstehen, und dann wird er
von uns fliehen. Wenn wir ihm widerstehen, so begegnet
er Christo in uns und flieht. Die menschliche Natur kann
nicht widerstehen, sie wird stets nachgeben. Es handelt
sich unserseits nicht um Kraft, sondern darum, in einfältiger
Treue und im Aufblick zu Christo voranzugehen;
nicht daß wir stark sind, sondern die Kraft wird in
Schwachheit vollbracht. Was war je so schwach als Christus
— Christus, gekreuzigt in Schwachheit? Aber das
Schwache Gottes ist stärker, als die Menschen, und das
Thörichte Gottes ist weiser, als die Menschen. Nichts
könnte in den Augen der Menschen schwächer und thörichter
sein, als das Kreuz, aber wir wissen, daß es nichtsdestoweniger
die Krast und die Weisheit Gottes ist. Sind
wir nur bereit, unsere Schwachheit anzuerkennen, so ist
Kraft für uns da, die uns befähigt, zu überwinden. Satan
ist sehr listig. Wenn er sich mit dem Menschen (fern von
Gott) beschäftigt, so ist eS um diesen geschehen. Wie ist
322
es z. B. möglich, daß sich weise und gelehrte Männer
dieser Welt in solche Thorheiten, wie das religiöse Formenwesen
und dergleichen, fügen können? Satan, geschickter
als sie, steht hinter diesem allen und freut sich, wenn er
sie im Vertrauen auf ihre eigne Weisheit dahingehen sieht.
Die einfältige Seele, deren Herz in der richtigen Stellung
ist, kann nicht irre gehen. Satan hat keinerlei Macht
über sie, so lange sie im Gehorsam wandelt; darin beruht
das ganze Geheimnis. Wenn ich in Unbeständigkeit meinen
Weg gehe, so wird der Schild des Glaubens niedersinken,
und ich werde allen den feurigen Pfeilen Satans preisgegeben
sein. Stets sollte sich jenes glückselige Vertrauen
auf Gott bei uns finden, welches ans Christum rechnet,
als auf Den, der die Welt und den Teufel völlig überwunden
hat, nnd der die Macht des Bösen, das jetzt in
der Welt herrscht, bald beseitigen wird. Wir müssen im
Kampfe geübt werden, wie der Herr gesagt hat: „In der
Welt habt ihr Drangsal : aber seid gutes Mutes, ich habe
die Welt überwunden."
Bis hieher handelt es sich, wie wir gesehen haben,
nur um Verteidigung; von einer Thätigkeit unserseits
war noch nicht die Rede. Die zur Verteidigung dienende
Waffenrüstung kommt zunächst. Wir sind leider nur zu
träge, dies zu erfassen, und beginnen oft, eine Thätigkeit
zu entfalten, wenn wir ruhig sein sollten. Der Schild
ist eine Verteidigungswaffe. Satan ist thätig. Der Herr
mag uns in Seiner Gnade segnen und beistehen, aber so
mancher hat schon eine Wirksamkeit begonnen, ohne daß
er sich selbst kannte.
Der Helm des Heils ist ebenfalls noch ein Verteidigungsmittel;
wir haben die bewußte, die glückselige und
323
völlige Gewißheit, daß wir in Christo in die himmlischen
Oerter versetzt sind — die Seele wandelt in der vollen
Zuversicht, daß sie Christum dort besitzt, der sie aus der
Gewalt Satans befreit hat. Christus hat meinen Kampf
geführt und gesiegt. Ich kann mein Haupt erheben, weil
mir Heil widerfahren ist. Die köstliche Gewißheit, daß
ich in Christo bin, und daß Christus für mich ist, ist
mein Helm. Nunmehr kann ich thätig sein. Indem ich
das Fleisch verurteilt habe, gottselig wandle, friedlich
meinen Weg durch die Welt gehe mit Vertrauen auf Gott
und in der Gewißheit des Heils, kann ich das Schwert
des Geistes ergreifen — ich kann kämpfen, geschützt nach
meinem inneren Menschen und geborgen vor allen Angriffen
von Außen. Ich nehme das Schwert des Geistes, welches
Gottes Wort ist. Wir achten nicht immer darauf, daß
es so ist, daß nichts zwischen Gott und unsern Seelen
steht, so daß Er praktisch m i t uns im Kampfe sein kann.
Wandeln wir in dem Bewußtsein, daß Gott mit uns ist?
Wenn ein Achan im Lager ist, wie bei Israel, so wird
Gott nicht mit uns ziehen. Es ist von der höchsten
Wichtigkeit, hierüber klar zu sein. Paulus zerschlug seinen
Leib und führte ihn in Knechtschaft. Wenn wir in dem
Dienste des Herrn thätig sein wollen, so müssen wir aus
der Gegenwart des Herrn kommen, und zwar demgemäß,
was diese Gegenwart verleiht. „Darum übe ich mich auch,"
sagt Paulus, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben
vor Gott und den Menschen." Nur dann, wenn wir ein
stetes Selbstgericht üben und uns nahe bei Gott halten,
vermögen wir auszugehen, um andern zu dienen; wenn
auch nicht immer im öffentlichen Dienste, so doch auf dem
Pfade des täglichen Lebens.
324
Alsdann wird „das Geheimnis Jehova's" unser Teil
sein, wir werden das Bewußtsein haben, daß Gott mit
uns ist, unser Urteil wird ein klares sein, und wir werden
nicht durch allerlei Gedanken abgezogen und verwirrt werden.
Wir besitzen „das Geheimnis Jehova's;" es mag
sein, daß wir in aller Stille einhergehen, aber wir wandeln
mit Gott. Dann kommt, gleichviel wie thätig wir sein
mögen, die innere Zubereitung: „Zu aller Zeit betend mit
allem Gebet und Flehen in dem Geiste, und eben hierzu
wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heilige."
Wir haben schon von den inneren Neigungen und
dem Schwerte des Geistes gesprochen, jetzt aber begegnen
wir einer völligen Abhängigkeit. Diese beiden Dinge —
das Wort Gottes und das Gebet — finden wir
stets beisammen in der ganzen Schrift. So sagte der
Herr von Maria, die sich zu Seinen Füßen niedergelassen
hatte, um Sein Wort zu hören: „Maria hat das gute
Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird,"
und in den nächsten Versen lehrt Gr Seine Jünger
beten. Für die Wahl der Diakonen in Jerusalem wird
als Grund angegeben, daß die Apostel sich beständig dem
Gebet und dem Dienst am Worte hingeben könnten.
Wenn es einen Dienst zu verrichten giebt angesichts der
Listen des Teufels, so muß der halbe Kampf zuvor im
Gebet in der Gegenwart Gottes ausgekämpft werden.
Als der Fürst dieser Welt in dem Garten Gethsemane zu
dem Herrn kam, fand er Ihn ringend im Gebet. Petrus
schlief, während der Herr betete; die Folge davon war,
daß Petrus Ihn verleugnete, während unser gepriesener
Herr das „gute Bekenntnis" ablegte.
Nichts kann und darf an die Stelle dieses Ernstes
325
im Gebet treten; wenn wir Gott mit uns haben wolle»,
so müssen wir beten. Eine vollkommene Ruhe kennzeichnet
uns alsdann. Wenn wir Gott mit uns haben, so müssen
wir auch mit Gott sein, der unumschränkt ist in Liebe
und Güte und der uns an Seinen eigenen Interessen
teilnehmen läßt. Verlangt unser Herz nicht nach der Bekehrung
armer Sünder? Beten wir nicht darum, daß die
Herzen mehr von Christo kennen, daß die Gläubigen treuer
wandeln möchten? Gott wünscht dieses, und Er Hai uns
in dieser Welt auf einen Pfad gestellt, der mit Seinen
Interessen verbunden ist. Anhalten und Flehen für alle
Heilige sollte bei uns gefunden werden. Wenn ich eine
Seele in Gefahr sehe, abzugleiten, so komme ich ihretwegen
mit allem Anhalten und Flehen vor Gott; mein Herz ist
bei der Sache.
Dasselbe Wort, durch welches das ernstliche Beten
des Herrn in Gethsemane bezeichnet wird, findet sich auch
auf Epaphras angewandt: er rang in den Gebeten für
die Kolosser. Es ist ein Kampf des Herzens. Wer so
kämpft, fleht um den Segen Gottes von ganzem Herzen,
er fleht ernstlich darum und beschäftigt sich eingehend
damit, weil es zu den Interessen Gottes in der Welt
gehört. Diese Thätigkeit muß dem Feinde gegenüber,
der alle seine List und Kraft gegen uns aufbieten wird,
stets ausgeübt werden. Wie gesegnet ist es, zu wissen,
daß ich Kraft und Weisheit von Gott empfange, Gnade
und Weisheit zum praktischen Wandel. Wenn ich ein
Schwert führe, so muß ich auch wissen, wie es zu handhaben
ist. Welch eine gesegnete Stellung würde es sein,
wenn wir alle praktisch mit Gott vorangingen!
Für unsere eignen Seelen ist das Gebet überaus
326
nützlich, da es der Ausdruck gänzlicher Abhängigkeit und
zugleich des Vertrauens auf Gott ist. Ein Mann wie
Paulus, der in Schwachheit und in Zittern einhergeht,
von außen Kampf, von innen Furcht, erringt Sieg auf
Sieg. Er schreibt den Korinthern: „Ich war bei euch
in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern."
Es ist immer gut, sich seiner Schwachheit bewußt zu sein,
vorausgesetzt, daß Glaube an Gott vorhanden ist. Beständige
Abhängigkeit ist der beständige Ausdruck des
Glaubens an Gott, die Seele tritt vor Gott mit den
Angelegenheiten Gottes und giebt auf diese Weise zu erkennen,
wie sehr sie dieselben zu den ihrigen macht. Unser
teurer Herr ist in den Staub des Todes hinabgestiegen.
Satan übte seine Macht bis aufs Aeußerste aus, aber sie
wurde im Tode Christi völlig gebrochen. Christus stand
wieder auf, setzte sich zur Rechten Gottes und gebraucht
jetzt Sein Volk, das Er vollständig aus der Gewalt Satans
befreit hat, im Kampfe gegen Satan als die Werkzeuge
Seines Dienstes in der Welt. Ein wunderbar gesegneter
Platz, wenn wir nur verständen, ihn zn behaupten! Ja,
es ist gesegnet, zum Streiter des Herrn gegen Satan gemacht
zu sein. Doch je mehr wir uns im Vordertreffen
der Schlacht befinden, desto mehr werden wir den feurigen
Pfeilen ausgesetzt sein. Je mehr wir Zeugnis ablegen von
Gottes Gedanken, von Gottes Absichten und von der
Stellung, welche die Gläubigen in Gottes Gedanken einnehmen,
desto mehr werden wir das Ziel der Angriffe
Satans bilden. Wir werden notwendigerweise mehr Schlingen
und Gefahren ausgesetzt sein, als diejenigen, welche
zurückbleiben; und es giebt keine Stellung, in welcher Abhängigkeit
nötiger wäre und mehr gefühlt würde, als in dieser.
327
Für diejenigen, welche im Vordertreffen stehen, ist
mehr Kraft vorgesehen, um von den Rechten Christi gegen
Satan zu zeugen, und Satan wird dies nie ohne Widerstand
geschehen lassen. Wenn ich die ganze Waffenrüstung
angelegt habe, und ich ziehe aus, um das Schwert zu
schwingen, so habe ich nicht an die Waffenrüstung zu
denken, sondern an Gott und an Seine Absichten, „eben
hierzu wachend in allem Anhalten und Flehen für alle
Heilige." Ach! wie wenig kennen wir hiervon! Wenn
wir z. B. den heutigen Tag an unsern Augen oorüber-
gehen lassen, haben wir da alles, was uns begegnete, zu
einem Gegenstände des Gebets gemacht? Wenn ich die
Sache Christi wirklich aufrecht zu erhalten bemüht bin, so
wird mir alles Veranlassung zum Gebet geben. Dies ist
ein untrüglicher Prüfstein für den Zustand unserer Seelen.
Finden wir viel Bedürfnis in uns, für andere zu Gott
zu kommen? Giebt sich in unsern Fürbitten für alle
Heilige wahrer Ernst kund? Ist unser Herz so mit den
Interessen Christi erfüllt, daß wir ein dauerndes, beständiges
Interesse für andere haben? Ist mein Herz in
einem schlechten Zustande, so muß ich, wenn ich in die
Gegenwart Gottes komme, an mich selbst denken; ich habe
keine Freimütigkeit, für andere zu bitten. „Und für mich,"
sagt der Apostel, „auf daß mir gegeben werde die Rede
im Aufthun meines Mundes... so wie ich reden soll."
Wie steht es mit uns, geliebte Brüder? Es ist ein großer
Segen, so für andere thätig zu sein, aber wir sind unfähig
dazu, wenn unsere Seelen nicht richtig stehen, wenn
wir nicht in der Gegenwart Gottes sind. Nur insoweit
als wir jene Waffenrüstung anhaben, sind wir nützlich;
alles hängt davon ab, daß wir vor Gott einen Platz
328
einnehmen, auf welchem alles geordnet ist. Erst dann, wenn
das Blut an den Thürpfosten ist, wenn das Rote Meer
hinter uns liegt, der Jordan durchschritten und die Schmach
Egyptens von uns abgewälzt ist, kommt der Kampf im
Lande. Alles ist auf die Erlösung gegründet.
Wir dürfen versichert sein, daß wir den Schlingen
Satans auf die eine oder andere Weise begegnen werden.
Unser eigner Zustand und unser Gewissen werden leicht
offenbar, wenn unsre Herzen einfältig in der Wahrheit
stehen. Nicht daß wir Satans Listen und Schlingen zu
ftudiren hätten, aber wenn unsere Herzen einfältig sind,
so werden wir ihm mehr als gewachsen sein. Satan ist
weit geschickter, als wir, und da wo die Erlösung nicht
völlig gekannt ist, wird er sicher seine Betrügereien spielen.
Sobald aber an die Erlösung wirklich geglaubt wird, zerfallen
alle die Systeme des Aberglaubens, die so mächtig
in der Welt sind, in Nichts. Nie wird man, obwohl
noch manches von dem Alten zurückgeblieben sein mag,
jemanden unter der Macht des Aberglaubens finden, der
das Bewußtsein in sich trägt, daß Christus für ihn gestorben
ist und für ihn gelitten hat. Weise und gelehrte
Männer mögen dem religiösen Formen- und Ceremonien-
wesen huldigen, hinter welchem allen der Feind seine Hand
hat, aber von dem Augenblick an, da die Erlösung wirklich
erkannt wird, schwindet die Macht Satans. DaS
System jenes Formenwesens beruht auf dem Grundsatz,
daß Christus zu dem Menschen im Fleische sagen kann,
er sei nicht verloren und nicht tot in seinen Sünden; damit
aber ist eine vollständige und vollbrachte Erlösung geleugnet.
Von dem Augenblick an, wo meine Seele in
Christo feststeht, wird mir diese Schlinge des Feindes
329
nichts mehr zu schaden vermögen. Es mag jemand die
Wahrheit von der Fleischwerdung Christi kennen nnd schöner
von der Person des Herrn reden können, als selbst Christen,
aber bei alledem in Unwissenheit sein über die Erlösung.
Ich habe das Zeugnis Christi in mir; ich kenne Christum.
Dian mag versuchen, mich zu überzeugen, daß Christus
so und so sei, aber ich kenne Ihn, ich besitze Ihn; Er
wohnt in meinem Herzen, so daß ich durch nichts abgezogen
werde. Der Herr erhalte uns in einem beständigen
Bewußtsein der Abhängigkeit von Ihm, in einem Bewußtsein
dessen, was Er ist, ja abhängig von Ihm in jedem
Augenblick, damit wir uns nie aus der Gegenwart Gottes
entfernen! Denn sobald wir uns außerhalb dieser Gegenwart
befinden, ist Gefahr vorhanden.
„Eins weiß ich."(Joh. 9, 25/)
In einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo es so viel
Bekenntnis, aber so wenig wahres Leben ans Gott giebt,
thun wir wohl, uns ernstlich zu prüfen, ob wir es als
eine göttliche Wirklichkeit kennen, ob wirwissen, daß wir
„aus dem Tode in das Leben hinübergegangen find."
(Joh. 5, 24.) In den sogenannten christlichen Ländern,
in welchen wir leben, bekennen die meisten, Sünder
zu sein, ja die meisten behaupten selbst, an Christum
zu glauben. Aber ach! wie wenig weiß das Herz
oft von dem Bekenntnis des Mundes! Im 9. Kapitel
des Evangeliums Johannes lesen wir von einem Manne,
der blind war von Geburt au — ein treues, treffendes
Bild von jedem Menschen von Natur. Er ist blind von
330
seiner Geburt an, und er bedarf ebensosehr der Oeffnung
seiner Augen in bezug aus göttliche Dinge, wie der arme
Blindgeborne in dem genannten Kapitel es hinsichtlich der
irdischen bedurfte.
Sind deine Augen geöffnet worden, mein lieber
Leser? Sage nicht: Ich weiß es nicht. Jener Mann
wußte sehr wohl, was mit ihm geschehen war. Der Herr
Jesus kam in diese Welt herab, um „den Gefangenen Befreiung
zu verkündigen und den Blinden das Gesicht, in
Freiheit hinzusenden die Zerschlagenen, zu verkündigen das
Jahr der Annehmung des Herrn." (Luk 4, 18.) „Und
als Er vorüberging, sah Er einen Menschen, blind von
Geburt." (V. 1.) Konnte Er in Seiner Gnade und Güte
gefühllos an dem Armen vorübergehen? Konnte Der, dessen
Herz so manches Mal innerlich bewegt wurde von göttlichem
Mitgefühl und Erbarmen, Sein Auge verschließen
vor dem Elende des unglücklichen Blindgebornen? Unmöglich.
Indes war es nicht nur die äußere Not des
blinden Bettlers, die Seine Hülfe erforderte. Der Herr
las auch in dem Herzen des armen Mannes und sah
dort höhere Bedürfnisse. Er war eines jener in der Irre
gehenden Schafe, welches die Stimme des guten Hirten
hören sollte, das alles dessen bedurfte, was Jesus war
und was Er thun konnte. Und um diese Bedürfnisse zu
befriedigen, war Jesus gekommen. Er kam, zu suchen
und zu erretten, was verloren war.
„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und
in Ewigkeit." (Hebr. 13, 8.) Er hat sich nicht verändert
und wird sich nimmermehr verändern. Ein jeder bußfertige
Sünder kann heute mit derselben Gewißheit auf
Seine Gnade und Liebe und auf Seine Bereitwilligkeit,
331
allen Bedürfnissen zu begegnen, rechnen, wie damals, als
Er hienieden wandelte und die Not aller derer stillte,
welche zu Ihm kamen. Jesus allein konnte dem Blinden
das Gesicht geben, und Er allein kann dem Sünder in
seinem verlornen, verderbten Zustande begegnen und ihn
von dem ewigen Verderben erretten.
Jesus salbt die Augen des Blinden und sendet ihn
zum Teiche Siloam, um sich zu waschen. Dieser thut,
wie ihm geheißen worden, in einfältigem Vertrauen auf
das Wort Dessen, der ihn gesandt hat, und empfängt
unmittelbare Hülfe. Er kommt sehend zurück. Um Hülfe
von Jesu zu empfangen, muß der Sünder mit Jesu in
Berührung kommen; aber sobald dies geschieht, ist ein
unmittelbarer Segen unausbleiblich. Das Weib in
Mark. 5, „das viel erlitten hatte von vielen Aerzten und
alle ihre Habe verwendet und keinen Nutzen davon gehabt
hatte" — vielmehr war es immer schlimmer mit ihr
geworden — hört nicht nur von Jesu, sondern sie
kommt zu Jesu und rührt Ihn an, und siehe da, alsbald
vertrocknet der Quell ihres Blutes, und sie erkannte,
wie der Mann in Joh. 9, daß sie von ihrer
Plage geheilt war. Möchtest du deshalb, mein lieber Leser,
wenn cs noch nicht geschehen ist, zu Jesu kommen und
erkennen, was es heißt, mit Dem zusammen zu treffen,
der darnach verlangt, dich zu segnen! „Glaube an den
Herrn Jesum, und du wirst errettet werden." (Apstg. 16,31.)
Die Veränderung in dem Blindgeborenen war so
offenbar, daß jedermann sie erkennen konnte. Ist es auch
so mit uns, die wir den Herrn kennen und aus der
Finsternis und Blindheit, in der wir gefangen lagen, in
Sein wunderbares Licht versetzt worden sind? Wir können
332
uns darin erfreuen, daß Er „unsre Sünde au Seinem
Leibe auf das Holz getragen," (1. Petr. 2, 24.) daß
Gott alle unsre Uebertretungen und Ungerechtigkeiten auf
Ihn gelegt hat, (Jes. 53, 6.) daß alle unsre Sünden
vergeben sind und nie mehr in das Gedächtnis vor Gott
kommen sollen, (Kol. 2, 13; Hebr. 10, 17.) daß wir
zu Gott geführt (1. Petr. 3, 18.) und begnadigt sind
„in dem Geliebten." (Eph. 1, 6.) Aber ist unser
Leben auch so dem Herrn gewidmet, daß alle unsre Freunde
und Bekannten, ja daß jedermann erkennen kaun, daß wir
mit Jesu zusammengetroffen sind? Erkennen alle, daß wir
mit Jesu sind? (Apstgsch. 4,13.) Prüfen wir uns ernstlich
darüber in der Gegenwart Gottes.
Jener Mann hatte nicht nur Segen von dem Herrn
empfangen, sondern Er gab auch Zeugnis von demselben
und von Jesu. Allerdings hatte er gar keine Klarheit
über die Person des Herrn, aber nach der geringen Erkenntnis,
die er besaß, bekannte er Christum. Die Veränderung
war, wie gesagt, so auffällig und wunderbar,
daß sie von allen erkannt wurde, die ihn früher gesehen
hatten, ehe seine Augen geöffnet wurden. Die Nachbarn
begannen, darüber zu reden und zu streiten; das Geschehene
war so unbegreiflich und unglaublich, daß einige
daran zweifelten, ob er wirklich derselbe sei, der als Bettler
am Wege gesessen hatte. Doch er versichert sie, daß er
der sei, welcher früher blind war und jetzt sieht. Man
bringt ihn zu den Pharisäern, und hier legt er wiederholt
dasselbe Zeugnis ab. Doch die Pharisäer können und
wollen seinen Worten nicht glauben, aus Haß und Feindschaft
gegen die gesegnete Person Dessen, der das Wunder
gethan hat. Ja sie nennen den heiligen, fleckenlosen
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Sohn Gottes einen „Sünder," so wie sie im vorhergehenden
Kapitel von Ihm gesagt hatten, er sei ein Samariter und
habe einen Teufel. (V. 48.) So ist der Mensch, und zwar
der Mensch unter den größten Segnungen und Vorrechten.
Ist es nicht ein hohes Vorrecht, in einem christlichen
Lande zu wohnen? Und doch, wie wenige wissen,
trotz der Vorrechte, deren man sich so gerne rühmt, was es
heißt, für ewig errettet Zu sein durch das kostbare Blut
Jesu Christi, das da reinigt von aller Sünde! (1. Joh 1, 7.)
Und wie wenige selbst von dieser kleinen Zahl bekennen
Christum treu und einfältig in ihrem Wort und Wandel!
Bist du errettet, mein Leser? Oder laß mich anders
fragen: Verurteilst du, wieso mancher, diejenigen,
welche sagen, daß sie errettet seien? Und wenn du
es thust, welchen Grund hast du dazu? Der Errettete
hat nichts zu seiner Rettung beigetragen. Für ihn
ist jeder Ruhm ausgeschlossen. (Röm. 3, 27.- Er ist
errettet aus Gnade, und nicht aus Werken. (Eph. 2,8.)
Warum willst du ihn deshalb verurteilen? Hüte dich, es
zu thun; denn er ist Christo und dem Herzen des Vaters
überaus kostbar. Laß dich vielmehr warnen, „dem kommenden
Zorn zu entfliehen." (Matth. 3, 7.) Indem du
diejenigen verurteilst, welche durch die Gnade sagen können:
„Wir sind errettet," verurteilst du Christum, und Gottes
Wort sagt, daß jedes Knie sich vor Ihm beugen und
jede Zunge bekennen soll, „daß Jesus Christus Herr ist,
zur Verherrlichung Gottes, des Vaters." (Phil. 2, 10.11.)
Doch der Blindgeborene sollte nicht nur das Werk
Christi, sondern auch Seine gesegnete Person kennen
lernen. Viele Gläubige kennen das Werk Christi, welches
ihre Sünden hinweggethan und sie für die Gegenwart
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eines heiligen Gottes passend gemacht hat; aber ist das
der Platz, wo Gott will, daß wir Halt machen sollen?
Nein, sicherlich nicht! Das ist nur der Anfang. Das
Wort Gottes offenbart uns nicht nur ein gesegnetes, kostbares
Werk, sondern auch eine wirkliche, lebende, anbetungswürdige
Person — Einen, der nicht nnr für den
Sünder gestorben ist und ihn kraft Seines vollbrachten
Werkes zu retten wünscht, sondern der zur Rechten Gottes
lebt für den Gläubigen.
In unserm Kapitel finden wir beides, das Werk
und die Person Christi. Als der Blindgeborene zum ersten
Male gefragt wurde, wie seine Augen aufgethan worden
seien, antwortete er: „Ein Mensch, genannt Jesus,
machte Kot und salbte meine Augen :c." (v. 10. 11.) Ja,
Er war wirklich ein Mensch — „der Mensch Christus
Jesus." Aber der Glaube erkennt weit mehr als das.
Er empfängt immer mehr Licht. Auf die Frage der
Pharisäer: „Du, was sagst du von Ihm, daß Er deine
Augen aufgethan hat?" antwortet der Geheilte: „Er ist
ein Prophet." (V. 17.) Schon hat er eine tiefere Offenbarung
von der Person Jesu, von Ihm selbst, empfangen.
Ein Prophet bedeutet nicht ausschließlich einen Menschen,
der zukünftige Dinge vorhersagt. So hören wir z. B. das
Weib in Joh. 4 sagen: „Herr, ich sehe, daß Du ein
Prophet bist." Was brachte diese Ueberzeugung in ihr
hervor? Die einfache Thatsache, daß sie sich in das Licht
Gottes, in Seine Gegenwart, gestellt sah. So ist es auch
hier in unserm Kapitel. Der Blindgeborene erkannte die
mächtige Wirksamkeit Gottes, und diese Erkenntnis ließ
ihn denen, die Ihn nicht kannten, jene gesegnete Antwort
geben: „Er ist ein Prophet."
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Als man ihn nachher zum zweiten Male rufen läßt,
tritt er wieder mit derselben Freimütigkeit und Einfalt
des Glaubens den ungläubigen Fragern entgegen; es ist
ihm unbegreiflich, daß diejenigen, welche als die Führer
des Volkes betrachtet wurden, nicht einmal wußten, woher
dieser Jesus war. Und doch hatte Er ihm die Augen
aufgethan. Es ist herzerquickend, aus dem Munde dieses
Mannes die einfältige und doch so schlagende Beweisführung
des Glaubens zu vernehmen. „Wir wissen," sagt
er, „daß Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand
gottesfürchtig ist und Seinen Willen thut, den hört Er.
Von Ewigkeit ist es nicht erhört, daß jemand die Augen
eines Blindgeborenen aufgethan hat. Wenn dieser
nicht von Gott wäre, so könnte Er nichts thun."
(V. 31 — 33.) Welch eine Belehrung für die Lehrer des
Volkes! Sie greifen zu dem letzten Mittel, welches der
arme, thörichte Mensch der überwältigenden Macht der
Wahrheit gegenüber kennt — sie werden böse und werfen
den unerschrockenen Bekenner Christi zur Synagoge hinaus.
Jesus hört, daß sie ihn hinausgeworfen hatten, und
geht ihm nach. O wie köstlich ist es, zu wissen, daß nicht
nur das Herz und die mächtige Hand Jesu uns gehören,
sondern daß auch Sein Auge und Ohr stets für die Bedürfnisse
der Seinigen geöffnet sind! Welch eine Ermutigung
für den geprüften, vielleicht von allen verlassenen Jünger
des Herrn! Ja, Er kennt die Seinen, und — Er ist
gekannt von den Seinen. Als Jesus den Hinausgestoßenen
fand, fragte Er ihn: „Glaubst du an den Sohn
Gottes?" — „Wer ist es, Herr, auf daß ich an Ihn
glaube?" — „Du hast Ihn gesehen, und der mit dir
redet, der ist's." Und alsbald fällt er vor Ihm nieder
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und huldigt Ihm. Verstoßen von den Menschen, ja von
den religiösen Menschen dieser Welt, findet er Jesum und
lernt Ihn kennen als den Sohn Gottes. Mit Freuden
teilt er den Platz der Verwerfung mit Dem, der so
Großes an Ihm gethan.
Welch eine Veränderung ist mit diesem Btanne vorgegangen!
Im Anfang unsers Kapitels in Lumpen, ein
Bettler, blind, nichts besitzend für Zeit und Ewigkeit —
jetzt zu den Füßen Jesu, ein glücklicher Anbeter, mit sehenden
Augen, ein völliges Wunder für seine ganze Umgebung,
obwohl hinausgestoßen aus dem religiösen System
des Menschen. Aber mochten sie ihn hinausgeworfen
haben — er hatte unendlich weit mehr gefunden, als er
verloren hatte. Und er wußte, was er jetzt besaß.
„Eins weiß ich, daß ich blind war und jetzt
sehe." Mein lieber Leser, weißt du dasselbe für dich?
Wenn es so ist, so danke Gott und suche, für Christum
zu leben. Wenn nicht, so eile noch heute zu Jesu, der
allein imstande ist, dir Gewißheit zu geben!
Botschafter des Heils Geists.1883
„Der Herr ist nahe!" Phil. -1, 5.
Eiunnddreißigster Jahrgang.
R. BrockHans, Elberfeld.
1883.