Botschafter des Heils in Christo 1888

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

„Dieses thut zu meinem Gedächtnis!"

„Die Wahrheit wird euch frei machen."
Geduld................................. 27
Du hast mich lieb. (Gedicht)..............................................................28
„Ich habe euch ein Beispiel gegeben, ans daß, gleichwie ich euch
gethan, auch ihr thut."................................................................. 29
„Eins weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehe." .... 52
Das Ausharren.....................................................................................57
Ein guter Kricgsmann Jesu Christi...................................................72
Das Sterben Jesu und das LebenJesu.............................. 85
Auszug aus einem Briefe über die Grundsätze rc............................. 98
Die Nacht dieser Welt.......................................................................110
Drei schöne Antworten.......................................................................111
Einige Worte über den Unterschied zwischen der Erwartung Israels und derjenigen der Kirche...................................... 113. 141
Ein „Kindlein".................................................................................. 130
Drei Ermahnungen............................................................................ 136
Johannes der Täufer . . 160. 169. 208. 239. 259. 281. 309
Bruchstücke.................................................................... 166. 308. 336
„Wandelt im Geiste!".......................................................................176
Ein Wort über das Bekenntnis unsrer Sünden......................... 190
„Seid nüchtern, wachet!"................................................................. 195
Ruth................................................................................ 197. 225. 253
Einige Gedanken über Hebr. 11, 1—7..............................................214
„Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst,
gleichwie Er rein ist." .............................................................222
Ich warte Dein! (Gedicht).................................. 223
Komme zu mir und trinke! ............................................................245
„Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein" . . . 270
Ein vollkommenes Gewissen........................................................... 275
„Kehre wieder zu deiner Ruhe, meine Seele!" (Gedicht) . . 280
Was ist Gemeinschaft?......................................................... 288. 313
Aus Glauben leben............................................................................ 301
Der Pfad der Demut.......................................................................307
„Und solche sind euer etliche gewesen; aber ihr seid rc." . . 317
Jesus, der Anfänger und Vollender des Glaubens .... 323
Die Macht des Gebets.......................................................................327

Dieses thut zu meinem Gedächtnis." (Luk. 22, 19.)
Als der Herr zum letzten Male mit Seinen Jüngern das Passah aß, „nahm Er Brot, dankte, brach und gab es ihnen und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben ist; dieses thut zu meinem Gedächtnis.
Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahle, und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das für euch vergossen ist." (Luk. 22, 19. 20.)
Der Herr war an dem Ende Seiner Laufbahn hienieden angelangt. Welch ein Weg lag hinter Ihm, und
welch ein schrecklicher Tag vor Ihm! Aus der Herrlichkeit des Vaters herniedergekommen, hatte Er eine Welt durchschritten, in welcher nur Elend und Sünde Ihn umgaben,
und wo Sein Volk, zu dessen Errettung Er gekommen war, Ihn verachtete und schmähte, ja, Ihn endlich verwarf und dem Tode überlieferte. Unermüdlich war Er
in der Mitte Israels umhergezogen und hatte Gutes gethan. Er heilte Kranke, gab Blinden das Gesicht und
Tauben das Gehör; Er machte Lahme wandeln, reinigte Aussätzige und trieb Teufel aus. Wohin Sein Fuß trat,
offenbarten sich die gesegneten Spuren Seiner Gegenwart, die deutlichen Beweise Seiner Güte und Macht; nur
dem Unglauben und der Herzenshärtigkeit gegenüber hielt Er Seine helfende und segnende Hand zurück. (Vergl. 2
Mark. 6, 5. 6.) Aber trotz dieser unzähligen Beweise Seiner Güte, Liebe und Macht nannte man Ihn einen
Unsinnigen, einen Samariter, einen Besessenen, einen Fresser und Säufer, einen Gesellen der Zöllner und Sünder.
Ach, wie verfinstert und verderbt ist das menschliche Herzt Was mußte es für Ihn, den Heiligen und Gerechten,
sein, Tag für Tag inmitten eines solch unheiligen und gottlosen Volkes zu wandeln! Welch ein Schmerz mußte
beim Durchschreiten dieser gottentfremdeten Welt Sein liebevolles, mitfühlendes Herz erfüllen, besonders wenn
Er an das Ende derselben gedachte! Wir hören auch nie, daß ein Lächeln auf Seine Lippen kam, wohl aber, daß
Er tief im Geiste seufzte, daß Er sich erschütterte, daß Er Thränen vergoß über Jerusalem, die geliebte Stadt,
weil sie sich weigerte, Ihn, ihren alleinigen Erretter, zu empfangen, von Seiner Gnade und Liebe zu ihr Gebrauch
zu machen und unter Seinen schirmenden Flügeln vor dem kommenden Gericht Zuflucht zu suchen. Und als
man Ihn zur Richtstätte führte, sprach Er zu den Weibern, die Ihn ans dem Wege dorthin beklagten und bejammerten: „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern
weinet über euch selbst und über eure Kinder; denn siehe, Tage kommen, an welchen man sagen wird: Glückselig
die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden sie
anheben, zu den Bergen zu sagen: Fallet auf uns! und zu den Hügeln: Bedecket uns! Denn wenn man dies
thut an dem grünen Holz, was wird an dem dürren geschehen?" (Luk. 23, 28-31.)
Welch einen Heiland haben wir! So lange Er auf dieser Erde wandelte, litt Er unendlich durch Sein voll-
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kommenes Mitgefühl. „Er war ein Mann der Schmerzen, mit Leiden bekannt." Er erfüllte Tag für Tag die Worte
des Propheten Jesaias: „Er selbst nahm unsre Schwachheiten und trug unsre Krankheiten." Gewiß wird manche
Mutter in ihrem Mitgefühl mit ihrem kranken, leidenden Kinde größeren Schmerz haben, als das Kind selbst; und
so war es in vollkommener Weise mit unserm geliebten Herrn. Er ward innerlich bewegt, als ein armer Aussätziger Ihn um Hülfe anrief; (Mark. 1, 41.) Er ward
innerlich bewegt, als Er in Nain eintrat, und ein Toter, der einzige Sohn einer Witwe, hinausgetragen wurde;
(Luk. 7, 12.) Er ward innerlich bewegt über die zwei Blinden am Wege bei Jericho, (Matth. 20, 34.) und
Er ward innerlich bewegt über die Volksmenge, weil sie abgemattet und zerstreut war, wie Schafe, die keinen
Hirten haben. (Matth. 9, 36.) Auf dem Wege zum Grabe des Lazarus seufzte Er tief in Seinem Geiste und
erschütterte sich; ja, Er vergoß Thränen. (Joh. 11, 33. 34.) Er hatte inniges Mitgefühl und Erbarmen mit dem Menschen, welcher unter der Macht des Todes und unter den
Folgen der Sünde seufzte, unter einem Joche, das er nicht von sich abzuschütteln vermochte. Aber nicht nur
fühlte Er mit, wie kein Mensch mitzufühlen imstande ist, nein, Er hat auch die schwere Last, unter welcher wir
zusammenbrachen, auf sich genommen. Ein jeder, der an Ihn glaubt, ist von dem Tode, sowie von der Ursache
desselben, der Sünde, gänzlich befreit. Christus hat jene herrliche Macht eingeführt, vor welcher der Tod nicht
bestehen kann.
Doch welch eines großen Opfers bedurfte es, um den verderbten, dem Tode verfallenen Menschen aus seinem
schrecklichen Zustande zu befreien! Der Sohn Gottes selbst mußte an seiner Statt in Tod und Gericht gehen. Die
Gerechtigkeit Gottes mußte befriedigt, und der Mensch mußte mit Gott versöhnt werden. Christus starb für
den Sünder. Er, „der Sünde nicht kannte, wurde für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm." Alle unsre Schuld wurde auf
Ihn gelegt, und Er hat sie durch Sein kostbares Blut gänzlich getilgt. Er mußte an unsrer Statt auf dem
Kreuze den Kelch des Zornes trinken; und um den Tod, sowie den, der die Macht des Todes hat, den Teufel, zu
nichte zu machen, mußte Er für alles den Tod schmecken. Beides hat Er vollkommen erfüllt. Am Kreuze triumphierte
Er über die feindlichen Fürstentümer und Gewalten, (Kol.2, 15.) und in Seiner Auferstehung über den Tod, indem Er Leben und Unverweslichkeit ans Licht brachte.
(2. Timoth. 1, 10.) Alle, die in Wahrheit an Seinen Namen glauben, können jetzt triumphierend ausrufen:
„Verschlungen ist der Tod in Sieg! Wo ist, o Tod, dein Stachel, wo ist, o Tod, dein Sieg?" (1. Kor. 15,54. 55.)

Indes litt der Herr Jesus während Seines Lebens hienieden nicht nur durch die Ungerechtigkeit der Menschen, 
sowie durch Sein vollkommenes Mitgefühl mit dem Elend und den Leiden um Ihn her, sondern Er litt auch durch
Vorempfindung des Seiner wartenden Kreuzestodes. Er kannte im voraus das Kreuz mit allen seinen Schrecken
und Leiden; und im Vorgefühl derselben war Seine Seele bestürzt, und Er rief aus: „Vater, rette mich aus
dieser Stunde!" Ach! und wie groß war die Angst Seiner heiligen Seele, als Satan Ihm im Garten Gethsemane
alle die Schrecken des vor Ihm liegenden Todes vorstellte! Wir lesen von Ihm in Hebr. 5, 7: „Der in den
Tagen Seines Fleisches, da Er sowohl Bitten als Flehen zu Dem, der Ihn aus dem Tode zu erretten vermochte,
mit starkem Geschrei und Thränen geopfert hat rc." Er sagte in jener schweren Stunde zu Seinen Jüngern:
„Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tode." Er war in ringendem Kampfe, so daß Sein Schweiß wie große
Tropfen Bluts zur Erde fiel. In den schwierigsten Prüfungen und Versuchungen Seines Pfades, umgeben
von der Bosheit und Feindschaft der Menschen, hatte Er nie um Befreiung oder Erleichterung gefleht; aber jetzt
fiel Er auf Sein Angesicht und betete dreimal: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber!"

Vielleicht möchte der eine oder andre Leser versucht sein zu fragen: Wirft dieses Flehen des Herrn nicht
einen gewissen Schatten auf Seine bereitwillige Hingabe für uns, und auf Seine Vollkommenheit? Keineswegs! es
ist im Gegenteil gerade ein Beweis von dieser Vollkommenheit. Der Herr Jesus war ein wirklicher Mensch, fühlte
Beschwerden und Leiden wie ein Mensch, ward hungrig, durstig und müde wie ein Mensch; aber selbst in den
größten Versuchungen flehte Er, wie schon bemerkt, nie um Befreiung. Wenn Er es deshalb hier thut, so mußte
der Kelch, der vor Ihm stand, etwas ganz Besonderes sein; er mußte etwas ganz Anderes enthalten, als die 
Leiden um der Gerechtigkeit willen von feiten der Menschen, oder die Aufopferung Seines Lebens bis in den
Tod zur Verherrlichung Gottes. Und so war eS in der That. Es war der Kelch des Zornes Gottes. 

Christus War auf dem Kreuze ein Fluch für diejenigen, welche unter dem Fluche lagen; Er, der Sünde nicht kannte,
war dort für uns zur Sünde gemacht, und bildete als solcher einen Gegenstand des Zornes Gottes. Gericht
und Tod, der Sold der Sünde, waren Sein Teil. Es war nicht ein fremder Gott, der die Fluten Seines Zornes
über Ihn ergoß, sondern Sein Gott, den Er stets und in allem verherrlicht hatte, dessen Liebe Seine höchste
Wonne war, eine Liebe, deren Strahlen allezeit Seinen Pfad hienieden erhellt hatten. Dieser Gott verließ Ihn, als
Er auf dem Kreuze für uns zur Sünde gemacht war. Die süßen und erquickenden Strahlen jener Liebe hatten
sich in Fluten des Zornes verwandelt, welche über Ihn hereinbrachen. Von keiner Seite her drang ein erquickender
Strahl in das Dunkel Seiner geängstigten Seele. Wie wäre es nun möglich gewesen, daß Er, ohne
den bestimmten Willen des Vaters, hätte geneigt sein können, von Seinem Gott verlassen zu werden, ein Gegenstand Seines gerechten Zornes zu sein? Der Reine
und Heilige konnte unmöglich wünschen, zur Sünde gemacht zu werden, so wahr es andrerseits ist, daß Er in
Seiner göttlichen Liebe vollkommen bereit war, für den Sünder in den Tod zu gehen. Nein, es ist gerade ein
herrliches Zeugnis für Seine Vollkommenheit als Mensch, wenn Er betet: „Mein Vater, wenn eS möglich ist, so
gehe dieser Kelch vor mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst." Er nahm den Kelch nach dem
ausdrücklichen Willen Seines Vaters, dem Er in allem vollkommen gehorsam und unterworfen war. „Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne daß
ich ihn trinke, so geschehe Dein Wille." (Matth. 26, 42.)

Am Ende Seiner Laufbahn hienieden konnte der Herr zu Seinem Vater sagen: „Ich habe Deinen Namen
verherrlicht auf der Erde." Er hatte nie einen andern Beweggrund gehabt, nie etwas Anderes gesucht und begehrt, als den Willen des Vaters zu erfüllen. Während
Seines versuchungsreichen Lebens hienieden war jeder Gedanke in Seinem Innern, jedes Wort, das über Seine
Lippen kam, alles, was Er lehrte und that, zur Verherrlichung des Vaters. Er war das wahre Speisopfer,
das sich in allen Proben als vollkommen rein und heilig erwies, und von dem allezeit ein duftender Wohlgeruch
zu Gott emporstieg; und Er war deshalb stets die Wonne und das Wohlgefallen Gottes, des Vaters. Sein reines
und heiliges Leben bewies, daß Er ein Lamm ohne Fehl und Flecken war, ganz und gar passend, um auf dem
Kreuze sowohl das wahre Brandopfer, als auch das wahre Sündopfer zu sein, sowohl der Verherrlichung Gottes als
auch den Bedürfnissen des Sünders völlig zu genügen.

Wir sind nur zu sehr geneigt, vornehmlich diejenige Seite des Todes Christi zu betrachten, welche den Bedürfnissen deS Sünders entspricht. Allein so wichtig und
anbetungswürdig diese Seite des Versöhnungswerkes auch sein mag, so nimmt doch die Verherrlichung Gottes in
demselben den ersten Platz ein. Dies sehen wir auch in den Vorbildern des Opfers Christi im 3. Buche Mose.
Das Brandopfer, welches ausschließlich für Jehova war, und deshalb gänzlich auf dem ehernen Altar geräuchert wurde,
wird zuerst von allen Opfern erwähnt. Es zeigt uns vorbildlich das innige Verlangen des Herzens Christi,
für die Erfüllung des Willens und zur Entfaltung der Herrlichkeit Gottes Sein Leben hinzugeben, sich selbst ohne Fehl und Flecken zum Opfer darzubringen. Christus hatte
während Seines ganzen, an Prüfungen so reichen Lebens den Vater verherrlicht; allein in Seinem Tode auf dem
Kreuze bereitete Er demselben einen unvergleichlichen Wohlgeruch. Dort sehen wir den vollkommensten Ausdruck Seiner
Liebe zum Vater und Seiner Hingebung an Gott. Dort gab Er dem Vater einen ewigen Beweggrund, Ihn zn
lieben. Er konnte sagen: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse." Er gab Sein Leben freiwillig
und zugleich im Gehorsam gegen den Vater dahin, wie Er sagt: „Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse
eS von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen, und habe Gewalt es wieder zu nehmen. Dieses Gebot habe
ich von meinem Vater empfangen." (Joh. 10, 18.)

Wir haben Gott auf alle Weise verunehrt, während Christus Ihn überströmend verherrlicht und Seinen Willen
vollkommen erfüllt hat; „durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für allemal geschehene Opfer
des Leibes Jesu Christi." (Hebr. 10, 10.) Doch wir sind nicht nur geheiligt, sondern auch angenehm gemacht
in dem Geliebten, nach der ganzen Wonne, welche Gott in dem Opfer Christi findet, „der uns geliebt und
sich selbst für uns hiugegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch."
(Eph. 5, 2.) Welch ein Vorrecht, daß wir jetzt als ein für allemal gereinigte Anbeter stets einem Gott nahen
können, der durch Christum vollkommen verherrlicht worden ist! Da ist kein Vorhang mehr, der Ihn vor uns
verbärge, und für die Liebe Gottes giebt es kein Hindernis mehr, um selbst gegen den größten Sünder in vollkommener Gnade zn handeln. 

Ein jeder, der im Glauben an Christum Gott naht, ist angenehm und willkommen, weil Gott in allem durch das Opfer Christi verherrlicht
worden ist. Was aber unser geliebter Herr unter dem gerechten Gericht Gottes gelitten hat, als Er auf dem Kreuze zur
Sünde gemacht war, als alle unsre Sünden auf Ihm lagen, das übersteigt weit alle unsre Gedanken. Gott allein
vermag die Höhe und Tiefe Seiner Angst und Leiden zu ermessen. Aber obgleich dieses Kreuz mit all seinen Schrecken
vor dem Herrn stand, während Er durch diese Welt ging, so war es doch nicht imstande, das Verlangen Seines
Herzens, den Willen des Vaters zu thun, zu erschüttern, noch auch die Liebe zu den Seinigen irgendwie zu schwächen.

Wie wurde Sein Herz erregt, als Petrus Ihn einmal zu strafen wagte, weil Er öffentlich von Seinem Kreuzestode
geredet hatte! Er wandte sich um, blickte Seine Jünger an, als wollte Er sagen: „Was sollte dann aus euch
Armen werden?" und sprach zu Petrus: „Gehe hinter mich, Satanas!" Denn Satan war es, der in dem Herzen der Jünger ein Aergernis zu erwecken suchte, und dazu
den Petrus als seinen Mund gebrauchte. (Mark. 8, 31 — 33.) Wie war Er ferner während des letzten Passahmahls mit
Seinen Jüngern beschäftigt! Er setzte das Abendmahl ein und verkündigte ihnen darin den Wert und die
Kraft Seines Opfertodes für sie. (Luk. 22, 14-20.) Er offenbarte ihnen, was Er nach Seiner Auferstehung
und Seiner Verherrlichung bei dem Vater für sie sein würde, daß Er sie nie vergessen, ja, daß Er selbst den
niedrigsten, aber für sie so notwendigen Dienst, das Waschen ihrer Füße, stets erfüllen würde. Er tröstete sie
mit Seiner baldigen Rückkehr und ihrer Einführung in die vielen Wohnungen des Vaterhauses, wohin Er ging,
um für sie eine Stätte dort zu bereiten. Er verhieß ihnen die baldige Sendung eines andern Sachwalters, des Heiligen Geistes, der sie in alle Wahrheit leiten und für
immer bei und in ihnen sein sollte. Er versicherte sie Seiner und des Vaters vollkommener Liebe und machte
sie zu Zeugen Seines Gebets und Flehens für sie zum Vater. (Joh. 13 — 17.)

Welch eine Liebe, die angesichts der größten Leiden sich selbst ganz vergessen und nur an Andere denken konnte,
und sogar an solche, die dieser Liebe völlig unwürdig waren! Vor dem Kreuze und selbst noch auf dem Kreuze
war das Herz unsers anbetungswürdigen Heilandes mit dem Heil und Wohl Andrer beschäftigt. Er betete für
Seine Feinde, redete tröstende Worte zu dem armen, schmerzdurchbohrten Herzen Seiner Mutter, und rief dem
bußfertigen Räuber zu: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Wahrlich, eine
solch unvergleichliche, selbstvergessende Liebe übersteigt alle unsre Erkenntnis; aber je mehr wir sie betrachten und
uns in sie versenken, desto mehr fühlen wir uns gedrungen, Ihn anzubeten, und aus der Tiefe unsrer Herzen auszurufen: O welch ein Heiland, Herr, bist Du!
Gott selbst wird nie den vollkommenen Gehorsam und die gänzliche Hingebung Dessen vergessen, der sich
ohne Flecken durch den ewigen Geist Ihm geopfert hat.

Mit stetem Wohlgefallen kann Er in dem vollbrachten Werke Christi ruhen, und trotz der Sünde und der boshaften Anstrengungen des Feindes die ganze Fülle Seiner
Herrlichkeit ungehindert entfalten. Die Auferweckung Christi und Sein Sitzen zur Rechten GoiteS sind der herrliche Beweis dafür, daß durch Sein Opfer auf dem Kreuze
der Wille Gottes ganz erfüllt, daß zur Verwirklichung der wunderbaren Ratschlüsse Gottes der unerschütterliche
Grund gelegt, und daß Gott selbst und alles, was in Ihm ist, vollkommen verherrlicht worden ist. Und alle, die an
Christum glauben, können mit dem Apostel bekennen: „Er ist unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben, und unsrer
Rechtfertigung wegen auferweckt worden." (Röm. 4, 25.) Auf Grund Seines vollkommenen Opfers bringen wir,
als ein für allemal gereinigte Anbeter, einem durch Ihn verherrlichten Gott unsre Anbetung dar. Alles, was in
Gott ist, ist jetzt für uns, so daß wir mit glücklichem Herzen ausrufen können: „Gott ist es, der uns rechtfertigt;
wer ist, der verdamme?" (Röm. 8, 33.)

An jenem Abend, als die Jünger zum letzten Male mit ihrem geliebten Herrn hienieden versammelt waren und
Er das Abendmahl einsetzte, verstanden sie noch nichts von dem unermeßlichen Werte des Opfers Christi. Ihre Gedanken waren mehr auf eine äußere Befreiung Israels
gerichtet; und so sahen sie in dem Tode Christi das Ende aller ihrer Hoffnungen. (Vergl. Luk. 24.) Sicher würden sie mit ganz andern Gefühlen an jener ersten Feier
des Abendmahls teilgenommen haben, wenn sie die Worte: „Mein Leib, gegeben für euch," und: „Mein Blut, vergossen für euch," wirklich verstanden hätten. Sie hingen
an ihrem Herrn mit großer Liebe und Zuneigung, obwohl ihr Verständnis über die Herrlichkeit Seiner Person
und über Seine Liebe zu ihnen noch sehr gering und schwach war.

Aber, geliebter Leser, wie steht eS mit u n S? Uns ist durch das „vollendete" Wort Gottes und durch die Jnwohnung des Heiligen Geistes Gelegenheit geboten, ein weit
tieferes Verständnis von der Tragweite des Werkes Christi, sowie von der Herrlichkeit Seiner Person und von Seiner
Liebe zu haben; es ist uns dadurch möglich gemacht, mit ganz andern, angemessenern Gefühlen der Liebe und Zuneigung uns in Seinem Namen an Seinem Tische zu
versammeln. Und wir haben die köstliche Verheißung, daß der Herr selbst in unsrer Mitte ist, wenn wir in Seinem
Namen versammelt sind. Sehen Ihn unsre leiblichen Augen auch nicht, so ist Er doch da, und Er thut Seine Gegenwart jedem aufrichtigen Herzen kund. Auch sagt Er: „Inmitten der Versammlung will ich Dich loben." (Ps. 22, 22.)
Er stimmt durch den Heiligen Geist das Lob in unsrer Mitte an; und sicher ist es Ihm eine große Freude,
wenn Er die Seinigen um sich versammelt sieht, und wenn sie mit glücklichem und dankbarem Herzen die Opfer des
Lobes und der Anbetung darbringen. Und ich möchte fragen: Kann Er, dem wir unsre große Errettung verdanken und der uns so unaussprechlich liebt, etwas anderes von uns erwartens Sollten unsre Herzen nicht mit
der innigsten Liebe an Ihm hangen, und sollte unser Mund nicht allezeit überströmen von Lob und Danks Wahrlich, so
sollte es sein. Mit verdoppelter Kraft richtet sich an uns die Aufforderung des Psalmisten: „Lobet Jehova! denn
es ist gut; es geziemt sich Lobgesang."

Das Wort bezeugt uns, daß die Verherrlichung Gottes und unsre ewige Erlösung in dem Opfer Christi
ihre vollkommene Erfüllung gefunden haben, und deshalb ist auch der Tisch des Herrn von so überaus hoher Wichtigkeit. Christus hat Sein teures Leben für uns dahingegeben, und Tod und Gericht auf immer für uns be­
seitigt. Zugleich hat Er uns, als Glieder Seines Leibes, auf das Innigste mit sich verbunden. Auch teilt Er alles
mit uns, sowohl das Herz des Vaters, als auch die ganze Fülle der Herrlichkeit, welche Er durch Seinen Gehorsam
bis in den Tod erworben hat. Kann nun Er, der uns also geliebt hat und liebt, etwas anderes erwarten, als
daß es unser tiefstes Bedürfnis und Verlangen sei, Seinen Tod zu verkündigen und Seiner unvergleichlichen Liebe
zu gedenken? Er sagt: „Thut dieses zu meinem Ged ächtnis." Hätte Er wohl etwas Geringeres von
uns begehren können? Kann ein Bräutigam etwas Geringeres von Seiner Braut erwarten, als daß sie seiner
gedenkt? Und muß es uns nicht tief beugen, wenn wir aus jenen Worten vernehmen, welch einen hohen Wert der
Herr auf unser Gedenken an Ihn legt, wie sehr Er wünscht, daß solche Geschöpfe, wie wir sind, uns Seiner erinnern? Und
wenn es Seine Freude ist, die Seinigen als Erlöste und als Glieder Seines Leibes um sich versammelt zu sehen,
muß es Ihn dann nicht tief betrüben, wenn wir mit kaltem, gleichgültigem Herzen an Seinem Tische sitzen, um
Seinen Tod zu verkündigen und Sein Gedächtnismahl zu feiern? Welch einen Undank verrät ein solches Verhalten!
Und sicher, wer in gleichgültiger Weise an dem Abendmahl teilnehmen kann, der wartet nicht sehnsüchtig auf die Ankunft unsers geliebten Herrn, um mit Ihm einzugehen in
Seine Herrlichkeit. Er ruft nicht: „Komm, Herr Jesu!" noch eilt er Ihm mit glücklichem Herzen entgegen. Das
ist ganz und gar unmöglich. Aber ach! wie groß ist die Zahl derer, welche mit ungerichtetem Herzen und unwürdigen Gefühlen an Seinem Tische erscheinen!^Und wie viel
größer noch mag die Zahl derer sein, welche nicht allein aus Mangel an Erkenntnis, sondern auch aus Mangel
an Liebe zu Ihm Seinen Tisch gänzlich vernachlässigen Sollte nicht der Gedanke daran uns alle tief beschämen,
uns alle tief demütigen? Sicher ist in unsern Tagen der Standpunkt der Versammlung Gottes im allgemeinen ein
sehr niedriger, und sicher bleibt unsre Erkenntnis und Wertschätzung der Person und der Liebe Christi stets
hinter der Herrlichkeit Seiner Person und der Vollkommenheit Seiner Liebe weit zurück. Doch Er ist sehr gütig
und langmütig gegen alle, die aufrichtigen Herzens sind.

Wenn wir aber auf eine unwürdige Weise, mit ungerichtetem und gleichgültigem Herzen, an Seinem Tische essen
und trinken, so werden wir sicherlich über kurz oder lang ein ernstes Gericht über uns bringen. (Vergl. 1. Kor. 11,
29—32.) Die ernsten Folgen eines unwürdigen Teilnehmens am Tische des Herrn, wie wir es in der Versammlung zu Korinth sehen, zeigen uns einerseits die
Wertschätzung desselben von feiten des Herrn, und andrerseits die ernste Verantwortlichkeit derer, welche daran teilnehmen. Möchten wir doch alle dies in Wahrheit beherzigen, und nie vergessen, welch einen wichtigen Platz
dieser Tisch in unsrer Mitte einnimmt! Sind wir in dem Namen unsers Herrn versammelt, so schauen unsre Augen
Ihn zwar nicht, aber Er ist dennoch persönlich gegenwärtig. Und also versammelt, können wir zurückblicken
auf das Kreuz und mit glücklichem Herzen singen: „Da, wo Gott mit Wonne ruhet, Bin auch ich in Ruh' gesetzt."
Und nun, ehe ich diese Betrachtung schließe, möchte ich an jeden Leser dieser Zeilen, der durch den Glauben
an Christum errettet ist, die ernste Frage richten: Welch einen Wert hat der Tisch des Herrn für dich? 

Nimmst du mit denen, die sich einfach als Erlöste im Namen Jesu versammeln, daran teil, oder vernachlässigst du ihn,
sei es aus Mangel an Liebe zu Dem, der Sein teures Leben für dich hingegeben hat, oder aus Menschenfurcht
und Menschengefälligkeit? Hat das Andenken an Ihn, der für dich in Tod und Gericht gegangen ist und für die
Reinigung deiner Sünden Sein kostbares Blut vergossen hat, keinen Reiz und Wert für dich? Oder aber, wenn
du deinen Platz als ein Erlöster, als ein Glied am Leibe Christi verstanden hast und am Tische des Herrn teilnimmst, läßt du dich mit ungerichtetem, oder mit kaltem
und gleichgültigem Herzen an demselben nieder? Sollte eines von beiden der Fall sein, so bedenke doch, wie undankbar du bist, und vergiß nicht, daß Gottes Gericht dich
treffen muß, wenn du dich nicht selbst dieserhalb mit wahrem Ernst vor Gott richtest.
O möchte doch der Herr in Seiner Gnade in allen den Seinen ein tiefes Bedürfnis erwecken, sich an Seinem
Tische mit den Erlösten zu versammeln, um Seinen Tod zu verkündigen und Sein Gedächtnis zu feiern, bis Er
kommt l Und möchten sie es stets thun mit einem Herzen voll von Lob und Dank und Anbetung! Ja, möchten wir
allezeit, in der sehnlichen Erwartung Seiner baldigen Ankunft, mit wahrer Anbetung auf Sein Kreuz zurückblicken, wo Er Sein teures Leben für uns hingab und
Sein kostbares Blut für uns vergoß; und möchte dies vor allen Dingen dann der Fall sein, wenn wir an
Seinem Tische versammelt sind, wo alles uns an Seine unvergleichliche Liebe erinnert !
„Ja, Herr, bewirke Du selbst in Deiner Gnade und durch Deinen Geist diese Gefühle in uns, damit Dein Name allezeit durch uns gepriesen und verherrlicht werde!
Laß Deine liebevollen Worte: „Thut dieses zu meinem Gedächtnis!" mit Macht zu unsern Herzen und Gewissen
reden, und bewahre uns in Gnaden vor aller Gleiche gültigkeit und Trägheit! Preis und Anbetung sei Dir in
Ewigkeit! Amen."

„Die Wahrheit wird euch frei machen." „Jesus sprach nun zu den Juden, die Ihm glaubten:
Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen. Sie antworteten Ihm: Wir sind Abrahams Samen und sind nie 
jemandes Knechte gewesen; wie sagst Du: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Jeder, der die Sünde thut, ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht für immer in dem
Hause; der Sohn bleibt für immer. Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei
sein." (Joh. 8, 31—36.)
Wenn in dem Worte Gottes von der Stellung des Gläubigen vor Gott die Rede ist, von dem, was Gott
aus ihm gemacht hat, so ist alles bestimmt und an keinerlei Bedingungen geknüpft; sobald aber unsre Verantwortlichkeit in Frage kommt, finden wir sehr häufig das
Wörtchen „Wenn". So z. B. in Stellen wie die folgenden: „Und nun, wenn ihr fleißig auf meine Stimme
hören und meinen Bund halten werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein." (2. Mose 19, 5.) „Ihr aber seid nicht
im Feische, sondern im Geiste, wenn anders der Geist Gottes in euch wohnt." (Röm. 8, 9.) „Das Wort ist 
gewiß; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben; wenn wir ausharren, so werden
wir auch mitherrschen; wenn wir verleugnen, so wird auch Er uns verleugnen." (2. Tim. 2, 11. 12.) So ist
es auch in dem zu Anfang angeführten Schriftabschnitt.

Die Juden glaubten dem Herrn, und doch sagte dieser zu ihnen: „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid
ihr wahrhaft meine Jünger." Wollte der Herr damit sagen, daß der Glaube an und für sich nicht zur Errettung
genüge? Gewiß nicht. Denn alsdann wäre Er mit der Schrift im Widerspruch gewesen, welche sagt: „Jetzt aber 
ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden,
bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen
alle, und auf alle, die da glauben." Und wiederum: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an Den glaubt,
der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet." (Röm. 3, 21. 22 ; 4, 5.) Der
Glaube an Christum allein genügt also völlig zur Errettung und Rechtfertigung; aber die ernste Frage bleibt
immer, ob unser Glaube an den Herrn echt ist; denn viele haben sich schon getäuscht. Und es giebt gewiß keine
schlimmere Täuschung als diese; denn es handelt sich dabei um unser ewiges Wohl oder Wehe.
Indes sind wir weit davon entfernt, furchtsame, um ihr Heil bekümmerte Seelen einschüchtern zu wollen. Solche
möchten wir vielmehr auf alle mögliche Weise im Glauben ermuntern und befestigen. Solchen macht die Schrift
keinerlei Bedingungen, sondern ruft ihnen einfach zu: „Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet
werden." (Apstgsch. 16, 31.) Für zerschlagene und zerknirschte Herzen hatte der Herr nur Worte der Gnade
und des Trostes; ja, es war Seine Freude, ihnen den überströmenden Reichtum Seiner Gnade kund zu thun.
Dies sehen wir deutlich in der Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum, des kananäischen WeibeS, bei der großen
Sünderin im Hause Simons, in der Unterhaltung des Herrn mit dem Weibe am Jakobsbrunnen, in dem Gleichnis vom verlornen Sohne u. s. w. Alle jene Personen
waren sich ihrer Unwürdigkeit völlig bewußt und verstanden auch, daß sie kein Anrecht auf irgend eine Verheißung
hatten. Aber angezogen durch die herablassende Liebe und Güte des Herrn, setzten sie ihr ganzes Vertrauen auf Ihn
allein; und das war echter Glaube, der nicht beschämt wurde. Für einen Menschen, der in dieser Weise dem
Herrn naht, giebt es kein „Wenn" und kein „Aber"; denn der Herr selbst erkennt ihn an und rechtfertigt ihn,
wie er dies that bei dem Hauptmann von Kapernaum: „Wahrlich, ich sage euch, selbst nicht in Israel habe ich
solchen Glauben gefunden;" (Matth. 8, 10.) und bei dem kananäischen Weibe: „O Weib! dein Glaube ist groß;
dir geschehe, wie du willst;" (Matth. 13, 28.) und endlich bei der großen Sünderin: „Dein Glaube hat dich errettet,
gehe hin in Frieden." (Luk. 7, 50.) Es ist ein hervorstechender Charakterzug des aufrichtigen Glaubens, daß er sich selbst verurteilt und Gott
in allen Seinen Worten und Wegen rechtfertigt. Sobald ein Mensch sich auf diesen Boden stellt, kann Gott ihn
segnen. Das ist ein unwandelbarer Grundsatz; und deshalb gilt für einen jeden, der gläubig zu sein bekennt,
die Frage, ob er auf diesem Boden stehe; anders ist sein Bekenntnis nur leere Anmaßung, die sich als solche darin
kundgiebt, daß sein Leben nicht mit dem Worte Gottes im Einklang ist. Und ach! auf diesem Standpunkt steht
leider die große Masse der christlichen Bekenner. Sie wollen sich selbst nicht verurteilen, noch sich verurteilen lassen
durch das Wort Gottes, und darum können sie dasselbe nicht ertragen. Zwar suchen sie ihr Bekenntnis auf das
Wort zu stützen und es zur Grundlage ihrer verschiedenen Systeme zu machen; aber in Wirklichkeit besteht diese
Grundlage in menschlicher Anmaßung und nicht in der göttlichen Wahrheit. Anstatt sich unter das Wort zu beugen
und sich bedingungslos seinen Belehrungen und Forderungen  zu unterwerfen, verdrehen und verkehren sie es auf die
traurigste Weise, um es ihren Zuständen und Systemen anzupassen. Sie „bleiben nicht im Worte", sondern bilden
sich außerhalb desselben ihre eignen Ideen und lernen deshalb die Wahrheit nimmer kennen. Vielmehr fallen sie
notwendigerweise aus einem Irrtum in den andern, und infolge dessen muß die Verwirrung immer größer und
unheilbarer werden.

Betrachten wir nur die bekennende Kirche um uns her. Sie ist zersplittert in unzählige Parteien, die alle in
mehr oder weniger schroffem Gegensatz zu einander stehen und sich gegenseitig bekämpfen. Die großen Parteien
blicken mit Verachtung auf die kleineren herab, indem sie sich der großen Zahl ihrer Anhänger und ihres Alters
rühmen; die kleineren hinwiederum verachten jene, indem sie meinen, der Wahrheit näher zu stehen als sie. Kurz,
das, was die Versammlung des lebendigen Gottes, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit sein sollte, bietet
das traurige Schauspiel einer erschreckenden Verwirrung dar. Wirft man dann noch einen Blick auf die sogenannte
Christenheit in ihrer äußern Erscheinung, auf die großartigen Tempel mit ihrem reichen Schmuck und blendenden Zierrat, auf die Priester in ihren „heiligen" Gewändern, auf die glänzenden Zeremonien mit ihrem feierlichen Ritus; 
und andrerseits auf die Festgelage, Theater und Bälle, auf das Jagen nach rauschenden Vergnügungen
und Zerstreuungen, ferner auf die immer frecher ihr Haupt erhebende Sittenlosigkeit, auf die Greuel, Mordthaten und
überhand nehmenden Verbrechen aller Art, so hat man vollends ein Gemälde, das wahrlich nicht geeignet ist, uns
irgend einen Begriff von dem wahren Wesen des Christentums zu geben. Die heutige Christenheit ist mehr oderweniger eine Nachahmung des jüdischen Systems, verbunden mit den Abgöttereien und Greueln des Heidentums;
eine Vereinigung von Elementen, in welchen der Stolz und die leidenschaftlichen Begierden des natürlichen Herzens ihre allseitige Befriedigung finden. Und es bestätigt
sich die Beschreibung, welche der Apostel von der Christenheit der letzten Tage macht: „Dieses aber wisse, daß in
den letzten Tagen schwere Zeiten da sein werden; denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch,
hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich, Verläumder,
unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als
Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen." (2. Tim. 3, 1 — 5.) Es sind fast dieselben Worte, mit welchen der Apostel in Röm. 1 den
Zustand der Heiden schildert.

Das sind die traurigen Früchte des Abweichens von dem Worte Gottes. Eine der größten Ungerechtigkeiten,
deren sich die Kirche gegen Gott schuldig gemacht, ist die Geringschätzung und Verachtung, mit welcher sie Sein
heiliges Wort behandelt hat. Denn bedenken wir es wohl, alles, was man gegen dieses Wort thut, thut man gegen
Gott selbst. Welch eine leichtfertige Verdrehung hat sich dasselbe zum Beispiel schon dadurch gefallen lassen müssen,
daß sich fast alle Parteien, trotz ihrer entgegengesetzten Meinungen, auf dasselbe berufen haben oder noch berufen.
Einer der größten Vorzüge, welche die Juden vor allen Nationen der Erde hatten, bestand nach den Worten des
Apostels darin, daß ihnen die Aus spräche Gottes anvertraut waren. (Röm. 3, 2.) Der Kirche aber ist 
dieser Vorzug in noch weit höherem Maße zu teil geworden, indem ihr die herrlichsten Offenbarungen der Geheimnisse Gottes anvertraut worden sind. Gott hat den
Reichtum Seiner Gnade gegen sie überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht, indem Er ihr kundgethan hat
das Geheimnis Seines Willens nach Seinem Wohlgefallen, das Er sich vorgesetzt hat in sich selbst. (Eph. 1, 8—11.)
Aber die Kirche hat dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt, noch die kostbare Gabe des Wortes Gottes zu schätzen
gewußt. Die große Masse ihrer Bekenner ist zu stolz, um sich unter das Wort zu beugen und auf dasselbe zu hören;
und es trifft sie dasselbe Urteil wie die Juden, zu welchen der Herr sagte: „Warum verstehet ihr meine Sprache
nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnet." Indessen bestätigen sie dadurch nur, daß sie nicht wahrhaft Seine
Jünger find. „Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes. Darum höret ihr nicht, weil ihr nicht aus Gott seid."
(Joh. 8, 43. 47.) Weit davon entfernt, im Bewußtsein ihrer Uriwürdigkeit die Sprache des Zöllners oder des
kananäischen Weibes zu führen und Gott zu rechtfertigen durch die Unterwerfung unter Sein Wort, führen sie vielmehr die Sprache des stolzen Pharisäers: „O Gott, ich
danke Dir, daß ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber rc." (Luk. 18, 11.) Doch „Gott widersteht den
Hochmütigen, den Demütigen aber giebt Er Gnade." Der Apostel kennzeichnet diese Stolzen in treffender Weise, wenn
er sagt: „Wenn jemand anders lehrt und nicht beitritt den gesunden Worten, die unsers Herrn Jesu Christi sind,
und der Lehre, die nach der Gottseligkeit ist, der ist aufgeblasen und weiß nichts, sondern ist krank
an Streitfragen und Wortgezänken, aus welchen entsteht: Neid, Hader, Lästerungen, böse Verdächtigungen, beständige
Zänkereien von Menschen, die an der Gesinnung verderbt und von derWahrheit entblößt sind,
welche meinen, die Gottseligkeit sei ein Mittel zum Gewinn." (1. Tim. 6, 3-5.)

Gott hat die Christenheit, trotzdem sie sich so schwer an Seinem Worte versündigt hat, mit göttlicher Langmut
und Geduld getragen. Aber Er wird die Verachtung Seines Wortes nicht ungestraft lassen. Wir sehen in vielen Stellen
der Schrift, mit welchem Eifer der Apostel auf der Reinheit der Lehre und der Aufrechthaltung der Wahrheit bestand, ja, wie er selbst einen Fluch aussprach über alle,
welche dieselbe verfälschten. „Ich ermahne euch aber, Brüder, daß ihr acht habet auf die, welche Zwiespalt und
Aergernis anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt habt, und wendet euch von ihnen ab." (Röm.
16,17.) „Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre, beharre darin." (1. Tim. 4, 16.) „Aber wenn auch wir
oder ein Engel vom Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte, außer dem, was wir euch als Evangelium
verkündigt haben, der sei verflucht! Wie wir zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wiederum: Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt außer dem,
was ihr empfangen habt, der sei verflucht!" (Gal. 1, 8. 9.) Dieser Fluch wird die sogenannte Christenheit in
schrecklicher Weise treffen. Alle, welche die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben, damit sie errettet würden,
werden schließlich ihren stolzen Anmaßungen überlassen und dem schrecklichsten Betrug anheimgegeben werden, wie
geschrieben steht: „Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrtums, daß sie der Lüge glauben,
auf daß alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit." (2. Thess. 2, 9—12.) Gott wird Satan
erlauben, in nie geahnter Weise zu wirken. Satan war zwar von Anfang an in der Kirche wirksam, und der gegenwärtige Zustand der Christenheit ist sein Werk und zugleich ein Beweis von der List und Bosheit dieses Feindes.
Wer hätte in den Tagen der Apostel auch nur im entferntesten einen solchen Zustand der Dinge, wie er heute
sich unsern Blicken darbietet, für möglich halten können?
Gelehrte und in der Wissenschaft berühmte Männer sind,wie die Unwissenden und Ungebildeten, in die größten Irrtümer und Thorheiten verfallen. Wenn dieses aber geschehen konnte, während die Gnade Gottes der Wirksamkeit
Satans noch Schranken entgegensetzte, was wird geschehen, wenn diese Schranken einmal weggenommen sind? 

Es werden dann Kräfte wirksam sein, die aller bisherigen Begriffe des menschlichen Verstandes und aller menschlichen
Wissenschaft spotten und zu unbedingter Unterwerfung nötigen. Der Mensch wird sich keine Rechenschaft geben
können von der satanischen Macht, die ihn alsdann leiten und beherrschen wird. Er wird gezwungen sein, sie einem
höheren Wesen zuzuschreiben und sie anzuerkennen, obgleich sie ihn verzweifeln läßt an sich selbst, an seiner Vernunft,
und selbst an den sogenannten Naturgesetzen. Alle, welche bis dahin noch in orthodoxer Weise an den Formen des
Christentums festgehalten haben, werden irre werden an Gott und der Vorsehung, wenn sie sehen müssen, wie
diese Macht alles, was ihnen bis dahin für göttlich und heilig galt, in lästernder und herausfordernder Weise ungestraft mit Füßen tritt, während sie sich zu gleicher Zeit
mit allen Beweisen des Göttlichen und Uebernatürlichen nmgiebt. Der Vernunftmensch, der keinen höheren Führer
als seine eigene Vernunft anerkennen wollte, wird sich gefesselt fühlen und wider seinen Willen, gleich einem Sklaven,
dieser Macht huldigen müssen, obgleich sie aller menschlichen
Vernunft Hohn spricht. Der Freidenker, der mit verächtlicher Geringschätzung das Christentum als ein des aufgeklärten Menschen unwürdiges Verdummungs-System betrachtete, wird ebenfalls dem Zuge dieser Macht folgen
müssen, wie schwer es auch seinem sogenannten freien, aufgeklärten Geiste fallen mag, sich in diese Fesseln zu fügen;
denn er findet dort nichts weniger als einen freien Spielraum für seine Ideen. Kurz, es werden Kräfte wirksam
sein, die das ganze Menschengeschlecht unwiderstehlich fortreißen, jener satanischen Macht zu huldigen, um schließlich mit
derselben bei der Erscheinung des Herrn gerichtet zu werden.

Das sind die schrecklichen Folgen der Verachtung des Wortes Gottes. Würde die Christenheit den 25
Wert desselben erkannt haben, und ihm unterworfen geblieben sein, sie wäre allen diesen Folgen entgangen. Aber
wir widerholen es, sie war zu stolz, um sich unter dasselbe zu beugen; sein Licht war ihr zu hell, und seine
Sprache zu scharf. Der Stolz des Menschen, und nicht sein gefallener Zustand, ist die Ursache, weshalb das Wort
wirkungslos für ihn bleibt, und er die belebende und befreiende Kraft desselben nicht an sich erfährt. Hochmut
hat ihn zum Fall gebracht, als er im Stande der Unschuld war; Hochmut verhindert ihn, sich als ein verlorner
Sünder dem guten Worte Gottes zu unterwerfen, damit er durch die Erkenntnis der Wahrheit befreit werde; und
Hochmut ist es, was ihn verhärtet und schließlich der Macht Satans überliefert. Der Demütige zittert und beugt
sich vor dem Worte, anstatt dasselbe zu verurteilen; und er findet Gnade. „Aber auf diesen will ich blicken: auf
den Armen und Zerschlagenen im Geiste, und der da zittert vor meinem Worte." (Jes. 66, 2.) „Er leitet die
Sanftmütigen im Recht, und lehrt die Sanftmütigen Seinen Weg." (Ps. 25, 9.) Das ist der Platz, der dem
Sünder wie dem Gläubigen vor Gott geziemt, und auf welchem Gott ihn segnen kann; der Platz, welchen sowohl
der Hauptmann von Kapernaum und das kananäische Weib, als auch der große Apostel Paulus einuahmen, und wodurch sie die Echtheit ihres Glaubens bewiesen. Auch
als Apostel hat Paulus sein ganzes Leben hindurch nie vergessen, was er einst gewesen war. Und darum blieb er
stets klein in seinen Augen, trotzdem er sich großer Erfolge rühmen, und sagen konnte: „Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle." Aber um so schöner und zugleich
um so beschämender für uns klingt das offne, demütige Bekenntnis dieses großen, reich begabten Mannes: „Denn ich bin der geringste der Apostel, der ich nicht
würdig bin, ein Apostel genannt zu werden, weil ich die Versammlung Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes
Gnade bin ich, was ich bin." (1. Kor. 15, 9. 10; vergl. auch 2. Kor. 12, 9. 11.) Und: „Ich danke Christo Jesu,
unserm Herrn, der mich kräftig gemacht, daß Er mich treu geachtet und in den Dienst gestellt hat, der ich zuvor
ein Lästerer und Verfolger und Schmäher war; aber mir ist Barmherzigkeit zu teil geworden, weil ich es unwissend,
im Unglauben that. Ueber die Maßen aber ist die Gnade unsers Herrn überströmend geworden mit Glauben und
der Liebe, welche in Christo Jesu sind. Das Wort ist gewiß und aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die
Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, von welchen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit zu
teil geworden, auf daß an mir, dem ersten, Jesus Christus die ganze Langmut erzeige, zum Vorbilde für die, welche
an Ihn glauben werden zum ewigen Leben." (1. Tim. 1, 12-16.) Diese Stellen zeigen uns, daß Paulus sein
ganzes segensreiches Leben hindurch nimmer den Boden der Demut verließ, auf welchem er Gnade gefunden hatte.

Darum auch stand sein ganzes Leben im Einklang mit dem Worte Gottes und war eine Bestätigung der Worte
des Herrn: „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger." Er konnte sagen: „Seid
meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi." (I.Kor. 11,1.) Darum auch konnte sich der Herr ihm offenbaren und ihm
Seine Geheimnisse anvertrauen. Er hatte die Wahrheit erkannt, und die Wahrheit hatte ihn frei gemacht.
(Schluß folgt.)


27
Geduld.
„Harre auf Jehova! Sei stark, und dein Herz fasse Mut, und harre auf Jehova!" (Pf. 27, 14.) Wie nötig ist diese Ermahnung für uns! Wie ruhelos sind oft unsre armen, kleingläubigen Herzen! Wie klein ist das Vertrauen auf den Herrn, der doch verheißen hat, in allem für uns zu sorgen! „Wie sich ein Vater erbarmt über die Kinder, so erbarmt sich Jehova über die, welche Ihn fürchten."


Wir sind so geneigt, in dieser oder jener Sache einen Entschluß zu fassen und dann erst zum Herrn zu  gehen, um Seinen Willen zu erfragen. Aber das wird niemals gehen. Wünschen wir von dem Herrn geleitet zu  werden, so bedürfen wir ein einfältiges Auge und ein abhängiges Herz. Und welch kostbare Verheißungen haben alle diejenigen, welche auf den Herrn harren! „Sie werden die Kraft erneuern; sie werden auffahren mit Flügeln wie Adler, sie werden laufen und nicht ermatten, wandeln und nicht ermüden." (Jes. 40, 31.) Das ist eine Verheißung aus dem Munde Dessen, der nicht lügen kann.


Sollte Er sie nicht wahr machen? Sicher und gewiß. In dem Apostel Paulus sehen wir einen Mann, der bereit war, auf Jehova zu harren und alles Seinen treuen Händen zu überlassen. Vergessend, was hinter ihm lag, jagte er nach dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach
oben in Christo Jesu. Er wußte, daß er bald bei Christo sein würde, bei Ihm, der sein ganzes Herz gewonnen hatte; und um Seinetwillen achtete er alles für Verlust. Und, geliebter Leser, ist nicht dieser selbe Jesus auch unser Gegenstand, unser Ziel? Er ist „derselbe gestern und heute
und in Ewigkeit." O, möchten wir doch unausgesetzt auf die Stimme unsers guten Hirten lauschen, dessen liebende Sorge wir täglich, ja stündlich erfahren, und auf Ihn harren, während wir durch diese Wüste unsrer himmlischen Heimat zupilgern!

Du haft mich lieb!
Du hast mich lieb, mein treuer Gott und Vater,
Wie nie ein Freund geliebt!
Tu hast mich lieb! — Selbst nicht im Mutterherzcn
Es solche Liebe giebt.
Ich hab' Dich lieb! Du gabst den Eingebornen
Zum Opfer für mich hin.
Ich hab' Dich lieb, weil Du zuerst mich liebtest,
Unwürdig, wie ich bin!
Du hast mich lieb, Du Brunnqucll ew'ger Liebe,
So gut, so treu und mild!
Du hast mich lieb, Du Gott voll Huld und Gnade,
Mein Fels, mein Hort und Schild!
Ich hab' Dich lieb! Denn Deine Liebe gossest
Dn in das Herz mir aus.
Ich hab' Dich lieb; drum eil' ich frohen Mutes
Zu Dir, ins Vaterhaus!
Du hast mich lieb! Daran will ich mich halten
In Freude wie in Schmerz!
Du hast mich lieb! O laß mich nie vergessen
Dein freundlich Vaterherz!
Ich hab' Dich lieb! Denn Du hast meine Augen
Mit Himmelslicht erhellt.
Ich hab' Dich lieb! Dein Vatcraug' mich leitet
Durch diese arge Welt.
Du hast mich lieb! So werd' ich ewig jubeln
In der Erlösten Schar.
Du hast mich lieb! Schon heute bring' ich stammelnd
Den Kiudesdnuk Dir dar.
„Ich habe euch ein Beispiel
gegeben, auf daß, gleichwie ich euch gethan,
auch ihr thut."
(Joh. 13, 15.)
In Joh. 13, 1 lesen wir von dem Herrn Jesu:
„Da Er die Seinigen, die in der Welt waren, geliebt
hatte, liebte Er sie bis ans Ende." Mochte auch Judas,
einer der Zwölfe, Ihn für dreißig Silberlinge in die
Hände Seiner Feinde überliefern; mochte Petrus, einer
der Jünger, welche das besondere Vertrauen des Herrn
genossen, Ihn aus Furcht vor den Menschen verleugnen;
mochten alle die übrigen Jünger Ihn in der Stundender
Gefahr verlassen — Seine Liebe zu den Seinigen blieb
dieselbe, vollkommen wie immer. Er wußte, „daß der
Vater Ihm alles in die Hände gegeben hatte, und daß
Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe,"
<V. 3.) um dort zu Seiner Rechten mit Ehre und Majestät gekrönt zu werden; aber Sein liebendes Herz blieb
bei den Seinigen, und wie Er hienieden stets der Dienende
unter ihnen gewesen war, so wollte Er es auch fernerhin
bleiben, und sogar, während Er den höchsten Platz einnahm, den niedrigsten Dienst unter ihnen ausüben: Er
wollte ihre Füße waschen. Anbetungswürdige Liebe!
Auf Grund des am Kreuze vollbrachten Werkes,
welches der Herr an jenem letzten Abend vor Seinem
30
Leiden als schon vollendet betrachtete, (vergl. Joh. 17,
4. 11.) sind alle die an Ihn Glaubenden vermittelst des
Wortes wiedergeboren und so mit Ihm und dem Vater
in Verbindung gebracht. Sie sind gebadet oder ganz gewaschen, und deshalb ganz rein. (Vergl. V. 10; die
Jünger waren rein, mit Ausnahme des Verräters Judas;
er war nicht wiedergeboren, nicht rein.) Sie sind die 
teuren Gegenstände der vollkommenen Liebe des Vaters
und des Sohnes, und genießen jetzt schon, während sie
noch in dieser Welt sind, das große und herrliche Vorrecht, Gemeinschaft zu haben „mit dem Vater und mit
Seinem Sohne Jesu Christo." (1. Joh. 1, 3.) Diese
Gemeinschaft, deren Genuß unser Herz mit überströmender
Freude erfüllt, ist jedoch von so erhabenem Charakter,
daß sie nichts Unreines verträgt. Gott ist Licht, und
gar keine Finsternis ist in Ihm. (1. Joh. 1, 5.) Wir
aber sind schwach, durchschreiten eine verderbte und versuchungsreiche Welt, deren Fürst Satan ist, und in unserm
Fleische wohnt nichts Gutes. Wie leicht und schnell, selbst
bei großer Wachsamkeit und Nüchternheit, können wir uns
da verunreinigen! Sind wir aber verunreinigt, so haben
wir praktischer Weise jene gesegnete Gemeinschaft verloren;
wir genießen sie nicht mehr. Wer könnte die Größe dieses
Verlustes ermessen!
Die Jünger verstanden damals noch wenig von den
Gefahren, welche ihnen auf dem Wege drohten, von dem
Verderben des Fleisches und der Macht des Feindes. Der
Herr aber wußte alles. Er gab ihnen deshalb bei jenem
letzten Passahmahl ein Beispiel von dem, was Er während
Seiner Abwesenheit für sie thun wollte. Er stand „vom
Abendessen auf, legte die Oberkleider ab und nahm ein
31
leinenes Tuch und umgürtete sich. Dann goß Er Wasser
in das Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger
zu waschen und abzutrocknen mit dem leinenen Tuche, womit Er umgürtet war." (V. 4. 5.)
Wir dürfen überzeugt sein, daß uns dieses Ereignis
nicht ohne einen bestimmten Zweck so umständlich und
genau mitgeteilt wird. Jesus steht von dem Abendessen
auf, trennt sich so gleichsam von Seinen Gefährten, und
legt das Oberkleid ab; dann umgürtet Er sich mit einem
leinenen Tuche und beginnt, den Dienst des niedrigsten
Sklaven an Seinen Jüngern zu üben. Er thut alles
allein, von keinem fordert Er Mithülfe; und Er hört
nicht eher auf, als bis die Füße aller Seiner Jünger
gereinigt und abgetrocknet sind. Petrus steht in dem Verhalten Jesu nichts anderes als jenen geringen Sklavendienst, nichts als eine ungeziemende Erniedrigung für
Seinen Herrn; Er will Ihm deshalb nicht erlauben, seine
Füße zu waschen, sondern zieht sie mit den Worten zurück:
„Herr, Du wäschest meine Füße?" und: „Du sollst nimmermehr meine Füße waschen." Der Herr aber weiß in
Seiner großen Liebe und Weisheit so mit ihm zu reden,
daß er endlich ganz bereitwillig Seine Füße hinhält.
-V. 6—9.) Ach, nur zu bald sollte der arme Petrus erfahren, wie sehr er der Fußwaschung von feiten seines
Herrn bedurfte! Wenige Stunden nachher verleugnet er
denselben auf eine schmähliche Weise. Aber ein Blick
von Jesu preßt ihm die bittersten und schmerzlichsten
Thränen aus; und in Joh. 21, 15—17 sehen wir dann,
wie er völlig wiederhergestellt und in die glückselige Gemeinschaft seines geliebten Herrn zurückgebracht und in
seinen gesegneten Dienst eingeführt wird.
32
Während also der Herr zur Rechten Gottes sitzt,
vollzieht Er an uns diesen niedrigen, aber für uns während
unsers Wandels durch diese Welt so überaus notwendigen
Dienst. Die Reinigung durch Sein auf dem Kreuze vergossenes Blut hat uns ein für allemal als gereinigte
Anbeter in die Gegenwart eines heiligen und gerechten
Gottes versetzt; diese Reinigung bedarf keiner Wiederholung, ja, sie kann niemals wiederholt werden. Durch
diese Reinigung sind wir vor Gott stets so rein von
Sünden, wie das kostbare Blut Christi uns rein machen
konnte; ja, wir stehen in Christo vor Gott. Das ist 
und bleibt für immer die gesegnete und unantastbare
Stellung aller wahren Gläubigen. ^)och so lange wir uns
in dieser unreinen Welt aufhalten und unS darin beflecken,
bedürfen wir immer wieder, durch das Wasser d. i. das
Wort Gottes gereinigt zu werden, damit wir so in die
praktische Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesu Christo, so oft wir dieselbe durch die Sünde
eingebüßt haben, zurückgeführt werden. Denn so oft wir
uns einer bewußten Verunreinigung oder Befleckung, sei
es auch nur durch einen bösen Gedanken, schuldig machen,
ist die Gemeinschaft unterbrochen, und sie kann nur durch
die Fußwaschung, durch die Reinigung mittelst des Wortes
Gottes, wiederhergestellt werden.
Wer ist es nun, der dieses Wort auf unser Herz
und Gewissen anwendet, der uns aufmerksam macht, uns
von der Sünde überführt und ein aufrichtiges Selbstgericht
in uns hervorruft? Es ist der Herr, derselbe Herr, der
auch allezeit für uns bittet, ehe wir in die Versuchung
hineinkommen, damit wir in derselben bewahrt bleiben.
O wie viel Dank schulden wir Ihm, daß Er mit solch
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einer unermüdlichen Liebe und Fürsorge unser gedenkt! Möchten wir Ihn allezeit dafür preisen und auch stets bereit sein,
uns dem Dienste Seiner Liebe zu unterwerfen und unsre
Füße reinigen zu lassen, so oft wir dessen bedürfen! Ach, wie
manches Mal setzen auch wir den liebevollen Bemühungen
unsers anbetungswürdigen Herrn und Heilandes Widerstand
entgegen! Wie oft erschweren wir Seinen Dienst durch das
Widerstreben, die Gleichgültigkeit oder den Stolz unsrer Herzen ! Und doch kann uns nichts anders in den Genuß jener
herrlichen und himmlischen Gemeinschaft, in welche Er uns
hienieden schon eingeführt hat, zurückbringen, als jener
Dienst. Und nicht eher ist der Herr befriedigt — ewig
sei Sein Name dafür gepriesen! — als bis Er den Zweck
Seines Dienstes erreicht hat. Nicht eher ist Seiner Liebe
genügt, aber auch nicht eher unsre Freude völlig.
An dem von dem Herrn für uns vollbrachten Werke
auf dem Kreuze konnte niemand teilnehmen. Dort war
Er völlig allein. Den bittern Kelch des Zornes Gottes,
der Seine heilige Seele mit Angst und Schrecken erfüllte,
mußte Er allein trinken. Ja, Er war dort nicht nur
von Menschen, sondern auch von Gott verlassen. Anders
aber ist es mit dem Werke der Reinigung, welche in der
Fußwaschung ihren Ausdruck findet. An diesem Werke,
an diesem Dienste können auch wir teilnehmen. Der Herr
selbst fordert die Seinigen dazu auf; und Er fügt hinzu,
daß sie schuldig seien, diesen Dienst auszuüben. Er
sagt: „Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, eure
Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, einander
die Füße zu waschen." (V. 14.) Wenn Er unsre Füße
wäscht, so thut Er es in Seiner uns freiwillig dienenden
Liebe; Er ist uns nichts schuldig. Alles, was Er für und
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an uns gethan hat und täglich thut, ist nichts als unverdiente Gnade und Güte. Uns aber macht die unermüdliche
Liebe, in welcher Er Tag für Tag für uns beschäftigt
ist, zu Schuldnern. Wir sind schuldig, einander
die Füße zu waschen. Von dieser Schuld der Liebe,
welche auf uns ruht, reden auch andere Stellen der Schrift
in den bestimmtesten Ausdrücken. So sagt z. B. Johannes
in seiner ersten Epistel, Kap. 4, 11: „Geliebte, wenn
Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig,
einander zu lieben"; und an einer andern Stelle: „Hieran
haben wir die Liebe erkannt, daß Er für uns Sein Leben
dargelegt hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder
das Leben darzulegen." (Kap. 3, 16.) Gerade so ist es
in dem uns beschäftigenden Kapitel. Wenn Er, der Herr
und Lehrer, sich in freiwilliger Liebe zu jenem niedrigen
Dienste herabläßt und Seinen Knechten und Jüngern die
Füße wäscht, so sind wir sicher schuldig, es unter einander zu thun. O möchte das Bewußtsein dieser großen
Schuld nie aus unserm Gedächtnis schwinden, und möchten
wir bei jeder Gelegenheit, die sich uns darbietet, bereit
sein, etwas von derselben abzutragen!
Sollte man es für möglich halten, daß jemand, angesichts der bewunderungswürdigen Liebe, die er selbst
genießt, dem traurigen Gedanken Raum geben könnte,
daß er sich um seine Brüder und Schwestern nicht zu
kümmern brauche s Ach, leider begegnet man einer solch
schrecklichen Gesinnung bei einzelnen Gläubigen. Wie verkehrt, verderbt und böse ist das menschliche Herz! O,
möchte doch ein jeder, der diese Gesinnung hegt, bedenken,
daß es die Gesinnung Kains ist, welcher die Frage des
Herrn: „Wo ist Abel, dein Bruder?" mit der Gegen­
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frage beantwortete: „Soll ich meines Bruders Hüter
sein?" Eine solche Gesinnung verrät nicht nur Mangel an
Liebe zu dem Herrn und zu den Seinigen, sondern auch
Mangel an wahrer Gottesfurcht. Die Schuld aber bleibt,
und ebenso die Verantwortlichkeit für dieselbe. Wie ernst
ist das!
Wer aber das Wort des Herrn zu Herzen nimmt,
und willig und bereit ist, jenen gesegneten, wenn auch
schwierigen Dienst in Liebe und Treue auszuüben, der
erkennt nicht nur an, daß er schuldig ist, die Füße der
Heiligen zu waschen; nein, er erblickt zugleich auch ein
großes Vorrecht darin. Denn alles, worin wir mit dem
Herrn teil haben, seien es selbst die Leiden um Seines
Namens willen, ist ein gesegnetes Vorrecht, eine große
Ehre für uns. Und dies ist sicher in ganz besonderer
Weise der Fall, wenn der Herr uns arme, schwache Geschöpfe im Dienste der Seinigen mit sich teilnehmen lassen
will. Und je mehr wir dies erkennen und Ihn und die
Seinigen in Wahrheit lieben, desto mehr werden wir bemüht sein, den Dienst der gegenseitigen Fußwaschung mit
aller Bereitwilligkeit und Hingebung zu erfüllen.
Wie aber haben wir uns zu verhalten, um diesen
Dienst nach dem Wohlgefallen des Herrn und zum Nutzen
der Seinigen auszuüben? Wahrlich, eine höchst beherzigenswerte Frage! Der Herr selbst giebt uns Antwort darauf,
wenn Er sagt: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, auf
daß, gleichwie ich euch gethan, auch ihr thut."
(V. 13.) Er gebot Seinen Jüngern nicht einfach, einander
die Füße zu waschen, sondern Er ging ihnen mit Seinem
eignen Beispiel voran, und diesem sollten sie folgen: wie
Er ihnen gethan hatte, so sollten auch sie unter einander
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thun. Und erst dann wurden sie dazu ausgefordert, als
ihre Füße gewaschen und sie für rein erklärt waren. Das ist
sehr beachtenswert; denn es zeigt uns, daß zuerst unsre
eignen Füße gewaschen und alle uns bewußten Verunreinigungen hinweggethan sein müssen, ehe wir passend
sind, unS mit den Verunreinigungen Anderer zn beschäftigen. Aehnlich war es unter dem Gesetz. Der Reine
mußte von dem mit der Asche der roten Kuh vermischten
Wasser auf den Unreinen sprengen, um ihn zn entmündigen. Und obwohl er selbst rein war, so mußte er doch,
nachdem er den Reinigungsdienst an dem Unreinen vollzogen hatte, seine Kleider waschen, und er war unrein
bis an den Abend. (4. Mose 19.) Sollte es nun unter
der Gnade eines geringeren Maßes von Heiligkeit bedürfen? Wahrlich nicht. Der Dienst der Fußwaschung, wenn
richtig und erfolgreich ausgeübt, erfordert zunächst ein
persönliches Reinsein, dann aber auch eine große Wachsamkeit über uns selbst. Auch mögen wir wohl beachten,
daß die Fußwaschung nicht einfach darin besteht, daß wir
einander ermahnen oder zurechtweisen; sie erfordert weit mehr
als daS. Zu ihrer Ausübung ist Weisheit, Liebe, Geduld,
Sanftmut und vor allem eine aufrichtige Demut nötig.
Wenn nun der Zustand eines Gläubigen die Fußwaschung nötig macht, und ich fühle mich verpflichtet und
bin bereit, diesen Dienst an ihm zu erweisen, so entsteht
also zunächst für mich die Frage, ob der Herr meine 
eignen Füße gewaschen und mich für rein erklärt hat.
Wenn dies nicht der Fall ist, so bin ich unfähig, in angemessener Weise die Füße eines Andern zu waschen; und
sollte ich auch schon auf dem Wege zu ihm sein, so wäre
es in einem solchen Falle weit besser für mich, wieder
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umzukehren, mich vor dem Herrn niederzuwerfen und Ihm
mit Aufrichtigkeit des Herzens alles zu bekennen, was
auf meinem Gewissen liegt, und mich ernstlich vor Ihm
zu demütigen. Indem so meine eignen Füße gereinigt
werden, erfahre ich persönlich, mit welch einer Gnade,
Liebe und Geduld Er diesen Dienst an mir vollzieht;
und ich werde durch diese Erfahrung fähig gemacht, in derselben Gesinnung mit meinem Bruder zu handeln. Ich
werde mit aller Sorgfalt jedes Hindernis bei der Ausübung dieses Dienstes zu entfernen suchen, werde in wahrer
Demut und Niedriggesinntheit die Stellung eines Dieners
einnehmen, und mit Weisheit und Einsicht von dem Wasser,
dem Worte Gottes, Gebrauch machen. Ebenso werde ich,
wenn der betreffende Bruder sich weigern sollte, seine
Füße waschen zu lassen, mit Liebe und Sanftmut bemüht
sein, ihn dazu willig zu machen.
Geliebter Leser! Verrichten wir den Dienst der
gegenseitigen Fußwaschung in dieser Gesinnung? In demselben Maße wie wir es thun, folgen wir dem Beispiel unsers teuren Herrn. Aber ach! wie oft ist hierin
gefehlt worden; und sicher haben wir alle Ursache, uns
ernstlich darüber zu demütigen. Wir wissen sehr gut, daß 
wir von dem Herrn beauftragt sind, an diesem gesegneten
Dienste mit Ihm teilzunehmen, und daß wir schuldig
sind, es zu thun; aber dieses Wissen allein macht nicht
glücklich. Der Herr sagt vielmehr: „Glückselig seid ihr,
wenn ihr es thut." Möchte deshalb die Liebe zu Ihm
und zu den Seinigen uns allezeit dringen, mit wahrer Hingebung und Treue Seinem Beispiel zu folgen, damit Sein
Name verherrlicht werde und diese verheißene Glückseligkeit
unser Teil sei!
38

„Die Wahrheit wird euch frei machen."
(Schluß.)
Gott hat uns nach Seiner großen Güte in Seinem
Worte unermeßliche Schätze gegeben; Er hat uns die Gedanken Seines Herzens darin geoffenbart, alles was Er
für uns ist, alle Seine Ratschlüsse in bezug auf uns, die
zukünftigen Herrlichkeiten, und vor allem die Herrlichkeiten
der Person des Herrn Jesu; ferner die über diese Welt
kommenden Gerichte, das Ende der gegenwärtigen Herrlichkeit des Fleisches; kurz alles, was unsre Herzen erheben, kräftigen, heiligen und von dem Geiste dieser Welt
befreien kann. Darum wußte auch der Apostel im Blick
auf den kommenden Verfall der Kirche nichts Besseres zu
thun, als die Gläubigen Gott und Seinem Worte zu befehlen: „Und nun befehle ich euch Gott und dem Worte
Seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch ein
Erbe zu geben unter allen Geheiligten." (Apgsch. 20, 32.)
Und weiter schreibt er an Timotheus: „Du aber bleibe
in dem, was du gelernt hast und wovon du überzeugt
bist, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil du
von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die vermögend
sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu ist. Alle Schrift ist von Gott
eingegeben und nütze zur Lehre, zur Ueberführung, zur
Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß
der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werke
völlig geschickt." (2. Tim. 3, 14 — 17.) Es ist eine unschätzbare Gnade von Gott, daß Er uns Sein Wort, trotz
aller gegen dasselbe gerichteten feindseligen Angriffe, bis
heute unversehrt bewahrt hat. Wie ein Fels, an welchem
die Brandung ohnmächtig zerschellt, wie eine Quelle in
39
-er dürren Wüste, wie ein Leuchtturm inmitten des brausenden Sturmes und der tosenden Wellen, so steht das
Wort Gottes da in seiner alten Kraft, Frische und Reinheit, mögen auch Welt und Satan ihre ganze Feindschaft
gegen dasselbe offenbaren. Noch immer bietet es einem
jeden, den da dürstet und der in den toten Formen und
ermüdenden Satzungen einer fleischlichen Religion keine
Befriedigung finden kann, den erquickenden Labetrunk des
lebendigen Wassers dar. Noch immer zeigt eS Einfältigen
und Aufrichtigen den einzig richtigen Weg, der sie sicher
und wohlbehalten an den verborgenen, gefahrdrohenden
Klippen teuflischer List vorbeiführt. Unwandelbar treu
und zuverlässig wie Der, aus dessen Munde es hervorgegangen ist, verleiht es dem, der ihm in Wahrheit vertraut, unerschütterliche Festigkeit, süße Ruhe und tiefen
Frieden.
Wenn wir daher die gesegneten Wirkungen des Wortes nicht an uns erfahren, so liegt das sicherlich nicht an
dem Worte selbst, sondern einfach daran, daß wir ihm
nicht in der geziemenden Weise unterworfen sind, wie
Gott es von unS erwartet; daß wir ihm nicht die Aufmerksamkeit und das Interesse entgegen bringen, welche es
alsGottes Wort beanspruchen muß. Daher auch die vielen
Verirrungen und traurigen Zustände unter den Christen.
Viele sind eingenommen von sich selbst und offenbaren
einen entschiedenen Widerwillen gegen die Ermahnungen
des Wortes. Sie wünschen nichi auf ihren Zustand,
ihre Fehler oder ihre falsche Stellung aufmerksam gemacht zu werden, und gehen daher jeder Erinnerung dieser
Art so weit wie möglich aus dem Wege, oder sie setzen
derselben, wenn sie dennoch an sie herantritt, heftigen Wider­
4tt
spruch entgegen. Ach! sie bedenken nicht, daß sie gegen
das Wort Gottes streiten und dieses dadurch in bezug
auf sich selbst wirkungslos machen. Sie bleiben auf diese
Weise in ihrem schlechten Zustande und kommen nimmer
zur Erkenntnis der Wahrheit. Doch das ist noch nicht
alles. Ein Christ kann nie auf einer und derselben
Stufe seines geistlichen Lebens stehen bleiben; da er entweder durch den Einfluß des Wortes Gottes oder durch
denjenigen des Bösen beherrscht wird, so mutz er notgedrungen vor- oder rückwärts gehen. Entzieht er sich daher
dem Einfluß des Wortes, so verfällt er dem Einfluß des
Bösen, und dieser führt ihn zur Verblendung nnd Verhärtung. Ein ernstes Beispiel davon sehen wir in der
bekennenden Kirche in ihrer Gesamtheit, und im Einzelnen
bei so vielen, die heute die Wahrheit bekämpfen, welche
sie früher erkannt und bekannt haben.
Möchten unS solche betrübende Beispiele zur Warnung dienen, damit wir uns nicht überheben, sondern allezeit den uns gebührenden Platz vor Gott in der Verabscheuung unsers eignen Ichs einnehmen! DaS war zu
allen Zeiten das untrügliche Kennzeichen des echten Glaubens. Das Beharren im Selbstgericht und in der Ehrfurcht gegen das Wort Gottes ist der Weg, auf welchem
Gott uns segnen und uns durch Seinen Geist die Schätze
Seines Wortes, die Wahrheit, offenbaren kann.
„Die Wahrheit" war bis zu ihrer Offenbarung in
der Person Christi und durch den Mund der Apostel in
Gott verborgen. Sie ist die Offenbarung der himmlischen
Dinge in Verbindung mit den Ratschlüssen Gottes, welche
in der Vollendung der Zeitalter (das heißt am Ende der
Zeiten, in welchen Gott den Menschen auf die Probe
41
stellte, zuerst ohne Gesetz, dann unter Gesetz und endlich
in der Sendung Seines geliebten Sohnes,) ihre Erfüllung finden sollten. Sie ist gekommen in der Person
Jesu Christi, wie geschrieben steht: „Das Gesetz wurde
durch Moses gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch
Jesum Christum geworden." (Joh. 1, 17.) Aber Christus
stellte sich zunächst Seinem irdischen Volke als ihr Messias
dar, der gekommen war, um die ihnen gemachten Verheißungen zu erfüllen. Zugleich aber diente, wie schon oben
bemerkt, Sein Kommen dazu, dieses Volk und mit ihm den
Zustand des Menschen einer letzten Probe zu unterwerfen.
Das Resultat dieser Probe war die Verwerfung Christi
seitens Seines vielgeliebten Volkes, und damit ist der
wahre Zustand des Menschen und dieser Welt ans Licht
gestellt worden. „Er war in der Welt, und die Welt
ward durch Ihn, und die Welt kannte Ihn nicht. Er
kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen Ihn nicht
au." (Joh. 1, 10. 11.) Der Mensch, Israel und die
Welt erwiesen durch die Verwerfung Christi in unwiderlegbarer Weise ihre Feindschaft gegen Gott, und damit
war der Augenblick für Gott gekommen, Seine Beziehungen zu dieser Welt abzubrechen, um die himmlischen
Dinge einzuführen. Das Kreuz kann daher in moralischer
Hinsicht als die Vollendung der Zeitalter oder als der
Abschluß der Geschichte des natürlichen Menschen betrachtet
werden. (Hebr. 9, 26.)
Die Anerkennung dieser Thatsache bildet gleichsam
den ersten Schritt auf dem Wege der Erkenntnis der
Wahrheit. Der Gläubige muß lernen, die Dinge hienieden im Lichte des Kreuzes zu betrachten; anders ist es
unmöglich, einen klaren und richtigen Begriff von dem
42
Zustande des natürlichen Menschen und dieser Welt zu
bekommen. Das Kreuz ist ein ewiges Zeugnis von dem
Hasse des Menschen gegen Gott, sowie von seinem unverbesserlichen Zustande; eS giebt dieser Welt das Gepräge
der Stätte, an welcher es aufgerichtet wurde, d. h. der
„Schädelstätte". (Joh. 19, 17.) Für den Gläubigen bedeutet es das Ende seines alten Menschen und seiner Beziehungen zu dieser Welt; es ist für ihn die Stätte des
Gerichts, an welcher sein natürlicher Zustand in Christo
gerichtet worden ist, gemäß der vollkommenen Gerechtigkeit
und Heiligkeit Gottes. Eben deshalb ist es sür ihn aber 
auch der unumstößliche Beweis der unergründlichen Liebe
Gottes, die ihn durch das Kreuz für immer befreit hat
von seinem alten Menschen, von allen seinen Sünden und
von dieser Welt. „Euch, als ihr tot wäret . . ., hat Er
mitlebendig gemacht mit Ihm, indem Er uns alle Vergehungen vergeben hat." Auch hat Christus am Kreuze über
die Fürstentümer und Gewalten einen Triumph gehalten.
(Kol. 2, 13. 15.) Mit einem Wort, das Kreuz zeigt
uns einerseits die vollständige Verdorbenheit des Menschen, und andrerseits die Liebe Gottes für den verlornen
Sünder, sowie den vollständigen Triumph über Satan,
Welt und Sünde. Ein wirkliches Verständnis über diese
Thatsachen kann daher seine entscheidende Wirkung auf
das ganze Leben des Christen nicht verfehlen; und mit
Recht sagt der Apostel: „Von mir aber sei es ferne,
mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsers Herrn Jesu
Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich
der Welt." (Gal. 6, 14.)
Würden wir indessen diese Wahrheit vom Kreuze
nur mit unserm Verstände auffassen, so würde sie uns
43
nur wenig oder gar nichts nützen. Wir würden nach wie
vor Knechte der Sünde bleiben und die befreiende K raft
der Wahrheit an unsern Herzen nicht erfahren. Allerdings
steht das Wort unerschütterlich fest: „Die Wahrheit wird
euch frei machen." Aber kein Gläubiger erfährt diese befreiende Wirkung, wenn er nicht vorher die Erfahrung
gemacht hat von dem, was er ist. Er muß sich selbst
kennen lernen; und dies ist immer mit vielen Kämpfen
und Herzensübungen verbunden. Denn je mehr der Gläubige
sich kennen lernt, desto mehr erfährt er, daß er gerade
das Gegenteil von dem ist, was er als Christ sein sollte
und nach seinem innern Menschen auch gern sein möchte.
Er erführt, daß in ihm, das ist in seinem Fleische, nichts
Gutes wohnt; daß die in ihm wohnende Sünde eine ihm
überlegene Macht ist, welche ihn an der Vollbringung
des Guten hindert. Nichts ist mehr dazu angethan, einen
aufrichtigen Gläubigen zur Verzweiflung zu bringen, als
die Entdeckung, daß er trotz seines guten Willens und
trotz aller Anstrengungen nicht einen einzigen Schritt in
der Heiligung vorwärts kommt, sondern vielmehr immer
wieder von der Sünde überwältigt wird. Aber diese Erfahrungen sind nötig für ihn, damit er seine Ohnmacht
gegenüber der Macht der Sünde fühle und auf sich selbst
verzichten lerne. Er muß lernen, daß die Befreiung ebensowenig in seiner Gewalt steht, wie die Erlösung. Und
je mehr Er von seiner eignen Ohnmacht überzeugt wird
und an sich selbst verzweifelt, um so köstlicher wird die
Entdeckung für ihn sein, daß seine Befreiung bereits am
Kreuze vollbracht und er selbst nach seinem alten Zustande
dort beseitigt ist. Plötzlich fällt es dann wie Schuppen
von seinen Augen: er sieht sich in einer ganz neuen Stel­
44
lung, in Christo, dem Auferstandenen. Sein
Herz ist erfüllt mit Dank und Anbetung gegen Den, der
am Kreuze dieses wunderbare Werk der Erlösung und
Befreiung durch Seinen Tod vollbracht hat. Und anstatt
an sich zu denken, freut er sich von nun an in Dem, den
er als sein Leben kennen gelernt hat. Anstatt zu sagen:
„DaS Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern daS
Böse, das ich nicht will, dieses thue ich," sagt er jetzt:
„Ich bin durch's Gesetz dem Gesetz gestorben, aus daß ich
Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt; und nicht mehr
lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt
lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an
den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für
mich hingegeben hat." (Röm. 7, 19 ; Gal. 2, 19. 20.)
Wir sehen also, daß die Befreiung auf Erfahrung
beruht und nicht Sache des bloßen Verstandes ist. Es ist
ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Gläubigen, der
die befreiende Macht der Wahrheit an seinem Herzen erfahren hat, und einem solchen, der sie blos dem Verstände
nach kennt. Die beiden stehen auf einem ganz verschiedenen Boden, werden durch verschiedene Beweggründe geleitet, und verfolgen verschiedene Zwecke. Der eine steht
gleichsam jenseits des Kreuzes, der andere noch vor demselben, obwohl er vielleicht mit seinem Munde den Platz
des ersten einzunehmen bekennt. Der eine hat ein tiefes
Gefühl von der Verderbtheit seines natürlichen Zustandes,
sowie von der Macht der Gnade, die ihn von der Herrschaft der Sünde befreit hat, und ist mit Dank und Anbetung gegen den Herrn erfüllt; der andre kennt sich selbst
nicht, seufzt unter den Umständen, und sieht in diesen
die Ursache seines mangelhaften Zustandes, sowie einen
45
Anlaß zum Klagen. Er ist mit sich selbst beschäftigt, und
wird mehr durch seine Gefühle als durch den Glauben
geleitet. Der eine kämpft in der Kraft des Geistes wider
die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen
Oertern; der andere liegt im Kampf mit den Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens, oder auch, wenn sein
Gewissen in Thätigkeit ist, mit der in ihm wohnenden
Sünde; aber indem es ihm an der nötigen Energie
mangelt, bringt er es nie zu einem entschiedenen Bruch
mit derselben. Israel mußte den Jordan durchschreiten,
um in das Land der Verheißung einzutreten, und dazu
bedurfte es der Energie des Glaubens, welche vor keinem
Hindernis zurückschreckt. Denn „der Jordan war voll über
alle seine Ufer", und er teilte sich nicht eher, als bis „die
Füße der Priester in den Rand des Wassers tauchten."
(Jos. 3, 15.) Die Priester mußten also Energie genug
besitzen, um den ersten Schritt zu thun.
Bekanntlich sind der Jordan und das Rote Meer
Vorbilder von dem Tode Christi, jedoch unter zwei sehr
verschiedenen Gesichtspunkten; während das Rote Meer
das Volk Gottes von allen seinen Feinden befreite und
es als ein erlöstes Volk in die Wüste führte, brachte der
Jordan es in das Land der Verheißung, indem das Volk
selbst nach seinem alten Zustande (vorgebildet in
den zwölf Steinen, welche in der Mitte des Jordans
aufgerichtet wurden,) in den Fluten des Todes zurückblieb. Der Jordan stellt also mehr die praktische Verwirklichung des Todes und der Auserstehung Christi vor,
das Ende des Menschen im Fleische und die Einführung
des Gläubigen in einen ganz neuen Zustand. Gleichwie
Israel nun nicht in das Land der Verheißung einireten
46
konnte, ohne vorher den Jordan zu durchschreiten, ebenso
können auch wir nicht eher in die Erkenntnis und den
Genuß der himmlischen Dinge eintreten, bis wir den Tod
Christi in seinen Folgen und in seinem Werte für uns
geistlicher Weise verwirklicht haben. Aber ach! wie
viele Gläubige treten ans bloßem Mangel an Energie
nicht in die Verwirklichung dieses Todes ein! Sie kennen
wenig von den tiefen Herzensübungen, welche einer wirklichen Befreiung vorangehen. Darum zeigt sich auch in
ihrer Erkenntnis und in ihrem geistlichen Leben so wenig
Tiefe und Wirklichkeit. Sie sind nicht mit ihrem Herzen
eingedrungen in die Ratschlüsse Gottes, weder in das Geheimnis der Kirche, noch in die Stellung des einzelnen Gläubigen,
mag auch ihr Verstand etwas davon erfaßt haben. Nichts
ist betrüglicher in dieser Beziehung als unser Verstand.
Die wahre, durch den Heiligen Geist in der Seele
bewirkte Erkenntnis der Wahrheit teilt dieser eine befreiende
Kraft mit. Aber sie kann unmöglich diese Wirkung ausüben, ohne unser Herz und Gewissen zu berühren; und
je gründlicher dieses geschieht, um so sicherer wird ihr
Zweck erreicht. Die herrlichen Wahrheiten des Todes und
der Auferstehung Christi, Seines Sitzens zur Rechten
Gottes, Seiner Herrlichkeit als Sohn Gottes, als Sohn
des Menschen, als Erbe aller Dinge, der Einheit der
Kirche mit Ihm als Sein Leib und Seine Braut ec., sind
dann kein toter Buchstabe, keine bloße Lehre mehr für
uns; nein, sie sind Thatsachen, von deren erhebender und
befreiender Macht unser Verstand keine Ahnung hat. Wir
können vielleicht von diesen Wahrheiten reden und sie Anderen mitteilen, aber ihre Kraft bleibt Sache der
persönlichen Erfahrung.
47
Die ganze Wahrheit hat ihren Ausgangs- und Mittelpunkt in dem Sohne Gottes; sie zieht daher notwendig
alle unsre Zuneigungen und unser ganzes Wesen zu Ihm
hin, wenn anders unser Herz und Gewissen in Wirklichkeit von ihr erreicht sind. Wie könnte es anders sein?
Und wie könnten wir auch alle Einzelheiten der Wahrheit
erkennen, außer von diesem Mittelpunkte aus? Erst dann,
wenn wir die persönliche Herrlichkeit des Sohnes Gottes
durch den Geist der Wahrheit erkannt haben, verstehen
wir auch die wahre Kraft und Tragweite Seines Todes
und Seiner Auferstehung, sowie die erhabene und himmlische Stellung der Kirche und jedes einzelnen Gläubigen.
Und ebenso erkennen wir erst dann unser wahres Verhältnis zu Gott als Heilige, Auserwählte und Geliebte,
sowie unsre innigen Beziehungen zu dem Vater als geliebte Kinder.
Die Erkenntnis der Wahrheit ist daher mit der Erkenntnis des Sohnes Gottes unzertrennlich verbunden.
Der Sohn Gottes ist eS, welcher jedem einzelnen Teile
der christlichen Wahrheit ihren erhabenen, göttlichen Charakter verleiht. Der Sohn Gottes ist es, welcher für
uns starb und auferstand; der Sohn Gottes ist das Haupt
des Leibes, der Sohn Gottes unser Hoherpriester und
Fürsprecher; in Ihm, dem Sohne Gottes, sind wir jetzt
vor Gott dargestellt. Wie vollkommen ist die Erlösung,
von diesem Standpunkte aus betrachtet! Wie erhaben die
Stellung der Kirche! Wie vollkommen göttlich die Vertretung jedes einzelnen Pilgers hienieden, und wie erhaben
seine Stellung vor Gott! Wer anders hätte auch die
Macht Satans vernichten und die Pforten des Hades
sprengen können, als der Sohn des lebendigen Gottes?
48
<Matth. 16, 16.) Unsre Befreiung durch Ihn ist Seiner
Herrlichkeit als Sohn Gottes würdig; sie trägt
ganz und gar den Stempel Seiner Macht und Seines
glorreichen Sieges über die ganze Gewalt des Feindes.
Wahrlich, wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei.
Er hat diese Befreiung für alle die Seinigen bewirkt,
und Er wird bei Seinem Kommen alle thatsächlich in
dieselbe einführen. Aber Er will auch, daß sie alle jetzt
schon die Wahrheit erkennen und durch dieselbe moralischerweise frei werden, wie sie es später thatsächlich sein werden.
Das ist auch der Zweck des Dienstes in der Versammlung, wie geschrieben steht: „Bis wir alle hingelangen zu
der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des
Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Manne, zu dem
Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus, auf
daß wir nicht mehr Unmündige seien, hin- und hergeworfen
und umhergetrieben von jedem Winde der Lehre, die da
kommt durch die Betrügerei der Menschen, durch ihre Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum; sondern die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasset uns heranwachsen zu Ihm
hin, der das Haupt ist, der Christus." (Eph. 4, 13 — 16.)
Die Erkenntnis des Sohnes Gottes macht den Wandel des Christen zu einem von menschlichen Meinungen
unabhängigen, sie verleiht ihm Stetigkeit und Festigkeit;
denn sie stellt den Gläubigen außerhalb aller Beziehungen
zu der alten Schöpfung und zu alledem, was dem Verfall
unterworfen ist; sie stellt ihn auf den „festen Grund
Gottes." (2. Tim. 2, 19.) Einem solchen Christen fällt
es nicht schwer, die Wahrheit von dem Irrtum zu unterscheiden, wie groß auch die Verwirrung um ihn her sein
mag; und darum hält er auch entschieden fest an der
49
Wahrheit, selbst auf die Gefahr Hili, von Vielen als schroff
und einseitig betrachtet zu werden. Er steht außerhalb
aller Parteien und menschlichen Systeme, und kann durch
diese weder beeinflußt noch betreffs seiner Stellung zweifelhaft gemacht werden. Er weiß, was die Kirche nach
den Ratschlüssen Gottes ist, und er kennt ihr unerschütterliches Fundament — Christum, den Sohn des lebendigen
Gottes. Er kennt das Wort des Herrn: „Und auf diesen
Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades
Pforten werden sie nicht überwältigen." (Matth. 16, 18.)
Darum geht er ruhig seines Weges voran mit allen denen,
„die den Herrn anrufen aus reinem Herzen"; unbeirrt
durch die Betrügereien der Menschen und die listigen Anläufe des Feindes. Er weiß, daß dieser seine Stellung
in Christo ebensowenig antasten kann, wie er den Sohn
Gottes selbst anzutasten oder die ewigen Ratschlüsse Gottes
aufzuheben vermag.
Indes ist es, wie schon bemerkt, der Wille des Herrn
und der Zweck Seiner Wirksamkeit heute wie zur Zeit
der Apostel, daß alle die Seinigen zur Erkenntnis der
Wahrheit, zur Erkenntnis des Sohnes Gottes kommen
sollen. Er kann nie ein anderes Ziel betreffs der Seinen
verfolgen, nie Seine Gedanken ändern, noch sich nach den
von der Wahrheit abweichenden Gedanken der Menschen
richten, oder auf veränderte Umstände und Zeitverhältnisse
Rücksicht nehmen. Nach Seinen Gedanken sind und bleiben alle wahren Gläubigen Glieder des einen Leibes, von
welchem Er das Haupt ist; alle sind in einem Geiste
zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und alle sind mit einem Geiste
getränkt. (1. Kor. 12, 13.) Darum sind auch alle,
50
welche sich rühmen, lebendige Glieder des Leibes Christi
zu sein, verantwortlich, „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens" ; (Eph. 4, 3.) anders
widerstreben sie den Absichten ihres Hauptes und der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Denn auch die letztere
bezweckt heute wie damals nichts mehr und nichts weniger,
als daß alle Gläubigen „hingelangen zu der Einheit des
Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu
dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses
der Fülle des Christus." Wenn daher Gläubige eine Stellung einnehmen, welche diesen Absichten des Herrn Jesu
und des Heiligen Geistes entgegengesetzt ist, so stellen sie
sich, sei es wissentlich oder unwissentlich, mit all den
großen und kleinen Parteien auf den Boden menschlicher
Meinungen und Ueberlieferungen; und sie machen sich dadurch, sei es wissentlich oder unwissentlich, der Sünde
aller Parteien teilhaftig — sie übertreten das Wort Gottes und machen es ungültig um ihrer Ueberlieferungen
willen. (Matth. 15, 3. 6.) Ich sage nicht, daß solche
Gläubige dies absichtlich thun, aber sie stellen sich durch
ihre Teilnahme an einer Partei auf jenen Boden, und
machen sich somit der genannten Sünde teilhaftig. Vielleicht verurteilen sie die offenbar schriftwidrigen Handlungen andrer Parteien, aber dessenungeachtet verschulden sie
sich durch ihr Verharren in einer Stellung, die nicht mit
dem Worte Gottes in Uebereinstimmung ist. Wohl ist es
wahr, daß das Maß der Wahrheit, welches die verschiedenen Parteien besitzen, verschieden ist; die eine besitzt
mehr, die andere weniger. Aber keine Partei hat „die
Wahrheit" in dem eigentlichen Sinne des Wortes, wie wir
oben davon gesprochen haben; anders würde sie aufhören
51
eine Partei zu sein; die Wahrheit würde sie frei machen.
Die Erkenntnis des Sohnes Gottes ist und bleibt das
charakteristische Kennzeichen aller wirklich in der Wahrheit
stehenden Christen, und dieses giebt sich kund in ihrer
Hingebung für Christum: „Was ich aber jetzt lebe im
Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den
Sohn Gottes, der wich geliebt und sich selbst für mich
dahingegeben hat." Für solche müssen naturgemäß alle
selbstsüchtigen, parteiischen Rücksichten und Beweggründe in
den Hintergrund treten.
Es ist unser Gebet und Fleben zum Herrn, daß Er
allen Seinen teuer Erkauften die Augen öffnen möge, um
Ihn als den Sohn des lebendigen Gottes zu erkennen,
und damit die Erkenntnis der Wahrheit, wie sie in dem
Jesus ist, zu erlangen. Doch laßt uns nicht vergessen,
daß diese Erkenntnis nicht durch Fleisch und Blut, d. h. nicht
durch Menschen erlangt wird, auch nicht durch den bloßen
Verstand. Sie ist das Werk Gottes, des Vaters, der sie
durch Seinen Heiligen Geist in den Herzen Seiner Kinder
hervorbringt; wie der Herr zu Petrus sagte: „Glückselig
bist du, Simon, Bar Jona! denn Fleisch und Blut haben
es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den
Himmeln ist." (Matth. ^6, 17.) Aber wir müssen noch
einmal wiederholen, daß diese Wirksamkeit des Heiligen
Geistes in der Seele nicht ohne tiefe Herzensübungen stattfindet. Der Gläubige muß die bittere Erfahrung machen
von dem, was er ist, und erst dann wird er die befreiende Kraft der Wahrheit des Todes und der Auferstehung Christi an seinem Herzen erfahren und seine neue
Stellung in Christo, dem Sohne Gottes, erkennen.
52

„Eins weiß ich,
-aß ich blind war und jetzt sehe."
(Joh. !h 25.)
Ein Mensch, blind von Geburt, war von dem Herrn
in wunderbarer Weise geheilt und infolge dessen zu einem
lebendigen Zeugen Seiner Macht geworden. Seine Augen,
die bis dahin geschlossen gewesen waren, strahlten jetzt in
Hellem Glanze. Sie wurden zu einem schweigenden, und
doch laut redenden Beweis von der mehr als menschlichen
Macht des verachteten Jesus von Nazareth. Das Wasser
des Teiches Siloam entfernte zu gleicher Zeit den Kot
und die Blindheit aus den Augen des Blindgebornen.
Wunderbares Wasser! Aber „Siloam" heißt verdolmetscht
„Gesandt". Dieses Wasser war das erste, was die Augen
des Geheilten erblickten; dann vielleicht das nie geschaute,
herrliche Gewölbe des Himmels, dann die Stadt Jerusalem mit ihren hohen Mauern und Türmen, endlich die 
ganze Gegend umher mit ihren lieblichen Triften und
schattigen Waldungen. Welch eine Flut von Gefühlen muß
das Herz des Mannes bestürmt haben, als so seine Augen
zum ersten Male alle die Wunder der Schöpfung schauten!
Freudetrunken eilt er nach Hause, um seinen Eltern die
frohe Botschaft zu verkünden und sich ihren erstaunten
Blicken zu zeigen.
Die Nachbarn strömen zusammen. Sie fragen ihn,
wie seine Augen aufgethan worden seien. In aller Einfalt
erzählt ihnen der Geheilte: „Ein Mensch, genannt Jesus,
machte Kot und salbte meine Augen und sprach zu mir:
Gehe hin nach Siloam, und wasche dich. Als ich aber
hinging und mich wusch, ward ich sehend." Alles war so
53
einfach und klar wie möglich; aber die Erwähnung des
Namens Jesu zerstörte das Wunder. Jesus sollte den
Mann geheilt haben, Er, der Zimmermannssohn von
Nazareth? Nein, und abermals nein! Auf, zu deu Pharisäern! Sie müssen eine Erklärung des Vorgefallenen geben.
Sie waren es ja, welche in jenen Tagen alle religiösen
Streitfragen und Schwierigkeiten lösten oder doch zu lösen
sich anmaßten.
„Sie führten ihn, den vorher Blinden, zu den Pharisäern." Diese klugen Leute entdecken bald, daß die Heilung, welche an und für sich zu offenbar war, um angezweifelt werden zu können, an einem Sabbath geschehen
sei; und ihr alsbald gefälltes Urteil lautet: „Dieser Mensch
ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbath nicht." Sie
beschuldigen den gesegneten Herrn, der die Heilung vollbracht hatte, der Sünde, den Sabbath gebrochen zu haben.
Aber wo war die Sünde? Bestand sie darin, „am Sabbath
Gutes zu thun?" „Gutes thun" kann doch nicht Sünde
sein. Die Sünde mußte also der Person des Herrn selbst
anhaften.
Inzwischen hat sich die Kunde von dem Vorgefallenen
weithin verbreitet, und die Meinungen über den Herrn
sind geteilt. Die Einen schließen sich dem Urteil der Pharisäer an; die Andern fragen: „Wie kann ein sündiger
Mensch solche Zeichen thun?" Endlich fragt man den
Blindgebornen selbst, was er von Jesu halte. „Er ist ein
Prophet," lautet seine kurze, aber schöne Antwort. Jetzt
verfallen die Juden in ihrer Thorheit und in ihrer Feindschaft gegen Christum auf einen neuen Ausweg. Sie erklären, es sei gar nicht wahr, daß der Geheilte jemals
blind gewesen sei. Man ruft deshalb die Eltern herbei.
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damit sie ihren Sohn anerkennen; aber auch diese weigern
sich aus Furcht vor den Juden, von der geschehenen Heilung Zeugnis zu geben. Sie sagen: „Wir wissen, daß 
dieser unser Sohn ist, und daß er blind geboren ist; wie
er aber jetzt sieht, wissen wir nicht, oder wer seine Augen
aufgethan hat, wissen wir nicht. Er ist mündig; fraget
ihn, er wird selbst von sich reden."
Somit muß der Geheilte den Kampf allein ausfechten. Seine Feinde fordern ihn auf, Gott die Ehre zu
geben; denn, sagen sie, „wir wissen, daß dieser Mensch
ein Sünder ist." Nun, Gott die Ehre zu geben für das
Erbarmen, das ihm widerfahren war, bildete gewiß die
Freude der Seele des Blindgebornen; aber wie hätte er
Thatsachen leugnen können? Und Thatsache war, daß er
von lebenslänglicher Blindheit geheilt worden war, und
zwar durch einen Menschen, den sie einen Sünder nannten! Er erkannte ohne Zweifel sehr wohl, daß sie ihn
dahin bringen wollten, Christum zu verleugnen, oder
wenigstens ihrem bösen Urteil über Ihn Recht zu geben.
Er sollte einen Standpunkt verteidigen helfen, den er nie
eingenommen hatte. Dessen weigerte er sich entschieden.
Er zog sich auf eine Sache zurück, von welcher er wußte,
daß sie unangreifbar war. „Ob Er ein Sünder ist, weiß ich
nicht; eins weiß ich, daß ich blind war und
jetzt sehe." Das war eine unwiderlegliche Thatsache. Er
selbst stand da als ein lebendiger Zeuge von der Wahrheit derselben. Was sollten, was konnten sie darauf erwidern? Nichts. Sie stellen noch einmal dieselben Fragen
an ihn, wie seine Nachbarn; aber endlich wissen sie nichts
Besseres zu thun, als den einfältigen Zeugen für Christum
aus der Synagoge hinauszuwerfen.
Welch ein Zeugnis von der Feindschaft des Menschen
und von seiner Ohnmacht, einem Bekenntnis gegenüber,
das in einfacher, aber fester Weise abgelegt wird! Welch
einen Triumph trug der Blindgeborne über seine zahlreichen Feinde davon! Er sagte: „Ich weiß;" nicht:
„Ich denke." In diesen Dingen müssen wir der Herr-
55
schäft und Leitung unsrer Gedanken entsagen, anders
werden wir sicher und gewiß irren. So dachte einst
Naeman, der Prophet Elisa würde vor ihn hintreten und
etwas Großes von ihm verlangen; (2. Kön. 5.) so dachte
auch Paulus bei sich selbst, er müsse gegen den Namen
Jesu, des Nazareners, viel Widriges thun; und so sagt
der Herr: „Es kommt aber die Stunde, daß jeder, der
euch tötet, meinen wird, Gott einen Dienst darzubringen."
(Joh. 16.) Alle menschlichen Gedanken auf diesem Gebiet
sind verkehrt. Aber wenn eine Seele durch die Gnade zu
Christo gekommen ist, so weiß sie, daß sie errettet ist.
Die Zeit der ermüdenden und irre führenden Gedanken
ist vorüber, der bewußte Genuß hat begonnen.
Ferner heißt es nicht: „Ich fühle." Gefühle gründen
sich nur auf das, was meine Sinne wahrnehmen, und
sind deshalb so veränderlich wie der Sand der Wüste
oder die Wogen des Meeres. Man kann beiden nicht
trauen; und es wäre in der That eine armselige Sache,
wenn das Wort Gottes im. Blick auf seine Vertrauenswürdigkeit von meinen Gefühlen darüber abhinge. Ein
Fieberkranker friert an einem heißen Sommertage und
sagt: es sei kalt, trotzdem die Sonne ihre sengenden
Strahlen herabsendet; oder ein Blinder behauptet vielleicht
am Hellen Mittag, die Sonne scheine nicht. Beide urteilen
nach ihren Gefühlen, und darum gehen beide irre. Aber
„der Glaube ist aus der Verkündigung, die Verkündigung
aber durch Gottes Wort." Ein Mensch glaubt dem
verkündigten Wort, und die Folge ist Errettung und
Friede.
Noch weniger heißt es: „Ich zweifle." Zweifel
mögen einen Ungläubigen oder einen Vernunftmenschen
kennzeichnen, aber niemals einen Menschen, der die Wahrheit des Wortes Gottes erprobt hat. Dieses Wort verbannt, wenn im Glauben ausgenommen, jeden Zweifel,
jede Furcht. Es stellt den Sünder auf den Boden des
völligen Verlorenseins; es offenbart ihm einen Heiland,
der einst gestorben, aber jetzt zur Rechten der Majestät
56
droben verherrlicht ist, dessen Blut von aller Sünde reinigt, und dessen Werk aus dem Kreuze eine vollkommene
Versöhnung zuwege gebracht hat; es versichert ihn endlich
seiner ewigen Errettung in demselben Augenblick, da er es
im Glauben aufnimmt. „Da wir gerechtfertigt worden sind
aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern
Herrn Jesum Christum." Deshalb „wissen wir." Alle
Zweifel find verschwunden; wir ruhen in der süßen und
völligen Gewißheit unsers Heils. Wir mögen vielleicht außerdem wenig wissen; wir mögen sehr unerfahren und ungelehrt sein. Aber glücklich die Seele, welche in Wahrheit
sagen kann: „Eins weiß ich, daß ich blind war
und jetzt sehe!"
Keine Predigt, kein noch so gewaltiger und überzeugender Vortrag hat solche Macht wie die eigne persönliche Erfahrung. Eine Thatsache ist mehr wert als
ein ganzes Bündel der schönsten Theorieen. Wenn ich
davon reden kann, was meine Seele weiß, und nicht nur
von dem, was ich von Andern gehört habe, so sind meine
Worte voll Kraft. Wenn wir das Maß der Wahrheit,
welches uns gegeben ist, treu benutzen, so werden wir mehr
empfangen; aber soll mein Zeugnis wirkungsvoll sein, so
muß ich das reden, was ich weiß. Wenn du daher nichts
anders weißt, als daß deine Sünden dir vergeben sind,
so gieb Zeugnis davon; kennst du mehr von der Wahrheit, hast du kennen gelernt, was Rechtfertigung, Sohnschaft oder irgend etwas dergleichen ist, so rede davon mit
aller Treue, Einfalt und Bestimmtheit, durch Wort und
Wandel, damit unserm gepriesenen Herrn und Heilande
Lob und Anbetung werde für das Heil, das Er uns gegeben hat!

Das Ausharren.
„Deshalb nun lasset auch uns....
mit Ausharren laufen den vor uns
liegenden Wettlauf." (Hebr. 12, 1.)
Es dient ohne Zweifel zu unsrer Stärkung und Ermunterung, wenn wir in der Schrift von den großen
Thaten lesen, welche viele Männer Gottes durch Glauben
vollbracht haben, indem sie „der Löwen Rachen verstopften,"
„des Feuers Kraft auslöschten," den Himmel verschlossen,
so daß es drei Jahre und sechs Monate nicht regnete
u. s. w. Aber dessenungeachtet bleibt eS immer wahr, daß
das Ausharren in den gewöhnlichen Umständen dieses
Lebens von einer nicht minder großen Kraft des Glaubens
und der geistlichen Energie zeugt. Und eben deshalb hat
ein solches Ausharren in den Augen des Herrn einen
hohen Wert, so unscheinbar es auch gegenüber jenen großen
Thaten sein mag; Er wird dadurch vollkommen verherrlicht. Denn was ist das Ausharren anders als das Verharren auf dem Pfade der Abhängigkeit von Gott, trotz
der Versuchungen des Feindes, uns von demselben abzulenken ? Und nichts kann kostbarer sein in den Augen des
Herrn, als ein Wandel in steter Abhängigkeit und Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes. Ein solcher Wandel ist
der Ausfluß eines demütigen, gottergebenen Herzens, ein 
Wandel in der Furcht Gottes und in kindlichem Vertrauen
58
auf Ihn, in beständiger Selbstverleugnung und Aufopferung,
und zugleich ein Wandel in der Kraft und Energie des
Heiligen Geistes. Der Herzenszustand eines auf diesem
Pfade wandelnden Gläubigen kennzeichnet sich durch das
moralische Gleichgewicht seiner Seele. Durch welche Umstände ihn sein Weg auch führen mag, ob durch angenehme
oder unangenehme, ob durch Glück und Freude oder durch
Leid und Schmerz, immer sehen wir ihn vorangehen in
der selben Ruhe des Geistes, welche das beständige Harren
auf die Leitung Gottes verleiht. Er ist nie abhängig
von den Umständen, und läßt sich durch die günstigen
ebensowenig zur Ueberhebung verleiten, wie durch die ungünstigen entmutigen.
Dieses Verharren auf dem Pfade der Abhängigkeit
von Gott ist die große, wichtige Sache, welche Gott von
uns erwartet und erwarten muß. Als solche, die aus
Gott geboren und nicht von dieser Welt sind, sollte unsre
Sprache derjenigen des Herrn Jesu gleichen, welcher einst
sagte: „Denn ich bin vom Himmel herniedergekommen,
nicht auf daß ich meinen Willen thue, sondern den
Willen Dessen, der mich gesandt hat." (Joh. 6, 38.)
Alle unsre Worte und Handlungen sollten der Ausdruck
des „guten, wohlgefälligen und vollkommenen Willens
Gottes sein." (Röm. 12, 2.) Aber ach! wie gern folgen
manche Kinder Gottes ihrem eignen Willen, wie gern
gehen sie ihre eignen Wege! Wie oft versäumen sie es,
in allen Dingen, seien es kleine oder große, nach dem
wohlgefälligen Willen Gottes zu fragen! Vielleicht thun
sie es bei großen wichtigen Unternehmungen oder bei besonderen Anlässen, wie das Leben in dieser Welt sie mit sich
bringt, bei Heiraten, bei der Gründung eines Geschäfts,
59
bei dem Eintritt in eine neue Stellung und dergleichen;
während sie bei kleineren, unwichtigeren Dingen ihren
eignen Gedanken und Meinungen folgen und sich ganz
und gar den Entscheidungen ihres Verstandes überlassen.
Und selbst bei den zuerst genannten wichtigeren Unternehmungen denken Viele nicht einmal daran, den Willen
des Herrn zu erforschen; oder wenn sie es thun, so geschieht es doch nur in einer oberflächlichen, dem Ernst der
Sache durchaus nicht entsprechenden Weise. Was sie leitet,
sind ihre eigenen Wünsche und Interessen; sie handeln
nach den Grundsätzen der Kinder dieser Welt, das heißt
sie fragen nur nach dem, was ihrem äußern Fortkommen
förderlich erscheint, was ihre irdische Stellung zu verbessern vermag. Aber ein solches Verhalten ist durchaus
nicht ein Wandel in der Abhängigkeit vom Herrn. Bei
solchen Gläubigen fehlt es an dem aufrichtigen Verlangen,
nichts anderes als den Willen Gottes thun zu wollen;
sie verstehen nicht den Zweck, für welchen sie in dieser
Welt sind. Denn in diesem Falle würden sie in den
kleinsten Dingen ebenso gewissenhaft nach dem Willen
Gottes zu handeln suchen, wie in den großen. Das ist
immer ein untrüglicher Prüfstein wahrer Treue; denn
„wer im Geringsten treu ist, ist auch in vielem treu, und
wer im Geringsten ungerecht ist, ist auch in vielem ungerecht." (Luk. 16, 10.)
Ohne Zweifel besteht in dieser Beziehung ein großer
Mangel unter den Gläubigen unsrer Zeit. Viele leben
in den Tag hinein, ohne zu wissen, was wahre Abhängigkeit ist. Man hütet sich so viel als möglich vor offenbaren Sünden und Vergehungen; aber es fehlt jenes
zarte Gewissen, welches auf alle die Bewegungen des
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Fleisches acht hat, um sie zu richten und zu verurteilen.
Einen äußerlich sittlichen und ehrbaren Wandel können
auch Unbekehrte führen, und in der That beschämen solche
oft manchen Christen. Aber das beständige Warten auf
die Leitung Gottes, oder mit andern Worten, ein Wandel
in dem Pfade der steten Abhängigkeit von Ihm, ist eine
ganz andere Sache. Das vermag nur ein Mensch, der
sein eignes Nichts in dem Lichte Gottes erkannt, und erfahren hat, daß alle seine Kraft, alle seine Quellen in
Gott sind; und auch er bedarf dazu des AusharrenS, wie
geschrieben steht: „Denn ihr bedürfet des Ausharrens,
auf daß ihr, nachdem ihr den Willen Gottes gethan, die
Verheißung davontraget." (Hebr. 10, 36.) Deshalb führt
uns Gott in Seiner Weisheit und Liebe Wege, durch
welche der eigne Wille gebrochen und das Ausharren
bewirkt wird. Selbstredend sind diese Wege bitter für das
Fleisch; denn anders würde dessen Wirksamkeit nicht gehemmt und der eigne Wille nicht gebrochen werden.
Um so sicherer aber wird das Ausharren durch dieselben
bewirkt.
Dies erklärt die ernsten Wege des Herrn mit den
Seinigen in unsern Tagen. Ueberall unter den Gläubigen
begegnen wir Schwierigkeiten, Prüfungen, Krankheiten und
Leiden aller Art. Viele befinden sich in andauernd drückenden Geschäftsverhältnissen und harren bereits seit Jahr
und Tag vergeblich auf eine Wendung zum Besseren. Bei
aller Anstrengung geht es eher rückwärts als vorwärts;
die Ungunst der Verhältnisse spottet ihrer Weisheit und
Geschicklichkeit; und während vielen Anderen alles gelingt,
was sie in geschäftlicher Beziehung beginnen, schlagen ihre
Unternehmungen ausnahmslos fehl. Wie giebt es ferner
61
so viele traurige Familienverhältnisse; wie viel Schmerz
und Kummer bei so manchen Eltern, welche ihre Kinder
in die Welt zurückkehren sehen müssen, nachdem dieselben
schon in früher Jugend tiefe und bleibende Eindrücke
empfangen zu haben schienen und auch jahrelang mit den
Eltern, abgesondert von der Welt und ihrem Treiben,
vorangegangen sind! Welch ein Schmerz für solche Eltern,
sehen zu müssen, daß alle ihre liebevollen und ernsten
Ermahnungen vergeblich und ihre heißen Gebete unbeantwortet zu bleiben scheinen; daß ihre Kinder trotz alledem nur noch mehr abirren, und je länger je schlimmer
es treiben! Und weiter — wie mancher Gläubige empfindet
in demütigender Weise den beharrlichen Widerstand seiner
unbekehrten Frau betreffs der Erziehung der Kinder! Wie
schmerzlich für ihn, erfahren zu müssen, daß alle seine
Bemühungen und Gebete für die Errettung seiner Frau
und Kinder ohne Erfolg bleiben! Wie manche gläubige
Frau wiederum seufzt unter der harten Behandlung ihres
ungläubigen Mannes, ohne auch nur die geringste Veränderung seines Benehmens nach jahrelangem Warten
wahrzunehmen! Wie groß ist ferner das Elend in so
manchen Familien, wo der einzige Ernährer seit Wochen
oder gar Monaten ans Krankenlager gefesselt ist! Wer
beschreibt den Schmerz Anderer, die einen ihrer geliebten
Angehörigen hoffnungslos dahinsiechen sehen müssen, während er doch nach menschlichem Ermessen noch so nötig in
ihrer Mitte wäre! Noch Andere, die alt und lebensmüde
ihre gebrechliche Hütte gern ablegen möchten, seufzen trotzdem schon lange unter der Last ihrer Jahre und schleppen
ihr Leben unter großen Schmerzen und Entbehrungen dahin, zu innigem Leidwesen ihrer Umgebung.
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Doch wer vermöchte die tausenderlei Dinge aufzuzählen, welche alltäglich wiederkehrend unsre Geduld und
Liebe auf die Probe stellend Dennoch müssen wir in allem
die wohlberechneten Wege des Herrn mit den Seinigen
erkennen. Wie leicht könnte Er alles ändern; wie leicht
die Umstände dem Geschäft günstig gestalten; wie leicht
die störrigen Kinder zur Umkehr bewegen, die Frau oder
den Mann bekehren, den Ernährer der Familie wiederherstellen oder den Altersschwachen zur ersehnten Ruhe
einführen! Er, der in den Tagen Seines Fleisches mit
einem Worte Sturm und Wellen zu beschwichtigen, Kranke
zu heilen und Hungrige zu speisen vermochte, vermag heute
noch dasselbe. Er verändert sich nie; Er ist „derselbe
gestern und heute und in Ewigkeit." Und es fehlt Ihm
weder an Macht, noch an Liebe und Einsicht. Aber nach
Seiner göttlichen Weisheit hat Er alle jene ernsten Wege
und Umstände genau so abgemessen und eingerichtet, wie
sie zur Erreichung Seiner Absichten nötig sind. Er, der die
Haare unsers Hauptes gezählt hat und ohne dessen Willen
kein Sperling vom Dache fällt, hat acht auf jeden Atemzug, auf jeden Schritt Seiner Kinder. Er kennt all ihren
Kummer und alle ihre Schmerzen; kein Seufzer entgeht
Ihm. Und Er will, daß alles genau so sei, wie es ist;
Er will ihren Kummer, ihre Not und ihre Schmerzen —
nicht, um sie zu betrüben; ach nein! sondern weil dies
der einzige Weg für sie ist, um Ausharren in ihnen
zu bewirken. Das ist eine unschätzbare Gnade, wie
wenig dies auch unsrer armen, schwachen Natur einleuchten
mag. Ja wahrlich, es ist ein großes Glück für uns, daß 
der Herr nicht abläßt, nach Seinen Gedanken und nicht
nach unsern Meinungen mit uns zu handeln.
63
Aber ach! wie schwer fällt es uns oft, dieses für ein 
Glück zu halten. Wie wenig sind wir bereit, mit dem
Apostel zu sagen: „Wir rühmen uns auch der Trübsale, wissend, daß die Trübsal Ausharren bewirkt."
(Röm. 5, 3.) Die unaufhörlichen Klagen bei so vielen
Gläubigen bezeugen es nur zu deutlich, daß der Zweck
der Wege Gottes noch nicht bei ihnen erreicht, der eigne
Wille noch nicht gebrochen und das Ausharren noch nicht
bewirkt ist. Denn wo letzteres der Fall ist, wird man
sein Leid ohne Klagen und Murren still und ergeben vor
Gott tragen. Man schüttet sein Herz vor Ihm aus,
und fühlt sich erleichtert durch den Genuß Seiner Nähe,
Seiner Erbarmungen und Tröstungen. Das ist die erste
Frucht des Ausharrens, wie der Apostel sagt: „Es sei
aber, wir werden bedrängt, so ist's um euers Trostes und
Heiles willen, das bewirkt wird in dem Ausharren
in denselben Leiden, die auch wir leiden." (2. Kor. 1, 6.)
Das Herz ist alsdann in der Gegenwart Gottes und erfährt den Frieden und die Ruhe des Heiligtums; es genießt den Trost eines Vaters, der uns unaussprechlich
liebt, der mit uns fühlt und unsre Thränen trocknet.
Diesen Platz im Heiligtum dürfen wir selbst unter den
schwersten Prüfungen nicht aufgeben. Wo anders als
dort könnte man auch die nötige Kraft zum Ausharren
finden? Asaph wurde nicht eher von seinem Unmut befreit,
bis er „hineinging in die Heiligtümer Gottes." (Ps. 73.)
Dort sah er alles in göttlichem Lichte, nach seiner wahren
Gestalt, und seine Sprache ist von da an völlig verändert. Anstatt zu murren über die Wohlfahrt der Gesetzlosen, verurteilt er seine eigne Thorheit und findet sein
Alles in dem Herrn selbst. Auch David kannte dieses
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Heiligtum und fand dort seine Kraft, als er sich in der
Stunde der schwersten Prüfung befand, sich mit einem
Male seiner Weiber, seiner Habe und seines Thrones beraubt sah, und als sein eignes Volk im Begriff stand, 
ihn zu steinigen. Wir lesen von ihm aus jener Zeit:
„Aber David stärkte sich in Jehova, seinem Gott."
(1. Sam. 30, 6.) Von außen bedrängt und innerlich
mit Furcht erfüllt, nahm er gleich dem Apostel seine Zuflucht zu Dem, „der die Niedrigen tröstet," und fand bei
Ihm Trost, Kraft, Hülfe und Leitung. (Vergl. 2. Kor.
7, 5. 6.) Ebenso wird der treue Ueberrest der letzten
Tage in seinen schrecklichen Leiden dieses Heiligtum als
seinen einzigen Zufluchtsort kennen. Wie rührend sind
z. B. die Worte, welche ihm im 42. Psalm in den Mund
gelegt werden: „Meine Thränen sind meine Speise Tag
und Nacht, da man den ganzen Tag zu mir sagt: Wo
ist dein Gott? Was beugst du dich nieder, meine Seele,
und bist unruhig in mir? Harre auf Gott! Denn ich
werde Ihn noch preisen für daS Heil Seines Angesichts.
Tiefe ruft der Tiefe beim Brausen Deiner Wassergüsse;
alle Deine Wogen und Deine Wellen sind über mich hingegangen. Was beugst du dich nieder, meine Seele, und
was bist du unruhig in mir? Harre auf Gott! Denn
ich werde Ihn noch preisen, der das Heil meines Angesichts und mein Gott ist." Bei allem Leid findet man
hier keine Klagen, kein Hülfesuchen bei Menschen, Wohl
aber ein beständiges Harren ans Gott.
Welch ein harter Schlag war es ferner für Aaron,
als ihm durch ein ernstes Gericht plötzlich seine beiden
Söhne entrissen wurden! Trotzdem durfte er daS Heiligtum nicht verlassen, sein Haupt nicht entblößen und seine
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Kleider nicht zerreißen; „denn", wurde ihm und seinen
Söhnen gesagt, „das Salböl Jehovas ist aus euch." Und
wie schön drückt der Heilige Geist die stille Ergebenheit
Aarons ans durch die bedeutungsvollen Worte: „Und
Aaron schwieg." (3. Mose 10, 1—7.) Nichts hätte
seiner Stellung unter diesen Umständen angemessener sein
können. Aber wie viel mehr geziemt sich ein solches Verhalten für uns, die wir, gesalbt mit dem Heiligen Geiste,
als ein heiliges Priestertum in die Gegenwart Gottes gebracht sind. Mit welch einer Hingebung nahm auch der
Apostel Paulus den ihm gegebenen „Dorn für das Fleisch,"
die Faustschläge „des Engels des Satans", hin! Er sagt:
„Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten,
an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Aengsten
für Christum." (2. Kor. 12, 7—10.) Und wie erhaben
steht schließlich das Vorbild unsers teuren Heilandes selbst
vor unsern Augen! Er, „der Sünde nicht kannte," stieg
unsertwegen in die Tiefen unergründlicher Leiden hinab;
Er war „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden bekannt." Und wie schildert der Heilige Geist durch den
Mund des Propheten Sein Verhalten in allen diesen Leidend
„Er war bedrängt und unterdrückt, aber Er that Seinen Mund nicht auf; wie ein Lamm ward Er zur
Schlachtung geführt, und wie ein Schaf, das stumm ist
vor seinen Scherern, und Er hat Seinen Mund
nicht aufgethan." (Jes. 53.) Petrus macht uns noch
besonders auf dieses Beispiel aufmerksam, indem er uns
durch dasselbe zum AuSharren in der Ertragung des
Bösen zu ermuntern sucht: „denn hierzu seid ihr berufen;
denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein
Beispiel gelassen, auf daß ihr Seinen Fußstapfen nach­
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folgen sollt; welcher keine Sünde that, noch ward Betrug
in Seinem Munde erfunden, der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich Dem übergab,
der recht richtet." (1. Petri 2, 20—22.)
Viele Gläubige ermangeln auch deshalb der Kraft
zum Ausharren, weil sie ihre himmlische Berufung und
die damit verbundene lebendige Hoffnung mehr oder weniger außer acht lassen. Die Liebe Gottes hat uns mit
Christo in einer Weise eins gemacht, daß wir Mitgenossen
Seiner Leiden und Seiner Herrlichkeit sein sollen. Das
Wort redet zu uns als zu „heiligen Brüdern, Genossen
der himmlischen Berufung." (Hebr. 3, 1.) Infolge dessen
ist uns der Pfad, den wir zu gehen haben, genau vorgczeichnet: es ist der Pfad Christi; und dieser Pfad ist bis
zur Herrlichkeit hin ein Pfad des Ausharrens. Christus
konnte sagen: „Beharrlich habe ich geharrt auf Jehova."
(Ps. 40, 1.) Und auch jetzt noch in der Herrlichkeit wartet
Er mit Ausharren auf den Augenblick, da Er Seine geliebte Braut zu sich nehmen kann. So finden wir denn
in dem Ausharren Christi den Charakter und die
Richtschnur unsers Ausharrens. Die Liebe Gottes
aber hat, indem sie uns zu Mitgenossen Christi machte,
Sein Ausharren zu einem Vorrecht für uns gemacht.
Deshalb sagt der Apostel: „Der Herr aber richte eure
Herzen zu der Liebe Gottes und zu dem Ausharren des
Christus!" (2. Thess. 3, 5.) Der Herr will in Seiner
herablassenden Gnade unser Ausharren als ein Ausharren
mit Ihm betrachten, wie Er zu Seinen Jüngern sagt:
„Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in
meinen Versuchungen." (Luk. 22, 28.) Es mag sein,
daß das Ausharren auf dem Wege ernster Züchtigungen
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bei uns bewirkt werden muß; aber sobald es in uns bewirkt ist, treten wir thatsächlich in die Fußstapfen Christi
und sind Seine Mitgenossen. Wir genießen alsdann Seine
Gemeinschaft nnd Seine Tröstungen auf dem Wege inmitten der Leiden, wie dieselben einst von den drei Männern
genossen wurden in der Glut des Feuerofens; (Dan. 3, 25.)
Zugleich richtet Er unsre Blicke auf den herrlichen Augenblick Seiner nahen Ankunft, auf welchen Er selbst wartet.
Diese Gemeinschaft mit den Leiden und der Herrlichkeit
Christi verleiht unserm Ausharren seinen wahren Charakter
und seine wahre Kraft; sie giebt ihm das göttliche Gepräge der wahren Treue und Absonderung von der Welt.
Und von dem Augenblick an, da wir beginnen, das AuSharren mit Christo als ein Vorrecht zu betrachten, erscheinen uns die Leiden und Prüfungen in einem ganz
andern Lichte: wir rühmen uns dann derselben. Das
Herz ist losgelöst von den Dingen dieser Welt, hat
Christum und Seine Verherrlichung zum Gegenstand und
lebt in der sehnsuchtsvollen Erwartung Seiner baldigen
Ankunft.
Dieser Zustand ist ein bemerkenswerter, vom Herrn
anerkannter Charakterzug der Versammlung in Philadelphia.
Er sagt in dem Sendschreiben an dieselbe: „Weil du das
Wort meines AuSharrens bewahrt hast, so will auch
ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über
den ganzen Erdkreis kommen wird, zu versuchen, die auf
der Erde wohnen. Ich komme bald; halte fest, was du
hast, auf daß niemand deine Krone nehme!" (Offbg. 3,
10. 11.) Derselbe Zustand zeigte sich bei den Thessalonichern, betreffs derer der Apostel sagt: „Unablässig
eingedenk euers Werkes des Glaubens und der Bemühung
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der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung auf unsern
Herrn Jesum Christum." (1. Thess. 1, 3.) An den jungen
Gläubigen in Thessalonich offenbarte sich das Christentum
in der Fülle seiner Kraft und seines himmlischen Charakters. Ausgestoßen von der Welt, legten sie ihr gegenüber
durch ihr ganzes Verhalten ein entschiedenes Zeugnis ab,
und ertrugen die Verfolgungen in der Kraft und Freude
des Heiligen Geistes und der beständigen Erwartung des
Herrn Jesu vom Himmel. Dies war überaus köstlich für
das Herz des Herrn; aber noch köstlicher ist es für Ihn,
wenn sich in diesen letzten Tagen unter den Gläubigen
ein ähnlicher Zustand der Erwartung des Herrn und der
Trennung von der Welt wiederfindet, nachdem die bekennende Kirche bereits Jahrhunderte hindurch ihren himmlischen Charakter eingebüßt und die Erwartung des Herrn
aufgegebeu hat. Wie sehr der Herr diesen Zustand der
Gläubigen unsrer Tage anerkennt, bezeugt Sein Zuruf an
dieselben: „Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!" Dieses Ausharren kennzeichnete auch das Verhalten und den Wandel des Apostels
PauluS: „Du aber hast genau erkannt meine Lehre, mein
Betragen, meinen Vorsatz, meinen Glauben, meine Geduld,
meine Liebe, mein Ausharren, meine Verfolgungen,
meine Leiden." (2. Tim. 3,10.) Demselben Ausharren begegnen wir auch bei dem Apostel Johannes: „Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Drangsal und dem
Königtum und dem Ausharren in Jesu." (Offbg. 1, 9.)
In Verbindung mit dem Gesagten möchte ich noch
auf eine Gefahr aufmerksam machen, die uns allen sehr
nahe liegt. Während wir vielleicht bereit sind, in großen
Dingen auszuharren, neigen wir stets dahin, „den Tag
69
der kleinen Dinge zu verachten." (Sach. 4, 10.) Wir
bedenken dabei aber nicht, daß das Ausharren in den
kleinen Dingen, in den stets wiedcrkehrenden tausenderlei
Prüfungen unsers täglichen Lebens, ebenso großen Wert
in den Augen Gottes hat, wie jenes. Mancher möchte
vielleicht in seinem Eifer für die Sache des Herrn geneigt
sein, in die Fußstapfen eines großen Märtyrers zu treten,
während es ihm schwer fällt, in verhältnismäßig unbedeutenden Prüfungen auszuharren. Aber wir können versichert sein, daß dem Gläubigen, der auf seinem langwierigen Krankenlager ausharrt und seine Schmerzen mit
Geduld erträgt, oder der die Lieblosigkeiten und Verkehrtheiten seiner Umgebung Tag für Tag mit ausharrender
Liebe und Nachsicht erduldet, oder der den ihm von Gott
angewiesenen Beruf trotz der damit verbundenen Mühsale
und Schwierigkeiten in unablässiger Treue und Liebe gegen
Christum ausübt, die völligste Anerkennung des Herrn zu 
teil wird. Er wird zu ihm sagen: „Du hast mit mir
ausgeharrt in meinen Versuchungen." — „Wohl, du guter
und getreuer Knecht! über weniges warst du getreu, über
vieles werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude
deines Herrn." (Luk. 22, 28; Matth. 25, 21.)
Treues Ausharren in kleinen Dingen ist immer das
Kennzeichen echter Treue, und wird von dem Herrn ebenfalls als ein Ausharren mit Ihm und in Seinen
Versuchungen bezeichnet; denn Er ist durch alle diese
Versuchungen hindurchgegangen. „Er ist in allem versucht worden in gleicher Weise, ausgenommen die Sünde."
(Hebr. 4, 15.) Nicht daß Er persönlich krank gewesen
wäre; aber Er nahm durch Sein vollkommenes Mitgefühl
unsre Schwachheiten auf sich und trug unsre Krankheiten.
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(Vergl. Matth. 8, 17.) Außerdem aber dürfen wir überzeugt sein, daß Er das menschliche Leben mit allen seinen
mannigfaltigen Versuchungen aus eigenster Erfahrung kennt.
Nach den wenigen Andeutungen, welche die Schrift uns
darüber an die Hand giebt, hat Er den weitaus größten
Teil Seines heiligen Lebens in den bescheidensten und einfachsten Familienverhältnissen zugebracht. „Denn ihr kennet",
sagt der Apostel, „die Gnade unsers Herrn Jesu Christi,
daß Er, da Er reich war, um euertwillen arm wurde,
auf daß ihr durch Seine Armut reich würdet." (2. Kor.
8, 9.) Er war unter Seinen Zeitgenossen bekannt als der
„Zimmermann". „Ist dieser nicht der Zimmermann, der
Sohn der Maria, und ein Bruder des Jakobus und
Joses und Judas und Simon? nnd sind nicht Seine
Schwestern hier bei uns?" (Mark. 6, 3.) Dies läßt
darauf schließen, daß Er alle die mit einem solchen Berufs- und Familienleben verbundenen Beschwerden, Mühen
und Entbehrungen kennen gelernt hat. Dieser weitaus
größte Teil Seines Lebens war ein Tag kleiner Dinge
im Vergleich mit Seinem späteren öffentlichen Auftreten.
Aber das, was diesen Abschnitt seines Lebens so wichtig
macht, ist, daß Er in demselben den Willen Seines Vaters erfüllt und Ihn vollkommen verherrlicht hat.
Und dies allein macht auch unser Leben, mag es nun
kurz oder lang währen, bedeutungsvoll für die Ewigkeit.
Die wichtige Frage wird nicht sein, durch welche Umstände
wir gegangen, sondern wie wir hindurchgegangen sind;
ob wir in denselben den Willen Gottes gethan und Ihn
verherrlicht haben. Es ist von verhältnismäßig geringer
Wichtigkeit, ob man hienieden Herr oder Knecht, Fürst
oder Unterthan, ein Apostel oder ein gewöhnlicher Hand­
71
werter gewesen ist; vielmehr gilt die Frage, ob man die
angewiesene Stellung treu ausgefüllt hat. Ohne Zweifel
bedingt eine höhere Stellung eine größere Verantwortlichkeit. Aber ein einfacher, schlichter Knecht, der mit ausharrender Trene Seinem leiblichen Herrn dient, wird mehr
Lohn empfangen als ein Gläubiger, der in seiner hohen
Stellung weniger treu ist; denn „er dient dem Herrn
Christo". (Kol. 3, 24.) Es ist daher eine große Thorheit,
wenn Christen durchaus nach einer Veränderung oder Verbesserung ihrer Verhältnisse trachten, anstatt daran zu
denken, daß der Herr will, daß sie gerade in den Verhältnissen, in welche Er sie gestellt hat, Ihm dienen sollen.
Wie bitter die Umstände für Paulus in seiner Gefangenschaft zu Rom auch sein mochten, so war er doch vollkommen glücklich und zufrieden, weil dieselben zur Förderung des Evangeliums und zur Ausbreitung der Kenntnis des Namens Christi dienten. Er hatte betreffs seines
Lebens hienieden nur den einen Wunsch, daß Christus
hocherhoben werde an seinem Leibe, sei es durch Leben
oder durch Tod. (Phil. 1, 12 — 20.) Er bestimmte seinen
Weg nicht selbst, sondern war bereit, denjenigen zu gehen,
welchen sein Herr für ihn bestimmt hatte. DaS, Geliebte,
heißt, „mit Ausharrenlaufenden vor uns liegenden
Wettlauf." Der von Gott abhängige Glaube wählt nie,
sondern nimmt alles aus der Hand Gottes an. Er weiß,
„daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken" müssen, und darum harrt er in einfältigem,
kindlichem Vertrauen auf dem Pfade aus, welchen Gott
ihn führt.
72
Ein guter Kriegsmann Jesu Christi.
(2. Timoth. 2, 3—6.)
Paulus war am Ende seiner bewegten, aber so reich
gesegneten Laufbahn angelangt. Er schreibt in seinem
zweiten Briefe an Timotheus: „Denn ich werde schon zum
Opfer gesprengt, und die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden. Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe
den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan
ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr,
der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an
jenem Tage." (Kap. 4, 6—8.) Der genannte Brief beschäftigt sich nicht mit den Vorrechten der Versammlung
gemäß den ewigen Gnadenratschlüssen Gottes, sondern mit
der Treue oder Untreue gegenüber unsrer Verantwortlichkeit als auf der Erde pilgernde Gläubige und Diener
Gottes. Die Gnade Gottes bringt alle Gläubige in den
Genuß der Herrlichkeit Christi; alle werden für immer
bei Ihm und Ihm gleich sein. Außerdem aber wird ein 
jeder derselben einen besondern Platz haben, der in Uebereinstimmung steht mit der Treue, mit welcher er in der ihm
angewiesenen Stellung gearbeitet hat — einen Platz, der
einem jeden durch den Vater bereitet ist und durch den
Sohn gegeben wird.
Paulus hatte treu ausgeharrt und den ihm anvertrauten Glauben bewahrt; jetzt erwartete er für seine
durch die Kraft des Heiligen Geistes gewirkte Arbeit und
Mühe den Lohn, die Krone der Gerechtigkeit von feiten des
gerechten Richters, der seine Treue anerkannte. :(Doch war
sein Herz tief und schmerzlich bewegt über den Zustand
der Versammlung Gottes, die er unter der Leitung des
Heiligen Geistes inmitten der Nationen gegründet hatte.
73
Sie war schon weit von den Grundsätzen, auf welchen er
sie erreichtet hatte, abgewichen; trotz seiner beharrlichen
Wachsamkeit hatte sie ihren ersten Zustand nicht bewahrt.
In seiner großen Liebe zu ihr hatte der Apostel unaufhörlich für sie gebetet, gearbeitet und gelitten, wie ein 
Vater sie ermahnt, wie eine nährende Mutter ihren Säugling sie gepflegt; (1. Thess. 2.) aber trotzdem hatte sich
ihr Zustand in betrübender Weise verschlechtert, und ihr
Zeugnis in der Welt war schwach geworden. Sie entfernte
sich mehr und mehr von der Quelle der Kraft, und gab
den Charakter ihrer Absonderung von der Welt allmählich
auf. Und dies alles war, wie der Apostel sehr wohl wußte,
nur der Anfang eines noch weit schrecklicheren Verfalls.
Schon hatten sich die Christen in Asien ganz und gar von
ihm abgewandt. (Kap. 1, 15.) Mochten sie auch das Bekenntnis des Christentums nicht aufgegeben haben, so wollten sie doch nicht länger in Verbindung sein mit einem
Manne, der von allen Seiten gehaßt und verfolgt wurde,
weil er mit hingebender Treue und ungeschwächter Energie
den Pfad des Glaubens verfolgte.
Inmitten dieser traurigen und schmerzlichen Erfahrungen war es sicher eine süße Erquickung für das Herz
des Apostels, bei einigen treuen Seelen verweilen zu können,
welche, wie sein geliebter Timotheus und sein dienstfertiger,
teilnehmender Onesiphorus, fest und treu zu Christo hielten und auch Seines in Kerker und Banden schmachtenden
Knechtes sich nicht schämten. Vor ersterem schüttet er in
der zweiten an ihn gerichteten Epistel sein tief bekümmertes
Herz aus, teilt ihm seine persönlichen Erfahrungen mit
und spricht mit ihm über den traurigen und immer zunehmenden Verfall der Versammlung. Zugleich bezeugt er
74
ihm, daß Gott trotz aller Untreue der Menschen treu bleibe,
und daß das Fundament der Versammlung oder der Kirche
Gottes unbeweglich und sicher sei. So unveränderlich aber 
die Treue Gottes ist, so unveränderlich bleibt auch die
Verantwortlichkeit des Einzelnen; denn die Gnade Christi
ist bereit, zu allen Zeiten und in allen Umständen die
nötige Kraft zum Ausharren darzureichen.
Im Blick aus jenes immer mehr um sich greifende
Verderben inmitten der Versammlung, das in nicht allzulanger Zeit eine schreckliche Höhe erreichen sollte, ermahnt
nun der Apostel den Timotheus, festzustehen, von jedem
Bösen getrennt zu bleiben und vor allem ohne Wanken
die Wahrheit ausrecht zu halten. In Kap. 1, 13. 14 ruft
er ihm zu: „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du
von mir gehört hast, im Glauben und in der Liebe, die
in Christo Jesu ist. Bewahre das schöne anvertraute Gut
durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt." Und wiederum: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast, da
du weißt, von wem du gelernt hast." (Kap. 4,14.) Noch
an mehreren andern Stellen dieser ernsten und für unsre
gegenwärtige Zeit so wichtigen Epistel ermuntert und ermahnt er seinen jungen Mitarbeiter zu ausharrender Treue
und Energie. Doch möchte ich mich hier nur mit einer
dieser Stellen beschäftigen, und zwar mit der Ermahnung,
die wir in Kap. 2, 3—6 finden: „Du nun leide Trübsal
als ein guter Kriegsmann Jesu Christi. Niemand, der
Kriegsdienste thut, verwickelt sich in die Beschäftigungen
des Lebens, auf daß er dem gefalle, der ihn angeworben
hat. Wenn aber auch jemand kämpft, so wird er nicht gekrönt, wenn er nicht gesetzmäßig kämpft. Der Ackerbauer
muß, um die Früchte zu gemeßen, zuerst arbeiten."
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In diesen Versen vergleicht der Apostel den Timotheus in seiner dienstlichen Stellung mit einem Kriegsmanne; zugleich giebt er die praktischen und nötigen Bedingungen an, welche ein guter Kriegsmann zu erfüllen
hat, und die für einen jeden, dem ein Dienst im Reiche
Gottes anvertraut ist, heute noch ebenso beherzigenswert
sind, wie damals für Timotheus. Er ermahnt ihn also zunächst: „Du nun leide Trübsal als ein guter Kriegsmann
Jesu Christi." <V. 3.)
Wir durchschreiten eine feindselige, gottentfremdete Welt,
und alle, welche gottselig leben wollen, werden den Haß und
die Feindschaft derselben erfahren und zu ertragen haben.
Dies war in vollkommenem Maße bei unserm gepriesenen
Herrn selbst der Fall, als Er hienieden wandelte. Er kam
in Sein Eigentum, zu Seinem geliebten Volke, aber die
Seinigen nahmen Ihn nicht auf. Er kam, um zu suchen
und zu erretten, was verloren war; Er verkündigte die 
herrlichste Gnadenbotschaft und erwies an Tausenden Seine
Güte, Liebe und Macht; aber die Menschen ruhten nicht
eher, bis sie Ihn getötet hatten. Und wie viele Tausende
der Seinigen sind nach Ihm, sowohl von selten der Juden
und Heiden, als auch namentlich von feiten derer, die den
Namen Christi tragen, getötet worden! Stets hat sich derselbe Haß, dieselbe Feindschaft der Menschen gegen Gott
und Sein Wort geoffenbart. Vor allem aber sind die von
Gott berufenen und ausgerüsteten Diener des Evangeliums
oder des Wortes Gottes stets ein Gegenstand der Verachtung und des Hasses gewesen. Paulus schreibt in seiner 
Epistel an die Korinther: „Als Auskehricht der Welt sind
wir geworden, ein Auswurf aller bis jetzt." (1. Kor. 4,13.)
Ein ergreifendes Bild seiner mannigfachen Leiden finden
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wir in 2. Kor. 11, 23 — 33; und wie vieles hat er später
noch zu erdulden gehabt, bis endlich sein Lauf vollendet
war und er auch im Tode noch Seinen Herrn verherrlichen durfte! Dieser schöne Augenblick war für ihn herangerückt, als er seinen zweiten Brief an Timotheus schrieb,
an sein geliebtes Kind, wie er ihn nennt. Ach, er mußte
ihn in dieser feindseligen Welt und inmitten einer Kirche,
deren Verfall sich schon so deutlich kundgab, zurücklassen.
Was stand Timotheus bevor? Ohne Zweifel Trübsale aller Art. Deshalb ermuntert ihn der Apostel, nicht
mutlos zu werden, sondern auszuharren und die Trübsale
zu erdulden. Das Evangelium, welches ihm anvertraut
war, diese so überaus herrliche, göttliche Botschaft, war
ja mit denen, welche es verkündigten, ein Gegenstand der
Verachtung und des Hasses seitens der Welt. Als ein 
treuer Diener Gottes, als ein guter Kriegsmann Jesu
Christi mußte Timotheus auf allerlei Widerwärtigkeiten,
Beschwerden und Leiden gefaßt sein und sie zu ertragen
wissen. Zwar haben alle Gläubigen die wichtige und ernste
Ermahnung des Apostels zu beherzigen, aber ganz besonders diejenigen, welche vom Herrn in Seinen Dienst
berufen sind. Sicher wird ein jeder, der treu ist und in
der Wahrheit wandelt, ein jeder, der das Bild gesunder
Worte im Glauben und in der Liebe, die in Christo Jesu
ist, festhält, auch in unsern Tagen inmitten einer Christenheit, deren Verfall den Gipfelpunkt erreicht hat, Spott
und Verachtung zu erdulden und allerlei Hindernissen und
Schwierigkeiten zu begegnen haben; aber vor allem fällt
auch heute noch diese Schmach und Verachtung, dieser
Widerstand und diese Feindschaft seitens der Welt auf
jene, die mit Treue und Energie an diesen gesunden Wor­
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ten unverrückt festhalten und sie Andern anpreisen. Deshalb gilt, wie gesagt, auch ihnen besonders die Ermahnung
des Apostels: „Leide Trübsal als ein guter Kriegsmann
Jesu Christi." Andrerseits aber ist es ein großes Vorrecht, in dem Dienste des Herrn und um Seines Namens
willen Ungemach zu erdulden; und der Herr ist stets bereit, Seinen Dienern, die auf Ihn vertrauen und treu
im Kampfe vorangehen, zu aller Zeit Mut, Kraft und
Ausharren darzureichen. Er kennt die Welt, Er kennt
den großen Verfall inmitten der Christenheit, und Er
weiß auch, was Seine schwachen Diener in ihrem verleugnungsvollcn Berufe bedürfen. Möge Er dmch die
Kraft Seines Geistes stets unser Vertrauen auf Ihn beleben und uns bereit machen, in Seinem gesegneten Dienste
Trübsal zu leiden und treu darin auszuharren, bis Er
kommt! Auch unser Kampf rückt seinem Ende immer
näher; möchten wir deshalb, am Ziele angelangt, in unserm
geringen Maße mit Paulus sagen können: „Ich habe den
guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich
habe den Glauben bewahrt!" Wir werden dann auch mit
ihm hinzufügen können: „Hinfort ist mir beigelegt die
Krone der Gerechtigkeit."
Auf eine zweite wichtige Sache, welche ein Kriegsmann Jesu Christi wohl zu beachten hat, macht der
Apostel aufmerksam mit den Worten: „Niemand, der
Kriegsdienste thut, verwickelt sich in die Beschäftigungen
des Lebens, auf daß er dem gefalle, der ihn angeworben
hat." (V. 4.) Ein zum Kriegsdienst berufener Soldat hat
die Pflicht, sich von jedem Hindernis frei zu halten, und
sich unausgesetzt, mit allen seinen Kräften, dem Dienste
seines Kriegsherrn zu widmen. Würde er mit quälenden
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Sorgen erfüllt sein, oder mit Dingen sich beschäftigen,
die mit seinem Dienste in keiner Verbindung stehen, so
würde er ein schlechter Kriegsmann sein und sich des Lobes
seines Herrn sicher nicht zu erfreuen haben. Dieser wird
nur an demjenigen Gefallen finden, der sich ungeteilt dem
Dienste widmet, für welchen Er ihn angeworben hat.
Ebenso steht es mit einem Kriegsmanne Jesu Christi.
Ist das Herz eines solchen mit den Umständen beschäftigt,
denkt er mit banger Sorge an sich und seine Familie,
an sein Durchkommen in einer Welt, wo alles gegen ihn
ist, und worin sogar viele der Gläubigen nur an das
Ihrige denken; oder läßt er sich durch die Reize und
Annehmlichkeiten dieses Lebens anziehen, sucht er Ruhe
und Bequemlichkeit, oder nährt er gar im Geheimen ein 
Trachten nach Reichtum, Ehre und Ansehen — wahrlich,
dann ist er kein guter Kriegsmann Jesu Christi, und das
Wohlgefallen seines Herrn wird nicht auf ihm ruhen.
Zugleich ist er ohne Mut und Kraft im Kampfe; er übt
einen schwächenden Einfluß auf Andere aus und bringt
Unehre auf den Namen seines Herrn. Der Gedanke an
die Ankunft Christi hat für ihn nichts Liebliches, nichts
Anziehendes mehr; im Gegenteil, er denkt ungern daran,
und wird er durch dies oder jenes daran erinnert, so ist 
sein Herz mit Unruhe und Furcht erfüllt. Ach, wie groß
ist sein Verlust! Wenn aber ein Christ feinen hohen und
erhabenen Beruf kennt und liebt, wenn er es als sein
großes Vorrecht betrachtet, ein Diener Christi zu sein,
um Ihm in dieser feindseligen Welt zu dienen und den
guten Kampf des Glaubens zu kämpfen; wenn er mit ungeteiltem Herzen sich diesem gesegneten Dienste widmet
und ihn mit aller Hingebung und Treue zu erfüllen be-
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müht ist, so wird das Wohlgefallen seines Herrn ihm
nicht fehlen, und er wird zum Segen seiner Mitkämpfer
sein. Ein solcher wird auch die Erscheinung des Herrn lieb
haben und ihr mit Freude und Verlangen entgegensehen.
Möchte deshalb ein jeder Kriegsmann Jesu Christi,
und möchten vor allem solche, die, wie Timotheus, in
besonderer Weise zu Seinem Dienste berufen sind, diese
Ermahnung des Apostels mit allem Ernst beherzigen!
Wir bedürfen es namentlich in der gegenwärtigen Zeit,
in diesen letzten bösen Tagen, wo alles um uns her in Verwirrung ist und die Verlockungen von seiten der Welt für
Viele eine so große Anziehungskraft haben, während unsre
Kraft so klein ist. Doch die Kraft des Herrn ist nicht
vermindert, und ebensowenig die Liebe zu den Seinigen;
und in Seiner unveränderlichen Gnade ist Er stets bereit,
alles darzureichen, was wir in unserm Kampfe bedürfen.
Er wird die Seinigen nie versäumen, noch vergessen, niemals Seinen Diener der Not und dem Elend preisgeben,
mag Er es auch dann und wann für gut und nötig finden,
das Vertrauen ein wenig auf die Probe zu stellen. Alle,
die Er in Seinen Dienst berufen hat, können alle ihre
Sorgen auf Ihn werfen, alles Seinen treuen Händen
überlassen; Er wird in Seiner Güte und Gnade an alle
ihre Bedürfnisse gedenken. Wenn aber je, so haben wir
in unsern Tagen nötig, wachsam und nüchtern zu sein
und im Gebet zu beharren, stark zu sein in der Gnade,
die in Christo Jesu ist. Wird das nicht bei uns gefunden, so sind wir auch unfähig, unsern Dienst in einer
Gott wohlgefälligen Weise zu erfüllen. Nur im Herrn
ist unsre Stärke, nur in Ihm die Quelle aller Kraft,
und nur in einem innigen und verborgenen Umgang
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mit Ihm finden wir alles, was wir im Kampfe hienieden bedürfen.
Der Apostel macht dann drittens auf eine Bedingung
beim Kampfe aufmerksam, deren Erfüllung zur wirklichen
Erlangung der Krone durchaus erforderlich ist. Er sagt:
„Wenn aber auch jemand kämpft, so wird er nicht gekrönt,
wenn er nicht gesetzmäßig kämpft." (V. 5.) Er benutzt
hier das Bild eines Zweikampfes, bei welchem die vorgeschriebenen Regeln genau beobachtet werden mußten. Wer
diese Regeln verletzte, konnte die Krone nicht erlangen,
mochte auch der Ausgang des Kampfes sein, wie er wollte.
Wahrlich, eine beachtenswerte Bedingung für den Kriegsmann Jesu Christi! Wenn ein solcher nach seinem Gutdünken den Kampf führen wollte, so würde er sicher und
gewiß der Krone verlustig gehen. Denn der Herr, der gerechte Richter, kann nur das anerkennen, was mit Seinem
Willen und Seinen Gedanken in Uebereinstimmung steht
und was Seines Dieners würdig ist. Kämpft ein Soldat,
wie es ihm gefällt, ohne sich um die Befehle seines Führers
zu bekümmern, so wird er keine Anerkennung finden, mag
seine Tapferkeit auch noch so groß sein.
Ferner sind in diesem Kampfe natürliche Kraft und
Energie, sowie fleischliche Waffen völlig wertlos. Derselbe
kann nur durch den Glauben und in der Kraft des Heiligen
Geistes geführt werden. Der Glaube aber stützt sich auf
nichts in uns, auf nichts in der Welt, auf nichts Sichtbares, sondern allein auf den lebendigen Gott und auf Sein
untrügliches Wort. Er ist „die Verwirklichung dessen, was
man hofft, und eine Ueberzeugung von Dingen, die man
nicht sieht." (Hebr. 11, 1.) Er ruht auf der Macht und
der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist. In Gott
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allein besitzt er die Quelle seiner Kraft, und in dem Worte
Gottes seine Schutzwehr und seine Waffe. Nur durch das
Wort und in der Kraft des Geistes kann der Sieg erlangt und die verheißene Krone errungen werden. Ja,
wir bedürfen einer durchaus göttlichen Waffenrüstung, um
mit Erfolg in diesen Kampf einzutreten. Deshalb sagt
der Apostel in Eph. 6, 11: „Ziehet an die ganze
Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnet
wider die Listen des Teufels." Nur in dieser Rüstung
sind wir fähig, jeder feindlichen Macht zu begegnen.
Betrachten wir jedoch diese Waffenrüftung etwas
näher. Zunächst ist es nötig, daß unsre Lenden mit Wahrheit umgürtet sind. (V. 14.) Dies ist der Fall, wenn
wir das Wort Gottes, diesen untrüglichen Zeugen, auf
alle unsre Beweggründe, auf alle Gefühle und Neigungen
unsrer Herzen mit wahrer Treue anwenden, so daß alles
in uns mit demselben in völliger Uebereinstimmung ist.
Dann bedürfen wir des Brustharnisches der Gerechtigkeit, d. h. der praktischen Gerechtigkeit; denn
wenn wir kein gutes Gewissen haben, wenn unser Wandel
nicht lauter ist, so wird Satan dies gewiß gegen uns
benutzen und uns furchtsam und mutlos zu machen suchen.
Ferner haben wir darauf zu achten, daß unsre Füße mit
der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens beschuht sind, (V. 15.) daß wir nicht durch Selbstsucht geleitet werden, sondern in Frieden wandeln, und, so viel an
uns ist, mit allen Menschen in Frieden leben. Wir haben
nicht nur durch unsern Herrn Jesum Christum Frieden
mit Gott, sondern wir besitzen auch das gesegnete Vorrecht,
den Frieden Gottes zu genießen, der allen Verstand übersteigt. Sind jene Rüstungsstücke bei uns vorhanden, so
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sind wir fähig, den Schild des Glaubens zu ergreifen, (V. 16.) gegen den alle feurigen Pfeile des Bösen
vergeblich anprallen; sie können ihn nicht durchbohren.
Der Glaube besitzt einen Christus, der die Macht Satans
in Seinem Tode auf dem Kreuze gebrochen hat, so daß
wir ihm jetzt nur im Glauben zu widerstehen haben, und
er flieht, weil er Christo in uns begegnet. Weiter wird gesagt, daß wir auch den Helm des Heils nehmen sollen,
(V. 17.) d. i. die glückselige Gewißheit, daß wir in Christo
sind und in Ihm in die himmlischen Oerter versetzt; Er
ist jetzt ganz und gar für uns. Sind wir aber, in dieser
Weise ausgerüstet, gegen die Angriffe des Feindes gesichert, so können wir daS Schwert des Geistes, das
Wort Gottes, zur Hand nehmen (V. 17.) und in
Thätigkeit treten. Wir können selbst angreifen. Beim
Gebrauch dieses mächtigen Schwertes aber bedürfen wir
allezeit des Gebets, des steten Bewußtseins unsrer völligen Abhängigkeit von Gott.
Welch eine wunderbare Waffenrüstung! Wahrlich, wir
können des Sieges gewiß sein, wenn wir, mit dieser Waffenrüstung bekleidet, in den Kampf ziehen. So wahr es
aber auch ist, daß jeder Gläubige, jeder Streiter Jesu
Christi, dieser Rüstung im Kampfe bedarf, um an dem
bösen Tage widerstehen und den feindlichen Mächten mutig
entgegentreten zu können, so haben doch ganz besonders
alle diejenigen sie nötig, welche der Herr in Seinen
Dienst berufen hat, um das Evangelium zu verkündigen,
oder die Seinigen durch das Wort aufzuerbauen. Auf
diese richtet Satan ganz besonders sein Augenmerk, um sie
in ihrem Werke zu hindern, sie einzuschüchtern und zu
entmutigen, oder sie in irgend einer andern Weise für das
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Werk nutzlos zu machen. Deshalb richtet sich an sie vor
allen andern die Mahnung, stets in jener „ganzen Waffenrüstung Gottes" auf dem Kampfplatz zu erscheinen, zu
wachen und zu beten, damit der Feind sie nicht überliste
oder überrumpele, nicht irgend einen Vorteil über sie gewinne,
und so dem Werke Schaden zufüge. So lange ihr Auge
auf Christum gerichtet bleibt, auf Ihn, der Satan aus
dem Kreuze völlig überwunden hat, und so lange ihr Herz
in Seiner Gemeinschaft beharrt, werden sie stets mit Mut
und Kraft vorangehen und das Feld behalten; und droben wird die Krone der Gerechtigkeit, als Belohnung für
ihre Arbeit und Mühe, ihr Haupt zieren.
Schließlich giebt es noch eine vierte Sache, welche
der Diener Christi stets in Erinnerung halten muß. Der
Apostel sagt: „Der Ackerbauer muß, um die Früchte zu
genießen, zuerst arbeiten." (V. 6.) Die Arbeit geht dem
Genuß voraus und giebt ein Recht auf denselben. An
einer andern Stelle ruft Paulus den Gläubigen zu:
„Lasset uns aber im Gutesthun nicht müde werden; denn
zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten." (Gal. 6, 9.) Wiederum haben dies ganz besonders diejenigen zu beherzigen, welche dem Dienste gewidmet sind. Der Apostel selbst arbeitete unermüdlich,
ließ durch nichts sich zurückschrecken und ertrug Leiden und
Beschwerden aller Art mit der größten Geduld und Langmut. Seine Ruhe, sowie die Belohnung für seine Arbeit,
den Genuß der Frucht, erwartete er droben, bei Christo,
dem er sein Gut, d. i. seine ganze Glückseligkeit, zur Bewahrung bis zu jenem Tage anvertraut hatte; „denn ich
weiß," sagt er, „wem ich geglaubt habe." (2. Timoth. 1,12.)
Sein Glaubensauge blieb auf die Ankunft seines geliebten.
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Herrn gerichtet, welche allem Kampf, aller Arbeit und
Mühe für immer ein Ende machen und ewig währende
Freude und Wonne bringen wird. Er schrieb an die Versammlung zu Thessalonich: „Wer ist unsre Hoffnung, oder
Freude oder Krone des Ruhms? Nicht auch ihr vor unserm Herrn Jesu bei Seiner Ankunft? Denn ihr seid
unsre Herrlichkeit und Freude." (1. Thess. 2, 19. 20.)
Er liebte die Erscheinung Christi, welche ihm zur Vergeltung seiner Treue die Krone der Gerechtigkeit einbringen sollte. So ermahnt auch Petrus die Aeltesten,
die Herde Gottes mit aller Treue zu hüten, und fügt
dann hinzu: „Wenn der Erzhirte offenbar geworden ist,
so werdet ihr die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit
empfangen." (1. Petr. 5, 1—4.) Welch eine Ermunterung, welch einen reichen Trost bietet diese herrliche Aussicht einem jeden dar, der den guten Kampf kämpft und 
den Glauben bewahrt l Hienieden gilt es, mit allem Fleiß,
mit aller Hingebung und ausharrender Treue den uns
anvertrauten Dienst zu erfüllen; aber droben wartet unser
ein herrlicher Lohn für unsre Arbeit und Mühe.
Der Herr gebe, daß in diesen letzten und bösen Tagen
alle Seine Diener die Ermahnung des Apostels an sein
geliebtes Kind Timotheus nie außer acht lassen möchten.
Ja, Geliebte, laßt uns mit aller Bereitwilligkeit die Beschwerden und Leiden des Weges ertragen, uns von allem
fern halten, was unsern Dienst hemmen könnte; laßt uns
nach dem wohlgefälligen Willen Gottes und in Uebereinstimmung mit Seinem Worte im Kampf verharren, in
unsrer Arbeit nicht müde werden, und den Lohn unsrer
Mühe allein von dem Herrn erwarten bei Seiner Erscheinung! Wer so dient und kämpft, ist ein guter Kriegsmann Jesu Christi, und seine Mühe im Herrn wird nicht
vergeblich sein; eine unverwelkliche Krone wird ihm bald
als seine herrliche Belohnung zu teil werden.

Das Sterben Jesu »»d das Leben Jesu.
„Allezeit das Sterben Jesu am
Leibe umhertragend, auf daß auch
das Leben Jesu an unserm Leibe
offenbar werde." (2. Kor. 4, 10.)
Für den geistlichen Menschen giebt es keinen betrübenderen Anblick als den der Sünde und ihrer schrecklichen Folgen. Rein und schön war diese Erde mit allem,
was auf ihr ist, aus den Händen ihres Schöpfers hervorgegangen. Am Ende des sechsten Schöpfungstages „sah
Gott alles, was Er gemacht hatte, und siehe, es war
sehr gut." (1. Mose 1, 31.) Aber ach, wie bald und
wie schrecklich sollte sich alles verändern! Die Sünde kam
und machte die Erde zu einem Thal des Todesschattens;
ja, wir lesen, daß „die ganze Schöpfung zusammen seufzt und
zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt." (Röm. 8, 22.)
Nirgendwo bietet sich hienieden ein wahrer Ruheplatz;
das Leben des Menschen rollt dahin unter beständigem
Fürchten und Hoffen, Mühen und Sorgen, Schmachten 
und Sehnen, bis der Tod ihm endlich ein Ziel setzt. Und
wie schrecklich ist die Macht des TodeS! wie herzzerreißend
oft der Schmerz der Familie, des Mannes, des Weibes,
der Kinder, wenn ihnen das Teuerste durch die unerbittliche Macht des Todes entrissen wird! Welch ein tiefes
Weh erfüllte selbst das Herz des Herrn am Grabe des
von Ihm geliebten Lazarus und angesichts der ihren Bruder
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beweinenden Schwestern! Der Heilige Geist drückt dies in
ergreifender Weise aus durch die Worte: „Jesus nun
seufzte tief im Geiste und erschütterte sich ... . Jesus
vergoß Thränen." (Joh. 11, 33. 35.)
Ja, der Tod, der schreckliche Sold der Sünde, der
vernichtende Beweis der Ohnmacht des Menschen, beherrscht
den ganzen Schauplatz um uns her. Um so wohlthuender
klingt daher für das Herz des Gläubigen die kostbare
Botschaft des Apostels: „Das Leben ist geoffenbart worden." Ja, das Leben ist geoffenbart worden
inmitten einer Welt der Sünde und des Todes. Und so
wie der Tod der Beweis der Ohnmacht des Menschen ist,
so ist das Leben der Ausdruck der Kraft Gottes. Und
der Apostel fleht in seinen Gebeten für die Gläubigen,
daß sie diese Kraft erkennen möchten, indem er sagt:
„Damit ihr wisset . . ., welches die überschwängliche
Größe Seiner Kraft ist an uns, den Glaubenden, nach der
Wirksamkeit der Macht Seiner Stärke, in welcher Er gewirkt hat in dem Christus, da Er Ihn aus den Toten auferweckte rc." (Eph. 1, 19. 20.) Wir besitzen in Christo
das Leben; aber um in der Kraft dieses Lebens wandeln
zu können inmitten einer Welt, wo die Macht des Feindes
uns auf allen Seiten entgegentritt, ist es nötig, diese
Kraft zu kennen. Deshalb wünschte auch der Apostel,
„Christum zu erkennen und die Kraft Seiner Auferstehung." (Phil. 3, 10.) Wir bedürfen dieser Kraft
umsomehr, als sie in unsern Tagen unter den Gläubigen
so wenig gefunden wird. Im Blick auf diese Zeiten der
Kraftlosigkeit ruft der Apostel seinem geliebten Kinde Timotheus und damit uns allen zu: „Halte im Gedächtnis
Jesum Christum, auferweckt aus den Toten."
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(2. Tim. 2, 8.) Und Johannes erinnert hinsichtlich des
bereits eingetretenen Verfalls die Gläubigen beständig
daran, zu bleiben in dem, „was von Anfang war," in
dem, was die Apostel gehört, mit ihren Augen gesehen,
was sie angeschaut und mit ihren Händen betastet hatten,
„betreffend das Wort des Lebens." (1. Joh. 1, 1.)
Und Gott sei Dank! wie traurig sich auch alles
verändert hat, und wie weit die Christenheit von ihrem
ursprünglichen Boden auch abgewichen ist — das Leben
ist dasselbe geblieben! Es ist unveränderlich. Es ist weder
dem Verfall, noch dem Einfluß irgend einer feindseligen
Macht unterworfen; vielmehr ist es siegreich aus dem
Kampfe mit allen ihm entgegenstehenden Mächten hervorgegangen. Wie glücklich für uns, zu wissen, daß wir in
Christo das Leben besitzen und somit dasjenige haben,
gegen welches die Macht des Feindes nichts auszurichten
vermag! Dieses Bewußtsein erfüllt uns inmitten der
Schwierigkeiten und selbst angesichts des Todes mit Zuversicht und Freude. Christus ist unser Leben, und deshalb besitzen wir das Leben in derselben Fülle, wie Er
eS in Seinem Wandel hienieden geoffenbart, und in derselben Kraft, in welcher es sich in Seiner Auferstehung
erwiesen hat. Unser anbetungswürdiger Herr und Heiland
hat den Vater vollkommen hienieden verherrlicht und das
Ihm aufgetragene Werk vollbracht. Sein ganzer Wandel
war der Ausdruck des Lebens, „welches bei dem Vater
war." Der Vater sah nichts anderes in dem Leben
Christi, als Seine eigne Fülle, die Fülle Seiner Gnade,
Liebe und vollkommenen Heiligkeit. „Wir haben Seine
Herrlichkeit angeschaut," sagt Johannes, „eine Herrlichkeit
als eines Eingebornen vom Vater, voller Gnade und
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Wahrheit; .... denn aus Seiner Fülle haben wir alle
empfangen, und zwar Gnade um Gnade. Denn das Gesetz
wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden. Niemand hat
Gott je gesehen; der eingeborne Sohn, der in des Vaters
Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht." (Joh. 1,
14—18.) Das Leben Jesu war die Offenbarung dessen,
was war, ehe die Welten geschaffen wurden. Es kam
in diese sündige Welt, aber es blieb unberührt von ihr
und bewahrte seine göttliche Vollkommenheit auf einem
Schauplatze, wo Sünde und Tod herrschten. Trotzdem
war es der menschlichen Natur vollkommen angepaßt und
trat ein in alle ihre Bedürfnisse, Leiden und Schmerzen.
Es offenbarte sich in ebenso vollkommen menschlicher Niedrigkeit als göttlicher Erhabenheit. Wozu anders hätte
dieses Leben dienen können, als zur Verherrlichung Gottes,
des Vaters?
Diese Verherrlichung fand ihre höchste Vollendung in
Seinem Opfertode, in welchen Er freiwillig hineinging.
Durch diesen Tod machte Er sowohl den Tod selbst zu
nichte, als auch den, „der die Macht des Todes hat," den
Teufel, um alsdann in derselben ungeschwächten Kraft des
Lebens, in welcher Er in den Tod hineingegangen war,
wieder aus demselben hervorzugehen. Deshalb ist die Auferstehung Christi für uns einerseits der Beweis von der
unantastbaren Kraft dieses Lebens, und andrerseits, da die 
Gläubigen mit Ihm auferweckt sind, der Beweis von der
Thatsache, daß dasselbe Leben jetzt unser Leben geworden
ist; wir sind gerechtfertigt, und die Macht des Feindes ist
für immer gebrochen. Wir stehen jetzt kraft dieses Lebens
vor Gott, und haben „Gemeinschaft mit dem Vater und
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mit Seinem Sohne Jesu Christo." (1. Joh. 1, 3.) Der
Tod hat alle seine Schrecken für uns verloren; ja noch
mehr, er ist das Mittel zu unsrer Befreiung geworden;
unser alter Mensch und die Herrschaft der Sünde, unter
welche wir geknechtet waren, haben dort ihr Ende gefunden.
Und das, waS vorher dem Feinde Macht über uns verlieh, ist jetzt in der Hand des Glaubens eine mächtige
Waffe gegen ihn geworden. Der Tod hat keine Herrschaft
mehr über den, welcher der Sünde gestorben ist und Gott
lebt in Christo Jesu. (Röm. 6, 9—11.)
So hat also das Leben über die Sünde, den Tod
und den Teufel triumphiert, und Gott ist durch dasselbe
verherrlicht worden. Vollkommen befreit und in den Besitz deS Lebens gesetzt, sind wir jetzt fähig gemacht, „zu
wandeln, wie Er (Christus) gewandelt hat." (1. Joh.2,6.)
Aber wenn dem so ist, warum besteht dann trotzdem ein
so großer Unterschied zwischen dem Wandel des Herrn und
dem unsrigen? oder mit andern Worten: warum offenbart sich die Kraft des Lebens bei uns in so geringem
Maße? Wenn wir von der Macht der Sünde und des
Teufels befreit sind, und Satan durch den Tod zu nichte
gemacht ist, so können Sünde und Teufel doch kein Hindernis mehr für uns sein. Und wenn wir mit Christo
gestorben sind, — und dieses ist wahr von einem jeden
Kinde Gottes, von einem jeden wahren Gläubigen, — so
kann weder unser alter Mensch noch die Welt uns im
Wege stehen, um in der Kraft des neuen Lebens zu wandeln. Woher kommt nun trotzdem der unermeßliche Unterschied zwischen unserm Wandel und z. B. demjenigen des
Apostels Paulus, um nicht von dem Herrn selbst zu
reden? Paulus konnte sagen: „Seid meine Nachahmer,
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gleichwie auch ich Christi." (1. Kor. 11, 1.) Und wiederum: „Seid zusammen meine Nachfolger, Brüder, und
sehet hin auf die, welche also wandeln, wie ihr uns zum
Vorbilde habt." (Phil. 3, 17.) Was seine Stellung betraf, so hatte er nicht mehr als wir, und wir nicht weniger als er, und doch besaß er ein weit größeres Maß
von geistlicher Kraft als wir. Woher dieser Unterschied?
Warum konnte sich die Kraft des Lebens bei ihm mehr
entfalten? Einfach deshalb weil er auch sagen konnte:
„Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend."
Das war das Geheimnis seiner Kraft, der Ausgangspunkt seines praktischen Wandels. Er verwirklichte den
Tod Christi zunächst dadurch, daß sein Blick beständig auf
denselben gerichtet blieb. Manche Gläubige sind mehr mit
der Verwirklichung des Todes beschäftigt, als mit der
großen Thatsache, daß Jesus gestorben ist. Sie mühen
sich ab, sich selbst gleichsam zu töten, und das ist eine gesetzliche Thätigkeit, die unmöglich von Erfolg gekrönt sein
kann; es ist ein Beschäftigtsein mit dem eigenen Ich und
nichts weniger als eine geistliche Verwirklichung des Todes
Christi. Paulus hingegen hielt sein Auge beständig auf
den Tod Christi gerichtet als auf die große entscheidende
Thatsache, durch welche der Feind für immer vernichtet
worden ist, und unser alter Mensch ein für allemal sein
Ende gefunden hat, unabhängig von der Verwirklichung
oder Nichtverwirklichung dieser Wahrheit. Die Erkenntnis
und Würdigung jener Thatsache ist zunächst das wahre „Gilgal" des Volkes Gottes, wo „der Leib des Fleisches auSgezogen ist in der Beschneidung des Christus."
(Vergl. Josua ö, 3. 9; Kol. 2, 11.) Die Thatsache des
Todes Christi und unsers GestorbenseinS mit Ihm liefert
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dem Glauben die Kraft für die Verwirklichung dieser
Wahrheit, oder, wie Petrus sagt, die Waffe gegen die
Macht der Sünde und des Feindes. Diese Kraft kommt
nicht von dem Menschen, sondern man tötet, weil man
thatsächlich in Christo bereits gestorben ist. „Da nun
Christus für uns im Fleische gelitten hat, so waffnet
auch ihr euch mit demselben Sinne; denn wer im Fleische
gelitten hat, ruht von der Sünde." (1. Petr. 4, 1.)
Man waffnet sich mit dem Bewußtsein einer Sache, die
bereits stattgefunden hat. Und der Tod Christi ist in
der That die einzig wirksame Waffe gegen die Macht der
Sünde. Gleichwie Goliath durch sein eignes Schwert getötet wurde, so ist auch der Teufel durch den Tod zu
nichte gemacht worden; und gleichwie David von dem
Schwerte Goliaths sagte: „Es ist seinesgleichen nicht,"
so ist auch durch Christum der Tod eine unvergleichliche
Waffe für uns geworden. (Vergl. 1. Sam. 17, 51; 21,
9; Hebr. 2, 14.) Paulus rühmte sich deshalb des Kreuzes
als der einzigen Grundlage der Befreiung von seinem
eignen Ich, von dem Gesetz, von der Sünde und von der
Welt. „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen,
als nur des Kreuzes unsers Herrn Jesu Christi, durch
welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt."
(Gal. 6, 14.)
Also innerlich gekräftigt durch das Anschauen des
Kreuzes, wobei ihm die Umstände, durch welche sein Weg
ihn führte, zu Hülfe kamen, fiel es dem Apostel nicht
schwer, in die Verwirklichung des Todes Jesu einzutreten.
Er wurde „allezeit dem Tode überliefert um Jesu willen."
Die äußeren Umstände standen im Einklang mit dem
Wunsche seines Herzens. Christus war der Gegenstand,
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und „Seinem Tode gleichgestaltet zu werden" der Wunsch
seines Herzens. (Phil. 3, 10. 11.) Auf diese Weise
konnten die Umstände nur dazu mitwirken, alles das, was
dem Menschen oder dessen natürlicher Kraft angehörte,
bei ihm verschwinden und statt dessen die Kraft deS Lebens
Jesu an seinem sterblichen Fleische offenbar werden zu
lassen. Und es darf uns nicht wundern, wenn wir ihn
trotz der vielen Schwierigkeiten und Trübsale, trotz der
unausgesetzten Leiden um Jesu willen, in der Kraft des
Lebens Jesu einhergehen sehen, zum Preise seines geliebten Herrn.
Aber ach! wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit den meisten Gläubigen unsrer Tage! Das
Trachten nach Bequemlichkeit, Ehre und Ansehen, das
Jagen nach den Dingen dieser Welt, wie es sich leider
bei so vielen Christen kundgiebt, wirkt gerade das Gegenteil von einem Offenbarwerden des „Lebens Jesu" an
unserm Leibe. Und die Gleichförmigkeit mit dieser Welt,
welche in so manchen christlichen Familien in Bezug auf
Kleidung, häusliche Einrichtung, Erziehung der Kinder
und dergleichen zu tage tritt, ist ebenso wenig dazu angethan, das Leben Jesu bei uns offenbar werden zu
lassen. Sicherlich lassen sich in solchen Dingen keine bestimmten Regeln aufstellen, keine genauen Grenzen ziehen;
aber wir sollten doch ernstlich auf die Beweggründe achten,
welche uns darin leiten. Der Ernst unsrer Tage, der
wachsende Verfall, dessen verderblicher Einfluß auf die
Gläubigen sich immer fühlbarer macht, der Mangel an
wahrer Gottesfurcht bei so vielen Kindern Gottes, die
Geringschätzung oder gar Verachtung der göttlichen Zucht,
die sich in jahrelangem Verharren in einem ungerichteten
93
Zustande kundgiebt, und endlich der Gedanke an die nahe
Ankunft des Herrn — alles das mahnt uns an die
ernsten Worte des Apostels an Timotheus: „Ich bezeuge
ernstlich vor Gott und Christo Jesu, der da richten wird
Lebendige und Tote, und bei Seiner Erscheinung und
Seinem Reiche: Predige das Wort, halte darauf in gelegener und ungelegener Zeit; überführe, strafe, ermahne
mit aller Langmut und Lehre." (2. Tim. 4, 1. 2.) Wir
dürfen unter keinen Umständen die uns von dem Herrn
auferlegte Verantwortlichkeit vergessen, welche uns gegenseitig verpflichtet, auf einander acht zu haben, wie geschrieben steht: „Sehet zu, Brüder, damit nicht etwa
in jemandem von euch ein böses Herz des Unglaubens
sei, in dem Abfallen von dem lebendigen Gott, sondern
ermuntert euch selbst jeden Tag, so lange es heute
heißt, auf daß nicht jemand von euch verhärtet werde 
durch Betrug der Sünde." Und weiter: „Lasset uns auf
einander acht haben zur Anreizung zur Liebe und zu
guten Werken, und unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern einander
ermuntern, und um so mehr, je mehr ihr den Tag
herannahen sehet." (Hebr. 3, 12. 13; 10, 24. 25.)
Doch außer dieser Verantwortlichkeit, die auf einem
jeden von uns ruht, dringt uns auch die Liebe des Herrn
zu den Seinigen, uns gegenseitig zu ermuntern und auf
die Ursachen des Mangels an geistlicher Kraft bei uns
aufmerksam zu machen. Wir haben gesehen, daß der Herr
Seinem Apostel in der Verwirklichung des Todes Jesu
durch die Umstände zu Hülfe kam. Und uns will Er nicht
weniger zu Hülfe kommen, indem Er es auch bei uns nicht
fehlen läßt an Umständen aller Art. Aber die wichtige
94
Frage ist, ob unsre Herzen von demselben Wunsche und
von derselben Gesinnung beseelt sind, wie dasjenige des
Apostels. Er wünschte, dem Tode Christi gleichgestaltet
zu werden, um aus irgend eine Weisehinzugelangen
zu der Auferstehung aus den Toten! Wahrlich,
es thut not, daß wir allen Ernstes bei dem Herzenszustand dieses seltenen Mannes verweilen, und im Lichte
desselben den unsrigen betrachten. Welch ein Ziel stand
vor ihm! Und mit welch einer Energie verfolgte er es!
Wie gering und nichtig mußte die Welt mit all ihrem
Tand und ihren Eitelkeiten dem erscheinen, der nach einem 
solch erhabenen Ziele strebte! Das geht in treffender
Weise aus den Worten hervor, welche er im Verhörsaal
zu Cäsarea an den König Agrippa richtete: „Ich wollte
zu Gott, daß über kurz oder lang nicht allein du, sondern
auch alle, die mich heute hören, solche würden, wie
auch ich bin, ausgenommen diese Bande!" (Apostelgsch.
26, 29.) Wie erhaben stand dieser arme Gefangene vor
dem mit dem ganzen Pomp seiner Herrscherwürde umgebenen König! Er redete mit der Würde eines Mannes,
der sich im Besitz weit höherer und herrlicherer Dinge
wußte, als irgend ein irdischer König aufzuweisen vermochte. Er hatte auf dem Wege nach Damaskus eine
Herrlichkeit gesehen, vor welcher nicht allein die Herrlichkeit Agrippas, sondern auch der Glanz der Sonne erbleichen mußte. (Apstgsch. 26, 13.) Wie hätte ihn da noch
etwas hienicden fesseln können? Was hätte ihn aufzuhalten vermocht in seinem Jagen nach „dem Kampfpreis
der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu?"
Und dem Ziele, welches dieser wunderbare Mann
verfolgte, entsprachen die Beweggründe, die ihn in seinem
95
Thun und Lassen beherrschten. Er war wirklich frei von allen
selbstsüchtigen Interessen. Er konnte bei seinem Abschiede
von den Aeltesteu zu Ephesus sagen: „Ich habe niemandes
Silber oder Gold oder Kleider begehrt." (Apstgsch. 20, 33.)
Und den Gläubigen in Thessalonich konnte er zurufen:
„Denn unsre Ermahnung war nicht aus Betrug, noch aus
Unreinigkeit, noch mit List; sondern wie wir von Gott
bewährt worden sind, mit dem Evangelium betraut zu
werden, also reden wir, nicht um Menschen zu gefallen,
sondern Gott, der unsre Herzen prüft. Denn niemals
sind wir Mit einschmeichelnder Rede umgegangen, wie ihr
wisset, noch mit Vorwand der Habsucht, Gott ist Zeuge;
noch suchten wir Ehre von Menschen, weder von euch,
noch von andern, wiewohl wir als Christi Apostel euch
zur Last sein konnten." (1. Thess. 2, 3-6.) Und so
selbstlos wie er war, so aufopfernd und hingebend war
seine Liebe zu den Heiligen; sie giebt sich kund in den
bemerkenswerten Worten: „Deswegen erdulde ich alles
um der Auserwählten willen, auf daß auch sie die Seligkeit erlangen, die in Christo Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit." (2. Tim. 2, 10.) Wahrlich, in diesem allen
zeigte sich die Gesinnung Jesu, das Leben Jesu wurde offenbar. Wie armselig und klein stehen wir einem solchen
Manne gegenüber da, wenn wir nach den nichtigen Dingen dieser Erde trachten! Er achtete die ganze Welt mit
ihren Reizen und Annehmlichkeiten für nichts, und setzte
freudig sein Leben ein für das Wohl der Gläubigen und
den gesegneten Fortgang des ihm aufgetragenen Werkes.
Obwohl ein Mensch wie wir, schwach und sterblich, ein
armer Pilgrim, der die Beschwerden seines Weges durch
eine feindselige Welt tief und schmerzlich fühlte, offenbarte
96
er dennoch „das Leben Jesu an seinem sterblichen
Fleische." „Das vorgesteckte Ziel anschauend," kannte er
für die Tage seiner Fremdlingschaft keinen höheren Zweck,
als den, dieselben für Christum und die Seinigen zu verwenden. Einfach und anspruchslos ging er einher, wie sein
geliebter Herr, der, völlig Mensch und doch nicht von
dieser Welt, alles für die Verherrlichung des Vaters und
die Seligkeit der Auserwählten im vollkommensten Sinne
des Wortes erduldete, indem Er Sein teures Leben zum
Opfer hingab.
Fragen wir nun noch einmal, was diese Hingebung
für Christum und diese Liebe für die Auserwählten, diese
geistliche Energie und himmlische Gesinnung in dem Herzen des Apostels erzeugt hatte und fortdauernd belebte,
so können wir nur wiederholen: es war das ununterbrochene Gedenken an das Sterben Jesu. Das Leiden
und Sterben des Herrn und die in demselben geoffenbarte
Liebe für ihn, den „ersten" der Sünder, standen in unauslöschlichen Zügen vor der Seele des Apostels, und
waren tief in sein Herz eingegraben. Darum liebte er
seinen Herrn und hielt es für eine Ehre, ein Mitgenosfe
Seiner Leiden sein zu dürfen. Darum suchte er nichts
in dieser Welt, die seinen Herrn und Heiland verworfen
hatte. Darum begehrte er, in Neuheit des Lebens zu wandeln. Darum stellte er sich selbst Gott dar als ein Lebender aus den Toten, und seinen Leib als ein lebendiges
Schlachtopfer, heilig, Gott wohlgefällig. (Röm. 6; 12, 1.)
Darum war der Tod um Christi willen nicht mehr eine
schreckliche, sondern eine anziehende Sache für ihn; denn
derselbe konnte ihn nur seinem geliebten Herrn gleichförmiger machen. Seine Gedanken standen im Einklang mit
97
den Gedanken der Bewohner des Himmels, welche den
Tod Jesu besser zu würdigen wissen als die Bewohner
der Erde, und welche durch alle Ewigkeit hindurch das
Lamm besingen mit dem neuen Liede: „Du bist würdig,
das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn
Du bist geschlachtet worden und hast für Gott
erkauft, durch DeinBlut, aus jedem Geschlecht und
Sprache und Volk und Nation." (Offenb. 5, 9.)
Geliebter Leser! nach dem Gesagten brauchen wir
kaum noch zu fragen, worin unser Mangel an Kraft und
geistlicher Energie, unser Mangel an Liebe und Hingebung
für den geliebten Herrn und für die Seinigen seine Ursache hat. Ach, wir gedenken nicht allezeit des Sterbens
Jesu und der Folgen dieses Todes für uns; wir vergessen, welch ein Preis für uns bezahlt wurde, wie teuer
wir erkauft sind! Wie beschämend ist es, wenn wir, angesichts des gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit,
die Welt oder uns selbst noch lieb haben! Der Apostel
schrieb einst an die Gläubigen zu Korinth: „Denn ich
hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur
Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt."
(1. Kor. 2, 2.) Können wir dasselbe sagen, mein Leser?
Erfüllt der gekreuzigte, verworfene Christus unser ganzes
Herz? Beschäftigen wir uns viel mit Seinem Leiden und
Sterben? Gehen wir nicht oft recht leichtfertig über die
Leiden Christi hinweg? Vergessen wir nicht ost, wie teuer
unsre Erlösung dem Herrn geworden ist? Das wahre
Wesen und die wahre Bedeutung des Kreuzes ist so vielen
Gläubigen verborgen, und darum stehen sie betreffs ihres
geistlichen Zustandes auf einer ebenso niedrigen Stufe,
wie jene Gläubigen zu Korinth. Der Apostel konnte zu
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diesen nicht reden als zu Geistlichen, sondern als zu
Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo. (1. Kor.
3, 1.) So lange ein Christ die Wahrheit des Todes
Jesu nicht wirklich verstanden hat, kann bei ihm von
einer Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse, sowie von der Kraft des Lebens Jesu — der Kraft
der Auferstehung — und von einem praktischen Eingehen in
die Leiden für Christum nicht die Rede sein. Wenn wir
nun heute in dieser Beziehung so viel Mangel in unsrer
Mitte, wie unter den Christen überhaupt, erblicken, so
haben wir gewiß alle Ursache, uns vor dem Herrn zu
richten und zu demütigen; denn wir alle tragen Schuld
an diesem schwachen und niedrigen Zustande. Möchten
wir alle mit Ernst zum Herrn flehen um die Gnade, daß
Sein Tod uns mehr vor Augen stehe, daß wir allezeit
das Sterben Jesu am Leibe umhertragen, damit auch
das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde!

Auszug aus einem Briefe
über die Grundsätze des Zusammenkommens
in dem Namen Jesu. *)
*) Antwort aus einen Brief, in welchem zn einer näheren
Darlegung dieser Grundsätze aufgefordert wurde: geschrieben am
SO. März 1863.
.... Zuvörderst habe ich zu bemerken, daß ich mit
den Brüdern, mit denen ich regelmäßig zusammenkomme,
keine besondere Genossenschaft oder religiöse Körperschaft
im Sinne der bestehenden größeren und kleineren Religionsparteien bilde, und wenn ich daher in ihrem Namen
99
durch „wir" zu reden gezwungen bin, so hat das keine
weitere Tragweite, als daß ich mit ihnen dieselben Grundsätze in Bezug auf Lehre und Leben teile. . . .
Wir halten zunächst den Grundsatz des Wortes Gortes
fest, daß alle lebendig Gläubigen auf der Erde den Leib
Christi bilden, daß dieser Leib nur einer ist, und daß
eine Trennung der Glieder dieses Leibes in verschiedene
Kirchengemeinschaften oder Benennungen gleichbedeutend ist
mit dem, was der in dem Apostel Paulus redende Heilige
Geist in 1. Kor. 1, 12. 13 und in Kap. 3, 3 bis zu
Ende als etwas sehr Böses bezeichnet, wovon die Christen
in Korinth und „an allen Orten" (Kap. 1, 2.) sich fern
zu halten aufgefordert werden. Vor Gott ist es wohl
kein Unterschied, ob eine Partei groß oder klein, alt oder
neu, mit oder ohne Ansehen ist.
Dieses erkennend haben auch wir uns in unserm Gewissen gebunden gefühlt, die betreffenden Religionsgemeinschaften zu verlassen, — nicht um, wie uns vorgeworfen
wird, eine neue zu bilden, sondern um uns als Gläubige
einfach im Namen Jesu zu versammeln, ohne durch die
Umzäunung eines besonderen Bekenntnisses uns von den
übrigen Gliedern Christi abzuschließen. Unser einziges
Bekenntnis ist die Lehre des Herrn und Seiner Apostel.
Die Benennung „Darbysten" müssen wir deshalb als
ungerechtfertigt ablehnen.
Auch haben wir keine Fest-Versammlungen, wie Sie
in Ihrem Schreiben die von Zeit zu Zeit erfolgenden
größeren Zusammenkünfte nennen, sondern einfach Versammlungen in dem oben bezeichneten Sinne. Das einzige Fest, welches wir feiern, ist allsonntäglich die Verkündigung des Todes des Herrn im Brotbrechen. Dieses
100
Fest aber möchten wir gern mit allen Gläubigen in E.^
soweit sie unbescholten sind und keiner entschiedenen Irrlehre anhangen, — (wir verstehen darunter vor allem
solche Lehren, welche die Person Christi und Sein Versöhnungswerk nicht in ihrem vollkommenen Werte stehen
lassen; vergl. 1. Joh. 4, 1-3; Tit. 3, 10; 1. Tim.
6, 3—5; 2. Tim. 2, 19-21; 2. Joh. 1, 10.) - gemeinschaftlich feiern, da nach unsrer Ueberzeugung die 
Gesamtheit der Gläubigen an jedem Orte „die Gemeinde
oder Versammlung Gottes" an diesem Orte bildet. Und
wie in Jerusalem, Korinth rc. nur eine Versammlung
bestand, und nach dem Willen Gottes bestehen sollte, so
kennt Gott sicherlich auch in E. keine zwei oder mehr Gemeinden, sondern nur eine, die aber leider durch die fortgeschrittene Entwicklung des in Korinth zuerst auftretenden
Verfalls in mehrere für sich dastehende Teile gespalten ist.
Wir gehen demnach nicht, wie uns vorgeworfen wird,
darauf aus, die Gläubigen zu trennen, sondern würden
uns vielmehr freuen, wenn wir alle Gläubigen zu überzeugen vermöchten, daß ihr Gott wohlgefälliger Platz
nicht in einer Partei, sondern in der Vereinigung unter
einander und um den einen Mittelpunkt, Christus, ist.
Die Spaltungen sind leider thatsächlich schon da; wir
brauchen sie nicht zu machen, und haben das auch nicht vor.
Der zweite Satz in Ihrem Briefe spricht von gegenseitiger Anerkennung. Aus dem oben Gesagten geht hervor,
daß wir die Christen nur als solche, nicht aber als Glieder einer Partei, anerkennen können, wie wir es für uns
ja auch nicht anders in Anspruch nehmen.
Die Tendenz unsrer Versammlungen, worüber der
dritte Satz sich vorzugsweise verbreitet, hängt wesentlich
101
zusammen mit der Verheißung des Herrn, daß Er in der
Mitte der in Seinem Namen Versammelten sein wolle,
sowie mit der Wahrheit, daß Er nach Seinem Hingang
zum Vater den Heiligen Geist gesandt hat, um die Seinigen in alle Wahrheit zu leiten. Sollten diejenigen,
welche sich um ihren geliebten Herrn versammeln und dem
ihnen als Leiter gegebenen Heiligen Geist die einzige Autorität unter sich einräumen, welche von Herzen das allein
feste göttliche Wort als Richtschnur sich dienen zu lassen
bestrebt sind, „den wechselnden Impulsen des Augenblicks,
der Zeit, der Ereignisse, der anwesenden Personen preisgegeben" sein oder irregeleitet werden? Und wenn auch
alles in großer Schwachheit geschieht, sollte die Kraft
wohl irgendwo anders zu finden sein, als bei dem treuen
Hirten, der allein Seine Schafe weiden und bewahren
kann? Sollte wohl irgend eine Leitung sicherer sein als
diejenige des Heiligen Geistes? — Wo aber die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde und insonderheit
Sein Wohnen und Wirken in der Versammlung der Gläubigen nicht vollständig anerkannt wird, da liegt es freilich
nahe, menschliche Einrichtungen zu treffen, um nach einem
gewissen System, das ja nach den speziellen Auffassungen
oft sehr verschieden ist, Ordnung, Festigkeit und Zusammenhang hervorzubringen; jedoch geschieht dies nur auf
Kosten der freien Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Und
sollte da die Gefahr, der man unsre Zusammenkünfte ausgesetzt meint, nicht weit größer sein? — Uebrigens haben
wir uns nie der Oeffentlichkeit entzogen, so daß jeder
Gelegenheit gehabt hat, sich zu überzeugen, ob Unordnungen in unsern Versammlungen Vorkommen.
Wir sind weit entfernt davon, die verschiedenen Gaben,
102
welche der Herr zur Verkündigung der guten Botschaft
unter den Unbekehrten und zur Pflege und Auferbauung
Seines Leibes gegeben hat, zu verkennen oder geringzuschätzen; vielmehr ist es unser Gebet, daß der Herr immer
mehr solcher Gaben erwecken wolle. Es ist stets eine Freude
für uns, solche, die sich in dem Werke des Herrn bemühen,
anzuerkennen und hochzuschätzen, sie in Ehren zu halten
und ihnen zu folgen, eingedenk der Ermahnung des
Apostels in 1. Kor. 16, 15. 16 und andern Stellen. Wir
erkennen diese Gaben an, wo sie sich auch finden mögen;
dagegen vermögen wir es nicht in Einklang mit unserm
Gewissen zu bringen, nur deshalb schon jemanden z. B.
als Hirten anzuerkennen, weil er sich so nennt und meist
von Jugend auf schon sich das Hirtenamt als Lebensberuf
erwählt hat. Dies streitet gegen 1. Kor. 12,11, nach welcher Stelle der Heilige Geist einem jeden eine Gabe austeilt, wie Er will, wodurch die eigene Wahl ausgeschlossen ist.
Man macht uns den Vorwurf, wir leugneten, daß 
es Aelteste, Vorsteher und Lehrer in der Gemeinde geben
solle, während das Wort Gottes im Neuen Testamente
solche anordne. Wir sagen aber nicht, daß es keine
geben solle, sondern wir halten uns nicht für berechtigt,
sie zu machen. Wir wissen aus dem Worte nur, daß
die Apostel Aelteste und Vorsteher verordnet haben,
(Apstgsch. 14, 23.) und daß Timotheus und Titus von
dem Apostel Paulus beauftragt waren, solche anzustellen.
Dagegen kennen wir keine einzige Stelle (und man wird
uns auch keine anführen können), wonach es jemals einer
Versammlung oder Gemeinde überlassen worden
wäre, sich Aelteste zu wählen; wie viel weniger darf
jetzt ein Bruchstück der Versammlung Gottes an einem
103
Orte sich anmaßen, etwas derart zu thun! Man sagt,
daß die Aeltesten zur Aufrechthaltung der Ordnung und
zur wahren Auferbauung nötig seien. Wenn das ist, so
wird sicher der Herr, der Seine Gemeinde bis ans Ende
liebt, für deren Vorhandensein Sorge tragen. Doch ist
es bemerkenswert, daß der Apostel in Korinth, wo es
Unordnungen aller Art gab, sich zur Wiederherstellung
der Ordnung nicht an die Aeltesten wandte (falls solche
vorhanden waren), sondern ohne jener mit einem einzigen
Worte zu gedenken, die ganze Versammlung für die Unordnungen verantwortlich machte. Gab es dort aber noch
keine Aeltesten, so würde ohne Zweifel sofort zur Einführung derselben geschritten worden sein, wenn sie zur Wiederherstellung und Aufrechthaltung der Ordnung nötig waren.
Durch den thatsächlichen Verfall der Kirche und die 
Spaltung derselben in so viele Parteien oder Sekten ist 
aber eine solche Verwirrung entstanden, daß jede Partei
für sich das Recht in Anspruch nimmt, sich aus ihrem
engeren Kreise Hirten und Aelteste zu wählen, ohne zu 
berücksichtigen, daß sie nur ein Bruchstück der Gemeinde
Gottes an ihrem Orte bildet, und daß die übrigen Teile
dieser Gemeinde denselben Anspruch auf den Dienst der
von Gott geschenkten Gaben und Befähigungen haben.
Die Aeltesten der Gemeinde Gottes in E. sind ohne
Zweifel unter den verschiedenen Benennungen zerstreut.
Man vereinige zuerst die Glieder dieser Gemeinde zu
einem Ganzen und überführe uns durch das Wort,
daß eine solche Gemeinde berechtigt ist, die Aeltesten,
die es in ihrer Mitte giebt, ins Amt einzuführen. Gewiß, wir werden dann unter den Ersten sein, die sie
anerkennen. So lange man das aber nicht vermag.
104
Müssen wir den Vorwurf, als handelten wir gegen das
Wort, ablehnen.
Nirgend finden wir im Worte, daß ein Prophet, ein 
Lehrer oder ein Hirte von feiten der Versammlung eine
Anstellung gehabt hätte. Wo es solche gab, da hatten
sie ihren Beruf allein vom Herrn; sie waren Ihm allein
verantwortlich als Seine Diener, und zwar als Diener
für alle Gläubigen, für den Leib Christi an allen Orten.
So ist eS auch jetzt noch. Keine Partei darf sagen:
„unser Hirte, unser Lehrer re.," weil Gott die Begabten in ihr auch zur Bedienung der nicht zu dieser
Partei Gehörenden gegeben hat. Jeder hat nur dankbar
anzunehmen und anzuerkennen, was der Herr für die
Gesamtheit schenkt, ohne sich anzumaßen, Paulus oder
Titus nachahmen zu wollen. Was uns betrifft, so wünschen wir nicht weiter zu gehen, als wozu wir berechtigt 
sind, nämlich in dem gesegneten Namen Jesu zusammenzukommen, nach Anleitung des Wortes, besonders in
1. Kor. 11 bis 14 einschließlich.
Welch ein Zeugnis für die Ungläubigen würde es
sein, wenn die Gläubigen an jedem Orte so ihre Einheit
und Zusammengehörigkeit bethätigen und dem Worte gemäß sich versammeln würden! Der Herr selbst sagt in
Joh. 17, 21, wenn Er von dem Einssein der Seinigen
spricht: „Auf daß die Welt glaube, daß Du mich
gesandt hast." Würde nicht auch die Verkündigung der
guten Botschaft mit weit größerem Nachdruck jenen nahetreten können, wenn das Licht als Licht und die Finsternis
als Finsternis entschieden hervorträte und für jeden zu erkennen wäre, wohingegen jetzt Licht und Finsternis durch
einander zu einem unbestimmten Farbenton sich vermischen?
105
Ich möchte hier noch auf einen Uebelstand aufmerksam
machen, der von der größten Tragweite ist. Man findet
unter den Christen im Allgemeinen so wenig Kenntnis
des Wortes, so wenig wirkliche Beugung unter dasselbe.
Die eigene Meinung oder althergebrachte Anschauungen
werden häufig über dasselbe gestellt. Anstatt selbst mit
Gebet in dem Worte zu forschen, wie die Beröenser, beruhigt man sich damit, daß Andere den besonderen Beruf
dazu haben, ohne zu bedenken, daß jeder Gläubige für
sich selbst verantwortlich ist für die Anwendung des teuren
Schatzes, der uns in dem geoffenbarten Worte Gottes
gegeben ist, durch welches, als den lebendigen Samen,
wir von neuem geboren sind, und welches allein die 
lautere Milch ist, wodurch ein Kind Gottes zur Seligkeit
wachsen kann. Wäre mehr wirkliche Anerkennung des
Wortes unter den Kindern Gottes vorhanden, gewiß, es
würde auch mehr die Einheit des Geistes und das „einerlei
Gesinntsein" (Phil. 2, 2.) in die Erscheinung treten. Und
wenn je, so ist es gewiß in dieser letzten Zeit, (wo das,
was der Heilige Geist durch die Apostel mit so großem
Ernst vorhergesagt hat, daß nämlich mancherlei Irrtümer
um sich greifen würden, so augenscheinlich in Erfüllung
geht,) von der größten Wichtigkeit, daß jeder Gläubige
gewappnet sei mit genauer Kenntnis des allein festen und
bleibenden Wortes, sowie mit unbedingter Unterordnung
unter dasselbe.
Was die Lehre betrifft, worin uns auch Irrtum
vorgeworfen wird, so dürfen wir wohl einfach auf die
Schriften verweisen, die von uns verbreitet werden. Ich
glaube nicht, daß das Verderben des Menschen von Natur,
sowie die gänzliche Verdorbenheit des Fleisches auch bei
106
den Gläubigen, irgendwo schärfer betont wird, als in
unsern Schriften und Versammlungen. Doch sind freilich
nicht immer Mißverständnisse, ähnlich den in Röm. 3, 8
bezeichneten, zu vermeiden. Um jedoch auch über diesen
Punkt nähere Auskunft zu geben, will ich versuchen, das,
was wir glauben und bekennen, so kurz wie möglich
darzustellen.
Für jeden Menschen hängt alles davon ab, in welchem Verhältnis er zu der Person Christi steht, welcher
der geoffenbarte Gott ist. Von Natur ist jeder Mensch
tot in Sünden und Vergehungen, (Eph. 2, 1.) ohne
wahres Leben, (Joh. 6, 53.) und der Zorn Gottes bleibt
auf ihm. (Joh. 3, 36.) In Christo Jesu ist das Leben
erschienen, (Joh. 1, 4.) das einzige und wahrhaftige Leben.
Wer Ihn aufnimmt, (Joh. 1, 12.) d. h. durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes lebendig gläubig an Ihn
wird, wird dadurch des Lebens Christi teilhaftig; Christus
wird sein Leben, (Kol. 3, 4.) und er ein Teil von Christo,
ein Glied Seines Leibes. (Eph. 5, 30.) Für den so aus
dem Tode in das Leben Hinübergegangenen hängt alles
von Christo ab; außer Ihm ist und kann er nichts,
(Joh. 15, 5.) in Ihm aber besitzt er alle Fülle, durch
Ihn vermag er alles, (Phil. 4, 13.) und in Ihm ist er
vollendet. (Kol. 2, 10.) Alles, was Christus ist und hat,
(ausgenommen Seine Gottheit,) ist das Teil des Gläubigen. (1. Joh. 4, 17.) Er ist in Christo eine neue
Schöpfung geworden; das Alte ist vergangen, alles ist neu 
geworden. (2. Kor. 5,17.) Als Glied der ersten Schöpfung
oder des ersten Adam stand er unter dem Fluche, er war
dem Tode und dem Gericht Gottes verfallen. Christus
hat an seiner Statt im Gericht gestanden, beladen mit
107
-seinen Sünden; (1. Petri 2, 24.) der Gerechtigkeit Gottes
ist vollkommen genug gethan durch den Tod dieses Opferlammes. Gott betrachtet fortan alle, die in Christo sind,
als gestorben mit Ihm, (Kol. 3, 3.) vollkommen beseitigt
durch den Tod als das, was sie in dem ersten Adam
waren, vollkommen und für immer gerechtfertigt von allen
ihren Sünden, weil sie den Sold der Sünde, den Tod,
in Christo schon erduldet haben; (Röm. 6, 7.) nun aber
auferweckt und lebend in Ihm, (Eph. 2, 5. 6.) und, weil
Gott sie nur in Christo kennt, bekleidet mit derselben Gerechtigkeit, die Er hat, (Eph. 1, 6; 1. Kor. 1, 30.) ja,
in Ihm die Gerechtigkeit Gottes selbst geworden. (2. Kor.
5, 21.) In Christo hat Er sie zu Seinen Kindern und
Erben gemacht und ihnen als Unterpfand ihres Erbes
Seinen Geist gegeben. (Eph. 1, 3—14.) Dieser Geist
wohnt in ihnen als Tröster und Sachwalter, (Joh. 14,
16. 17; Röm. 8, 26.) als Geist der Sohnschaft, (Röm.
8, 15; 2. Kor. 1, 22.) und leitet sie durch das Land
der Fremdlingschaft der Wohnung im Vaterhause zu,
welche zu bereiten ihr Haupt ihnen vorangegangen ist ;
(Joh. 14, 1 — 3.) zugleich richtet Er ihre Herzen und
Blicke immerdar auf Ihn, der ihr Alles ist; Er zeugt
von Ihm. (Joh. 15, 26.)
In dieser gesegneten Stellung befinden sich alle
Gläubigen, obwohl die Verwirklichung dieses Verhältnisses,
der Genuß und der Wandel in demselben mehr oder
weniger völlig bei ihnen ist. Sie wandeln noch in der
Welt der Sünde, tragen noch in sich das Fleisch, dessen
Gesinnung immerdar Feindschaft wider Gott ist, obwohl
sie nach Röm. 8, 9 nicht mehr in dem Fleische sind,
und nicht nach dem Fleische zu leben, sondern als mit
108
Christo Auferstandene ihre Glieder, die auf der Erde
sind, beständig zu töten haben. (Kol. 3, 5.) Ferner habeu
sie, um ihre geistlichen Segnungen in den himmlischen
Oertern genießen zu können, mit Fürstentümern und Gewalten zu kämpfen, mit den geistlichen Mächten der Bosheit, die noch in jenen Oertern sich befinden. (Eph. 6, 12.).
Oft ist indes der Glaube schwach, und weil sie Christum,
die einzige Quelle ihrer Kraft, aus dem Auge verlieren,
so fehlen und sündigen sie, zum tiefen Schmerze aller
derer, die den Herrn wirklich lieben. Dies tastet freilichihre himmlische Stellung in Christo vor Gott, die allein
auf das vollendete Opfer Christi gegründet und davon
abhängig ist, nicht im Geringsten an; aber ihre praktische
Gemeinschaft mit Gott ist so lange unterbrochen, bis sie
wieder gereinigt sind, und für diese Reinigung sorgt
Christus ebenfalls. Er ist als ihr Sachwalter bei dem
Vater immer für sie beschäftigt; Seine Fürbitte bewirkt,
daß sie zurückkommen, ihre Sünden bekennen und Vergebung erlangen. (1. Joh. 1, 9; 2, 1.) Er wäscht
ihnen beständig die Füße, die sie bei dem Wandel durch
diese Welt beschmutzt haben. (Joh. 13.) Er läßt sie nie, 
weil Er sie vollkommen liebt und Sein Leben für sie
hingegeben hat. Er hat auch verheißen, wiederzukommen
und sie zu sich zu nehmen, auf daß sie da seien, wo Er
ist. (Joh. 14, 3.) Er liebt sie so sehr, daß Er nichts
besitzen will ohne sie; Seine ganze Herrlichkeit will Er
mit ihnen teilen, (Joh. 17, 22.) ja sogar das Gericht
(1. Kor. 6, 2. 3.) und Seine Herrschaft, (Offbg. 2, 26. 27.)
wenn Er mit ihnen kommen wird in Macht und großer
Herrlichkeit, wenn das Haupt, daS hier die Dornenkrone
trug, mit vielen Diademen geschmückt sein wird, (Offbg.
109
19, 12 — 14.) und alle Seine Feinde vor Ihm in den
Staub sinken werden. So lange sie indes sichtbarlich von
Ihm getrennt sind, haben sie Seine Wiederkunft zu ihrer
Aufnahme zu erwarten, um verwandelt und zugleich mit
den durch Ihn auferweckten entschlafenen Heiligen in Wolken
Ihm entgegengerückt zu werden in die Luft und also allezeit bei Ihm zu sein. (1. Thess. 4,17; 1. Kor. 15, 51. 52.)
Viele Stellen der Schrift, namentlich die beiden Thessalonicher-Briese, reden von dieser köstlichen Wahrheit, welche
das Herz, in dem sie lebendig ist, glücklich und himmlisch
gesinnt zu machen vermag. Alle Gläubigen werden in
Offbg. 22, 17 aufgefordert, zu rufen: „Komm, Herr
Jesu!" ohne eine Zeit dazwischen zu setzen. Es giebt für
alle ja nichts Köstlicheres, als Den von Angesicht zu
schauen, der sie bis zum Tode geliebt hat und ihr Alles
geworden ist. — Möchten wir und alle Gläubigen immer
mehr erfüllt werden mit dieser seligen Hoffnung, und so
lange wir noch auf ihre Erfüllung zu warten haben, Ihm,
unserm teuren Herrn, der uns durch Sein Blut zu Seinem rechtmäßigen Eigentum erworben hat, unser ganzes
Leben weihen; möchten wir Seine Gesinnungen in unserm
ganzen Wandel offenbaren und nur daran denken, wie
wir Ihm dienen und Ihn verherrlichen können als diejenigen, welche Seinen Namen tragen in einer Welt, die
Ihn verworfen hat!
Nachdem ich in den vorstehenden Zeilen versucht habe,
die Grundsätze derer, welche sich einfach im Namen Jesu
versammeln, darzustellen und sie, den gemachten Anschuldigungen gegenüber, nach dem göttlichen Worte zu begründen, möchte ich nur noch darauf aufmerksam machen,
daß es ungerecht sein würde, Abirrungen Einzelner, die
110
leider vorkommen und die wir beklagen, der Gesamtheit
zur Last zu legen, oder aus der Schwachheit Aller in
Ausübung dieser Grundsätze ein Kriterium der Lehre zu
machen. ......

Die Nacht dieser Welt.
„Die Stunde ist da, daß wir aus dem Schlafe aufwachen sollen; denn jetzt ist unsre Errettung näher, als
da wir geglaubt haben." (Röm. 13, 11.) Die Nacht
dieser Welt ist die Abwesenheit der Sonne der Gerechtigkeit. Weil diese Sonne noch nicht scheint, so ist es Nacht.
Der Leser wolle dies wohl erwägen. Inmitten des geschäftigen, vergnügungssüchtigen Treibens dieser Welt ist
es für einen jeden, der Verständnis hat und Christum
kennt, noch Nacht. Das Dunkel der Nacht liegt über
dieser Welt. Aber für den Glauben ist der Tag bereits
am Anbrechen; der Morgenstern ist aufgegangen in dem
Herzen des einsichtsvollen Gläubigen, während die Welt
in der immer noch fortdauernden nächtlichen Finsternis
schläft. Denn obwohl die Nacht weit vorgerückt ist, liegt
doch die Welt in tiefem Schlafe. Die wachende Seele
sieht den Morgenstern heraufsteigen, während das Rot des
kommenden Morgens den Horizont bereits vergoldet und
den Aufgang der Sonne der Gerechtigkeit ankündigt.
Das Herz steht in dem Lichte des Tages, und der Gläubige, welcher sich wirklich in dieser wartenden Stellung
befindet, wandelt wie am Tage.
Als Christen haben wir mit den Werken der Finsternis abgeschlossen. Wohl sind wir noch im Kampfe, aber
unsre Waffenrüstung gegenüber dem Bösen, gegenüber
„den Weltbeherrschern dieser Finsternis," ist das Licht, in
111
welchem wir wandeln. Die Macht des Lichtes, der Wahrheit, der Gottesfurcht und des Gerichts über das Böse,
welches jenem Tage angehört, ist in unsern Herzen, und
so werden die Waffen und Fallstricke der Finsternis überwunden und aufgedeckt. Sie finden keinen Eingang in
das Herz, gewinnen keine Macht über dasselbe. Wir
„wandeln anständig wie am Tage;" wir ziehen in unserm
Verhalten und in unsern Herzen den Wandel und Charakter Dessen an, der das wahre Licht des Tages ist,
nämlich des Herrn Jesu Christi. Da wir die Hoffnung
haben, Ihm dereinst gleich zu sein, so reinigen wir uns
selbst, gleichwie Er rein ist; wir wandeln, wie Er gewandelt hat. Wir treiben nicht Vorsorge für das Fleisch,
zur Erfüllung der Lüste jener Natur, die der Finsternis
angehört, sondern wandeln, wie Christus gewandelt hat.
(Vergl. Vers 13. 14.)
Das ist der Christ, dessen Blick auf die Wiederkunft
Christi gerichtet ist, und der auf diese finstere, umnachtete
Welt das Licht und den Tag Gottes in ihrer mächtigen
Kraft scheinen läßt; und das sind die beiden Triebfedern
und Kennzeichen eines wahrhaft christlichen Wandels: die 
Anerkennung und Erfüllung aller dem Gläubigen obliegenden Pflichten in Liebe und Einfalt, und das Erkennen
der Zeit, das Bewußtsein, daß der Tag nahe ist, zu welchem er gehört. (Vergl. 1. Thess. 5.) „Die Nacht ist
weit vorgerückt, und der Tag ist nahe."
Drei schöne Antworten.
Ich traf vorlängft mit einem jungen Mädchen zusammen, daS am Abend vorher Frieden gefunden zu haben
bekannte. „Was ist es," fragte ich sie, „das Dich s» 
112
glücklich macht? Du sagst, daß Du seit gestern Abend
ganz glücklich seiest."
„Ja," erwiderte sie mit tiefer Bewegung, „ich bin
ganz glücklich."
„Aber kannst Du mir sagen, was diese Freude in
Dir hervorgerusen hat?"
Einen Augenblick sann sie nach; dann antwortete sie:
„Ich habe erkannt, daß Jesus mich, eine so große Sünderin, liebt."
„Danke dem Herrn dafür, mein Kind!" erwiderte
ich; „eS ist etwas Großes, das zu erkennen. Möchtest
Du es nie aus dem Auge verlieren! Aber in welcher
Weise hat sich Seine Liebe zu Dir geoffenbart?"
„Er ist für mich am Kreuze gestorben und hat alle
meine Sünden hinweggethan."
Amen! fügte mein Herz hinzu; wahrlich, Du bist
von Gott belehrt. Dann aber sagte ich laut: „Was sind
denn jetzt Deine Gefühle dem Herrn Jesus gegenüber,
nachdem Du alles das erkannt und geglaubt hast?"
Ihre Antwort war ebenso natürlich, einfach und schön,
wie die vorhergehenden; sie sagte: „Ich fühle es jetzt leicht,
Ihm mein ganzes Herz zu schenken."
Ich hatte nichts weiter zu fragen und nahm mit bewegtem Herzen von der jungen Gläubigen Abschied. Ihre
drei Antworten aber haben sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt, und ich hoffe sie nie zu vergessen: „Ich habe
erkannt, daß Jesus mich, eine so große Sünderin, liebt." — „Er ist für mich am Kreuze
gestorben und hat alle meine Sünden hinweggethan." — „Ich fühle es jetzt leicht, Ihm
mein ganzes Herz zu schenken."
Ich habe manche Lippen freudig den Glauben an
Christum bekennen hören, aber nie habe ich ein Bekenntnis vernommen, das einfacher und bestimmter gewesen
wäre und mich mehr befriedigt hätte als dieses. Möchte es
auch das freudige Bekenntnis aller Leser dieser Zeilen sein!
Einige Worte über den Unterschied
zwischen der Erwartung Israels und derjenigen der Kirche.
Die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen Israel
und der Kirche ist eine der Hauptursachen der Verwirrung,
welche in der bekennenden Kirche herrscht. Viele Gläubige
haben infolge dieses Mangels an Erkenntnis der Wahrheit
kein wirkliches Verständnis über ihre Berufung, ihre Hoffnung und ihre Segnungen. Indem sie die Kirche nur als
die Fortsetzung Israels betrachten, verlieren sie den wahren
Charakter derselben gänzlich aus dem Auge und verwechseln
ihre Stellung mit derjenigen Israels. Sie begehen dadurch
einen doppelten Fehler. Erstens nehmen sie selbst einen,
den Gedanken und Ratschlüssen Gottes entgegengesetzten,
niedrigen Standpunkt ein, und zweitens rauben sie Israel
den ihm von Gott bestimmten Platz. Schriftstellen, welche
ausdrücklich und ausschließlich auf Israel Bezug haben,
wenden sie auf sich selbst an. Naturgemäß geraten sie
dadurch in eine folgenschwere Verwirrung. Ihr Friede
wird gestört, die Freude ihrer Hoffnung getrübt, und die
Kraft ihrer Absonderung von der Welt sowie ihr Zeugnis
gegenüber derselben geschwächt. Von Anfang an hat eS
in der Absicht des Feindes gelegen, die Christen zum Judentum zurückzuführen, und sie dadurch um den Kampf-
114
preis ihrer himmlischen Berufung zu bringen; und ach!
seine Anstrengungen sind von nur zu gutem Erfolge
gekrönt gewesen. Die heutige Christenheit mit ihren prächtigen Tempeln, ihren Priesterordnungen, ihren gottesdienstlichen Einrichtungen und religiösen Gebräuchen ist im
Grunde nichts anders als eine beklagenswerte Nachahmung
des Judentums; und die wahren Gläubigen in ihr haben
größtenteils das Bewußtsein ihrer Vereinigung mit einem
verherrlichten Christus in den Himmeln und ihrer Verbindung unter einander verloren.
Nicht umsonst ermahnt daher der Apostel den Timotheus im Hinblick auf den kommenden Verfall: „Sei beflissen, dich selbst Gott bewährt darzustellen, als einen
Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort
der Wahrheit recht teilt." (2. Tim. 2, 15.) Wie
gering ist heute die Zahl der Arbeiter, welche das Wort
Gottes recht teilen! Wie viel verkehrte Dinge werden
gelehrt! Anstatt aus einander zu halten, was Gott selbst
in bestimmtester Weise getrennt hat; anstatt das Wort recht
zu teilen und jeder Wahrheit den ihr von Gott angewiesenen Platz zu lassen, mengt man alles durch einander.
Dies gilt ganz besonders bezüglich des Unterschiedes zwischen
Israel und der Kirche. Der Kirche sowohl wie dem Volke
Israel ist in dem Worte der Wahrheit eine besondere
Stelle zugeteilt, und wir sollten nicht zu verbinden suchen,
was Gott getrennt hat. Wir sollten diesen Unterschied
umsomehr festhalten und beachten, als die Ankunft des
Herrn so nahe ist, und als wir wissen, daß Ihm nichts
mehr am Herzen liegt, als daß die Seinigen Ihn erwarten. Nichts aber hat wohl einen lähmenderen Einfluß
auf die Erwartung des Herrn unter den Christen aus­
115
geübt, als die Verwechslung Israels mit der Kirche. Denn
wie könnten die Gläubigen den Herrn heute erwarten,
wenn sie behaupten, vorher noch durch die Gerichte gehen zu
müssen? Und doch ist das die Erwartung vieler Gläubigen in
unsern Tagen. Sie stehen in dieser Beziehung ganz auf dem
Boden des jüdischen Ueberrestes, der angewiesen ist, auf
„Zeit und Zeiten," sowie auf „Zeichen der Zeit" zu
achten; das Kommen des Herrn in Seinem Charakter als
„Btorgenstern" zur Aufnahme der Kirche (Offbg. 22, 16.
17.) ist jenen Gläubigen völlig unbekannt.
Prüfen wir denn zunächst im Lichte des göttlichen
Wortes die Frage, was das Volk Israel nach den ihm
gemachten Verheißungen zu erwarten hat. Wie traurig
der Zustand dieses Volkes heute auch sein mag, so hat es
doch im Blick auf die Zukunft die herrlichsten Verheißungen; denn es ist das geliebte Volk Gottes. Er hat es
sich erwählt zu Seinem Eigentumsvolke, hat es abgesondert
von allen Völkern der Erde, und ihm das Land Kanaan
zum ewigen Besitztum gegeben. „Denn ein heiliges Volk
bist du Jehova, deinem Gott; dich hat Jehova, dein Gott,
erwählt, Ihm zum Volke des Eigentums zu sein aus
allen Völkern, die auf dem Erdboden sind. Nicht weil
euer mehr wären als aller Völker, hat sich Jehova euch
zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste
unter allen Völkern; sondern wegen Jehovas Liebe
zu euch, und weil Er den Schwur hielt, den Er euern
Vätern geschworen, hat euch Jehova herausgeführt re."
(5. Mose 7, 6 — 8.) „Und ihr sollt mir heilig sein, denn
ich bin heilig, ich, Jehova; und ich habe euch abgesondert
von den Völkern, um mein zu sein." (3. Mose 20, 26.)
„Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, und von den
116
Höhen herab schaue ich es: siehe, ein Volk — abgesondert
wird es wohnen und unter die Nationen nicht gerechnet
werden." (4. Mose 23, 9.) „An selbigem Tage machte
Jehova einen Bund mit Abram und sprach: Deinem Samen
gebe ich dieses Land, vom Strome Egyptens bis an den
großen Strom, den Strom Phrath." (1. Mose 15, 18.)
„Und ich werde dir und deinem Samen nach dir das Land
deiner Fremdlingschaft geben, das ganze Land Kanaan,
zum ewigen Besitztum." (1. Mose 17, 8.)
Aus allen diesen Stellen geht deutlich hervor, daß
Israel das Land Kanaan besitzen wird. Mag es auch jetzt
unter alle Völker der Erde zerstreut sein, so wird es doch
sicher und gewiß zurückkehren in das Land der Verheißung,
und dann wird Jerusalem von neuem den Mittelpunkt
seiner Herrlichkeit bilden. „Um Zions willen will ich nicht
schweigen, und um Jerusalems willen will ich nicht stille
sein, bis ihre Gerechtigkeit hervorkomme wie ein Glanz,
und ihr Heil brenne wie eine Fackel. Und die Nationen
werden deine Gerechtigkeit sehen, und alle Könige deine
Herrlichkeit; und mit einem neuen Namen wirst du genannt werden, den der Mund Jehovas bezeichnen wird.
Und du wirst eine prachtvolle Krone sein in der Hand
Jehovas, und ein Diadem des Königtums in der Hand
deines Gottes rc." (Jes. 62.) „In selbiger Zeit wird man
Jerusalem nennen: Thron Jehovas; und alle Nationen
werden zu ihr versammelt werden, um des Namens Jehovas willen." (Jer. 3, 17.)
Doch nicht nur wird Israel in sein Land zurückkehren und wieder sicher wohnen in allen seinen Grenzen,
sondern es ist ihm auch der höchste Platz unter allen
Nationen auf der Erde zugesichert; und zwar aus dem
117
einfachen Grunde, weil es in Verbindung mit Christo,
seinem Messias, den Mittelpunkt aller auf diese Erde
bezüglichen Ratschlüsse und Wege Gottes bildet. „Und
Jehova hat dir heute sagen lassen, daß du Ihm zum Volke
des Eigentums sein sollst, so wie Er zu dir geredet hat;
und daß du alle Seine Gebote beobachten sollst; und daß 
Er dich machen will zur höchsten über alle Nationen, die Er gemacht hat, zum Ruhm und zum Namen
und zum Schmuck." "(5. Mose 26, 18. 19.) „Und es
wird geschehen am Ende der Tage, daß der Berg des
Hauses Jehovas festgestellt sein wird auf dem Gipfel
der Berge, und erhaben über die Hügel, *) und
alle Nationen werden zu ihm strömen." (Jes. 2, 2.) Schon
von Gründung der Welt an lag eS in dem Plane Gottes,
die Reiche der Erde so einzuteilen, daß Sein Volk Israel
den Mittelpunkt derselben bilden und die Oberherrschaft
über alle haben sollte. „Als der Höchste den Nationen
das Erbe austeilte, als Er von einander schied die Bienschenkinder, da stellte Er fest die Grenzen der Völker nach
der Zahl der Kinder Israel." (5. Mose 32, 8.)
Nach allen diesen Verheißungen unterliegt es keinem
Zweifel, daß dem Volke Israel, beziehungsweise dem
treuen gläubigen Ueberrest desselben, die Zukunft gehört,
und daß es dereinst wieder das mächtigste Volk der Erde
sein wird, obwohl die Mächte der Erde jetzt nicht im
Geringsten daran denken mögen, ihm diesen Platz einzuräumen. Die Wege Gottes müssen und werden zur ErBerge und Hügel sind hier sinnbildliche Ausdrücke für
Machte und Gewalten. So wird zum Beispiel die Macht Babels
ein Berg des Verderbens genannt. (Jer. 51, 25; vergl. auch
Dan. 2, 85.)
118
füllung Seiner unumstößlichen Absichten führen, sobald
der Augenblick dafür gekommen ist. „Und in den Tagen
dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich
aufrichten, das ewiglich nicht zerstört werden wird, und das
Königreich wird keinem andern Volke überlassen werden;
es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten,
aber es selbst wird bestehen ewiglich." (Dan. 2, 44.)
Die Erhebung Israels zu dem ersten Volke der Erde und
seine Segnung unter dem jetzt von ihm verworfenen
Messias sind also nur eine Frage der Zeit.
Schon unter der Regierung Salomos befand sich
Israel im teilweisen Besitz dieser Macht; wenigstens besaß
es das Land Kanaan in seiner ganzen Ausdehnung und
hatte die Oberherrschaft über alle umliegenden Völker.
Auch war in jener Zeit der Thron Gottes zu Jerusalem
aufgerichtet. Aber infolge seiner Untreue und Abtrünnigkeit wurde dem Volke diese Macht genommen und den
Nationen in der Person des Königs Nebukadnezar übergeben. Von jenem Augenblicke an währt die Zeit und
Herrschaft der Nationen. Israel büßte seinen bevorzugten
Platz als Volk Gottes ein. Gott erkannte eS als solches
nicht mehr an; Er betrachtete es fortan als „Lo-Ammi"
— Nicht mein Volk. (Hos. 1, 9.) Seine Herrlichkeit
wich von Jerusalem, wenn auch nur zögernd, (vergl. Hes.
10, 18; 11, 22. 23.) Sein Thron verschwand aus der
Stadt Davids; das ganze Land wurde verwüstet und
das Volk selbst in die Gefangenschaft geführt.
Damit begann ein wichtiger Zeitabschnitt in der
Geschichte Israels, den wir nicht außer acht lassen dürfen,
wollen wir anders die Wege GotteS mit diesem Volke verstehen. Keine Macht der Erde würde imstande gewesen
119
sein, Israel seiner Oberhoheit über die Völker zu berauben,
denn Gott war mit ihm; Er hatte ihm diese Macht
verliehen und wohnte in seiner Mitte. Als es aber anfing, Ihn zu vergessen und, trotz aller Warnungen durch
die Propheten, den Weg der Sünde, des Götzendienstes und
der Halsstarrigkeit zu verfolgen; als es anfing, die Hülfe
heidnischer Könige anzurufen, da mußte es erfahren, „daß
der Höchste Herrschaft hat über die Königreiche der Menschen, und sie giebt, wem Er will." (Dan. 4, 22.)
Er übergab sie in die Hände der Nationen. Zunächst
wurden die zehn Stämme in die Gefangenschaft nach
Assyrien geführt. Etwa 120 Jahre später wanderten
die zwei noch übrigen Stämme in die babylonische Gefangenschaft. Dennoch gab Gott sie nicht völlig auf,
sondern gewährte ihnen eine Erleichterung, indem Er die
letztgenannten beiden Stämme nach siebenzigjähriger Gefangenschaft in ihr Land zurückbrachte. Auch sandte Er
ihnen immer noch Seine Boten und Propheten, um sie
wenn möglich zur Buße zu bewegen. Schließlich sandte
Er ihnen Seinen eingebornen Sohn. Aber wie verhielten
sie sich dieser langmütigen Liebe Gottes gegenüber? Der
Herr selbst sagt es in dem Gleichnis vom Weinberge:
„Und die Ackerbauer nahmen seine Knechte, einen schlugen
sie, einen andern töteten sie, einen andern steinigten sie.
Wiederum sandte er andere Knechte, mehr als die ersten; 
und sie thaten ihnen ebenso. Zuletzt aber sandte er seinen
Sohn zu ihnen, indem er sagte: Sie werden sich vor
meinem Sohne scheuen. Als aber die Ackerbauer den
Sohn sahen, sprachen sie unter einander: Dieser ist der
Erbe; kommet, lasset uns ihn töten und sein Erbe in
Besitz nehmen. Und sie nahmen ihn, warfen ihn aus dem
120
Weinberge hinaus und töteten ihn." (Matth. 21, 35 — 39.)
Durch die Verwerfung Christi machte Israel das Matz
seiner Sünden voll und überlieferte sich völlig dem Gericht Gottes. „Der Zorn ist völlig über sie gekommen."
(1. Thess. 2, 16.)
Der Prophet Jesaias schildert uns besonders im
9. und 10. Kapitel seines Buches diesen Zustand Israels
unter dem Zorne Gottes bis zum Ende hin. Wiederholt
lesen wir dort: „Bei dem allem wendet sich nicht Sein
Zorn, und Seine Hand ist noch ausgestreckt." (Kap. 9, 12.
17. 21; 10, 4.) Unter diesem göttlichen Zorne liegt das
unglückliche Volk jetzt schon viele Jahrhunderte, aber die
ganze Schwere desselben wird es erst zur Zeit des Endes
fühlen, wenn es, in sein Land zurückgekehrt, von Gott in
den feurigen Ofen der Trübsale geführt werden und eine
Zeit der Drangsale erleben wird, wie sie nie gewesen ist,
noch je wieder sein wird. Für jetzt erfüllt Israel das
Wort des Propheten: „Denn die Kinder Israel werden
viele Tage bleiben ohne König und ohne Fürsten und
ohne Opfer und ohne Bildsäule und ohne Ephod und
Theraphim." (Hos. 3, 4.)
Aber obwohl die Hand Gottes gegen Sein Volk
ausgestreckt ist, so hat Er es doch nicht verstoßen. „Hat
Gott Sein Volk verstoßen? Das sei ferne!" (Röm. 11, 1.)
Es ist und bleibt Sein geliebtes Volk, gemäß Seiner Auswahl und Seiner Ratschlüsse, der Gegenstand Seiner Verheißungen, obwohl Er es gegenwärtig nicht als solches
anerkennen mag. Das über sie verhängte Gericht wird
zur bestimmten Zeit sein Ende finden, wenn sie gelernt
haben, sich auf Gott zu stützen und nicht mehr, wie einst, 
auf den Menschen. „Und es wird geschehen an selbigem
121
Tage, da wird der Ueberrest Israels und das Entronnene
des Hauses Jakob sich nicht mehr stützen auf den, der
es schlägt, sondern es wird sich stützen auf Jehova, den
Heiligen Israels, in Wahrheit. Der Ueberrest wird zurückkehren, der Ueberrest Jakobs zu dem starken Gott.
Denn wenn dein Volk, Israel, ist wie der Sand des
Meeres — ein Ueberrest davon wird zurückkehren; die 
festbeschlossene Gerichts-Vollendung wird überströmen in
Gerechtigkeit. Denn der Herr, Jehova der Heerscharen,
wird eine festbeschlossene Gerichts-Vollendung ausführen
inmitten des ganzen Landes." (Jes. 10, 20 — 23.) Der
Herr selbst sagt: „Und Jerusalem wird zertreten werden
von den Nationen, bis daß die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden." (Luk. 21, 24.) Dann
wenn diese Zeiten erfüllt sind, werden die Gerichte über
Israel aufhören, und alle ihm gegebenen Verheißungen
ihre Erfüllung finden. Der Herr wird zu ihrer Befreiung
erscheinen und die Nationen richten.
Es hängt also betreffs der Erwartung Israels alles
von der Dauer „der Zeiten der Nationen" ab. In dem
Buche Daniel wird uns der Anfang und das Ende dieser
Zeiten in klarer und bestimmter Weise gezeigt, und zwar
in Form eines Bildes, welches der König Nebukadnezar
im Traume sah. (Dan. 2, 31—45.) Dieses Bild hatte
die Gestalt eines Menschen, und stellte nach der Erklärung
Daniels die vier großen Weltreiche vor, welche im Laufe
der Zeiten auf einander folgen sollten und in der Geschichte
wohlbekannt sind. Das Haupt von Gold versinnbildlichte
das babylonische Reich, seine Brust und seine Arme von
Silber das medisch-persische, sein Bauch und seine Lenden
von Erz das griechische, seine Schenkel von Eisen das
122
römische; die Füße endlich, welche teils von Eisen und
teils von Thon waren, zeigen uns das römische Reich in
seiner letzten Form. Mit Nebukadnezar nahmen die Zeiten
der Nationen ihren Anfang. Ihm wurde zuerst die Oberherrschaft anvertraut, deren sich Israel verlustig gemacht
hatte. „Du, o König," sagt Daniel, „bist ein König der
Könige; denn der Gott des Himmels hat dir Königreich,
Macht und Stärke und Ehre gegeben; und überall, wo
Menschenkinder wohnen, hat Er in deine Hand gegeben
das Tier des Feldes und den Vogel des Himmels, und
hat dich zum Herrscher gesetzt über sie alle; du bist das
Haupt von Gold." Mit der Zerstörung des letzten oder
römischen Reiches werden aber die Zeiten der Nationen
für immer ein Ende nehmen und dem Königreich Christi
Platz machen. Das ganze Bild wurde mit einem Schlage
zerschmettert durch den ohne Hände losgerissenen Stein,
welcher allmählich anwuchs und zu einem gewaltigen Berge
wurde, der die ganze Erde füllte. „Das sähest du, bis
ein Stein losgerissen ward ohne Hände; und er schlug
das Bild an seine Füße von Eisen und von Thon, und
zermalmte sie. Da wurden mit einander zermalmt Eisen,
Thon, Erz, Silber und Gold, und sie wurden wie Spreu
der Dreschtenne des Sommers, und der Wind nahm sie
weg, und es ward keine Stätte für sie gefunden; aber
der Stein, der das Bild geschlagen hatte, ward zu einem
gewaltigen Berge, und füllte die ganze Erde."
Die Befreiung Israels und seine Wiedereinsetzung in
seinen herrlichen, bevorzugten Platz wird also das unmittelbare Ergebnis des Gerichts sein, welches dem römischen Reiche und damit der Herrschaft der Nationen
für immer ein Ziel setzen wird. Der Prophet sagt: „Weil
123
du gesehen hast, daß von dem Berge ein Stein losgerissen ward ohne Hände, und er zermalmte das Eisen,
das Erz, den Thon, das Silber und das Gold — der
große Gott hat dem König kundgethan, was nach diesem
geschehen wird; denn der Traum ist gewiß,
und seine Deutung zuverlässig."
Aber, wird der Leser einwenden, diese Prophezeiung
ist doch bis heute hin noch nicht in Erfüllung gegangen;
obgleich das römische Reich schon seit langer Zeit nicht
mehr besteht, ist Israel noch nicht besreit, und Jerusalem
wird noch von den Nationen zertreten. Worin hat das
seinen Grund? Gottes Wort kann doch nicht gebrochen
werden, und an dieser Stelle fügt der Prophet sogar noch
versichernd hinzu, daß der Traum gewiß und seine Deutung zuverlässig sei. Nun, kein Gläubiger wird in die 
schließliche Erfüllung jener Prophezeiung irgend welchen
Zweifel setzen. Wenn daher das römische Reich nicht mehr
besteht und doch am Ende von dem Reiche Christi verdrängt werden soll, so folgt daraus, daß erstgenanntes
Reich wieder erstehen wird, *) und ferner, daß in dem Laufe
der Ereignisse eine Unterbrechung eingetreten sein muß.
Worin diese Unterbrechung ihren Grund hat, wird uns im
Alten Testament nicht mitgeteilt. Aber sobald dieser Grund
beseitigt ist, wird der Faden wieder da angekuüpft werden, wo
er abgebrochen wurde, und die Weissagung wird sich erfüllen.
Doch was ist die Ursache dieser Unterbrechung? Wir
müssen umsomehr diese Frage stellen, als wir erst nach
Beantwortung derselben imstande sind, sicheren Schrittes
*) Diese Folgerung wird durch die Offenbarungen, welche dem
neutestamentlichen Propheten Johannes gemacht wurden, völlig bestätigt. (Bergt. Ofsbg. 13 n. 17.)
124
den Lauf der Ereignisse zu verfolgen. Nun, diese Ursache
läßt sich in einem Worte ausdrücken: es ist die Kirche.
Während der ganzen Zeit des Bestehens der Kirche aus
dieser Erde bleibt der Lauf der prophetischen Ereignisse in
Bezug auf Israel unterbrochen, und dieses selbst als Volk
beiseite gesetzt. Wenn man das Wesen der Kirche, das
was sie nach den Gedanken Gottes ist, versteht, so läßt
sich diese Unterbrechung auch leicht begreifen. Zunächst ist
die Berufung und Stellung der Kirche rein göttlicher
und himmlischer Natur. Ihr Verhältnis zu dem auferstandenen, verherrlichten Christus, ihrem himmlischen
Haupte, schließt jeden Gedanken an irgend welche irdische
Beziehungen aus. Dieses Verhältnis kann nach den Bildern,
in welchen es dargestellt wird, nicht inniger gedacht werden.
Sie ist die Braut des Lammes (Ofsbg. 21, 9.) und als
solche der Gegenstand der innigsten Zuneigungen Christi.
Nächst dem Vater nimmt sie den ersten Platz in dem Herzen des Sohnes Gottes ein, und bildet in dieser Verbindung mit Ihm den ersten Gegenstand der ewigen Ratschlüsse
Gottes; denn sie war schon in Seinen Gedanken, ehe die
Welt war. „Wie Er uns auserwählt hat in Ihm vor
Grundlegung der Welt." (Eph. 1, 4.) Bemerken wir hier
den Unterschied zwischen der Erwählung der Kirche und
Israels. Letzteres ist nicht vor, sondern von Grundlegung
der Welt an auserwählt. „Kommet her, Gesegnete meines
Vaters, ererbet das Reich, das Euch bereitet ist vo n Gründung der Welt." Schon dieser eine Punkt zeigt zur Genüge, daß die Kirche außerhalb des Laufes der irdischen
Ereignisse steht, während Israel den Mittelpunkt derselben
bildet. Wohl wird erstere in der Zeit gesammelt, aber das
ändert nichts an ihrer himmlischen Berufung.
125
Ferner erhebt der Platz, den die Kirche als Braut
des Lammes hat, sie weit über die ganze Schöpfung, über
Israel und selbst über die Engel. Wohl wird auch der
treue Ueberrest von Israel im Hohenliede als Braut bezeichnet. Aber Israel ist, so innig sein Verhältnis zu
Christo dann auch sein mag, nicht die himmlische Braut
des Lammes, sondern die irdische Braut des Königs. Alles, was wir im Hohenliede finden, steht in
Verbindung mit der irdischen Herrlichkeit Christi als König,
aber nicht mit Ihm in Seiner himmlischen, über alles
erhabenen Stellung als Haupt über alles. Nur die Kirche
wird die Braut des Lammes genannt, das Weib Dessen,
welcher in dem Erlösungswerke Gott vollkommen verherrlicht, die ganze Schöpfung wiedererkauft und sich dadurch
ein Recht über dieselbe erworben hat. Er ist jetzt das
Haupt der Schöpfung in dieser doppelten Beziehung als
Schöpfer und Erlöser, und in dieser Stellung hat Er sich
die Kirche erkoren als Seine Braut. Dieses Verhältnis
wurde schon durch Adam und Eva im Garten Eden vorgebildet; der Apostel sagt im Blick darauf: „Denn niemand
hat jemals sein eignes Fleisch gehaßt, sondern er nährt
und pflegt es, gleichwie auch der Christus die Versammlung. Denn wir sind Glieder Seines Leibes, von Seinem
Fleische und von Seinen Gebeinen. Darum wird ein Mensch
seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe
anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dieses
Geheimnis ist groß; ich sage es aber auf Christum und
auf die Versammlung." (Eph. 5, 29-32.)
Diese Einheit der Kirche mit Christo gemäß den Ratschlüssen Gottes giebt ihr einen Platz außerhalb aller
irdischen Beziehungen. Doch tritt ihre himmlische Stellung
126
noch deutlicher vor unser Auge, wenn wir bedenken, daß
sie nicht nur Seine Braut, sondern auch Sein Leib ist,
der Leib des aus den Toten auserstandenen und zur Rechten
Gottes erhöhten Hauptes, die Fülle (oder die Vervollständigung) Dessen, der alles in allem erfüllt. Wir können
daher die Kirche nie anderswo suchen, als an dem Platze,
welchen Gott Christo gegeben, nachdem Er Ihn aus den
Toten auferweckt hat. „Und Er setzte Ihn zu Seiner
Rechten in den himmlischen Oertern, über jedes Fürstentum
und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden
Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter,
sondern auch in dem zukünftigen, und hat alles Seinen
Füßen unterworfen und Ihn als Haupt über alles der
Versammlung gegeben, welche Sein Leib ist, die Fülle
Dessen, der alles in allem erfüllt." (Eph. 1, 20 — 23.)
Ihr Platz ist folglich in den himmlischen Oertern, und
dort sind auch ihre Segnungen, wie geschrieben steht: „Gepriesen sei der Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi,
der uns gesegnet hat mit aller geistlichen Segnung in den
himmlischen Oertern in Christo." (Eph. 1, 3.)
Dieser erhabenen Stellung entspricht selbstverständlich
auch die Erwartung der Kirche. Wir haben gesehen, daß
Christus sich durch das Werk der Erlösung ein Recht
auf die ganze Schöpfung erworben hat; und Er wartet
jetzt nur noch auf den Augenblick, wo Er Sein Erbteil
in Besitz nehmen wird. Alsdann wird die Kirche mit Ihm
alle Dinge besitzen; sie wird mit Ihm verbunden sein als
Sein Weib. „Indem Er uns kundgethan das Geheimnis Seines Willens nach Seinem Wohlgefallen, das Er
sich vorgesetzt hat in sich selbst, für die Verwaltung der
Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammen zu
127
bringen in dem Christus, das was in den Himmeln und
das was auf der Erde ist, in Ihm, in welchem wir auch
ein Erbteil erlangt haben." (Eph. 1, 9 — 11.) Und im
8. Psalme lesen wir: „Was ist der Mensch, daß Du
sein gedenkest, und des Menschen Sohn, daß Du auf ihn
acht hast? Denn ein wenig hast Du ihn unter die Engel
erniedrigt, mit Herrlichkeit und Pracht hast Du ihn gekrönr.
Du hast ihn herrschen lassen über die Werke Deiner
Hände; alles hast Du unter seine Füße gestellt." Diese
Stelle wird an verschiedenen Stellen des Neuen Testaments
auf Christum in Seiner neuen Stellung als Sohn des
Menschen angewandt, in welcher Er die Herrschaft über
alle Dinge in den Himmeln und auf der Erde haben wird.
(Vergl. z. B. Hebr. 2, 5 — 9.) Die Erwartung der Kirche
besteht also darin, Ihn zu sehen und dann diese Herrlichkeit mit Ihm zu teilen, wie der Herr selbst sagt: „Und
die Herrlichkeit, die Du mir gegeben, habe ich ihnen gegeben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind. Ich
in ihnen und Du in mir, auf daß sie in eins vollendet
seien, und auf daß die Welt erkenne, daß Du mich
gesandt und sie geliebt, gleichwie Du mich geliebt hast." (Joh. 17, 22. 23.) Die Welt wird uns
mit Ihm sehen in derselben Herrlichkeit. Dasselbe bestätigt
uns der Apostel Paulus in Kol. 3, 4: „Wenn der Christus,
der unser Leben ist, offenbar werden wird, dann werdet
auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit." Ebenso
der Apostel Johannes im 3. Kapitel seines ersten Briefes:
„Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar geworden ist,
wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden Ihn
sehen, wie Er ist."
128
Alles das beweist unzweideutig, daß die Kirche nach
den Ratschlüssen Gottes ein Gegenstand ist, der gänzlich
außerhalb des Laufes der irdischen Ereignisse steht. Ihre
Erwählung vor Grundlegung der Welt, ihre Verbindung
mit einem anferstandenen und verherrlichten Christus, ihr
Platz in den himmlischen Oertern, ihre zukünftige Herrlichkeit, alles das verleiht ihr einen durchaus göttlichen
und himmlischen Charakter, der nicht den geringsten Zusammenhang mit dieser Schöpfung hat. Jeder Versuch, sie
mit dieser Welt zu verbinden, ist eine Verleugnung ihrer
Einheit mit Christo, sowie ihres ganzen Wesens und Charakters. Sie war bis zu den Tagen der Apostel ein „Geheimnis", das, wie Paulus sagt, „von den Zeitaltern her
verborgen war in Gott, der alle Dinge geschaffen hat."
(Eph. 3, 9.) Gleichwie Er im Blick auf die Schöpfung
Sein eigner Ratgeber war, so ist auch die Kirche einzig
und allein aus Seinen Ratschlüssen hervorgegangen. Niemand ist Sein „Mitberater" gewesen, (Röm. 11, 34.) und
niemand außer Ihm konnte etwas davon wissen, als nur
der, welchem Er selbst es offenbar machte. Paulus sagt
deshalb, daß ihm „durch Offenbarung das Geheimnis
kundgethan worden sei, welches in andern Geschlechtern den
Söhnen der Menschen nicht kundgethan worden, wie es
jetzt geoffenbart worden ist Seinen heiligen Aposteln und
Propheten im Geiste." (Eph. 3, 3—5.) Die hier genannten
Propheten sind diejenigen des Neuen Testaments. Für die
alttestamentlichen war die Kirche ein Geheimnis, und deshalb konnten sie von einer Unterbrechung in dem Laufe der
Ereignisse betreffs Israels nichts wissen. Für die Welt
bleibt die Kirche ihrer wahren Natur nach immer ein Geheimnis bis zu dem Tage, an welchem sie mit Christo in
129
Herrlichkeit geoffenbart werden wird. Die Welt hat Christum
nicht erkannt, und darum erkennt sie auch Seine Kirche
nicht. „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn
nicht erkannt hat." (1. Joh. 3, 1.)
Die Kirche wartet also aus den Tag ihrer Offenbarwerdnng mit Christo in Herrlichkeit. Christus wird, wie bereits bemerkt, in Begleitung Seiner Braut und Miterbin erscheinen, um Sein Erbe in Besitz Zu nehmen. Wenn das aber
so ist, so liegt es auf der Hand, daß alle zur Braut gehörenden Glieder vorher gesammelt und mit Ihm vereinigt sein müssen; und diese Sammlung ist der Zweck
der gegenwärtigen Zeit. Notwendigerweise mußte dieser
Zweck eine Unterbrechung in den Wegen Gottes mit Seinem Volke Israel herbeiführen. Denn wie wir gesehen
haben, ist Israel von allen Völkern durch eine unübersteigliche Scheidewand abgesondert, während die Kirche die
durch den Heiligen Geist zu einem Leibe vereinigten Gläubigen aus allen Nationen darstellt. Unmöglich konnte daher
die Kirche ins Dasein treten, ohne daß zuvor die Scheidewand abgebrochen wurde; und dieses hat in dem Tode
Christi stattgefunden. „Denn Er ist unser Friede, der
aus beiden eins gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung, als Er in Seinem Fleische die
Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen, hinweggethan hat, auf daß Er die zwei, Frieden stiftend, in sich
selbst zu einem neuen Menschen schüfe und versöhnte die 
beiden in einem Leibe Gott durch das Kreuz, nachdem
Er durch dasselbe die Feindschaft getötet hatte. Und Er
kam und verkündigte Frieden, euch, den Fernen (den 
Gläubigen aus den Heiden), und Frieden den Nahen
(den Gläubigen aus den Juden). Denn durch Ihn haben
130
wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem Vater."
(Eph. 2, 11 — 18.) Durch den Tod Christi ist der Unterschied zwischen Juden und Heiden aufgehoben worden,
und Gott sammelt jetzt die Glieder der Kirche ohne Unterschied aus beiden. Und dieses Werk geht voran, bis das
letzte der vor Grundlegung der Welt auserwählten Glieder
der Kirche hinzugefügt ist. Bis dahin bleibt Israel als Volk
beiseite gestellt, und der Lauf der diesbezüglichen Ereignisse
unterbrochen. Sobald die Kirche vollzählig ist, steht für
Christum nichts mehr im Wege, das sehnsüchtige Verlangen Seines Herzens zu erfüllen und sie von dem
gegenwärtigen Schauplatz hinwegzunehmen, dorthin, wo
Er ist. „Vater, ich will, daß die, welche Du mir
gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß
sie meine Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast."
(Joh. 17, 24.) Wie dieses geschehen wird, darüber giebt
uns der Apostel Aufschluß in den Worten: „Denn der
Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme
des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen
vom Himmel, und die Toten in Christo werden zuerst
auferstehen; darnach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken,
dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir
allezeit bei dem Herrn sein." (1. Thess. 4, 16. 17.)
(Schluß folgt.)
Ein „Kindlein".
In einer Zeit des Verfalls wie die gegenwärtige,
— denn der Tag des Abfalls nähert sich mehr und mehr,
und die Gläubigen sind in Gefahr, von den ihm voran­
131
gehenden und ihn ankündigenden Symptomen, denen „der
Lauheit", (Offbg. 3, 15. 16.) angesteckt zu werden —
in einer solchen Zeit ist es von der höchsten Wichtigkeit,
zu dem zurückzukehren, was der Wunsch des erhabenen
Hauptes der Kirche für uns alle ist. Das allein kann
uns vor dem Geiste bewahren, welcher das gegenwärtige
religiöse Bekenntnis fast in seiner ganzen Ausdehnung
durchdrungen hat. Zur näheren Erklärung dessen, was
jener Wunsch des Herrn ist, möchte ich den Leser auf die
Antwort Hinweisen, welche Er einst gab, als Ihm die Frage
vorgelegt wurde: „Wer ist der Größte im Reiche der
Himmel?" (Matth. 18, 1.) Kurz vorher war es den
Jüngern vergönnt worden, einen Blick zu thun auf „den
Sohn des Menschen, kommend in Seinem Reiche;" sie
hatten eine schwache Abspiegelung der Herrlichkeiten gesehen, welche Ihm als dem Sohne des Menschen in
Zukunft noch Vorbehalten sind. Durfte jemand es wagen,,
irgend einen Menschen, und wäre es selbst ein Mose oder 
ein Elias, mit Ihm, dem Gesegneten, auf gleiche Stufe zu
stellen? Kaum war der Vorschlag über die Lippen des Petrus
gekommen, als auch schon die Stimme des Vaters ertönte
und jenen eitlen Wunsch mit den Worten zurückwies:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe; Ihn höret!" Aus der prachtvollen
Herrlichkeit herab wurde Er so als unvergleichlich erhaben
und geliebt erklärt, als der Mittelpunkt von allem Großen
und Erhabenen. Und so wurde die Stimme des Petrus
zum Schweigen gebracht; und obwohl es ihm vergönnt war,
mit Ihm dort zu sein, als der „Augenzeuge Seiner Majestät," wie er es später ausdrückt, so ist und bleibt Christus
doch stets Gottes Mittelpunkt, der Einzige, welcher in
132
sich selbst das Recht hatte, dort zu sein. Am Tage der
Offenbarung jener Herrlichkeit werden auch wir, die wir
an Ihn glauben, bei Ihm sein; aber auch unsre Stimmen
werden dann verstummen bei der Betrachtung Desjenigen,
der Gottes Mittelpunkt ist, — an jenem Tage, welcher
die Erfüllung des Gebetes des Herrn in Joh. 17 erblicken wird: „Vater, ich will, daß die, welche Du mir
gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast, denn
Du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt."
Gleichsam auS dieser Herrlichkeit herabsteigend, wo
sie des Vaters Zeugnis über den Sohn Seiner Liebe gehört hatten, stellen die Jünger die oben erwähnte Frage,
deren Sinn ist: Wer von uns wird Ihm am nächsten
sein? Und welche Antwort kommt von den gesegneten
Lippen des Herrn? Eine Antwort, deren Bedeutung damals für jedes Herz ernstlich zu erwägen war, und die
auch heute noch für uns eine Lehre enthält, über welche
wir viel nachdenken sollten. Leugnet der Herr, daß es
einen solchen Platz giebt? Sagt Er, daß wir an jenem 
Tage alle gleich sein werden? Nein, Er thut keines von
beiden; sondern indem Er ihre Eigenliebe dem wahren
Grunde aller Erhöhung, der persönlichen Liebe zu Ihm
und der Hingebung an Seine Person, gegenüberstellt, antwortet Er: „Wer irgend sich selbst erniedrigen wird wie
dieses Kindlein, dieser ist der Größte im Reiche der
Himmel." Er sagt nicht, wie es oft (vielleicht unabsichtlich) erklärt wird: „Wer irgend sich selbst erniedrigt, wie
dieses Kindlein sich erniedrigt, dieser ist der Größte im
Reiche der Himmel." Es wäre thöricht und widersinnig,
davon zu reden, daß ein kleines Kind sich erniedrigen
133
sollte; denn wenn jemand sich in einer solchen Stellung
befindet, wenn er ein kleines Kind ist, so braucht
er nicht mehr von seiner Höhe herabzusteigen, um ein
solches zu werden; er ist es schon. Des Herrn Worte
bedeuten vielmehr: „Du mußt wie dieses Kindlein werden, wenn du an jenem Tage den höchsten Platz in dem
Reiche meiner Herrlichkeit einzunehmen wünschest." Das
hier gebrauchte Wort „Kindlein," der Ausdruck kindlicher
Hülflosigkeit, ist dasselbe, welches der Apostel Johannes
in dem 2. Kapitel seines ersten Briefes anwendet, wenn
er „Väter, Jünglinge und Kindlein" in Christo unterscheidet. Es bezeichnet das jüngste Glied in der Familie.
Das also ist es, mein Leser, wonach wir trachten,
und was wir zu erreichen suchen sollten: ein Kind lein
zu werden. Fragen wir, warum? Weil wir in Herz
und Geist, in unsern Wegen und Zuneigungen keine Kindlein sind. Die Jünger verrieten dies durch ihre Frage;
und verraten wir es nicht Tag für Tag durch unser
Thun und Lassen? Was ist es denn, das ein Kindlein in
so hervorragender Weise charakterisiert, was es zu einem solch
nachahmungswürdigen Vorbilde für uns macht? Ich möchte
hier nur auf einige Punkte aufmerksam machen.
Beobachte es in der Familie, im Kinderzimmer, (gleichsam ein Bild von dieser Welt, in welcher wir aufwachsen);
es ist ohne Furcht, ohne Angst und ohne irgend welche
Sorge. Für Nahrung, Obdach und Kleidung, ja für
alles, was es braucht und bedarf, von einem Andern abhängig, ist es selbst ohne Pläne, ohne Ueberlegungen und
ohne Hülfsquellen, und auch unfähig, seine Wünsche einem
Andern kund zu thun, als allein demjenigen, welcher die 
Kindersprache, die es spricht, verstehen kann. Das, mein
134
Leser, ist unser Muster. Ist ein solches Kind glücklich? Wer daran zweifelt, möge es nur einen Augenblick
beobachten; ja, der Leser braucht nur seine Gedanken zu 
den Tagen seiner eigenen Kindheit zurückwandern zu lassen,
und die Antwort ist da. Aber während die Schwachheit und
Hülflosigkeit eines solchen Kindes offenbar sind, müssen
wir uns doch daran erinnern, daß es ein Bewußtsein
hat, so jung es sein mag, ein Bewußtsein, welches mit
dem Laufe der Jahre zunimmt und sich immer mehr vertieft. Es ist das Bewußtsein, geliebt zu werden, und
zwar geliebt mit einer vollkommenen und sich stets gleich
bleibenden Liebe. Welch ein kostbares, gesegnetes Bewußtsein ! „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene
Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein.
Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe."
(1. Joh. 4, 18.) Jene Person, von welcher daS Kind
sich geliebt weiß, füllt seinen ganzen Gesichtskreis, seine
ganze Gedankenwelt aus. Ja, eine Person ist eS, mein
Leser, nicht nur ein Platz. Und nun möchte ich fragen:
Steht es heute so mit einem jeden von uns? Bei einem
Manne, der einst auch auf dieser Erde wandelte, finden
wir die Kennzeichen eines solchen Kindleins. Er konnte
sagen : „Eins aber thue ich, .... auf daß ich Christum
gewinne, und in Ihm erfunden werde." „Denn das
Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn."
„Nicht daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen
möge, indem ich auch von Christo Jesu ergriffen bin."
Eine Person füllte den ganzen Gesichtskreis des Apostels
ans und bildete den Mittelpunkt all seines Fühlens und
Denkens. Er wurde geliebt, und er wußte dies. „Er
135
hat mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben."
Leser, weißt auch du, daß du geliebt bist, geliebt mit
einer unendlichen Liebe? Kannst du dasselbe sagen, was
der Apostel einst sagte, und hat es dieselbe Gewalt über
dich, wie über ihn?
Doch die Kinderstubenjahre vergehen für einen jeden
von uns. Versetzen wir denn unser Vorbild, „ein Kindlein," aus der Kinderstube in all das Licht und den Glanz
jenes Tages der zukünftigen Herrlichkeit, auf welchen wir
warten. Warum wandert sein Blick suchend umher? Giebt
es denn in der glänzenden Umgebung nicht genug, um seine
Aufmerksamkeit zu fesseln? Ist die wunderbare Herrlichkeit,
in welche es versetzt ist, nicht imstande, sein ganzes Herz
auszufüllen? Nein, der Platz ist ihm nichts; all die Pracht
und all der Glanz ziehen es nicht an. Es sucht den Einen,
dessen zärtliche Liebe es zu andern Zeiten und unter andern
Verhältnissen erfahren und genossen hat; denn dieselbe
Person, welche es damals befriedigte, vermag allein es
auch jetzt ganz zu befriedigen; an allem andern vorübergehend, eilt es in die Arme der Liebe. Und Er, dem
alle die Pracht und Würde jenes Tages gehört, findet
Seine Freude daran, Seinem geliebten Kindlein einen
Platz an Seinem Herzen zu geben.
So wird es sein an jenem mit raschen Schritten
herannahenden Tage der Herrlichkeit; das „Kindlein" wird
den höchsten Platz zur Seite, ja, an dem Herzen Dessen
erreichen, von dem dann gesagt werden wird: „Würdig
ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu empfangen die
Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre
und Herrlichkeit und Segnung." (Offbg. 5, 12.)
Mein Leser! Wer wird dereinst den Platz des „Kind­
136
leins" haben? Wenn du ihn jetzt einnimmft, so wirst du ihn„
nach den Worten des Herrn, auch dann einnehmen. Darum
laßt uns viel über jene kostbaren Worte nachdenken: „Denn
solcher ist das Reich der Himmel," und: „Wer sich selbst
erniedrigt wie dieses Kindlein, dieser ist der Größte im
Reiche der Himmel." Ja, der Herr gebe uns Gnade, Tag
für Tag das einfältige Herz und Verhalten, sowie die
innigen Zuneigungen, welche uns bei einem kleinen Kinde
so sehr anziehen, Ihm, dem einziggeliebten Gegenstände
unsrer Herzen, gegenüber zu offenbaren!

Drei Ermahnungen.
1. „Freuet euch in dem Herrn allezeit!" Wer war die
passende Person, eine solche Ermahnung an die Gläubigen
zu richten? Der Mann, welcher in den dritten Himmel
entrückt war? Nein, sondern der Mann, welcher im Gefängnis zu Rom saß. Wir wissen Wohl, es war derselbe
Mann, derselbe gesegnete Apostel; aber nicht nach seiner
Entrückung, sondern nachdem er jahrelang in der Gefangenschaft geschmachtet halte, schrieb er jene Worte an seine
geliebten Philipper. Das war in der That ein Sich freuen
in dem Herrn allezeit, wie der Psalmist sagt: „Ich will
Jehova preisen allezeit; beständig soll Sein Lob in meinem Munde sein." Wenn der Herr in Wahrheit der
Gegenstand meines Herzens ist, io ist mehr vom Himmel
im Gefängnis als außerhalb desselben. Es waren nicht
die grünen Auen und die stillen Wasser, welche den Apostel
so glücklich machten. „Der Herr ist mein Hirte," nicht
die grünen Auen, obwohl diese sehr schön und angenehm
sind. Und selbst wenn ich mich von diesen weg verliere,
137
ist E r es, der meine Seele wiederherstellt. Liegt der Tod
vor mir, so fürchte ich mich nicht; denn: „Du bist bei mir."
Umgeben mich schreckliche Feinde — Er bereitet mir einen
Tisch angesichts derselben; ich kann sagen: „Mein Becher
fließt über." Er leitet mich durch alle Schwierigkeiten und
Prüfungen; ja, ich darf sagen: „Fürwahr, Güte und
Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und
ich werde wohnen im Hause Jehovas in Länge der Tage."
Je mehr der Mann, welcher auf den Herrn vertraute,
in Schwierigkeiten geführt wurde, desto mehr bewies er,
daß alles in Ordnung war. Paulus sagt gleichsam: „Ich
kenne den Herrn als ein Freier, und ich kenne Ihn als
ein Gefangener." Der Herr war genug für ihn, wenn er
in Mangel war, und auch genug, wenn er Ueberfluß hatte.
Deshalb sagt er: „Freuet euch in dem Herrn allezeit!"
Was konnten die Feinde mit einem solchen Manne ansangen? Töteten sie ihn, so sandten sie ihn nur zum
Himmel, wohin er sich sehnte; ließen sie ihn am Leben,
so wandte er alles auf, um Seelen zu Christo zu führen,
zu Dem, dessen Namen und Zeugnis sie so gern ausgerottet hätten.
Es ist schwieriger, in Tagen äußeren Glückes und
Wohlergehens sich in dem Herrn zu freuen, als in der
Zeit der Trübsal; denn Trübsale werfen uns auf den
Herrn. Es ist viel gefährlicher für uns, wenn es keine
Trübsale giebt, als wenn wir durch Prüfungen zu gehen
haben. Aber die Freude am Herrn befreit uns stets von
der Macht und dem Einfluß der gegenwärtigen Dinge. Wir
glauben nicht, wie sehr wir, selbst die Geistlichsten unter
uns, geneigt sind, uns auf äußere Stützen zu verlassen.
Wir glauben es nicht eher, bis dieselben weggenommen
138
werden. Ich meine, wir stützen uns so gern auf die
Dinge um unS her, auf das Sichtbare. Aber wenn wir
uns in dem Herrn freuen, so kann diese Kraft uns nie 
genommen werden, noch können wir den Segen und den
Genuß dieser Freude verlieren.
2. „Lasset eure Gelindigkeit kund werden allen Menschen!" Glaubst du, deine Umgebung werde denken, dein
Wandel sei im Himmel, wenn du eifrig nach irdischen
Dingen trachtest? Nein, sie wird es nur dann denken,
wenn das klare Zeugnis vorhanden ist, daß dein Herz
nicht sein eignes Interesse sucht. „Der Herr ist nahe."
Alles wird bald in Ordnung gebracht werden. Wenn du
in Sanftmut und Demut wandelst und Böses willig über
dich ergehen lässest, so werden dein Herz und deine Zuneigungen an ihrem richtigen Platze erhalten bleiben; und
die Welt erkennt es sehr wohl, wenn Herz und Geist nicht
auf sie und ihre Dinge gerichtet sind. Darum: „Lasset eure
Gelindigkeit kund werden allen Menschen."
3. „Seid um nichts besorgt!" Diese Worte sind mir
oft zu großem Troste gewesen. Selbst wenn es eine große
Trübsal, eine schwere Prüfung wäre: „seid um nichts
besorgt!" Vielleicht erwiderst du: „O, es sind nicht meine
kleinlichen Umstände, die mir so viel Sorge machen; nein,
es ist der allgemeine Zustand der Gläubigen: alles verfällt und nimmt mit jedem Tage ein ernsteres, betrübenderes Aussehen an." Nun, „sei um nichts besorgt!"
Nicht daß du sorglos sein solltest; aber du versuchst,
die schwere Last auf deine eignen Schultern zu nehmen,
und quälst und marterst so dein Herz damit. Wie oft
ruht eine Last auf dem Gemüt eines Menschen, die er
vergeblich von sich abzuwälzen sucht; sie kommt immer
139
wieder und beunruhigt ihn stets aufs neue. Aber das
„Seid um nichts besorgt" ist ein Gebot; und ist es nicht
gesegnet, ein solches Gebot zu besitzen?
Aber, wirst du fragen, was soll ich denn thun? —
Gehe zu Gott! „Seid um nichts besorgt, sondern in
allem lasset durch Gebet und Flehen mit
Danksagung eure Anliegen vor Gott kund
werden." Thust du das, so kannst du inmitten deiner
Sorgen Gott danken; und hierin müssen wir die überströmende Gnade Gottes erkennen. Wir brauchen nicht zu
warten, bis wir untersucht und gefunden haben, daß das,
was wir wünschen, nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
ist. Nein, „lasset eure Anliegen kund werden!" Hast du
eine Last auf deinem Herzen? Nun, so gehe mit deinem
Anliegen zu Gott. Er sagt nicht, daß du erhalten werdest,
um was du bittest. Als Paulus dreimal zum Herrn flehte,
Er möge den Dorn aus seinem Fleische wegnehmen, erhielt er zur Antwort: „Meine Gnade genügt dir." Aber
der Friede Gottes wird dein Herz und deine Sinne bewahren. Wird Gott jemals beunruhigt durch die kleinlichen Dinge, welche uns beunruhigen? Erschüttern sie
Seinen Thron? Wir wissen, daß Er an uns denkt; aber
Er wird nicht beunruhigt; und der Friede, der in dem
Herzen Gottes ist, soll unsre Herzen bewahren. Ich gehe
zu Ihm, bringe Ihm alles, was mich beschwert, und finde
Ihn in vollkommener Ruhe über die Sache. Alles ist in
Ordnung. Er weiß sehr wohl, was Er thun will. Ich
habe meine Bürde an dem Throne niedergelegt, der niemals wanken wird, und zwar mit der vollen Gewißheit,
daß Gott mich liebt und an allen meinen Angelegenheiten
teilnimmt; und der Friede, in welchem Er sich befindet,
140
bewahrt mein Herz, und so kann ich Ihm danken, noch
ehe die Trübsal vorübergegangen ist. Ich kann sagen: Gott
sei Dank! Er nimmt teil an mir und an allem, was mich
betrifft. Ist es nicht eine gesegnete Sache, daß ich diesen
Frieden besitzen und so zu Ihm gehen und mein Anliegen,
das vielleicht sehr thöricht ist, vor Ihm kund werden lassen
kann? und ferner, daß ich, anstatt über meinen Prüfungen
und Schwierigkeiten zu brüten, mit Gott in Gemeinschaft
sein darf betreffs derselben?
Es ist ein kostbarer Gedanke, daß Gott, während
Er uns zu sich, in Seine himmlische Gegenwart zieht,
selbst gleichsam herniedersteigt und sich hienieden mit allen
unsern Anliegen beschäftigt. Während unsre Herzen mit
himmlischen Dingen erfüllt sind, können wir Ihm vertrauen für die irdischen. Er neigt sich herab zu allem.
Wie Paulus sagt: „Von außen Kampf, von innen Furcht.
Der aber die Niedrigen tröstet, Gott, tröstete uns." Es
war der Mühe wert, niedrig und zu Boden geworfen zu
sein, um einen derartigen Trost zu empfangen. Ist Er
ein Gott der Ferne, und nicht ein Gott der Nähe? Er
giebt uns nichts Sichtbares, worauf unser Fleisch vertrauen könnte, noch läßt Er uns den Weg weit vor uns
erkennen; denn dann würden unsre Herzen nicht geübt
werden. Aber obgleich wir Ihn nicht sehen, sieht Er uns,
und Er neigt sich zu uns herab, um uns inmitten der
Drangsale und Prüfungen alle Art von Trost darzureichen.
„Alle eure Sorge werfet auf Ihn, denn Er sorgt
für euch!" (1. Petri 3, 7.)
Einige Worte über den Unterschied
zwischen der Erwartung Israels und derjenigen der Kirche.
(Schluß.)
Die Erwartung des Herrn seitens der Kirche zu ihrer
Aufnahme ist also weit entfernt von einer Erwartung der
Gerichte. Letztere würde ganz und gar im Widerspruch
stehen mit der Natur des Verhältnisses der Kirche zu
Christo. Kann Christus mit sich selbst ins Gericht gehen?
Unmöglich. Der Apostel sagt: „Hierin ist die Liebe mit uns
vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben
an dem Tage des Gerichts, daß, gleichwie Er
ist, auch wir sind in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.)
Freimütigkeit und nicht Furcht ist also unser Teil am
Tage des Gerichts, und zwar aus dem einfachen Grunde,
weil im Blick auf unsre Stellung in Christo nichts an
uns zu richten ist; denn wir sind ebenso gerecht und heilig
wie Er. Das sind hohe Worte, und wir dürften nicht
wagen sie auszusprechen, wenn nicht Gottes Wort selbst
uns dazu berechtigte, und wenn nicht Christus durch das
kostbare Werk Seiner unendlichen Liebe uns so dargestellt
hätte. Und wo wird die Kirche sein an jenem Tage des
Gerichts? Sie wird sich an ihrem wahren Platze, im
Himmel, befinden, in Verbindung mit allen himmlischen
142
Heiligen, wie uns dies symbolisch durch die vier und zwanzig Aeltesten in Offbg. 4 dargestellt wird. In diesem Kapitel erblicken wir den Thron des Gerichts aufgerichtet, und
rings um denselben sitzen die Aeltesten, ebenfalls auf Thronen. Aber obwohl Blitze und Stimmen und Donner, die
Zeichen ernster, schrecklicher Gerichte, aus dem Throne
hervorgehen, verraten die Aeltesten doch durchaus keine
Furcht, sondern sind mit Anbetung erfüllt gegen Den,
der auf dem Throne sitzt.
Ferner trägt der Charakter, in welchem Christus Seiner Braut erscheint, ein Gepräge, das dem Verhältnis
einer gegenseitigen vertrauten Bekanntschaft entspricht. Er
erscheint ihr als „der glänzende Morgenstern." (Offbg.
22, 16.) Sie sieht Ihn in der Nacht, während die Welt
noch in tiefem Schlummer liegt und keine Ahnung hat
von dem Zusammentreffen der Braut mit ihrem vielgeliebten Bräutigam; denn nur der Tag des Gerichts wird
die Welt aus ihrem Schlafe aufschrecken. Dies ist ein neuer
Beweis von der Thatsache, daß die Aufnahme der Kirche
vor dem Tage des Gerichts stattfinden wird, und daß diese
Aufnahme selbst für die Welt ein Geheimnis ist. Der Unterschied zwischen der Aufnahme der Kirche und dem Tage
des Gerichts muß jedem gläubigen, vorurteilsfreien Leser
einleuchten, wenn er bedenkt, daß erstere nur die Erfüllung
der Ratschlüsse ist, welche Gott in Seiner freien Liebe und
bedingungslosen Gnade betreffs der Kirche vor Grundlegung der Welt gefaßt hatte. Diese Ratschlüsse enthalten
von Anfang bis zu Ende keinen Gedanken an ein Gericht
bezüglich der Kirche; denn Gott sieht diese, wie schon bemerkt, nie anders als in Christo in den himmlischen Oertern, und ihre Aufnahme ist nur die
143
praktische Verwirklichung davon. Das Gericht über die
Welt hingegen ist das Ausgießen der göttlichen Zornschalen, wobei jeder Gedanke an Gnade ausgeschlossen ist.
Zweifellos waren alle diejenigen, welche die Kirche
bilden, einst ausnahmslos schuldige, verdammungswürdige
Sünder wie alle Menschen; wie geschrieben steht: „Auch
euch, als ihr tot wäret in euern Vergehungen und Sünden, in welchen ihr einst wandeltet nach dem Zeitkauf
dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des
Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams; unter welchen auch wir einst alle unsern Verkehr
hatten in den Lüsten unsers Fleisches, indem wir den
Willen deS Fleisches und der Gedanken thaten und von
Natur Kinder des Zornes waren, wie auch die übrigen."
Das war der traurige Zustand jedes einzelnen Gliedes
der Kirche — alle waren tot in ihren Vergehungen und
Sünden. Aber dieser Zustand ist für Gott nur ein Anlaß
Zur Offenbarung Seiner „vielen Liebe" geworden. „Gott
aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen
Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den
Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig
gemacht — durch Gnade seid ihr errettet — und hat uns
mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen
Oertern in Christo Jesu." (Eph. 2,1—6.) Unsre Sünden
bildeten für Gott kein Hindernis in der Erfüllung Seiner
Ratschlüsse betreffs der Kirche, weil Christus diesem Hindernis durch Sein kostbares Blut vollkommen begegnet ist.
Die Kirche wird also am Tage ihrer Aufnahme gerade
so gefunden werden, wie Gott „in Seiner vielen Liebe" sie
nach Seinem Ratschluß in Christo schon vor mehr als
achtzehnhundert Jahren, ja, nach Seinem Vorsatz schon
144
vor Grundlegung der Welt dargestellt hat. Wie könnte
da in Verbindung mit ihr noch von Gericht die Rede
sein? (Wir reden selbstverständlich immer nur von der
wahren Kirche, bestehend aus allen wahren, lebendigen
Gläubigen, nicht etwa von der bekennenden Christenheit.)
Ohne Zweifel sind alle Glieder betreffs ihres praktischen
Zustandes vor Gott verantwortlich, und Er züchtigt sie und
geht ernste und schwere Wege mit ihnen, wenn es nötig
ist; aber selbst diese Züchtigungen sind nur ein Beweis
mehr von den Absichten Seiner Liebe für sie. „Wenn wir
aber gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt,
auf daß wir nicht mit der Welt verurteilt
werden." (1. Kor. 11, 32.) Ebenso ist Christus jetzt
mit Seiner Versammlung im Blick auf ihren praktischen
Zustand beschäftigt; Er reinigt sie, und Er thut dies
wiederum nur aus dem Grunde, weil Er sie vollkommen
liebt. „Gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, auf daß Er sie
heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch
das Wort, auf daß Er sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder
etwas dergleichen habe, sondern daß sie heilig und tadellos sei." (Eph. 5, 25 — 27.) Offenbar trägt diese Reinigung durch das Wort nicht im Entferntesten den Charakter des göttlichen Zornes. Wenn es sich um diesen
Zorn handelt, sagt der Apostel ganz bestimmt: „Vielmehr
nun, da wir jetzt durch Sein Blut gerechtfertigt sind,
werden wir durch Ihn errettet werden vom Zorn."
(Röm. 5, 9.) Und von den Thessalonichern sagt er, daß
sie sich von den Götzenbildern zu Gott bekehrt hätten, um
dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen
145
Sohn aus den Himmeln zu erwarten, „Jesum, der uns errettet von dem kommenden Zorn." (1. Thess. 1,10.) Gleicherweise sagt der Herr selbst in dem Sendschreiben an Philadelphia: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt
hast, so will auch ich dich bewahren vor der Stunde der
Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird,
zu versuchen die auf der Erde wohnen." (Offbg.
3, 10.) Die Kirche oder Versammlung Gottes gehört aber
nicht zu denen, welche auf der Erde wohnen; sie ist ein 
Fremdling hienieden, und ihr Wohnplatz ist in den himmlischen Oertern. Beweist nicht alles dieses in klarer und
unzweideutiger Weise, daß die Aufnahme der Kirche vor
dem Tage des Gerichts stattfinden wird, und daß das
Kommen des Herrn für sie nur die Besiegelung Seiner
Liebe zu ihr ist?
Es sei daher nochmals wiederholt, daß die Annahme,
als müsse die Kirche noch durch die Gerichte gehen, unvereinbar ist mit den Ratschlüssen Gottes über sie, sowie
mit ihrem Verhältnis zu Christo und mit ihrer himmlischen Berufung und Erwartung. Sie steht außerhalb
der Wege Gottes mit der Welt. Erst dann, wenn sie von
dem gegenwärtigen Schauplatz verschwunden ist, beginnen
die Wege Gottes mit der Welt von neuem sich zu entwickeln in der Erfüllung der bezüglichen prophetischen Ereignisse. Wenn daher die Christen auf das Eintreffen
dieser Ereignisse, statt auf ihre Aufnahme, warten, so
gehen sie notwendigerweise in einer Täuschung dahin. Viele
haben sich schon bitter getäuscht, indem sie sogar soweit gingen,
betreffs des Eintritts jener Ereignisse ganz bestimmte Angaben zu machen. Sie sind gänzlich zu Schanden geworden.
Es mögen ähnliche Dinge, wie die für die Zeit deS Endes
146
vorhergesagten Begebenheiten, während des Zeitalters der
Kirche eingetreten sein und noch eintreten, aber das ist
keineswegs eine Erfüllung jener Weissagungen. Damit
soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht heute schon unter
der Leitung der Vorsehung sich vieles entwickeln kann,
was zu der schließlichen Erfüllung der betreffenden Weissagungen führen wird; aber die Erfüllung selbst, dessen
können wir überzeugt sein, hat nichts mit der Erwartung
der Kirche zu thun und liegt ganz und gar außerhalb
ihres Bereichs.
Die Unterbrechung im Laufe der prophetischen Ereignisse begann demzufolge mit der Einführung der Kirche
und währt bis zu ihrer Aufnahme. Von da an können
wir jene Ereignisse wieder weiter verfolgen. Dies geht 
auch deutlich aus einer Weissagung des Propheten Daniel
hervor: „Siebenzig Wochen sind bestimmt über dein Volk
und über deine heilige Stadt, um die Uebertretung zu
vollenden und mit den Sünden ein Ende zu machen, und
die Ungerechtigkeit zu vergeben, und eine ewige Gerechtigkeit zu bringen, und das Gesicht und den Propheten
zu versiegeln, und das Allerheiligste zu salben. Wisse denn
und verstehe: Vom AuSgang des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias, den
Fürsten, sind sieben Wochen und zwei und sechzig Wochen.
Die Straße und der Graben werden wiederhergestellt werden, und zwar in Drangsal der Zeiten. Und nach den
zwei und sechzig Wochen wird der Messias weggethan
werden, und wird nichts haben; und ein Volk deS kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, 
und ihr Ende wird sein durch eine überströmende Flut,
und bis ans Ende Krieg, Festbeschlossenes von Ver-
147
Wüstungen. Und er wird den Vielen einen Bund befestigen
eine Woche; und in der Hälfte der Woche wird er aufhören lassen das Schlachtopfer und das Speisopfer, und
wegen des Schutzes der Greuel wird ein Verwüster sein,
und bis zur festbeschlossenen Gerichts-Vollendung über die
Verwüstete ausgegossen werden." (Dan. 9, 24 — 27.)
Hier haben wir einen Zeitraum von siebenzig prophetischen Wochen oder vierhundert und neunzig Jahren, die 
Woche zu sieben Jahren gerechnet, an deren Schluß die
Uebertretung vollendet, den Sünden ein Ende gemacht,
die Ungerechtigkeit vergeben, die ewige Gerechtigkeit gebracht,
die Weissagung versiegelt und das Allerheiligste gesalbt
werden soll. Es ist nicht schwer zu erkennen, daß die
letztgenannten Dinge die vollständige Befreiung Israels
und seine Einführung in die Segnungen des tausendjährigen Reiches bedeuten. Die wichtige Frage ist daher:
Wann beginnen und wann endigen diese vierhundert und
neunzig Jahre? Ihr Anfang wird uns klar und bestimmt
angezeigt: „Wisse denn und verstehe: Vom Ausgang des
Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis
auf den Messias, den Fürsten, sind sieben Wochen und
zwei und sechzig Wochen." Von dem Augenblick an, da
Nehemia von dem persischen König Arthasasta die Erlaubnis zum Wiederaufbau Jerusalems erhielt, bis zu dem
öffentlichen Einzuge Christi in Jerusalem als König der
Juden, sind neun und sechzig Wochen oder 483 Jahre
verflossen. (Neh. 2; Matth. 21, 5; Sach. 9, 9.) Dann
aber ist eine Unterbrechung eingetreten; die siebenzigste
Woche ist von den übrigen in sehr bezeichnender Weise
getrennt. Mit jenem Einzuge Christi hörte die Zählung
der Wochen auf.
148
Christus ist als König der Juden am Ende der 69.
Woche erschienen und als solcher verworfen worden; Er hat
als Sohn Davids nichts empfangen. Ebenso ist Jerusalem
und das Heiligtum durch das Volk des kommenden Fürsten,
die Römer, zerstört worden, liegt bis heute wüste, und wird
wüste bleiben „bis ans Ende." (V. 26.) Aber die in V. 27
berichteten Ereignisse der letzten Woche und die unmittelbar
darauf folgende Befreiung Israels sind bis jetzt noch nicht
eingetroffen. *) Die letzte Woche steht daher noch zu erwarten.
Wann wird sie eintreffen? Zur Zeit des Endes.
Inzwischen findet die Sammlung der Kirche, der Braut
Christi, statt. Davon konnte Daniel natürlich nicht reden,
da die Kirche damals noch ein in Gott verborgenes Geheimnis war. Denken wir uns aber diesen Zeitraum der
Kirche hinweg, so schließt sich die letzte Woche genau
an die 69. an. Am Ende dieser 69. Jahrwoche befanden sich die Juden in ihrem Lande unter römischer
Herrschaft. Dies wird am Ende wieder so sein; die Juden
werden durch irgend ein politisches Ereignis in ihr Land
zurückgebracht werden und den Tempel wieder aufbauen,
obgleich die große Masse derselben im Unglauben verharrt.
Wie zur Zeit des Herrn, so wird auch dann nur ein
kleiner Ueberrest an Ihn glauben.
*) Manche betrachten die Verwerfung Christi, sowie das Zeugnis und die Verfolgung der Jünger durch die Juden als eine vorbildliche Erfüllung der Ereignisse der'ersten Hälfte der letzten
Woche. Das ändert aber an der Sache selbst nichts. Jedenfalls ist
die letzte dieser siebenzig Wochen noch zukünftig.
Gleichzeitig wird das römische Reich wiederhergestellt
werden. Johannes wie Daniel sahen dieses vierte Weltreich aus dem wogenden Meere, d. h. aus unruhigen, un­
149
geordneten Völkermassen heraufsteigen. DaS war sein natürlicher Ursprung, als es zum ersten Male auf den Schauplatz trat. Dann aber sah Johannes, abweichend von
Daniel, „einen seiner Köpfe wie zum Tode geschlachtet."
Dies ist eine Anspielung auf die lange Zeit, während
welcher es als Weltreich vom Schauplatz verschwunden ist;
eine Zeit, von welcher Daniel aus den wiederholt angeführten
Gründen nichts mitgeteilt werden konnte. Johannes beschreibt dann die Wiedererstehung des römischen Reiches
mit den Worten: „Und seine Todeswunde ward geheilt,
und die ganze Erde verwunderte sich über das Tier."
(Offbg. 13, 3.) Auch bezeichnet er die Wiederbelebung des
Tieres als ein Aufsteigen aus dem Abgrunde: „Das Tier,
welches du sähest, war und ist nicht und wird aufsteigen aus dem Abgrunde und ins Verderben gehen;
und die auf der Erde wohnen werden sich verwundern,
wenn sie das Tier sehen, daß es war und nicht ist
und da sein wird." (Offbg. 17, 8.) Die Energie und
Macht Satans wird jenes Reich wieder ins Leben rufen,
und zwar in einer so plötzlichen, unerwarteten Weise, daß
die Menschen sich verwundern werden. Dieses Reich wird
alsdann auch mit den Juden in Palästina in Verbindung
treten, obwohl diese einen eignen König haben werden,
welcher „der König," „der falsche Prophet," „das andere
Tier," „der Antichrist" oder „der Gesetzlose" genannt
wird. (Dan. 11, 36; Offbg, 19, 20; 13, 11; 1. Joh.
2, 18; 2. Thess. 2, 8.) Mit diesem und der ihm anhangenden ungläubigen Masse des jüdischen Volkes wird
das Haupt des römischen Reiches einen Bund schließen;
wie wir in Daniel 9, 27 gelesen haben: „Und er (der
rm vorhergehenden Verse erwähnte Fürst des römischen
150
Reiches) wird den Vielen einen Bund befestigen eine Woche."
Er unterstützt den jüdischen König und sein Volk mit seiner 
Macht, wofür dieser ihm hinwiederum göttliche Ehre erweisen läßt. „Und ich sah ein anderes Tier aus der Erde
aufsteigen; und es hatte zwei Hörner gleich einem Lamme
und redete wie ein Drache. Und die ganze Gewalt des
ersten Tieres übt es vor ihm aus und macht, daß die
Erde und die darauf wohnen das erste Tier anbeten,
dessen Todeswunde geheilt ward." (Offbg. 13,11.12.)
Dieser falsche Prophet stellt sich den Juden als ihr
wahrer Messias vor. Er ist der, von welchem der Herr
Jesus sagt, daß er „in seinem eignen Namen" kommen
werde; und nur die Treuen unter dem jüdischen Volke
erkennen seine Sprache als diejenige des Satans. Sie sind
infolge dessen den schrecklichsten Leiden von feiten jener
gotteslästerlichen Macht ausgesetzt, welche das erste und
zweite Tier durch ihre Verbindung darstellen. In der ersten
Hälfte der Woche zwar wird diese Macht noch einigermaßen ihren wahren Charakter verbergen, indem sie den 
jüdischen Gottesdienst nach seiner hergebrachten Weise noch
erlaubt; aber in der Mitte der Woche wird sie plötzlich
die Maske abwerfen und sich in ihrer wahren Gestalt
zeigen. „Und in der Hälfte der Woche wird er, (d. h„
der kommende Fürst, das Haupt des römischen Reiches in
seiner letzten Gestalt,) aufhören lassen das Schlachtopfer
und das Speisopfer." In völliger Uebereinstimmung damit
steht auch das Verhalten des zweiten Tieres, des falschen
Propheten. Denn dieser „wird thun nach seinem Wohlgefallen, und wird sich erheben und groß machen über
allen Gott, und wird Wunderliches reden wider den Gott
der Götter." (Dan. 11, 36.) Der Apostel nennt ihn den
151
Menschen der Sünde, den Sohn des Verderbens, „welcher
widersteht und sich selbst erhöht über alles was Gott heißt,
oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so daß er sich in
den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, daß er
Gott sei." (2. Thess. 2, 3. 4.) Gleichzeitig mit der Abschaffung des jüdischen Opferdienstes wird ein Greuel (ein
Götzenbild) im Tempel aufgerichtet werden. „Und von der
Zeit an, da das beständige Opfer weggenommen, und der
Greuel der Verwüstung aufgestellt sein wird rc." (Dan. 12,11.)
Man kann sich die Lage des Ueberrestes unter diesen Umständen schwer ausmalen; denn es wird für ihn
die Zeit der „großen Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen ist, noch je werden wird." (Matth. 24, 21.) Der Herr selbst schildert in
Matth. 24 die schwierige Lage der Gläubigen jener Tage,
indem Er auf den „Greuel der Verwüstung" als den verhängnisvollen Wendepunkt in der Geschichte der letzten
Woche Daniels aufmerksam macht. Bis zum 14. Verse
des genannten Kapitels haben wir die Ereignisse der ersten
Hälfte der Woche, von da bis zum 28. Verse die Zeit der
eigentlichen „großen Drangsal;" und endlich in den Versen
29 — 31 das Kommen des Herrn zur Befreiung des Ueberrestes. *) In Vers 9 lesen wir: „Dann werden sie euch
in Drangsal überliefern und euch töten, und ihr werdet
gehaßt werden von allen Nationen um meines NaEs sei hier auf den Irrtum Bieler aufmerksam gemacht,
welche den Inhalt jenes Gesprächs zwischen dem Herrn und Seinen
Jüngern auf die Gläubigen der Jetztzeit beziehen, um damit zu
beweisen, daß diese noch durch die Gerichte zu gehen haben. Es
bedarf aber wahrlich keiner großen Einsicht, um zu erkennen, daß
es sich hier ausschließlich um das Land Judäa und den jüdischen
Ueberrest handelt.
152
mens willen." Das zeigt uns den Geist des Unglaubens,
der sich in jenen Tagen aller Nationen bemächtigt haben
wird; alle werden das Malzeichen des Tieres annehmen
und die treuen Bekenner hassen. (Offbg. 13, 16.17.) In
VerS 15 und 16 wird uns die Zeit der Flucht des UeberresteS und des Aufhörens seines Zeugnisses geschildert: die
Zeit „der Nacht, da niemand wirken kann." (Joh. 9, 4.)
„Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung
— wovon durch Daniel, den Propheten, geredet ist —
stehend an heiligem Orte, (wer es liest, der beachte es,)
daß alsdann die in Judäa sind auf die Berge fliehen rc."
In dem 12. Kapitel der Offenbarung begegnen wir, obwohl unter einem andern Bilde, derselben Sache. Wir
lesen dort von dem Weibe, dem Symbol des jüdischen
Volkes: „Und das Weib floh in die Wüste, woselbst sie
eine von Gott bereitete Stätte hat, auf daß man sie daselbst ernähre tausend zweihundert und sechzig Tage."
„Und es wurden dem Weibe die zwei Flügel des großen
Adlers gegeben, auf daß sie in die Wüste fliege, an ihre
Stätte, woselbst sie ernährt wird eine Zeit und Zeiten
und eine halbe Zeit, fern von dem Angesicht der Schlange."
Fliehen oder sterben wird das einzige Los der Treuen
jener Tage sein. Ihr Zeugnis muß, so will es der Feind,
um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden. Wahrlich, „hier ist das Ausharren der Heiligen, welche die Gebote Gottes halten und den Glauben Jesu." (Offbg. 14,12.)
Aber trotz ihrer scheinbaren Niederlage bleiben sie Ueberwinder in dem Kampfe gegen die Macht des Feindes.
„Und sie haben ihn überwunden wegen des Blutes des
Lammes, und wegen des Wortes ihres Zeugnisses, und sie
haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tode." (Offbg. 12,11.)
153
Während dieser Zeit wird Gott die ungläubigen Juden und insbesondere Jerusalem wegen ihres Abfalls mit
großen Plagen heimsuchen. Sie haben ihren wahren
Messias verworfen und werden einen falschen, „den in
seinem eignen Namen Kommenden", (Joh. 5, 43.) aufnehmen. Und um den, ihnen durch die Propheten angedrohten Gerichten zu entgehen, werden sie ihre Zuflucht
nehmen zu einem Bündnis mit der römischen Macht, welcher zu Ehren sie ein Götzenbild im Tempel aufrichten
werden. Aber gerade dieses wird eine umso schrecklichere
Verwüstung über Jerusalem bringen. „Und wegen des
Schutzes der Greuel wird ein Verwüster sein, und bis zur
festbeschlosseuen Gerichts-Vollendung über die Verwüstete
(Jerusalem) ausgegossen werden." (Dan. 9, 27.) DaS
Volk wird in seinem Vertrauen auf sein Bündnis zu
Schanden werden; denn der Verwüster, der König von
Assyrien, oder, wie er in der prophetischen Sprache auch
heißt, der König des Nordens, wird über sie kommen.
„Ha! der Assyrer! die Rute meines Zornes, und der
Stock in seiner Hand ist mein Grimm. Ich will ihn
senden wider ein heuchlerisches Volk, und ihm Befehl geben
wider das Volk meines Grimmes, damit er den Raub
raube und die Beute erbeute, und es zur Zertretung mache
wie den Kot der Straße." (Jes. 10, 5. 6.)
Der Prophet schildert uns den moralischen Zustand
der ungläubigen Juden zu Jerusalem während dieser Zeit
mit den ergreifenden Worten: „Darum höret das Wort
Jehovas, ihr Spötter, ihr Beherrscher dieses Volkes, das
zu Jerusalem ist! Denn ihr habt gesagt: Wir haben
einen Bund gemacht mit dem Tode, und mit dem Scheol
einen Vertrag geschlossen; wenn hindurchziehen wird die
154
überflutende Geißel, wird sie an uns nicht kommen; denn
wir haben uns die Lüge zur Zuflucht gemacht
und in der Falschheit uns verborgen!" Welch
ein Zeugnis von der vollständigen Verhärtung ihrer Herzen ! Trotz der drohenden Gerichte erwidern sie den letzten
Warnungsruf der treuen Zeugen mit Hohn und Spott,
in dem eitlen Vertrauen auf ihr Bündnis mit der römischen Macht. Aber sie werden sich bitter getäuscht sehen.
Ihr Bund wird zu nichte werden; die grausamen Kriegsheere des Königs des Nordens, des Assyrers, werden wie
eine Geißel Gottes das Land überfluten und verwüsten.
„Darum, so spricht der Herr, Jehova: .... Der Hagel
wird hinwegfegen die Zuflucht der Lügen, und die Wasser
werden die Schlupfwinkel überschwemmen. Und es wird
zu nichte werden euer Bund mit dem Tode, und euer
Vertrag mit dem Scheol nicht bestehen; wenn hindurchziehen wird die überflutende Geißel, so werdet ihr von
derselben zertreten werden." (Jes. 28, 14—21.)
Nachher wird Gott allerdings auch die Nationen
richten, weil sie mit der ihnen anvertrauten Macht Mißbrauch getrieben, sich gegen Ihn aufgelehnt und Sein
Volk unterdrückt haben. Wenn Seine Züchtigungen ihren
Zweck bei Seinem Volke erreicht haben, wird Er ihren
Trübsalen ein Ende machen und zu ihren Gunsten gegen
die stolzen Nationen einschreiten. „Denn es wird geschehen, wenn der Herr vollendet haben wird Sein ganzes
Werk auf dem Berge Zion und zu Jerusalem, so werde 
ich heimsuchen die Frucht des Hochmuts des Herzens des
Königs von Assyrien und die Pracht der Hoffart seiner
Augen." „Denn ich habe von dem Herrn, Jehova der Heerscharen vernommen eine festbeschlossene Gerichts-Vollendung,
15ö
die über das ganze Land sein wird." (Jes. 10, 12—23;
28, 22.) Die Herrschaft der Nationen wird ein Ende
nehmen, und Jerusalem, welches „von der Hand Jehovas
Zwiefältiges empfangen hat für alle seine Sünden," wird
getröstet und in die ihm verheißene Herrlichkeit eingeführt
werden. (Jes. 40, 1. 2.)
Durch die Wege Seiner Vorsehung wird der Herr
alle Nationen nach Jerusalem führen, weil dort ihr Gericht stattfinden soll. „Und ich werde alle Nationen sammeln wider Jerusalem zum Streit .... Und Jehova
wird ausziehen und wider selbige Nationen streiten."
(Sach. 14.) Zunächst handelt es sich hier allerdings um
die im Norden und Osten von Palästina ansäßigen Feinde
Israels, welche sich verschwören werden, das Volk gänzlich
auszurotten, und deren Haupt der Assyrer ist. Wir finden sie in Psalm 83 verzeichnet: „Denn siehe, Deine
Feinde toben, und Deine Hasser erheben das Haupt.
Wider Dein Volk machen sie listigen Anschlag, und
ratschlagen wider Deine Geborgenen. Sie sprechen: Kommet und lasset uns sie vertilgen, daß sie keine Nation
mehr seien, daß nicht mehr gedacht werde des Namens
Israels! Denn sie haben sich beraten mit einmütigem
Herzen, sie haben einen Bund wider Dich gemacht. Die
Zelte Edoms und die Jsmaeliter, Moab und die Hageriter, Gebal und Ammon, und Amalek, Philistäa samt
den Einwohnern von Tyrus; auch Assur hat sich ihnen
«»geschlossen, sie sind zu einem Arm geworden den Söhnen Lots." Diese Nationen stehen in den letzten Tagen
in Verbindung oder wenigstens unter dem Einfluß des
„Gog," des „Fürsten von Rosch, Mesech und Thubal,"
d. h. des heutigen Rußland. Alle nördlich und östlich
156
von Palästina wohnenden Völker leisten ihm Heerfolge:
„Perser, Kuschiter und Putäer, Gomer und alle seine
Haufen, das Haus von Thogarma an den Seiten von
Norden und alle seine Haufen." Die Propheten Jesaia,
Hesekiel und Sacharja beschäftigen sich viel mit diesen
Nationen. (Vergl. Jes. 10; 28, 18. 19; 33, 1 :c.;
Hes. 38; 39; Sach. 14.) Auch Daniel spricht (Kap. 8,
9. 10. 23; 11, 40.) von dem Assyrer als dem „König
des Nordens" und „dem kleinen Horn." (Das kleine
Horn in Daniel 7, 8 entspricht hingegen dem Haupte
des Tieres, von welchem der Apostel Johannes redet.
Dieses Tier, das bekannte Bild des römischen Reiches,
schließt die westlichen Nationen Europas in sich, welche
einst jenes Reich bildeten, dessen Herrschaft sich bis nach
Palästina hin erstreckte.) Alle die genannten Nationen lassen
sich moralischer Weise in zwei große Heerlager gruppieren,
das eine unter der Führung des Königs des Nordens
und späterhin des Fürsten Gog, deren Feindschaft gegen
Israel gerichtet ist; das andere unter der Führung des
Tieres und des Antichristen, welche mehr mit dem Lamme
Krieg führen. Alle werden durch die Wege der Vorsehung
nach Palästina geführt und dort gerichtet werden.
Jedoch geschieht dieses nicht zu einer und derselben
Zeit. Zunächst werden das Tier und der falsche Prophet
mit ihren Heeren gerichtet werden, und zwar bei der Erscheinung des Herrn. (Offbg. 19.) Um dieselbe Zeit
wird auch das Gericht des Königs von Assyrien und
seiner Verbündeten stattfinden. (Sach. 14.) Aber erst
nachdem diese Feinde gerichtet sind und Israel bereits angefangen hat, sicher zu wohnen in seinem Lande, also
kurz nach der Erscheinung des Herrn, wird Gog mit
157
seinem mächtigen Heere heranziehen und sein Ende finden.
„So spricht der Herr Jehova: An selbigem Tage wird
es geschehen, daß Dinge in deinen Sinn kommen werden,
und du einen bösen Anschlag ersinnen und sprechen wirst:
Ich werde hinaufziehen zum Dorflande, ich werde zu denen kommen, die in Ruhe sind, die sicher wohnen, die
allesamt wohnen ohne Mauer, und keine Riegel und keine
Thüren haben" (ein Beweis, daß keine Feinde mehr da
sind). (Hes. 38, 10-15.)
In dem Gericht über das Tier und über den falschen Propheten handelt Christus allein; es sind Seine
persönlichen Feinde. Bei dem Gericht über die nördlichen
Völker dagegen wird Juda mit eingreifen. „Und die
übrigen wurden getötet mit dem Schwerte Dessen, der
auf dem Pferde sitzt, welches Schwert aus Seinem Munde
geht." (Offbg. 19, 21.) „An selbigem Tage werde ich
die Leiter von Juda machen wie einen Feuerherd unter
Holz, und wie eine Feuerfackel unter Garben, und sie
werden verzehren zur Rechten und zur Linken, alle die
Völker ringsum." „Und auch Juda wird streiten zu Jerusalem, und der Reichtum aller Nationen ringsum wird
gesammelt werden, Gold und Silber und Kleider in großer
Menge." (Sach. 12, 6; 14, 14.) Das Gericht über
das Tier ist die Erfüllung der Weissagung Daniels, nach
welcher das Bild Nebukadnezars zerschmettert und den
Zeiten der Nationen für immer ein Ende gemacht wird.
Möge indessen der Leser nicht vergessen, daß alle
diese Ereignisse erst nach der Sammlung und Aufnahme
der Kirche stattfinden werden. Wir haben daher vor
allen Dingen unsre Erwartung auf diese, als die zunächst
vor uns liegende Sache, zu richten. Und mehr als je werden
158
wir in unsern Tagen dazu ermuntert, und zwar zunächst
durch die Thatsache, daß der Herr uns in dem Sendschreiben an Philadelphia gleichsam von neuem zuruft:
„Ich komme bald!" (Offbg. 3, 11.) Diesen Zuruf finden wir in keinem der vorhergehenden Sendschreiben, welche
uns in einem prophetischen Gemälde die lange, dunkle
Zeit des Verfalls der Kirche von Anfang an bis zur
Gegenwart darstellen. Wir dürfen daher mit Gewißheit
annehmen, daß der Herr sehr nahe ist. Indem Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Matth. 25.) wird uns
dieselbe Thatsache vor Augen geführt. Alle Jungfrauen
waren eingeschlafen und halten aufgehört, den Bräutigam
zu erwarten — ein treffendes Bild von dem thatsächlichen
Zustande der bekennenden Kirche viele Jahrhunderte hindurch. Dann aber lesen wir: „Um Mitternacht ward
ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam!" Dieser Ruf ist
seit einer Reihe von Jahren vernommen worden; der
Geist Gottes hat denselben in den Herzen der Gläubigen
auf dem ganzen Erdenrund wachgerufen, und er wird nicht
wieder verstummen.
Ferner sehen wir, daß der Herr in den letzten Jahren
die Seinen mit Eile sammelt und von der Welt und
ihren religiösen Systemen absondert. Nie hat vordem eine
so ausgedehnte Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der
Bekehrung verlorner Sünder und in der Trennung der
wahren Gläubigen von der glaubenslosen bekennenden
Masse stattgefunden. An allen Enden der Erde giebt
sich ein Fragen nach der Wahrheit kund, nnd täglich
werden viele errettet.
Endlich finden wir auch in politischer Beziehung Fingerzeige, die auf die nahe Ankunft des Herrn Hinweisen.
159
Die Völker richten mehr als je ihre Aufmerksamkeit aus
die orientalischen Länder, in welchen nach der Vorsehung
Gottes ihr Zusammentreffen vor dem Gericht stattfinden
soll. Alan sieht schon jetzt, wie die sogenannte „orientalische Frage" die Interessen der Mächte in einer Weise
beschäftigt, daß alle wie zum letzten Entscheidungskampfe
sich rüsten. Andrerseits sehen wir die Grundsätze, nach
welchen sich das antichristische Reich bilden wird, in unsern Tagen mächtig wirksam. Wenn aber diese Grundsätze schon jetzt so mächtig wirken, während ihnen noch
durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche
Schranken gesetzt sind, was wird geschehen, wenn diese
Schranken einmal weggcnommen werden, wenn Gott
der Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit freien Lauf lassen
wird? Alsdann wird Satan seine ganze Macht entfalten; die Dinge werden sich mit einer solch ungeahnten
Schnelligkeit entwickeln, daß die Welt in Erstaunen geraten wird.
So weist uns also alles darauf hin, daß „die Nacht
weit vorgerückt und der Tag nahe ist." (Röm. 13, 12.)
Wenn aber der Tag nahe ist, um wie viel näher ist
dann „der glänzende Morgenstern," der dem Tage vorangeht! Möchten daher die Blicke aller Gläubigen auf
Ihn gerichtet sein und mit einstimmen in den Ruf des
Geistes und der Braut: „Komm!" — „Und wer es hört,
spreche: Komm!" Möchten aber auch alle, die noch nicht
mit Freuden diesen Ruf erheben können, auf die an
sie gerichtete Einladung achten: „Und wen da dürstet,
der komme; wer da will, nehme das Wasser des
Lebens umsonst!" (Offbg. 22,16.17.) Möchten sie es heute
noch thun; denn wie bald könnte der Augenblick da sein.
160
wo die Thüren verschlossen und sie, gleich den thörichten
Jungfrauen, draußen stehen und vergeblich rufen werden: „Herr, Herr, thue uns auf!"

Johannes der Täufer.
Das Volk und der Ueber re st.
(Lukas 1-3.)
Der Leser wolle den Titel dieser kleinen Betrachtung
nicht mißverstehen. Der Gegenstand derselben ist weniger
Johannes der Täufer als Christus. Wie wichtig und interessant die Persönlichkeit des Johannes auch immerhin
sein mag, so kann er doch nur dem Gemälde als Hintergrund dienen, welches Den darzustellen bestimmt ist, der
größer war als er; und wahrlich, die Worte und das
ganze Leben des großen Propheten berechtigen uns zu der
Ueberzeugung, daß er selbst seine Geschichte nicht anders
geschrieben haben würde, als zur Verherrlichung der Person Dessen, dem er als Vorläufer diente.
Das erste Kapitel des Evangeliums Lukas läßt uns
in sehr lebendiger Weise einen Blick in die Verhältnisse
Israels thun, wie sie der Vorläufer des Herrn fand, und
wie sie der Offenbarung des Messias vorangingen. Eine
große Veränderung war seit den Tagen Nehemias in den
Umständen Israels eingetreten: Das letzte der vier großen
Weltreiche hatte das Volk unterjocht; aber in moralischer
Beziehung unterschied sich der Zustand^deSAben wenig
von dem Bilde, welches der Prophet Maleachi 450 J^hre
vor Christi Geburt entworfen hat. Israel stand nicht mehr
in offener Empörung Jehova gegenüber. Die Götzen
161
waren aus dem „gefegten und geschmücktenVMiuse verschwanden. Der Feigenbaum war mit den Blättern eines
in die Augen fallenden religiösen Bekenntnisses bedeckt;
aber unter diesem Scheine verbarg sich eine völlige Unfruchtöarkeit?—Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit, zwei
KmgeTHoch schlimmer sind als offenbarer Haß, waren
tief im Herzen des Volkes vorhanden. Einer der Charakterzüge des „Abfalls" ist der, daß man es nicht mehr für
der Mühe wert hält, an Gott zu denken und sich an Ihn
zu kehren; und schon heute stehen die Menschen im Begriff, Ihn gleichsam als einen veralteten Gott beiseite zu
schieben. Und wenn dereinst die Augen des treuen Ueberrestes
von Israel sich über Christum öffnen werden, so wird gerade die Erkenntnis, daß sie an dem „Manne der Schmerzen" mit Gleichgültigkeit vorübergegangen sind und Ihn „für
nichts achten" konnten, (Jes. 53.) sie dahin führen, ihre
Angesichter in bitterer Reue in den Staub zu beugen.
So stand es schon zu der Zeit Maleachis zwischen
Israel und Gott. Wenn Jehova mit zärtlicher Stimme
ihnen zurief: „Ich habe euch geliebt," so antworteten sie:
„Worin hast Du uns geliebt?" Ach! sie kannten das Herz
Gottes nicht. Und wenn Er zu den Priestern sagte: „Ihr
seid Verächter meines Namens," so erwiderten sie: „Worin
haben wir Deinen Namen verachtet?" So verblendet waren
sie über ihren Zustand, so blind über ihre Uebertretungen.
Sie brachten unreines Brot auf den Tisch Jehovas und
opferten Ihm lahme, blinde und kranke Tiere, weil sie,
trotz aller äußeren religiösen Formen, in ihrem Herzen
und Leben von Gott getrennt waren und nicht das geringste Gefühl über die Unehre hatten, welche sie Ihm
Snthaten (Mal. 1.)
162
Eine solche Religion muß schließlich, mag es nun
kurz oder lang dauern, denen, die sie ausüben, überflüssig
erscheinen. Wozu ist sie nütze? „Welche Mühsal!" sagten
die Juden m^n^Tagen^uleachis. (Mal. 1, 13.) Und
so wird das Herz des bloßen Bekenners stets sprechen;
und wenn er auch nicht, infolge der religiösen Mühsal,
selbst wieder ein Götzendiener wird, so kehrt er doch bald zu
der götzendienerischen Welt zurück, und verbindet sich mit ihr;
er „vermählt sich", wie der Prophet sagt, „mit der Tochter
eines fremden Gottes" und wird ein Fleisch mit ihr in den
Augen des rächenden Gottes, der an Beiden ein gerechtes
Gericht vollziehen wird. (Vergl. Mal. 2, 11 — 16.)
Hier liegt auch für die Christen eine große Gefahr in
diesen Tagen des Verfalls. Wie einst Asaph, so sind auch
sie geneigt, die Gottlosen wegen ihres Wohlergehens zu beneiden und sich zu ihnen zu wenden. Aber wenn es geschieht
so wird das Gericht für sie nicht ausbleiben. „Wasser in
Fülle wird von ihnen geschlürft werden", d. h. es werden
Zeiten der Trübsal für sie kommen, welche zu der zunehmenden Wohlfahrt der Welt in grellem Gegensatz stehen. (Ps. 73.)
Indes giebt es für den Gläubigen noch eine zweite
Gefahr, feiner und täuschender als die eben genannte; dieselbe besteht darin, daß er sich ab sondert in dem Maße,
wie er die allgemeine Gleichgültigkeit und Weltförmigkeit
unter dem Volke Gottes zunehmen sieht. Diese Neigung
ist umso gefährlicher, als sie den Schein der Richtigkeit
für sich hat; sie ist aber den Gedanken Gottes für die
Seinigen vollständig entgegen. Gerade im Blick auf solche
Zeiten des Verfalls sagt der Prophet: „Da redeten, die
Jehova fürchteten, einer zum andern." (Mal. 3, 16.) Der
Abfall trennt und vereinzelt^ nicht die Gottesfürchtigen,
163
sondern treibt sie vielmehr an, sich zu vereinigen, wie es
in Psalm 119, 63 heißt: „Ich bin der Gefährte aller,
die Dich fürchten." So ist es stets in den traurigen
Zeiten der Geschichte des Volkes Gottes gewesen. So war
es bei den jungen Zeugen in der babylonischen Gefangenschaft; (Dan. 2, 17.) so ist es heute in den gefährlichen
Zeiten des Endes, (2. Tim. 2, 22.) und so war es in
den trüben Stunden, welche der Kreuzigung des Herrn
folgten, als die noch unwissenden Jünger auf dem Wege
nach Emmaus mit einander redeten; und wir sehen dasselbe Wort in einer auffallenden Weise in den ersten
Kapiteln des Evangeliums Lukas verwirklicht.
„Da redeten, die Jehova fürchteten, einer zum andern," -
das ist die göttliche Hülfsquelle für die Tage des Verfalls. Inmitten der dürren Wüste eines leblosen Bekenntnisses sehen wir jene wenigen Getreuen einander auffuchen, sich finden und sich mit einander unterhalten.
Maria und Elisabeth reden zu einander; Zacharias und
seine Nachbarn unterhalten sich von diesen Dingen; die 
Hirten verbreiten sie, Simeon verkündigt sie, und Hanna
spricht von ihnen „zu allen, die auf Erlösung warteten
in Jerusalem." Und es giebt, laßt es uns wohl beachten,
für alle diese Getreuen nur einen Gegenstand der Unterhaltung^und^das ist „der Trost Israels", eS ist Christus,
der Messias, die Person des Heilandes. Eine solche Unterhaltung gefällt Gott wohl; Er achtet darauf und leiht
ihr Sein Ohr. Er schreibt diese Dinge in ein „Gedenkbuch", in ein besonderes Buch. Nichts ist angenehmer für
Gott als Herzen, welche Seinen vielgeliebten Sohn hochschätzen. Geliebter Leser! Gott nimmt Kenntnis von dem
Werte, den der Name Jesus für dich und mich hat. Die­
164
jenigen, welche Christum in diesen Tagen der Trübsal
hochschätzen, werden dafür an dem kommenden Tage, dem
Tage der Herrlichkeit, die vertraute Anerkennung Gottes
finden: „Sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen,
an dem Tage, den ich machen werde, ein Eigentum sein."
(Mal. 3, 17.) Ist eine solche Verheißung nicht dazu angethan, unsre Seelen zu ermutigen?
„Sie redeten einer zum andern." Diese Beschäftigung
der Gläubigen verband sich mit den einfachsten Pflichten
des täglichen Lebens: Zacharias erfüllte seinen priesterlichen Dienst, Elisabeth war auf dem Felde, Maria auf
der Reise, und die Hirten hüteten ihre Herden. Sie verband sich selbst mit der scheinbaren Unthätigkeit eines
in Jerusalem wohnenden Simeon, sowie einer beinahe
106jährigen, vom Alter gebeugten Hanna, die im Tempel
zurückgezogen lebte, aber den köstlichsten Teil ihrer Thätigkeit unversehrt erhielt, nämlich den verborgenen Umgang
der Seele mit Gott, bei Tag und bei Nacht. Doch welche
Frische und Freude erregte die Person Christi in den
gegenseitigen Beziehungen dieser Gläubigen: die Herzen
strömten über, und die Unterhaltung verwandelte sich in
Anbetung! So verwirklichen diejenigen, welche in solcher
Weise mit einander reden, notwendig, was der Gottesdienst ist. (Luk. 1, 46. 48 ; 2, 29.)
Zwei Botschaften waren durch den Engel Gabriel
gebracht worden; die- eine betraf Johannes den Täufer,
die andere Jesum. Diese beiden Botschaften bringen in
dem Munde derer, an welche sie gerichtet sind, Lob hervor;
aber schon vor seiner Geburt tritt Johannes der Täufer,
wie er es ünmer^Ihmfl^firfls vor Christo zurück, um dem
allgemeinen Lobliede Platz zu machen, das von den
165
Lippen aller Gläubigen rund um dieses Kindlein her
emporsteigl.
Wen preist Elisabeth? Nicht ihren Sohn, sondern
den Herrn. Und obwohl Zacharias den herrlichen Auftrag seines Kindes, das eben geboren war, ankündigte,
so redete er doch nur davon, um den Herrn, den Gott
Israels, das Horn des Heils, den Christus, den Allerhöchsten zu preisen. So ist es stets mit den wahren
Zeugen. Die ihnen von Gott geschenkten Segnungen werden
für sie nur eine Veranlassung, ihr Lob zu Dem emporsteigen zu lassen, der die Quelle und der Mittelpunkt
derselben ist.
Die Umstände, welche die erste Ankunft des Heilandes
begleiteten und derselben vorangingen, scheinen mir in
mancher Beziehung auf die jetzige Zeit anwendbar zu sein.
Wie schon damals, so organisiert (vergl. Luk. 3, 1. 2.)
sich auch jetzt die Welt mehr und mehr, und sucht in
ihren Einrichtungen selbst einen Grund der Sicherheit;
wie damals, so herrscht auch jetzt unter weltlicher Leitung
eine überlieferte, orthodoxe, gleichgültige und selbstgerechte
Religion, die völlig reis zum Abfall ist; wie damals, so
blühen^auch jetzt die Sekten, gleich den vernunftgläubigen
Sadducäern oder den Herodianern, welche das herrschende
System, unter welchem sie standen, für vortrefflich erklärten;
wie damals, so ist auch jetzt die Ankunft oder vielmehr
die Wiederkunft des Herrn nahe.
Bringt aber diese frohe Botschaft heutzutage in den
Herzen der Gläubigen dieselben Früchte hervor wie damals? Ach, möchte in unsern Herzen auch jene Frische
der Hoffnung sich kundgeben; möchten sie erhellt sein von
jenen göttlichen Strahlen des Morgensterns, der für den
166
Glauben in dem Glanze der ersten Morgenröte erscheint,
der die Herrlichkeit einführt, und dessen Anblick das Herz
mit unaussprechlichen Gefühlen des Lobes und der Anbetung erfüllt! Geliebter Leser, wenn wir Ihn erwarten,
so werden wir „einer zum andern reden" bis zu dem
Tage der Herrlichkeit, wo wir dann für immer und ewig
daS wertvolle Eigentum des Kommenden sein werden.
(Fortsetzung folgt.) 6-
Bruchstücke.
Drei gesegnete Dinge stehen in Verbindung mit unserm guten Hirten, welche von den Schafen Seiner Weide
wohl gekannt sein sollten. 1. Er ist durch die bittersten
Prüfungen der Wüste hindurchgegangen, so daß Er jeden
Schritt, jede Schwierigkeit, jede Gefahr des Weges kennt.
2. Er starb für die Schafe. Nachdem Er zuerst ihren Pfad
gegangen ist, hat Er dann Sein Leben für sie gelassen.
3. Er stand auf aus den Toten, um die Herde, für
die Er starb, zu sammeln, zu überwachen und zu nähren.
So ist Er nach jeder Seite hin befähigt, der Hirte
der Schafe Gottes zu sein. Daher hören wir auch aus
dem Munde des Apostels die herrlichen Worte: „Der
Gott des Friedens aber, der aus den Toten wiederbrachte
unsern Herrn Jesum, den großen Hirten der Schafe, in
dem Blute des ewigen Bundes, vollende euch in jedem 
guten Werke, um Seinen Willen zu thun, in euch schaffend
was vor Ihm wohlgefällig ist, durch Jesum Christum,
welchem sei die Herrlichkeit in die Zeitalterder Zeitalter!
Amen." (Hebr. 13, 20. 21.)
Die Stellung des seinen Herrn erwartenden Christen
in dieser Welt mag von großer Wichtigkeit und Nützlichkeit
sein, und die Bande, welche ihn an seinen Platz fesseln,
mannigfaltig und innig — und doch, wenn das Auge
167
des Glaubens die Grenzlinie überschreitet und hinüberblickt,
dahin, wo Jesus ist, so sehnt sich das Herz darnach, mit
der seligen Schar derer vereinigt zu werden, welche schon
dort sind. Und wie groß ist die Gnade, welche die letzte
Scene unsrer Pilgerreise, trotz all unsrer Schwachheiten und
Verkehrtheiten, zu der glücklichsten, friedlichsten und lichtvollsten macht! Die Seele ist dem Herrn nahe; die Gnade
strahlt in ungeahntem Glanze, der Glaube triumphiert, die
Herrlichkeit bricht herein, und das Lob wird überströmend.
Gleichsam auf die Schwelle der beiden Welten gestellt,
und alles in dem Lichte der Gegenwart Gottes erblickend,
erkennt die Seele, daß nur Güte, unvermischte, göttliche
Güte den ganzen zurückgelegten Pfad umgeben hat.
Selbst in den finstersten Tagen seines Lebens erblickt der
scheidende Pilgrim jetzt nur die Güte und Huld Gottes.
Alles ist vergessen; er redet nur noch von der unaufhörlichen, nie fehlenden Liebe des guten Hirten und von
der Güte, die allen seinen Bedürfnissen begegnete, von dem
Erbarmen, das allen seinen Verkehrtheiten und Fehlern
entgegenkam.
Vielleicht fließen heiße Thränen in der Umgebung des
seinen Pfad beschließenden Gläubigen. Aber sein Auge
thränt nicht; es strahlt von Freude und Glück. Das
Vaterhaus steht vor ihm. Sind auch aller Herzen
betrübt und gebeugt, sein Herz ist glücklich. — „Vater,
kannst Du mich nicht entbehren? — Ich gehe ja nur —
zu Jesu — und bald — wirst Du mir folgen." Das waren
die lieblichen Worte, welche ein sterbendes Mädchen vor
nicht langer Zeit an ihren trauernden Vater richtete, dessen
Herz unter dem Abschiedsschmerz zu brechen drohte. Wer
war ruhig, wer war glücklich in jener feierlichen Stunde?
Sie allein. Noch viele andere tröstende Worte kamen
über ihre Lippen; aber die obigen flüsterte sie mit einem
Blick des zärtlichsten Mitgefühls, als sie ihren geliebten
Vater in einen Strom von Thränen ausbrechen sah. Wie
wunderbar! Sie tröstete jetzt den, der so manches Mal an
ihrem Bett niedergekniet war und mit ihr gebetet hatte. Welch
168
eine Gnade von Gott! Welch ein Trost für.den Vater
und für die ganze Familie! Ja, Jhni sei Lob und Dank
in alle Ewigkeit!
„Und sie kommen zu Jesu und sehen den Besessenen
sitzen, bekleidet und vernünftig." (Mark. 5,15.) Welch eine
Veränderung! Welch ein Gegensatz zwischen dem nackten
Bewohner der Grüfte, der da schrie und sich mit Steinen
zerschlug, und dem stillen, unterwürfigen und glücklichen
Gegenstand der göttlichen Gnade, der zu den Füßen des
Herrn Jesu sitzt und zu dem freundlichen Antlitz seines
Befreiers aufschaut! Könnte es ein lieblicheres Gemälde
geben? Und doch ist es nichts anderes, als was bei jeder
wahrhaft bekehrten Seele ans Licht treten sollte. Denn
was ist Bekehrung? Bekehrung ist Befreiung von der
Macht Satans. Aber wozu bin ich befreit? Um mein
eigner Herr zu sein? Ach! das wäre eine armselige Befreiung. Nein, ich bin von der Gewalt und Knechtschaft
Satans erlöst, um „ein Sklave Jesu Christi" zu
sein. Ja, mein Leser, laß dich dieses Wort nicht stoßen.
Der Ausdruck „Sklave" ist mit unsern heutigen Begriffen
über Freiheit kaum vereinbar. Allein es hängt doch alles
davon ab, wer unser Herr ist. Der Dienst des Herrn Jesu
ist „vollkommene Freiheit." Deu Dienst Satans
ist in allen seinen Teilen vollkommene Knechtschaft, finstere,
erniedrigende Sklaverei, so verschieden die Ketten auch sein
mögen, mit welchen er seine Sklaven fesselt. Aber der
Dienst des Herrn ist vollkommene, erhebende und liebliche
Freiheit. Möchten wir daher Ihm, unserm Befreier und
Herrn, allezeit mit hingebender Liebe und Treue dienen!
Dein Sklave sein, ist größ're Ehre,
Als König über Land und Heere!
Johannes der Täufer.
ii.
Die Geburt Johannes des Täufers.
(Luk. I, 15 rc.)
Der Engel Gabriel wurde, wie wir gesehen haben,
beauftragt, zwei gute Botschaften zu bringen, und zwar
die eine an Zacharias, den Priester, die andere an Maria
von Nazareth; jedoch enthalten die Umstände und die 
Tragweite dieser beiden Botschaften mehr Gegensätzliches
als Aehnliches. Zacharias und sein Weib waren beide
gerecht vor Gott und wandelten untadelig in allen Geboten und Satzungen des Herrn ; und doch waren beide
in ihren Tagen weit vorgerückt, und Elisabeth war
unfruchtbar. Dürfen wir nicht in ihnen das Bild des
frommen Israel unter dem Gesetz, erblicken, sowie der Unfähigkeit des letzteren, selbst in dem wiedergebornen Menfchen Frucht hervorzubringen? Und ebenso wenig, wie
Frücht, brachte^as^Gesetz Vertrautheit mit Gott
hervor; denn sobald Zacharias, dieser Mann von musterhafter Frömmigkeit, den Engel erblickte, ward er bestürzt,
und Furcht überfiel ihn. Schließlich bewirkte das Gesetz
auch kein Vertrauen. Das vermag allein die Gnade.
Der Priester unter dem Gesetz ist ungläubig gegenüber
der Botschaft der Gnade, welche Gabriel ihm überbringt;
auch verstummt dieser Vertreter Israels bis zu dem
170
Tage, an welchem die göttliche Verheißung ihre gnädige
Erfüllung findet, und er, wie der jüdifche Ueberrest in
späteren Tagen, den Urheber seines Heils preisen kann.
Maria dagegen ist nicht nur eine fromme, sondern
auch eine demütige und einfältige Seele, ein Gegenstand der Gnade, aber nicht eine Vertreterin des
Gesetzes. „Du hast Gnade gefunden bei Gott," sagt
ihr der Engel. Sie ist unterwürfig: „Siehe die 
Magd des Herrn"; und sie vertraut völlig dem Worte
Gottes, denn sie fügt hinzu: „Es geschehe mir nach deinem Worte." (Luk. 1, 30. 38.)
Werfen wir jetzt einen Blick auf den Gegensatz zwischen den beiden Botschaften. Johannes sollte „groß sein
vor dem Herrn"; von Jesu sagt der Engel: „dieser
wird groß sein." Wir werden hierauf später noch
einmal zurückkommen. Die ganze Größe Johannes des
Täufers hing von der Person Dessen ab, dem er als
Lerold dienen sollte, während Jesus in sich und durch
^ssch^selbst Lroß war. — Bei Sonnenaufgang sehe ich von
meinem Schreibpulte aus den Schatten eines Kastanienbaumes riesenhafte Verhältnisse annehmen; allein dieser
Schatten ist nicht das Bild von der Größe des Baumes,
sondern er zeugt vielmehr von dem Aufgang und der
Pracht der Sonne. Gerade so war es mit Johannes;
er war groß, weil er der Vorbote Dessen sein durfte,
von welchem der Engel sagte: „Dieser wird groß sein
und Sohn des Höchsten genannt werden; und der Herr,
Gott wird Ihm den Thron Seines Vaters David geben,
und Er wird herrschen über das Haus Jakobs in die
Zeitalter, und Seines Reiches wird kein Ende sein."
(Luk. 1, 32. 33.)
171
Indessen drücken die Worte Gabriels: „Er wird
groß sein vor dem Herrn," nicht alles aus, was den
Täufer charakterisieren sollte; denn er fügt noch hinzu:
„Weder Wein noch starkes Getränk wird er trinken."
Das ist das Nasiräertum, wenigstens dessen erstes Kennzeichen. Nur als Nasiräer konnte Johannes vor dem Herrn
groß sein. Wie wir aus 4. Mose 6 ersehen, bestand das
Nasiräat darin, daß man sich Jehova weihte, sich für Ihn
absonderte. Es hatte drei besondere Kennzeichen: Erstens
enthielt sich der Nasiräer des Weines und der starken Getränke; zweitens ließ er das Haar seines Hauptes wachsen;
und drittens kam er mit keinem Toten in Berührung.
Er enthielt sich des Weines, des Sinnbildes der Freude
für das Herz des natürlichen Menschen in der Gesellschaft
seiner Mitmenschen; sein langes Haar deutete an, daß >'
er seine Würde und seine Rechte als Mann aufgab, um
den Willen Gottes, dessen Rechte über sich er anerkannte,
unterworfen zu sein ; und endlich mied er alles, was ihn mit
der Sünde, deren Lohn der Tod ist, in Berührung brachte.
DaS war die Ordnung und das Geheimnis des Nasiräertums. Nur um den Preis dieser drei Dinge konnte die
Absonderung für Gott bestehen; und wir sehen alle drei
in dem Leben Johannes des Täufers verwirklicht. In der
vorliegenden Stelle wird er uns jedoch besonders als abgesondert von dem dargestellt, was die Freude des geselligen Menschen ausmacht. Es war vorauszusehen, daß
die Welt bei seinem Anblick ausrufen würde: Dieser
Mensch ist ein trauriger und trübsinniger Menschenfeind!
Aber nein; jene natürliche Freude, — die einzige, welche
der Welt bekannt ist — war in dem Herzen des Propheten
durch eine Freude ersetzt, welche die Welt nicht kennt, und
172
die sie nicht zu schätzen vermag — durch jene selige Freude,
welche die Gemeinschaft mit dem Heilande giebt. Diese
beiden Arten von Freude liegen gleichsam in stetem Kampfe
mit einander, sie können nicht neben einander bestehen;
und nur in dem Maße, wie wir der ersteren entsagen,
können wir die letztere genießen. Göttliche Freude war
einer der bezeichnenden Charakterzüge dieses strengen
Mannes während seines ganzen Lebens. Wunderbares
Kind, schon in dem Schoße seiner Mutter! Seine erste
Bewegung ist ein Hüpfen vor Freude, als der Gruß der
Mutier seines Herrn in die Ohren Elisabeths dringt;
(Luk. 1, 44.) und am Ende seiner Laufbahn sagt er:
„Diese meine Freude nun ist erfüllt." (Joh. 3, 29.)
Vergessen wir nicht, daß ein jeder Christ berufen ist,
ein Nasiräer zu strn, und daß in dieser Beziehung jetzt
nicht mehr eine besondere Klasse unter dem Volke Gottes
in Frage kommt. Auch handelt es sich nicht mehr für
uns, wie für den jüdischen Nasiräer, um eine äußerliche
Trennung; das gegenwärtige Nasiräertum, die Absonderung für Gott, ist innerlich. Ohne diese Absonderung zu
verstehen, sieht die Welt die Wirkung derselben im Leben,
in der Freude und in der Kraft; die Absonderung selbst
aber ist ein Geheimnis zwischen ^er Seeleund Golt,
Darüber reden, daß ich abgesondert sei, heißt Andere
mit meiner Person beschäftigen; sagen, daß ich von
Gott abhängig sei, heißt es bereits nicht mehr sein, da
ich schon etwas mir selbst zuschreibe; ich gebe auf diese Weise
der Welt mein Geheimnis preis, und biete, wie Simson,
mein langes Haar ihrem Scheermesser dar. Sobald Satan
und die Welt das Geheimnis meiner Kraft kennen, werden
sie nicht eher ruhen, bis sie mich derselben beraubt haben»
173
Aber ebenso wie es Christen giebt, welche, mit sich
selbst zufrieden, die Quelle ihres Nasiräertums bekannt
geben, sieht man Andere, die unaufhörlich von ihren Befleckungen reden: zwei völlige Gegensätze, ohne Zweifel,
und doch beide Auswüchse desselben Stolzes. Der Eine
sieht die Flecken an seinem Kleide nicht, und der Andere
weist sie auf; aber beide lassen das einzig Notwendige,
die Demütigung und Reinigung, außer acht.
Wenn wir in irgend einem Punkte das Gelübde
unsers Nasiräats verletzt, wenn wir uns durch die Berührung eines Toten verunreinigt haben, so ist die Wiederherstellung möglich. (4. Mose,6, 9—12.1 Laßt uns in uns
gehen! Mit der Demütigung werden wir die Reinigung
finden. Aber ach! mit der Sünde verlieren wir eine Freude,
wie sie Johannes der Täufer genoß, und eine Kraft,
wie diejenige des Mannes von Zora. Wie ernst ist das!
Wir müssen wieder ganz von vorne anfangen; und cs
dauerte lange, bis Simson mit dem Wachsen seiner Haare
die nötige Kraft wiederfand, um die Säulen deS Dagontempels zu zerbrechen.
Dem Worte: „Weder Wein noch starkes Getränk
wird er trinken", fügt Gabriel noch hinzu: „und schon
von Mutterleibe an wird er mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden." Hier finden wir die besondere Macht des
heiligen Geistes gleichsam an das Nasiräertum geknüpft.
Viele Christen wähnen, das Erfülltsein mit dem Heiligen
Geiste sei eine besondere Gnade, die nur Bevorzugten
unter dem Volke Gottes gehören könne. Dem ist aber
nicht so. Vielmehr ist dieser Zustand thatsächlich der normale Zustand des Christen: er ist befähigt und in den
Stand gesetzt, mit dem Heiligen Geiste erfüllt zu sein, und
174
zwar so, daß der Heilige Geist jede Offenbarung jenes Fleisches, welches das Kind Gottes an sich trägt, unterdrücke
und vernichte. Jeder^GläMige ist eju, Tempel des Heiligen
Geistes^aber nicht jeder Gläubige ist mit Ihm erfüllt.
Woher kommt das? Fehlt es etwa dem Heiligen Geiste
au Macht, dies zu bewirkens Sicherlich nicht, denn dann
würde Er nicht der Heilige Geist Gottes sein. Hat es
vielleicht seinen Grund darin, daß wir nicht anders können
als Ihn betrüben? In diesem Falle wären wir nicht
befreite Gläubige. Aber woran fehlt's denn, wenn selbst
der befreite Gläubige nicht mit dem Heiligen Geiste erfüllt ist? Es fehlt an der Verwirklichung des Nasiräertums, wie in Eph. 5, 18 geschrieben steht^^Und ber aus ch et euch nicht mit Wein, in welchem Ausschweifung ist, sondern stesd^mfft dem Geiste
erfüllt." O, geliebte Kinder Gottes, vielgeliebte Brüder!
welchen Genuß, welch eine Kraft im Zeugnis, welche
Gleichförmigkeit mit Christo würden wir haben, wenn
wir aks wahrhaftige Nasiräer mit dem Heiligen Geiste
erfüllt wären! Haben wir jemals, und wäre es auch
nur für einen Augenblick, eine solche Segnung gekostet?
Stephanus genoß sie vollständig während seiner kurzen
Laufbahn als Zeuge: „StMgnuL-, ein Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes," so wird von ihm gesagt bei der ersten Erwähnung seiner Person; „Stephanus
aber, voll Gnade und Kraft," fügt das Wort hinzu,
wenn dieser Nasiräer, voll Heiligen Geistes, seine Wirksamkeit unter dem Volke ausübt; „Stephanus aber, voll
Heiligen Geistes", sagt das Wort von ihm, wenn das
Synedrium mit den Zähnen gegen ihn knirscht. sApstgsch.
6, 5. 8; 7, 55.) — Und angesichts derer, welche ihn
175
steinigen, sieht Stephanus, indem die ungetrübte Kraft des
Geistes seine Augen unverwandt gen Himmel richtet, die
Herrlichkeit Gottes, und Jesum zur Rechten Gottes stehend.
Seine Augen und sein Herz, welche der Geist mit jener
himmlischen Erscheinung erfüllt, heften sich auf einen Gegenstand, auf Jesum in der Herrlichkeit. Auf der Erde stehend,
sieht er den Sohn des Menschen in dem Himmel und erfreut sich an Dem, welcher nach vollbrachtem Werke in
Seiner eigenen Person ihm diesen glorreichen Platz bereitet
hat. Unsre Unfähigkeit, „Jesum zu sehen", unser Mangel
an persönlicher Bekanntschaft mit diesem kostbaren Heilande
steht, laßt es uns wohl beachten, in enger Beziehung zu
der Art und Weise, wie wir die Ermahnung des Apostels:
„Seid mit dem Heiligen Geiste erfüllt", verwirklichen.
Aber Stephanus hatte nicht nur den Genuß von
Christo, er legte auch Zeugnis ab, indem er sagte: „Siehe,
ich sehe die Himmel geöffnet, und den Sohn des Menschen
zur Rechten Gottes stehend!" Das, womit der Geist ihn
erfüllt hatte, strömte reichlich über seine Lippen.
Er brauchte sich nicht zu sagen: Ich muß Zeugnis
ablegen; nein, der Strom dehnte sich, seine Ufer überschreitend, weithin aus, und überschwemmte gleichsam die
Erde, von der himmlischen Quelle genährt, die in dem
Herzen dieses Mannes zu einem Quell sprudelnden Wassers
geworden war. Ja, dieser glückselige Märtyrer that noch
mehr; er legte nicht nur Zeugnis ab, sondern er selbst
wurde verwandelt, indem er mit aufgedecktem Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn anschaute. Er ließ hienieden den
Charakter, die Wege und die Worte des vielgeliebten Heilandes ohne Verdunkelung vonstch.zurückstrahlen. Alles
dieses war, ich wiederhole es, keine besondere Gabe, sondern
176
^s^-^die Frucht des Heiligen Geistes, der ungehindert in Stephanus wirkte und auch in unsern Herzen wirkt. Bköge
denn das Wort der Ermahnung tief in unsre Herzen eindringeu: „Seid mit dem Heiligen Geiste erfüllt!"
Ach! wir fehlen alle auf mannigfache Weise. Jesus
allein, der wahre Nasiräer, hat niemals gefehlt. Jesus,
empfangen von dH Heiligei^Geiste, getauft mit dem Geiste,
voll Heiligen Geistes, (Luk. 1, 3ö; 3, 22.) hat alle jene
Dinge in unbedingter Vollkommenheit, ohne einen Schatten
von Mangelhaftigkeit, verwirklicht. Hienieden ein Mann
der Schmerzen, kannte Er doch eine vollkommene Freude;
demütig unter den Demütigen verwirklichte Er eine göttliche Kraft, die Ihn siegreich den Kampf mit Satan bestehen ließ, als der Geist Ihn in die Wüste führte; die
Ihn mächtig in Seinem Dienste machte, als Er von dem
Geiste nach Galiläa geleitet wurde. (Luk. 4, 1 — 14.)
Er, vollkommen rein und heilig, konnte sagen: „Satan
hat nichts in mir." Möchte Er doch stets das Muster
unsers NasiräertumS bilden. Er, „der Nasiräer unter Seinen
Brüdern!" Dann werden wir Ihm folgen in der Macht
des Heiligen Geistes, ohne Zweifel „in einer Entfernung
von zweitausend Ellen," wie einst Israel der Bundeslade
folgte, (Josua 3, 4.) aber wir werden Ihm folgen; und
Jchm folgen Wßt:,Ihm ähnlich sein., (Fortsetzung folgt.)
„Wandelt im Geiste!"
(Gal. 5, 16.)
„Denn wir sind die Beschiicidnng, die wir durch den
Geist Gottes dienen niid uns Christi Jesu rühmen
und nicht auf Fleisch vertrauen." (Phil. 3,3.)
Schon in den ersten Tagen der Kirche war der Feind
beschäftigt, die Christen zum Judentum, oder mit andern
177
Worten, zu der Religion des Fleisches zurückzuführen.
Und leider sind seine Bemühungen von solchem Erfolge
gekrönt gewesen, daß heute das Wort des Apostels betreffs
der großen Btasse der Christenheit zur Thatsache geworden
ist: „Ihr seid abgetrennt von dem Christus, ihr seid aus
der Gnade gefallen." (Gal. 5, 4.) Mögen die christlichen
Bekenner auch noch den Namen Christi tragen, so sind sie
dennoch völlig von Ihm getrennt. Das ist stets daS Ergebnis der Wirksamkeit des Fleisches; anstatt den Menschen
Christo näher zu bringen und in der Gnade zu befestigen,
führt es ihn von Christo ab und macht ihn der Segnungen
der Gnade verlustig. Die schwachen Offenbarungen des
geistlichen Lebens, der Mangel an Frische und Kraft des
Geistes unter den wahren Gläubigen unsrer Tage hat
ebenfalls seinen Grund in der Thatsache, daß sie dem
Fleische und der Natur zu wirken erlauben. Eine fleischliche Religion führt entweder zur geistigen Knechtschaft,
oder zu einer fleischlichen Freiheit; entweder zum Aberglauben oder zum Unglauben. Beides entspricht jedoch
nicht der Freiheit, für welche Christus uns frei gemacht
hat, und in welcher festzustehen der Apostel die Gläubigen
ermahnt. (Gal. 5, 1.)
Nichts ist wohl geeigneter, uns in der wahren Freiheit wandeln zu lassen, als die Verwirklichung des Wortes: „Wandelt im Geiste." Der Apostel sagt: „Wo aber
der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit." (2. Kor. 3, 17.)
Aber, wird man einwenden, das Fleisch ist doch noch in
uns! Allerdings. Allein wenn wir von dem Geiste erfüllt
sind, so wird das Fleisch keine Macht über uns haben;
wie geschrieben steht: „Und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen." (Gal. 5, 16.) Der Sieg über
178
daS Fleisch in uns ist der größte Sieg, den wir erringen
können. Der Feind findet alsdann praktischer Weise keinen
Anknüpfungspunkt bei uns. Wir verwirklichen dann in
unserm schwachen Maße das Wort deS Herrn: „Der Fürst
dieser Welt kommt und hat nichts in mir." (Joh. 14, 30.)
Ist die Macht des Fleisches in uns gebrochen, so vermögen weder Sünde noch Welt etwas über uns. Diese
Macht kann aber nur durch die Kraft deS Geistes gebrochen oder niedergehalten werden; alle Bemühungen und
Kämpfe in eigner Kraft sind nutzlos und bringen, wenn
sie anders in Aufrichtigkeit geführt werden, nur die tiefste
Niedergeschlagenheit in der Seele hervor, anstatt zu der
ersehnten Freiheit zu führen. Ein solcher Zustand wird
uns in Röm. 7 beschrieben; er läßt sich in den Worten
zusammenfassen: „Das Gute, das ich will, übe ich nicht
aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses thue ich."
(Vers 19.) Fleisch läßt sich nicht durch Fleisch bekämpfen;
es gebiert zur Knechtschaft nnd bewirkt den Tod. „Denn
die Gesinnung des Fleisches ist der Tod." (Gal. 4, 24;
Röm. 8, 6. 7.)
Um die völlige Verderbtheit des Fleisches kennen zu 
lernen, und aufzuhören, sich auf dasselbe zu stützen, ist es
allerdings nötig, die Erfahrungen von Röm. 7 zu machen.
Denn so lange noch irgend welches Vertrauen auf das
Fleisch vorhanden ist, gelangt man nicht zur wahren Freiheit; man ermangelt des Friedens, der Freude und der
Kraft, welche die Gegenwart des Heiligen Geistes da erzeugt, wo das Fleisch zum Schweigen gebracht ist. Fleisch
und Geist können nie zusammengehen; das eine wirkt
tötend auf das andere. „Das Fleisch gelüstet wider den
Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind
179
einander entgegengesetzt, auf daß ihr nicht das thut, was
ihr wollt." (Gal. 5, 17.) Wie Leben und Tod, Licht
und Finsternis, der Vater und die Welt, Christus und
Satan, so stehen auch Geist und Fleisch unversöhnlich
einander gegenüber. „Denn die Gesinnung des Fleisches
ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und
Frieden; weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft
ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht
Unterthan, denn sie vermag es auch nicht." (Röm.
8, 6. 7.)
Wir können also von dem Fleische nichts Gutes,
sondern nur Verderbenbringendes erwarten; auch vermögen
wir ihm, wie wir gesehen haben, nicht in eigner Kraft
zu widerstehen. Aber von dem Augenblick an, da wir uns
unter die Leitung des Geistes Gottes stellen, hat es keine
Gewalt mehr über uns. Der Geist wohnt in uns und
ist mächtiger als das Fleisch und die Welt, ja, als jede
feindselige Macht; wie der Apostel sagt: „Ihr seid aus
Gott, Kinder, und habt sie überwunden, weil Der, welcher
in euch ist, größer ist, als der, welcher in der Welt ist."
(1. Joh. 4, 4.) Er ist „der Geist der Kraft und der
Liebe und der Besonnenheit." (2. Tim. 1, 7.) Auch lesen
wir, daß „die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist."
(Röm. 5, 5.) Ferner wird dieser Geist, welcher in uns
wohnt, der „Geist der Weisheit und Offenbarung" genannt. Er leitet in die „ganze Wahrheit" und offenbart
die Dinge Gottes: „Was kein Auge gesehen und kein
Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen
ist, was Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben; uns aber 
hat es Gott geoffenbart durch Seinen Geist; denn der
180
Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes." (Joh. 16,
13; 1. Kor. 2, 9. 10.)
Um zu erkennen, wie mächtig der Geist Gottes zu
wirken vermag, brauchen wir uns nur an die Jünger zu
erinnern. Der Herr hatte ihnen bei Seinem Abschiede
gesagt: „Ihr aber bleibet in der Stadt, bis ihr angethan
werdet mit Kraft aus der Höhe." (Lnk. 24, 49.)
Diese Verheißung erfüllte sich an dem Tage der Pfingsten.
Der Heilige Geist kam auf sie hernieder und erfüllte sie
mit Kraft und Weisheit von Oben. Und dieselben Jünger,
welche noch kurz vorher sich so furchtsam gezeigt hatten,
indem sie alle den Herrn verließen, und Petrus sogar
Ihn dreimal verleugnete, traten jetzt kühn und furchtlos
vor der Menge auf; und während sie wenige Wochen
vorher noch so unwissend gewesen waren, offenbarten sie
jetzt in ihren Reden eine Erkenntnis der Schriften und
eine Bekanntschaft mit den Gedanken und Ratschlüssen
Gottes, daß selbst die Obersten und Schriftgelehrten sich
verwunderten, da sie wußten, daß es „ungelehrte und unkundige Leute" waren. (Apstgsch. 4, 13.) Ja, Petrus
redete mit solcher Kraft und Weisheit zu dem Volke, daß
es ihnen durchs Herz drang und dreitausend Seelen zur
Buße und zum Glauben geführt wurden! (Apstgsch. 2,
37—41.) Und wer hätte der Weisheit und dem Geiste
zu widerstehen vermocht, mit welchem ein Stephanus redete l
Mit welch bewunderungswürdiger Ruhe und Besonnenheit
verantwortete er sich, und noch im Sterben betete er für
seine erbitterten Feinde! (Apstgsch. 6. 7.) Doch wir
brauchen nicht weiter zu gehen. Die ganze Apostelgeschichte
ist voll von Beispielen der mächtigen Wirksamkeit des
Heiligen Geistes.
181
Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß wir heute
ans eine ähnliche Entfaltung der M acht des Geistes warten
sollen; wir reden jetzt nur von der Größe dieser Macht
an und für sich, sowie von der Herrlichkeit der Person
des Heiligen Geistes, um darauf aufmerksam zu machen,
wer Der ist, dem es gefallen hat, unsre armen sterblichen
Leiber zu Semen Tempeln zu ersehen. (1. Kor. 6, 19.) Das
Bewußtsein Seiner heiligen Gegenwart in uns sollte uns
völlig durchdringen und unsre Herzen mit Ehrfurcht gegen Ihn
erfüllen. Wir glauben, diesen Punkt umsomehr hervorheben
zu müssen, weil die Gegenwart des Heiligen Geistes in
den Gläubigen bei weitem nicht in dem Platze beachtet
wird, wie es Seiner Person würdig ist. Dasselbe gilt
betreffs Seiner Gegenwart in der Versammlung; denn die
Versammlung ist ebensowohl Sein Tempel, wie unsre
Leiber. „Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und
daß der Geist Gottes in euch wohnt?" (1. Kor. 3, 16.)
Dieser Mangel an gebührender Ehrfurcht wird uus einigermaßen fühlbar werden, wenn wir uns an die Heiligkeit
erinnern, welche die Gegenwart Gottes in dem Tempel
des alten Bundes umgab. Niemand, außer den geweihten
Priestern, durfte es wagen in das Heiligtum einzugehen.
Noch weniger durfte jemand das Allerheiligste betreten;
nur einmal im Jahre war es dem Hohenpriester erlaubt,
hinter den Vorhang zu gehen, und auch dann nicht ohne
Blut. Wäre er ohne Blut gekommen, so hätte er sterben
müssen. „Und Jehova sprach zu Mose: Rede zu Aarou,
deinem Bruder, daß er nicht zu aller Zeit hineingehe in das
Heiligtum innerhalb des Vorhangs vor den Deckel, der
auf der Lade ist, daß er nicht sterbe; denn ich werde in
der Wolke erscheinen über dem Deckel." (3. Mose 16, 2;
182
Hebr. 9, 6. 7.) Wenn aber jenes Heiligtum mit einer
solch erhabenen Heiligkeit umgeben war wegen der
Gegenwart Dessen, der in demselben wohnte,
wie vielmehr dec Tempel, von welchem jenes nur ein Borbild war! *) Durch die Jnwohnung des Heiligen Geistes
in uns sind wir in der Gegenwart Gottes ohne Vorhang,
mit „aufgedecktem Angesicht". Sollten wir Ihm weniger
Ehrfurcht schulden als Sein Volk im alten Bunde? Sollte
es Ihn nicht betrüben, wenn wir denken, reden und handeln, als wenn Er gar nicht da wäre?
*) Die Kirche ist in der That die eigentliche, durch den Tempel
nur vorgcbildete Wohnung Gottes, (Eph. 2, 2t. 22.) wie dieses
auch später in vollendeter Darstellung ans der neuen Erde gesehen
werden wird. „Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem,
herniederkommen ans dem Himmel von Gott, bereitet wie eine für
ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine starke Stimme
aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes bei den
Menschen!" (Offbg. 21, 2. 3.)
Wie wenig das Bewußtsein der Gegenwart des Heiligen Geistes im allgemeinen unter den Christen vorhanden
ist, das beweisen die traurigen Dinge, welche in ihrer
Mitte vorkommen — Dinge, die sich als offenbare Werke
des Fleisches kennzeichnen. „Offenbar aber sind die Werke
des Fleisches, welche sind: Hurerei, Unreinigkeit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten, Neid, Totschlag,
Trunkenheit, Gelage und dergleichen." (Gal. 5, 19. 20.)
Ist es nicht schrecklich, wenn solche Dinge sich bei denen
zeigen, welche Tempel des Heiligen Geistes zu sein bekennen? Darum fügt auch der Apostel warnend hinzu:
„Von denen ich euch Vorhersage, wie ich euch vorhergesagt
183
habe, daß, die solches thun, das Reich Gottes nicht ererben werden." Er sagt nicht: ihr seid dennoch Christen,
wenn ihr auch solche Dinge thut, sondern: die solches
thun, werden das Reich Gottes nicht ererben.
Auch sei noch bemerkt, daß der Apostel hier „Eisersucht,
Zorn, Zank, Zwietracht, Sekten und Neid" mit „Totschlag, Trunkenheit und Hurerei" auf einen Boden stellt.
Wer daher Neid, Zank, Zwietracht oder einen sektirerischen
Geist in seinem Herzen nährt, ermangelt der Ehrfurcht
vor der Gegenwart des Heiligen Geistes ebensosehr wie
derjenige, welcher sich der anderen schrecklichen Dinge schuldig macht. Der Apostel Jakobus zeigt uns, was Neid
und Streit in den Augen Gottes ist: „Wenn ihr aber 
bittern Neid und Streitsucht in euerm Herzen habt, so
rühmet euch nicht und lüget nicht gegen die Wahrheit.
Dies ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt,
sondern eine irdische, sinnliche, teuflische. Denn wo Neid
und Streitsucht ist, da ist Zerrüttung und jede schlechte
That." (Jak. 3, 14—16.)
Indessen ist es auch möglich, daß ein Christ bei
einem äußerlich unanstößigen Wandel wenig oder gar
nicht au die Gegenwart des Geistes Gottes denkt, und
sich nicht von Ihm leiten läßt; ja, es kann jemand
fromm und ehrbar wandeln, ohne den Geist Gottes überhaupt zu haben. Paulus konnte z. B. von sich sagen,
daß er Gott gedient habe von seinen Voreltern her mit
reinem Gewissen. (2. Tim. 1, 3.) Und er nennt seinen
Wandel vor seiner Bekehrung einen tadellosen: „Wenn
irgend ein andrer meint, daß er habe auf Fleisch zu vertrauen — ich noch mehr. Beschnitten am achten Tage, vom
Geschlecht Israel, vom Stamme Benjamin, Hebräer von
184
Hebräern; was das Gesetz betrifft, ein Pharisäer; was den
Eifer betrifft, ein Verfolger der Versammlung; was die 
Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, tadellos erfunden." (Phil. 3, 4 — 6.) So schön aber ein solches Leben
auch in den Augen der Menschen sein mochte, so war es
doch wertlos Gott gegenüber, vor welchem nur das Anerkennung finden kann, was von Ihm und durch Ihn gewirkt ist. Paulus mußte die schmerzliche Entdeckung machen,
daß selbst die Frömmigkeit des Fleisches wertlos, ja
ein Verlust für ihn war; denn sie hatte ihn von der
Erkenntnis Christi Jesu abgehalten und zn einem Versolger der Gläubigen gemacht. Deshalb sagt er auch: „Aber
was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen
für Verlust geachtet." (Phil. 3, 7.) Die Gesinnung des
Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, auch wenn es sich
den Schein der Frömmigkeit giebt. Es steht der Wirksamkeit des Geistes Gottes und der gesunden Entwicklung
des geistlichen Lebens in dem Gläubigen nur hindernd im
Wege, und bezweckt nie die Verherrlichung Gottes. Wie
bitter wird daher ein jeder enttäuscht werden, der sein
Vertrauen auf das Fleisch setzt. Ueber kurz oder lang
muß er sein Leben trotz aller Frömmigkeit, aller guten
Werke und wohlgemeinten Absichten, als ein verlorenes
erkennen. Und nichts kann uns vor solchen Enttäuschungen
bewahren, als das tiefe, beständige Bewußtsein der Gegenwart des Heiligen Geistes in uns. Nur dann, wenn wir
von dem Gefühl Seiner Gegenwart durchdrungen sind,
wenn wir im Geiste wandeln, werden wir vor allem Vertrauen auf daS Fleisch bewahrt bleiben.
Doch wie der einzelne Gläubige, so kann auch eine
Versammlung durch das Fleisch betrogen werden, wenn
185
sie nicht wachsam ist und auf die Gegenwart und Leitung
des Heiligen Geistes achtet. Ja, schon manche Versammlung
hat durch Mangel an Wachsamkeit in dieser Beziehung
schweren Schaden gelitten. Wie könnte es auch anders
sein? Das Fleisch hemmt stets die Wirksamkeit des Geistes,
und deshalb muß sich da, wo der Heilige Geist betrübt
ist, nach und nach geistliche Dürre, Lauheit, Trägheit und
Weltförmigkeit der Herzen bemächtigen. Sind aber diese
Dinge einmal eingerissen und werden sie nicht entschieden
verurteilt und gerichtet, so werden die offenbaren Werke
des Fleisches nicht ausbleiben. Neid, Eifersucht, Zank
und Zwietracht werden einkehren, und der Verfall in erschreckender Weise voranschreiten zur Verunehrung des Herrn
und zum Verderben der einzelnen Glieder.
Es thut daher not, geliebte Brüder, daß wir bei
unsern Zusammenkünften, sei es zur Feier des Abendmahls,
sei es zum Gebet oder zur Erbauung, mit allem Ernst
auf die Leitung des Heiligen Geistes achten. Wir sollten
uns stets fragen, ob alles, was da zum Vorschein kommt,
das Erzeugnis Seiner Wirksamkeit ist, und, wenn es die
Prüfung nicht aushält, es als böse verwerfen, mag es
auch einen noch so schönen Schein haben. Wie in unserm
persönlichen Leben die Frömmigkeit des Fleisches nur verwerflich und verderblich ist, so kann sicherlich auch in der
Versammlung der Dienst des Fleisches nur eine verderbliche
Wirkung haben. Die schönsten Gaben, das beste Rednertalent, eine noch so reiche Erkenntnis — alle diese Dinge
sind wertlos, wenn sie im Dienste des Fleisches gebraucht
werden. Ein solcher Dienst bewirkt nichts weniger als
wahre Auferbauung, da er weder Herz noch Gewissen berührt. Vergessen wir nicht, daß der Segen einzig und
186
allein von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes abhängt,
und nicht von den Gaben oder einem noch so schönen
Vortrag. Ist ein solcher nicht bewirkt durch den Geist,
wird er nicht gehalten in dem Bewußtsein der Abhängigkeit von Seiner Leitung, so mag er Wohl dem Stolz und
der Eitelkeit des Menschen schmeicheln, aber wahren Nutzen
und Segen wird er nicht bringen. Die Versammlung in
Korinth war reich an Gaben und aller Erkenntnis, und
doch konnte der Apostel nicht zu ihnen reden „als zu
Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo." (1. Kor. 1, 5 — 7; 3, 1.)
Nicht als ob wir die Gaben oder einen geordneten 
Vortrag verachteten. Keineswegs; wir sind vielmehr dankbar sür alle Gnadengaben und glauben sogar, daß da,
wo der Geist wirkt, auch ein geordneter Vortrag, sei er
kurz oder lang, stattfinden wird. Denn wenn der Heilige Geist
einem Bruder etwas zur Erbauung der Versammlung anvertraut, so wird Er ihm auch die Fähigkeit geben, dasselbe in zusammenhängender, dem Verständnis der Zuhörer
entsprechender Weise vorzutragen. Sicherlich wirkt der
Heilige Geist nicht solche verwirrten Vorträge und Gebete,
wie man sie hie und da in den Versammlungen hört,
und die nur in einem Aneinanderreihen gewisser, oft gar
nicht zusammengehörender Wahrheiten bestehen. Durch solche
Vorträge und Gebete werden die Zuhörer nur ermüdet,
und das geistliche Leben der Versammlung wird geschwächt,
und dies umsomehr, je mehr dieselben in die Länge gezogen
werden. Ganz besonders aber dient es zur Unehre
des Herrn, wenn solche Erscheinungen an Seinem Tische
sich zeigen. Dort vor allem sollte uns das Bewußtsein
der Gegenwart des Heiligen Geistes durchdringen, und
187
alle unsre Danksagungen, Lobgesänge und Gebete sollten
gleichsam nur der Ausdruck Seiner Gedanken und Gefühle sein.
Die Wirksamkeit des Geistes ist in nichts gehemmt,
sobald Seine Gegenwart gebührend anerkannt und beachtet
wird. Mag dann eine Versammlung groß oder klein sein,
mag sie reiche oder nur geringe Gaben besitzen: die 
Wirksamkeit des Geistes wird von allen gefühlt, die Herzen
werden belebt, und Gott wird verherrlicht werden. Nichts
wird alsdann ohne gesegneten Eindruck bleiben, sei es das
Singen eines Liedes, das Lesen eines Schriftabschnittes,
oder die Mitteilung einiger Gedanken in einem längeren
Vortrag, oder in vielleicht nur „fünf Worten", (1. Kor.
14, 19.) wie es gerade der Heilige Geist giebt. In einer
solchen Versammlung findet man weder das drückende Gefühl der Beklommenheit, welches so leicht durch Menschenfurcht erzeugt wird, (denn „wo der Geist des Herrn ist,
da ist Freiheit,") noch die Neigung, sich leichtfertig vorzudrängen. Es wird auch kein Glied ein m üßiger Zuhörer sein, sondern ein jedes wird zum Herrn flehen, daß
Er durch Seinen Geist wirken möge. Eines denkt an das
andere in Liebe, und alle zusammen tragen bei zur Auferbauung des ganzen Leibes. In einer solchen Versammlung findet das Böse keinen Eingang; es wird sofort gefühlt, erkannt und gerichtet. Gleichwohl herrscht dort kein
Geist des Splitterrichtens, sondern vielmehr der Gnade und
Langmut. Man trägt einander mit Nachsicht und Geduld;
denn ein jeder ist sich seiner eignen Schwachheit bewußt.
Mit einem Wort, eS offenbart sich die Frucht des Geistes:
„Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit,
Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit." (Gal. 5, 22.)
188
Wie wichtig ist es daher, mit Ehrfurcht an die
Gegenwart des Heiligen Geistes sowohl in der Versammlung, als auch in den Einzelnen zu denken, damit Er
frei und ungehindert wirken könne! Und doch wird wohl
keine Sache mehr vernachlässigt als diese, und keine Ermahnung leichter vergessen, als die diesbezügliche des
Apostels: „Betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, durch
welchen ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung."
(Eph. 4, 30.) Ach! eS giebt kaum eine Sache, deren Vernachlässigung für den einzelnen Christen wie für die Versammlung so ernste Folgen nach sich zieht. Möchten wir
daher auf unsrer Hut sein und täglich von dem Herrn
Weisheit und Gnade erbitten, um auch in dieser Beziehung
wohlgefällig vor Ihm erfunden zu werden!
Indes giebt es hierbei noch etwas zu beachten. Wir
haben gesehen, wie leicht das Fleisch uns täuschen kann.
Selbst dem geistlichsten Christen droht beständig die Gefahr, daß dasselbe sich unbemerkter Weise in seinen Wandel
einschleiche. Wir bedürfen daher neben einer steten Wachsamkeit auch eines klaren Unterscheidungsvermögens, um
Geist und Fleisch zu unterscheiden. Wie oft geschieht es,
daß ein Bruder durch seine leicht erregten Gefühle zu
irgend einer Thätigkeit hingerissen wird, in der Meinung,
er werde durch den Geist Gottes getrieben, während doch
nur die Natur, das Fleisch bei ihm in Thätigkeit ist.
Ferner kann es geschehen, daß ein Bruder im Vertrauen
auf seine Gabe oder seine Erkenntnis es unternimmt,
die Versammlung zu bedienen, und er ahnt nicht, daß 
das Fleisch und nicht der Geist ihn leitet. Ich möchte
deshalb hier auf einen besonderen Charakterzug des Fleisches
aufmerksam machen, der dasselbe stets leicht erkennen läßt,
189
selbst wenn es in einem schönen, geistlichen Kleide erscheint.
Das Fleisch sucht nämlich nie die Ehre des Herrn, sondern
nur seine eigene. Es ist stets ein untrügliches Kennzeichen
der Wirksamkeit des Fleisches, wenn ein Bruder von seiner Gabe, seiner Erkenntnis oder seinen Fähigkeiten eingenommen ist, oder wenn er meint, mehr Liebe, Weisheit,
Einsicht und Eifer zu haben als Andere. Wir sollten alles,
woraus das Fleisch irgend welchen Vorteil ziehen, oder
was uns in unsern eigenen Augen oder in der Meinung
Anderer erheben könnte, mit Mißtrauen betrachten. Selbst
wenn ein Bruder mehr Licht, Einsicht oder dergleichen hat
als Andere, wird er doch nicht im Entferntesten daran
denken, falls sein Herz von Christo erfüllt ist. Paulus
sagt: „Denn wir sind die Beschneidung, die wir durch
den Geist Gottes dienen und uns Christi Jesu
rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen."
<Phil. 3, 3.) Die Erkenntnis Christi Jesu ließ ihn alles
das für Verlust achten, dessen sich das Fleisch rühmen
konnte. Obwohl er in den dritten Himmel entrückt worden
war und eine hohe Offenbarung gehabt hatte, hielt er
es doch für Thorheit, davon zu reden. (2. Kor. 12.)
Und er that es nur, weil der Zustand der Korinther ihn
dazu zwang. Möchte darum das Wort des Herrn tief
in unsre Herzen geprägt sein: „Der Geist ist es, der
lebendig macht; das Fleisch nützt nichts!" (Joh.
6, 63.) Es nützt nichts, weder im Kampfe gegen die
Sünde, noch im Dienste des Herrn; es nützt nichts, weder
in unserm persönlichen Wandel, noch in unserm Gemeinschaftsleben.
Laßt uns ferner bedenken, daß wir keine sich selbst
überlassenen Waisen sind, die rat- und trostlos dastehen
190
in der sie umgebenden Verwirrung. Wie einst der Herr
hienieden der Sachwalter Seiner schwachen Jünger war,
sie leitete und unterwies, so ist jetzt der Heilige Geist der
„andere" ebenso mächtige, treue und weise Sachwalter
für uns; (Joh. 14, 16.) Er unterweist uns, indem Er
uns „in die ganze Wahrheit leitet." (Joh. 16, 13.) Er
nimmt sich „unsrer Schwachheit" an. „Denn wir wissen
nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt, aber der
Geist selbst bittet in unaussprechlichen Seufzern." Und
welch ein Trost! Gott versteht Seinen Geist: „Der aber
die Herzen erforscht, weiß, was der Sinn des Geistes ist,
denn Er bittet für die Heiligen Gott gemäß." (Röm. 8,
26. 27.) Er ist es, der in und durch uns redet: „Denn
nicht ihr seid die Redenden, sondern der Heilige Geist."
(Mark. 13, 11.) Er ist es, der in und durch uus wirkt:
„Alles dieses aber wirkt ein und derselbe Geist, einem
jeden insbesondere austeilend, wie Er will." (1. Kor 12,11.)
Möchten wir deshalb so von dem Geiste erfüllt sein, daß
unser eigenes Ich von unserm Wandel völlig ausgeschlossen
bliebe! Möchten wir stets eingedenk bleiben des Wortes:
„Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen!" Noch wenige Augenblicke, und
der Kommende wird kommen, und Sein Lohn mit Ihm,
um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk sein wird.
(Offbg. 22, 12.)

Ein Wort über das Bekenntnis
unsrer Sünden.
Das Werk der Versöhnung ist durch Christum auf
dem Kreuze vollbracht worden. Ein jeder, der durch die
191
Gnade an den Sohn Gottes glaubt, ist aus dem Zustande
der Schuld und Verdammnis in den Zustand der vollkommenen Vergebung und Annahme versetzt worden. Der
Gläubige ist mit Christo vereinigt; er ist in betreff seiner
Stellung vor Gott vollendet. „Wie Er (Christus) ist, so
sind auch wir in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.) Wir
sind „vollendet in Ihm"; (Kol. 2, 10.) „begnadigt in
dem Geliebten". (Eph. 1, 6.) Diese vollkommene Stellung,
in welche die freie Gnade uns gebracht hat, können wir
nie verlieren. Unmöglich könnte ein Glied des Leibes
Christi sich jemals außer dieser vollkommenen Gunst und
der Vereinigung mit dem gekreuzigten, auferstandenen und
verherrlichten Christus befinden. Wohl können wir in unsern Herzen das Gefühl, den Genuß und die Kraft dieser
Stellung und dieses Verhältnisses verlieren, aber die Sache
selbst nie und nimmer. Unsre Stellung in Christo bleibt
unveränderlich dieselbe. Wolken mögen die Sonne verdunkeln und ihre wohlthuenden Strahlen für eine Zeit
unsern Blicken verbergen; aber sie selbst hört nie auf in
ungeschwächtem Glanze zu scheinen. Der Gläubige ist ein
für allemal in Christo angenommen; er ist mit Ihm
vereinigt durch ein Band, das nie gelöst, nie zerrissen
werden kann.
Alle diese Dinge sind göttlich wahr, und die Stellen
der Schrift, welche mit großer Klarheit und Bestimmtheit
von denselben Zeugnis geben, sind zu zahlreich, um sie
hier anführen zu können. Indes ist es wohl zu beachten,
daß wir erst dann in diese gesegnete Stellung eintreten,
wenn wir als verlorne Sünder unsre Zuflucht zu Christo
genommen und dem Zeugnis geglaubt haben, welches Gott
gezeugt hat über Seinen Sohn. Die Grundlage aller unsrer
192
herrlichen Segnungen ist der Tod und die Auferstehung
Christi; aber der Genuß derselben wird uns erst dann
zu teil, wenn wir durch die Kraft des Heiligen Geistes
die köstliche Wahrheit des Evangeliums in unsre Herzen
ausgenommen haben. „In welchem ihr auch, nachdem ihr
geglaubt habt, versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geiste der Verheißung." (Eph. 1, 13.)
Wir sind also, was unsre Stellung betrifft, vollendet
in Christo, und deshalb fähig, jeden Augenblick in der
Gegenwart Gottes zu erscheinen; ja, wir sind der göttlichen
Natur teilhaftig geworden, welche, weil sie aus Gott ist,
nicht sündigen kann. Aber obwohl das alles so ist, dürfen
wir doch nicht vergessen, daß wir noch Sünde in uns
haben. „Ich weiß," sagt Paulus, „daß in mir, das ist
in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt." (Röm.
7, 18.) Wir tragen eine sündhafte Natur mit uns umher,
und sind, wenn wir nicht wachen und im Gebet beharren,
stets in Gefahr, uns durch Gedanken, Worte und Werke
zu versündigen. „Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde
haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist
nicht in uns. Wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist
Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergiebt
und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen,
daß wir nicht gesündigt haben, so machen wir Ihn zum
Lügner, und Sein Wort ist nicht in uns. Meine Kinder,
ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündiget; und
wenn jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter
bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten. Und Er
ist die Sühnung für unsre Sünden, nicht allein aber für
die unsern, sondern auch für die ganze Welt." (1. Joh.
1, 8 — 2, 2.)
193
In diesen Worten finden wir eine Unterweisung bezüglich dessen, was wir zu thun haben, wenn unsre Herzen
durch irgend etwas verunreinigt sind, oder mit andern
Worten, eine Unterweisung bezüglich des Bekenntnisses
unsrer Sünden. „Wenn wir unsre Sünden bekennen, so
ist Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergiebt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." Laßt
uns beachten, daß der Apostel nicht sagt: „gnädig und
barmherzig," sondern: „treu und gerecht." Sicher offenbart unser Gott Seine Gnade und Barmherzigkeit darin,
daß Er uns die Sünden vergiebt. Er ist überaus gnädig
und barmherzig, gepriesen sei Sein Name! Aber Er ist 
mehr als Las, Er ist treu und gerecht, wenn Er
unser Bekenntnis mit Seiner Vergebung beantwortet. Und
was bildet die Grundlage Seiner Treue und Gerechtigkeit
in der Vergebung- — Die durch Jesum Christum
geschehene Versöhnung.
Ist es nicht wunderbar, daß Gott solchen, die gesündigt haben, als treu und gerecht dargestellt werden
kann, wenn Er ihnen ihre Sünden vergiebt und sie von
aller Ungerechtigkeit reinigt? Selbstverständlich muß ein 
aufrichtiges Bekenntnis vorhanden sein, wenn Vergebung folgen soll. Nie kann ein Gläubiger, wenn er eine
Sünde begangen hat, sagen: „Meine Sünden sind ja alle
vergeben, und ich habe nicht nötig, mir irgend welche
Unruhe über dieselben zu machen." Eine solche Sprache
und Gesinnung wäre im höchsten Grade vermessen und
verwerflich. Durch die Gnade ist es schon hienieden unser
hohes Vorrecht, in Gemeinschaft zu sein mit dem Vater
und mit Seinem Sohne Jesu Christo; und dieses Vorrecht kann nicht genossen werden, wenn irgend welche
194
Sünde auf unserm Gewissen ruht. Ein einziger sündlicher
Gedanke ist hinreichend, unsre Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne zu unterbrechen. Es berührt dies freilich
weder das Leben, welches uns geschenkt ist, noch beeinträchtigt es unsre Sicherheit in Christo; wohl aber hebt
es den Genuß unsrer Gemeinschaft auf und zerstört unsern Frieden. Wir können keine wahre Gemeinschaft mit
Gott haben, so lange die geringste Sünde ungerichtet auf
unserm Gewissen lastet. Denn Gott ist Licht, und gar
keine Finsternis ist in Ihm. Er kann unmöglich mit der
Sünde Gemeinschaft haben. Was haben wir nun in einem
solchen Falle zu thun? Unser Herz in aufrichtigem, reumütigem Bekenntnis vor Gott auszuschütten. Und was
wird die Folge sein? Eine völlige Vergebung und Reinigung, gemäß der Treue und Gerechtigkeit Gottes.
Indes möchte der Eine oder Andere versucht sein zu
fragen: „Begehen wir denn nicht manche Sünde, die uns
nie zum Bewußtsein kommt, die wir nicht als Sünde erkennen, und die deshalb auch nicht auf unserm Gewissen
lastet? Solche Sünden können wir doch nicht bekennen."
Die einfache Antwort auf diese Frage ist, daß es sich an
dieser Stelle gar nicht um solche Sünden handelt. Wir
begehen ohne Zweifel viele Sünden, die unsrer Erkenntnis
verborgen bleiben, und die wir nur im Allgemeinen Gott
bekennen können, wobei wir auch der völligen Vergebung
gewiß sein dürfen; allein unsre Gemeinschaft wird nur
durch solche Sünden unterbrochen, die unser Gewissen erreicht haben. Wenn wir in dem Lichte wandeln, wie Gott
in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft mit einander,
haben gemeinsame Gefühle und Interessen, und werden in
der Gegenwart Gottes unverrückt erhalten und bewahrt
195
kraft der göttlichen Wirksamkeit des Blutes Jesu, das von
aller Sünde reinigt. (1. Joh. 1, 7.) Wenn wir uns aber
in unserm praktischen Leben außerhalb des Lichtes befinden und Sünde thun, so können wir nur durch ein aufrichtiges Bekenntnis, vermittelst der Sachwalterschaft Christi,
zu demselben zurückgelangen. Das ist der einzige Weg, um
unser köstliches Vorrecht, die glückselige Gemeinschaft mit
dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo, auf's
Neue zu genießen. Der Herr gebe in Seiner Gnade, daß
die Seinigen diesen so wichtigen und gesegneten Weg nie
aus dem Auge verlieren, nie versäumen! Ohne ein aufrichtiges Selbstgericht giebt es keinen Frieden, kein wahres
Glück, keinen Fortschritt im geistlichen Leben, kein Wachstum in der Erkenntnis Gottes und. keine Freimütigkeit in
Seiner heiligen Gegenwart.
„Seid nüchtern, wachet!"
(1. Petr. 5, 8.)
Wir haben stets nötig, mit aller Nüchternheit und
Treue über uns selbst zu wachen und alles vor Gott zu
richten, was aus dem Fleische ist. Zugleich haben wir
darauf bedacht zu sein, daß „die Wahrheit, wie sie in
dem Jesus ist," das ganze Herz durchdringe und das
Leben gestalte — daß die Erwartung Seiner Ankunft
unsre Neigungen und Gefühle beherrsche und den Charakter bilde. Lasset uns stets ein zartes Gewissen bewahren und alles verurteilen, was uns zum christliche«
Dienst untauglich macht, was den Eifer und die Hingebung für den Herrn schwächt, was uns am Lesen der
Schrift oder am Gebet zu hindern sucht, und alles, was
196
wir nicht mit gutem Gewissen in der Gegenwart unsers
geliebten Herrn thun können. ES geziemt sich für uns,
alles zu vermeiden, alle Freuden, Unterhaltungen rc. rc., für
welche wir Gott nicht danken können, oder auf welche der
Gedanke an Gott, an Christum, an Seine Ankunft, an
den Richterstuhl gleichsam einen dunkeln Schatten wirft.
Lasset uns niemals irgendwo hingehen, wo wir Gott nicht
um Seine Begleitung bitten können, oder irgendwo gefunden werden, wo wir nicht handeln können, wie Christus
es von uns wünscht. Wir haben jeden Tag gewissenhaft
als Pilger zu wandeln, als solche, die auf dem Wege zu
ihrer himmlischen Heimat sind. Während wir hienieden
eine öde Wüste, eine versuchungsreiche Welt durchschreiten,
ist unsre wahre Freude, der einzig wahre Genuß unsrer
Herzen die Liebe Gottes und die „Gemeinschaft mit dem
Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo." Wenn diese
Liebe unsre Herzen regiert und diese Gemeinschaft unsrerseits verwirklicht wird, so werden wir vor tausend Fallstricken bewahrt bleiben, wir werden einen Frieden genießen, der allen Verstand übersteigt, und werden uns
stets der nahen Ankunft unsers geliebten Herrn erfreuen.
Nicht mehr lange! Lehr' uns wachen!
Morgenröte zeigt sich schon von fern;
Bald wird landen unser Nachen,
Der uns trägt zu Dir, dem guten Herrin
Lehr' uns wachen, kämpfen ohn' Ermüden,
Immer näher bringt uns jeder Tag;
Lehr' uns wandeln völlig abgeschieden,
Unserm Kampf folgt sel'ge Ruhe nach.
Ruth.
„Wenn dein Bruder verarmt und von seinem Eigentum verkauft, so soll sein Löser,
sein nächster Verwandter, kommen und das
Verkaufte seines Bruders lösen," (3. Mose
25, 25,)
Die Erlösung war, wie einmal jemand gesagt hat,
nicht ein Gedanke, der erst in späteren Zeiten in dem
Herzen unsers Gottes entstanden ist, sondern sie war Sein
Vorsatz von Anfang an. Durch das Werk der Erlösung
bereitet Er Seinem eigenen Namen die reichste Verherrlichung und Seinen Geschöpfen die vollkommenste Freude.
Wohl ist es wahr, daß „die Morgensterne mit einander
jubelten und alle Söhne Gottes jauchzten," als die Grundfesten der Erde gelegt wurden; aber das Jubelgeschrei der
Gnade, welches sich erheben wird, wenn einmal die neue
Schöpfung vollendet ist, wird jenes weit übertönen. Nie
vorher war eine solche Musik und ein solcher Reigen im
Vaterhause, wie bei der Rückkehr des verlornen Sohnes,
der wie ein aus den Toten Auferstandener empfangen
wurde. Nie zuvor waren solche Gefühle der Liebe und
des Dankes in dem Sohne wach geworden, als in dem
Augenblick, da er in den Armen des Vaters lag und seine
Umarmung und seine Küsse empfing; nie zuvor waren die
Schätze des Vaters in solcher Fülle ans Licht getreten;
das gemästete Kalb, der Ring und das vornehmste Kleid
waren bis zu dieser Stunde aufbewahrt worden; und nie
198
zuvor hatte der Vater eine solch innige Freude an seinem
Sohne, als in dem Augenblick, da er ihm um den Hals
fiel und seinen Mund, der das Bekenntnis der Schuld
stammelte, mit seinen Küssen schloß.
Gerade so ist es in den wunderbaren Wegen unsers
Gottes. Die Schöpfung offenbarte Seine Güte, Macht
und Weisheit; und die Himmel droben waren erfreut über
die vollendete Ordnung, welche sich darin kundgab, und die
Erde, die glückliche Zeugin des Werkes Seiner Hände,
lächelte Ihm zu. Aber die Erlösung hat noch weit größere,
bis dahin in Gott verborgene Schätze ans Licht gebracht;
sie hat noch mehr anbetende Freude und Bewunderung
„in Gegenwart der Engel" wachgerufen, und neue und
göttlichere Zuneigungen den Menschenkindern geschenkt. Es
verhindert heute auch nichts unsre Teilnahme an der Freude
im Hause des Vaters, als nur die Weigerung, den Charakter und Platz des zurückgekehrten verlornen Sohnes einzunehmen. „Du hast mir niemals ein Böcklein gegeben,"
sagte Einer, der auf sich selbst vertraute. Er hatte nie
wahre Freude gekostet; nie war ihm ein fettes Mahl bereitet worden; denn er meinte etwas zu sein. Er sprach
in seiner Selbstgenügsamkeit: „Siehe, so viele Jahre diene
ich dir, und niemals habe ich dein Gebot übertreten."
Er gehörte zu jenen, die „auf sich selbst vertrauen."
(Luk. 18, 9.) Aber ach! wenn wir in dieser stolzen und
eitlen Einbildung, in diesem thörichten Selbstvertrauen uns
weigern, von Gott als verlorene Sünder empfangen zu
werden, so können wir unmöglich wahre Freude genießen;
denn als Verlorene zu Gott zu kommen, das ist der verordnete Weg der ganzen Familie Gottes, und das die
einzige Quelle ihrer Freude und ihres Triumphes.
199
Die Erlösung des Sünders zeigt uns die Gnade und
Liebe Gottes in ihrem herrlichsten Glanze. „Wo die Sünde
überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden." Die Gnade, die Quelle und Kraft der
Versöhnung, ist jene „prachtvolle Herrlichkeit," von welcher
Petrus redet; das Licht, welches vom Himmel her in
überwältigender Macht und errettender Gnade den Drohung
und Mord schnaubenden Saulus von Tarsus umstrahlte,
„übertraf den Glanz der Sonne." Die Gnade ist der
völligste und in der That der allein würdige Ausdruck
der unerforschlichen Reichtümer der göttlichen Liebe. Die
Himmel werden sich an dieser Gnade erfreuen, (Offbg. 5,
11. 12.) und Israel, die Freude der Erde darstellend,
wird am Ende ebenfalls in ihr triumphieren. (Vergl. Jes.
40, 1; 41, 10; Zeph. 3, 14. 15.)
Unter den Zeugnissen von dieser endlichen Sicherheit
und Freude Israels auf Grund der Gnade Gottes, ihres
Erlösers, nimmt das Buch Ruth einen hervorragenden
Platz ein, indem es uns die Pflichten eines Blutsverwandten oder Lösers darstellt. (3. Mose 25, 25; 5. Mose
25, 5.) Es zeigt uns vorbildlich in Noomi das betrübte
und gefangene Israel, und zwar bis zu der Zeit, da der
Herr, ihr Erlöser, durch die Reichtümer Seiner Gnade
von neuem Seine Wonne an ihnen finden und ihr Land
Ihm vermählt sein wird.
Doch um den vorbildlichen Charakter dieses Buches
besser verstehen zu können, wird es gut sein, einen Blick
auf die Wege Gottes mit Israel vor den Zeiten Ruths
zu werfen, und den unterschiedlichen, bestimmt ausgeprägten
Charakter der vorhergehenden Bücher in Kürze zu betrachten.
200
Wenden wir uns zunächst zu dem 5. Buche Mose.
Dasselbe stellt uns die Vollziehung des Bundes zwischen
Jehova und Israel vor Augen. Nachdem Mose dem Volke
seine Wege ins Gedächtnis zurückgerufen, ihnen noch einmal Gebote und Satzungen überliefert und es gewarnt
und ermutigt hatte, sagte er: „An diesem Tage gebietet dir
Jehova, dein Gott, diese Satzungen und Rechte zu thun;
und du sollst sie beobachten und thun mit deinem ganzen
Herzen und mit deiner ganzen Seele. Du hast heute dem
Jehova sagen lassen, daß Er dir zum Gott sein soll, und
daß du in Seinen Wegen wandeln und Seine Satzungen
und Seine Gebote und Seine Rechte beobachten und Seiner Stimme gehorchen willst; und Jehova hat dir heute
sagen lassen, daß du Ihm zum Volk des Eigentums seiest,
so wie Er zu dir geredet hat; und daß du alle Seine
Gebote beobachten sollst; und daß Er dich machen will
zur höchsten über alle Nationen, die Er gemacht hat, zum
Ruhm und zum Namen und zum Schmuck; und daß du
Jehova, deinem Gott, ein heiliges Volk sein sollst, so wie
Er geredet hat." (ö. Mose 26, 16 — 19.) Das war ein
förmliches Bündnis zwischen Gott und dem Volke; und
diese Uebereinkunft wird durch das 5. Buch Mose aufs
feierlichste und bestimmteste bezeugt.
Dann folgt das Buch Josua. Dieses teilt uns die
Wunder mit, welche der ausgestreckte Arm Jehovas angesichts der Nationen und zum Besten Seines Volkes vollbrachte. Es erzählt uns, wie Er sie im Triumph von
Stadt zu Stadt führte und Könige vor ihnen niederwarf,
bis Josua, ihr Anführer, das ganze Land eingenommen
hatte, nach allem, was Jehova zu Mose geredet hatte.
Wir lesen: „Und so nahm Josua das ganze Land ein,
201
nach allem, was Jehova zu Mose geredet hatte; und Josua
gab es Israel zum Erbteil, nach ihren Abteilungen, nach
ihren Stämmen. Und das Land hatte Ruhe vom Kriege."
(Jos. 11, 23.) Und weiter: „Es fiel kein Wort dahin
von all dem guten Worte, das Jehova zu dem Hause
Israel geredet hatte; alles traf ein." (Jos. 21, 45.) Und
als Josua im Begriff stand, den Weg der ganzen Erde
zu gehen, konnte er wiederum vor Israel stehen und sagen: 
„Siehe, ich gehe heute den Weg der ganzen Erde, und
ihr wisset mit euerm ganzen Herzen und mit eurer ganzen
Seele, daß nicht ein Wort dahingefallen ist von allen den
guten Worten, die Jehova, euer Gott, über euch geredet
hat: sie sind euch alle eingetroffen, nicht ein Wort davon
ist dahingefallen." (Jos. 23, 14.) Das Buch Josua bestätigt also in überströmender Fülle die Wahrheit Jehovas
und Seine Bundestreue.
Dem Buche Josua folgt das Buch der Richter; aber 
ach! so wie das erstere für Jehova Zeugnis giebt, daß
Er Seinen ganzen Bund mit Israel erfüllt hat, so bezeugt
letzteres wider Israel, daß es seinen Bund mit Jehova
völlig gebrochen hat. Allerdings lesen wir in Jos. 24, 31:
„Und Israel diente Jehova alle Tage Josuas und alle
Tage der Aeltesten, welche ihre Tage verlängerten nach
Josua, und die das ganze Werk Jehovas kannten, das
Er für Israel gethan hatte;" aber dann heißt es in
Richter 2, 10—13: „. . . und ein anderes Geschlecht
kam nach ihnen auf, das Jehova nicht kannte und auch
nicht das Werk, das Er für Israel gethan hatte. Und
die Kinder Israel thaten, was böse war in den Augen
Jehovas, und dienten den Baalim. Und sie verließen Jehova, den Gott ihrer Väter." So wie einst in Egypten
202
ein anderer König aufkam, der Joseph nicht kannte und
nichts wußte von all der Güte, welche der Herr durch
Joseph dem Lande und dem Volke der Egypter erwiesen
hatte, so wuchs auch in Israel ein anderes Geschlecht auf,
deren unbeschnittene Herzen den Gott nicht kannten, welcher ihre Väter besucht und erlöst hatte. Während der ganzen Zeit der Richter sehen wir das Volk immer wieder
in dieselben Sünden fallen und von Jehova abirren, um
den Götzen der Völker des Landes Kanaan zu dienen;
aber zugleich auch, wie Jehova sie immer wieder durch
ernste Züchtigungen zurechtweist, und sich in Gnaden zu
ihnen wendet, um ihre Ungerechtigkeiten zu vergeben und
sie aus ihrem Elend zu befreien. Ja, wie eine Henne ihre
Küchlein unter ihre Flügel sammelt, so war Er immer
wieder bemüht, Sein irrendes Volk um sich zu sammeln;
aber das letzte Zeugnis dieses Buches der Richter lautet:
„Ein jeder that, was recht war in seinen Augen."
(Kap. 21, 25.)
So sehen wir also im 5. Buche Mose die feierliche
Schließung des Bundes und die Einführung des Volkes
in denselben; im Buche Josua Jehovas Erfüllung all der
gnädigen Verheißungen, welche Er unter jenem Bunde
Israel gegeben hatte; und im Buche der Richter endlich
Israels gänzlichen Bruch der von ihnen gelobten und zugesicherten Treue. Damit hatten sie gerechter Weise alle
ihre Segnungen verwirkt; und der Augenblick war gekommen, wo Jehova sich entscheiden mußte, ob Er das
Gericht anwenden, oder die Gnade einführen wollte. In
der Geschichte Ruths nun, der Moabitin, welche unmittelbar
auf das Buch der Richter folgt, giebt Er Israel, das
unter dem Bunde des Gesetzes gänzlich verloren war, ein 
203
Exempel, nicht von der schließlichen strengen Heimsuchung
ihrer Sünden, sondern von der Gnade, durch welche sie
gesammelt, und von der Herrlichkeit, zu welcher sie in den
letzten Tagen gebracht werden sollen. Denn ich zweifle
nicht daran, daß die Geschichte Ruths, so schön und anziehend sie auch an und für sich sein mag, vom Geiste
Gottes nicht nur deshalb ausgezeichnet worden ist, um
uns die Treue und Anhänglichkeit einer Moabitin zu
zeigen und uns mit dem Wege bekannt zu machen, auf
welchem ihr das Vorrecht zuteil geworden ist, einen Platz
im Geschlechtsregister des Herrn einzunehmen, (Matth. 1,5.)
sondern vielmehr um die Wege Jehovas der Heerscharen
mit Seinem geliebten, unvergeßlichen Volke Israel ans
Licht zu stellen.
Das Buch beginnt mit einer häuslichen Prüfung.
Die Familie Elimelechs aus Bethlehem-Juda wird durch
eine schwere Hungersnot gezwungen, ihren Unterhalt in
den Gefilden Moabs zu suchen. Hier stirbt Elimelech, und
seine beiden Söhne verheiraten sich mit Töchtern jenes
fremden Volkes. Nach Verlauf einiger Zeit sterben auch
die beiden Söhne, und niemand bleibt von der ganzen
Familie übrig, als die verwitwete, kinderlose Noomi. Sie
hätte jetzt mit der Tochter Zion ausrufen können: „O
wehe mir ob meiner Wunde! Mein Schlag ist schwer
zu heilen ..... Mein Zelt ist zerstört, und alle
meine Seile sind zerrissen; meine Kinder sind von mir
gegangen, und sind nicht mehr. Es ist niemand, der
mein Zelt ausspanne und meine Vorhänge befestige."
(Jer. 10, 19. 20.)
Hier giebt es von vornherein etwas, was geeignet
ist, unsre Aufmerksamkeit zu fesseln. Eine schwere Hun-
204
gersnot ist in jenem Lande, von welchem der Herr verheißen hatte, daß es für Sein Volk von Milch und
Honig fließen sollte! Das war der sichere Beweis, daß
das auserwählte Volk untreu gewesen war; und somit stellt
jener traurige Zustand (die Hungersnot im Lande und
das Weilen seiner Kinder in der Fremde) Israel dar,
wie es gegenwärtig ist, *) während es wegen seiner Untreue unter dem gerechten Unwillen Jehovas leidet. Die
Städte im Lande der Verheißung sind zerstört, ohne Bewohner, wie es zum Teil schon in den Tagen Noomis der
Fall war; das Land selbst liegt öde und wüste; und die
Kinder des Volkes hat der Herr weit entfernt, so daß
„eine große Verlassenheit" inmitten des Landes herrscht.
Die damalige Hungersnot war dasselbe, was die Zerstreuung heute ist; beide waren die Folge der Untreue des
Volkes. Die einzige Ursache seiner Leiden und Schmerzen
war zu allen Zeiten sein Ungehorsam. Jehova verwarf
sie, „weil sie Seinen Worten nicht gehorchten."
*) Elimelech, d. h. Mein Gott der König, der Name des
Vaters und Hauptes dieser leidenden Familie, ist der eigentliche und
charakteristische Titel des Messias in Verbindung mit dem
jüdischen Volke. Und dieses Volk ist in der That jetzt ein
Wanderer in fremdem Lande geworden; es ist nicht mehr „Noomi":
Lieblichkeit, sondern „Mara": Bitterkeit.
Die Heiraten Machlons und Kiljons, der Söhne
Israels, mit den Töchtern Moabs, sind ein treffendes Bild
von der gegenwärtigen, gänzlichen Einbüßung des Nasiräertums auf seiten Israels; Israel ist nicht mehr geheiligt
und für Gott abgesondert, sondern es hat sich mit den
Nationen vermengt, deren Werke gelernt und in deren
Sünden gelebt. Und die ihres Mannes und ihrer beiden
205
Söhne beraubte Noomi stellt die Verlassenheit Israels
dar, sowie den Verlust von alledem, was noch irgendwie
an seinen früheren Zustand erinnern könnte. Denn obgleich Israel als Volk von feiten Gottes für die Erfüllung
der Ratschlüsse Seiner Barmherzigkeit am Ende der Tage
aufbewahrt wird, ist dennoch für die Gegenwart sein besonderer Charakter gänzlich verloren und verschwunden.
Es ist unter dem göttlichen Gericht einer der Nationen
gleich geworden; Lo-Ammi (Nicht mein Volk) ist jetzt auf
Israel geschrieben.
Doch der Herr, wie wir in der vorliegenden Geschichte
sehen, wendet sich zur bestimmten Zeit mit Erbarmen zu
Israel zurück; Sein unveränderliches Wort im Blick auf
dieses arme, allezeit irrende Volk lautet: „Er wird nicht
immerdar rechten und nicht ewiglich nachtragen." (Ps. 103,9.)
Wenn Er es auch mit den Nationen gar aus machen wird,
so doch nicht mit ihm. Er besuchte und errettete Sein
Volk, indem Er ihm wiederum Brot gab; und die erste
Nachricht davon erweckte in Noomi sofort die zärtlichsten
Gefühle für ihr Volk und die sehnsüchtige Erinnerung an
ihr Land und ihre Heimat. Sobald sie hört, „daß Jehova
Sein Volk besucht habe, um ihnen Brot zu geben," macht
sie sich auf und zieht weg von dem Orte, wo sie war;
und, obgleich tief betrübt und von allem entblößt, tritt sie
eilenden Schrittes den Rückweg nach Bethlehem-Juda an.
Noomi zeigt sich hier in der That als eine Mutter
in Israel. Sie wollte lieber ihre Schwiegertöchter, so
anhänglich und treu diese auch gewesen sein mochten, aufgeben, und alle Verbindungen, die sie in Moab angeknüpft
hatte, abbrechen; sie wollte lieber jede Quelle der Hülfe
und des Trostes, die dort für sie offen lagen, fahren lassen
206
und als „Mara", entblößt und betrübt, in das Land
ihrer Väter zurückkehren, als noch länger ein Fremdling
zu sein in fremdem Lande. Sie erscheint vor uns als eine
wahre Rahel, die jeden Trost von sich abweist und auch
so lange abweisen wird, bis „ihre Kinder wieder in ihre
Grenzen gekommen sein werden." (Jer. 31, 15—17.)
DaS ist das Herz der wahren Kinder Israel, das sind
ihre innersten Gefühle und Wünsche. Freudig würden sie
alle ihre Vorteile und Annehmlichkeiten aufgeben, die sie
an den Orten, wohin sie zerstreut sind, gefunden haben,
und, gleich Mara, in ihr Land zurückkehren. Laßt nur die
Botschaft, die einst Noomi vernahm, ihr Ohr erreichen;
laßt sie nur hören, daß Jehova ihr Land wieder für sie
geöffnet habe — und die Wege nach Zion, die jetzt trauern,
werden sich freuen, und alle ihre Straßen, die jetzt verödet sind, werden schnell voll Volks sein.
Bei dieser Gelegenheit offenbart sich der Charakter
Ruths sofort in vollkommener und schöner Weise. Sie
besteht darauf, mit Noomi, ihrer Schwiegermutter, eins zu
sein. Sie will ihre Verwandtschaft und ihres Vaters Haus
vergessen. Obwohl auf der einen Seite bedrängt durch die 
traurigen Aussichten, welche Noomi ihr vorstellt, wenn
sie bei ihrem Entschluß beharren würde, und andrerseits
versucht durch Orpas Abfall und Umkehr zu den vorteilhafteren Aussichten in Moab, steht sie doch fest an dem
bösen Tage; alles dient nur dazu, zu zeigen, was in ihr
ist. Sie sagt zu Noomi: „Dringe nicht in mich, dich zu
verlassen . . .; denn wohin du gehst, will ich gehen, und
wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein Volk,
und dein Gott ist mein Gott." Sie macht es wie Elisa
in späteren Tagen, als einerseits Elia ihn aufforderte,
207
ihn zu verlassen, und andrerseits die Söhne der Propheten
ihn drängten, umzukehren, und er antwortete: „So wahr
Jehova lebt und deine Seele lebt, wenn ich dich verlasse!"
(2. Kön. 2, 4.) Ruth wollte jede Erinnerung an Moab
und an ihr Volk hinter sich zurücklassen; sie wollte eins
sein mit Noomi, obgleich diese im Witwenstande und in
Armut war. Sie war fest entschlossen, nicht länger eine
Tochter Moabs, sondern eine Tochter Israels zu sein,
eins mit dem Volke Jehovas. So wird diese Sünderin
aus den Heiden unter den Kindern des Reiches gefunden.
Und von diesem Augenblick an wird Israel in Ruth repräsentirt; sie tritt gleichsam an die Stelle Noomis und
setzt die wunderbare Erzählung der Wege Gottes mit
Seinem Volke fort. Das Schicksal desselben wird jetzt
vorbildlich in dem ihrigen ans Licht gestellt; denn das
Israel Gottes in den letzten Tagen wird dieser Sünderin
aus den Nationen gleich sein; Israel wird dann durch
dieselben Reichtümer der Gnade angenommen werden, durch
welche jetzt die Kirche, die Fülle der Nationen, errettet
wird, wie der Apostel sagt, wenn er zu den Nationen
spricht: „Denn gleichwie auch ihr weiland Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen
seid durch den Unglauben dieser, also haben auch jetzt
dieje an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf daß auch
sie unter die Begnadigung kommen. Denn Gott hat alle
zusammen eingeschlossen in den Unglauben, auf daß Er
alle begnadige." (Röm. 11, 30 — 32.)
Die gegenwärtige Berufung aus den Nationen
hat jedoch nichts mit der vorbildlichen Geschichte Ruths
zu thun. Freilich war sie eine Heidin, und dies hat etliche
verleitet, von diesem Vorbilde eine falsche Anwendung zu
208
machen. Doch Israel selbst ist jetzt den Nationen gleich
und wird später in diesem Charakter durch die Gnade
ausgenommen werden. Denn wie wir, als Sünder ans
den Nationen, „kein Volk" waren, aber durch die Gnade
das Volk Gottes geworden sind, so wird Israel, das jetzt
„kein Volk" ist, in den letzten Tagen wieder das Volk
Gottes werden. So wie jetzt die Kirche das Gefäß der
Gnade geworden ist, um die Reichtümer der Herrlichkeit
Gottes kund zu thun, so wird einst das Volk Israel dazu
gemacht werden. (Vergl. Hof. 1—3; Röm. 9, 23—26.)
Die heidnische Geburt Ruths war daher nötig, um sie
als ein schönes und vollkommenes Vorbild von Israel
hinzustellen, das jetzt wie Fremdlinge behandelt, später
aber durch dieselbe Gnade gesammelt werden wird, welche
uns jetzt sammelt, die wir in der That Fremdlinge waren.
„Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren"; aber an
dem Tage ihres Bundes wird ihre Sünde weggenommen
werden. (Fortsetzung folgt.)

Johannes -er Täufer,
in.
Johannes der Täufer in der Wüste,
(Luk. 1, 80; Matth. 3, 4.)
Die beiden an die Spitze dieses Abschnittes gesetzten
Stellen machen uns mit dem Leben Johannes des Täufers von seiner Geburt „bis zu dem Tage seines Auftretens vor Israel" bekannt. „Das Kind," so lesen wir,
„wuchs und ward stark im Geiste." Ein Nasiräer sein,
das ist, wie wir gesehen haben, die erste Bedingung zur
209
normalen Entwicklung eines Mannes des Glaubens. Der
Geist kann alsdann Seine Thätigkeit entfalten, um uns
wachsen zu lassen, und uns zu kräftigen an dem inneren
Menschen. Nichts wird Ihn dann betrüben, und Er
wird nicht nötig haben, uns zu tadeln und uns auf unsre
Fehler aufmerksam zu machen; wir werden sein wie ein
Baum, der in guten Boden gepflanzt ist, dessen Wurzeln
von Bächen lebendigen Wassers getränkt werden, und der
die stärkenden Strahlen der Sonne völlig empfängt. Der
Baum entwickelt sich unter solch wohlthätigen Einflüssen.
Seine Knospen werden zu Blüten, seine Blüten zu Früchten, je nach der Jahreszeit.
Das waren die Kennzeichen des Propheten schon in
seiner Kindheit; und doch war er nur ein schwaches Bild
von Dem, dessen Ankunft er bald verkündigen sollte. Von
Jesu, dem Herrn Johannes des Täufers, steht geschrieben: „Das Kindlein aber wuchs und ward stark,
erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm."
Und ferner: „Und Jesus nahm zu an Weisheit und an
Größe und Gunst bei Gott und den Menschen." (Luk.
2, 40. 52.) Er wäre nicht wahrhaft Mensch gewesen,
wenn Er nicht von Seiner Geburt an alle Abschnitte der
Entwicklung des Menschen durchgemacht hätte; und Er
wäre nicht Gott gewesen, wenn Er nicht in absoluter
Vollkommenheit hindurchgegangen wäre. Johannes hatte
Hülfe nötig, um zu wachsen und stark zu werden im
Geiste, wie auch der Evangelist sagt: „Und die Hand des
Herrn war mit ihm." (Luk. 1, 66.) Jesus aber wuchs
und ward, so zu sagen, stark von sich selbst, obwohl
in einer vollkommenen Abhängigkeit als Mensch. Wir
finden in dem Evangelium Lukas die Vollkommenheit
210
dieses Aufblühens. Die Blume ist in der Knospe ohne
Fehler; völlig geöffnet ist sie unverwelklich; die göttliche
Gunst, der Tau des Himmels, füllt ihren Kelch; sie ist
von einem Wohlgeruch und einer Anmut, daß sie die
Wonne Gottes und der Menschen bildet. Sie verspricht
rechtzeitige Frucht, eine göttliche Entwicklung von völliger Reife.
Wir haben den moralischen Zustand des Sohnes
des Zacharias bereits betrachtet. Werfen wir jetzt einen
Blick auf seine äußere Erscheinung. Sie war eine derartige, daß sie von Jugend auf die Blicke der Menschen
aus sich ziehen mußte. Das Wort sagt uns von Johannes: „Er war in den Wüsteneien." Welch ein Gegensatz zu der Welt, die ihn umgab! Das römische „Tier"
war damals in voller Blüte, fest, wie nie zuvor ein Reich
gewesen war. (Luk. 3, 1.) Die Verwaltung des Landes,
das Heer, die Künste, die Religionen, selbst die jüdische
Religion (Luk. 3, 2.) waren in bemerkenswerter Weise
geordnet und eingerichtet. Wahrlich, alles das war der
Wüste so unähnlich wie möglich, und es ließ sich gut
leben unter einer solchen Regierung. Die Wahl zwischen
der Wüste und dem Lande Judäa unter Herodes würde
einem Lot nicht schwer gefallen sein. Johannes der Täufer aber fand nichts, was ihn anziehen konnte; er war
in den Wüsteneien, vollständig und fichtbarlich abgesondert
von der Welt. Auch wenn Gott ihn aussendet und er
die Grenze der Wüste überschreitet, um inmitten der
Welt und ihrer lärmenden Thätigkeit zu weissagen, findet
sein Herz dort nichts als öde Leere und tiefes Schweigen:
„Stimme eines Rufenden in der Wüste," sagt er;
denn die Welt ist für ihn eine Wüste. Er verlangt nichts
211
von ihr; er geht nicht hinaus, um „kostbare Kleider"
zu suchen, sondern bringt vielmehr die Gewohnheiten des
Landes seiner Wahl mit sich zu der Welt. Seine Kleidung besteht aus Kamelhaaren — das einzige grobe Gewand, welches die Wüste ihm bieten kann; um seine Lenden
trägt er einen ledernen Gürtel, wie in früheren Zeiten
der Prophet Elia, als er sich den Gesandten des Ahasja
zeigte; (2. Kön. 1, 8.) seine Nahrung besteht aus Heuschrecken und wildem Honig, den er an den wüsten Oertern
einsammelt. Wie Elia am Bache Krith, so ist auch er
betreffs seines Unterhaltes ganz von dem abhängig, was
Gott ihm in einem unfruchtbaren, dürren Lande bereitet
hat: eine Abhängigkeit, schmerzlich für das Fleisch, aber
tausendfach gesegnet, da sie die Kraft jedes wahren
Dienstes ausmacht. Gerade das Leben und die Erfahrungen der Wüste sind es, welche den Täufer in den
Stand setzen, die „Stimme" Dessen zu sein, der sich dort
hören läßt, und, wie Elia, furchtlos seinen gefahrvollen
Auftrag auszuführen.
Indes hat ein Anderer in dieser Erfahrung Johannes den Täufer noch weit überholt; es ist Der, von
welchem in Psalm 110, 7 gesagt wird: „Auf dem Wege
wird Er trinken aus dem Bache" — ein kurzer Ausspruch,
mein Leser, aber in ihm ist die ganze irdische Laufbahn
des Heilandes zusammengefaßt. David sieht Ihn in diesem
Psalm im voraus zur Rechten Gottes sitzen, aber er betrachtet auch im voraus den Weg, der Ihn dorthin führen
sollte. Was alles sagen uns diese wenigen Worte: „Auf
dem Wege wird Er trinken aus dem Bache!" Diese kurze
Schilderung vergegenwärtigt uns einen Menschen, der sich
auf dem Marsche befindet und Eile hat, seinen Auftrag
212
auszuführen. Unwillkürlich wenden sich dabei unsre Gedanken zu der Geschichte der Begleiter Gideons, die durch
Jehova zur Befreiung des Volkes berufen waren, und
welche auf dem Wege aus dem Bache tranken. (Vergl.
Richt. 7.) Ihrer waren dreihundert, und sie waren auserwählt für eine irdische Befreiung. Jesus war allein und
nahm die Verantwortlichkeit für ein ewiges Heil auf sich.
Nichts hielt Ihn auf, auch nicht für einen Augenblick.
Vorräte an Lebensmitteln hatte Er nicht, nur ein wenig
Wasser, um Seinen Durst zu stillen; und Er entfernte
sich nicht von dem Wege, um es zu suchen. Die Hülfsguellen, welche Gott Ihm auf dem Wege darbot, genügten
Ihm, denn Er verfolgte nur das eine Ziel: Seinen Auftrag auszuführen, darauf war Sein ganzes Herz gerichtet.
Er gehörte nicht zu denen, welche sich am Rande des
Baches auf ihre Kniee niederlassen, um bequem aus demselben trinken zu können.
Mein Leser! hast du jemals in den Evangelien darnach geforscht, wie oft unser anbetungswürdiger Heiland
auf dem Wege aus dem Bache getrunken hat? Sie sind
sehr schnell gezählt, diese Quellen der Erquickung, welchen
Er nach langen, in brennender Sonnenhitze zugebrachten
Zwischenräumen begegnete — Quellen, hervorgerufen durch
einen wohlthuenden Regen, den der Himmel für einen
Augenblick auf Seinen Weg herabströmen ließ, und aus welchen Er schöpfte, ohne Seinen Lauf zu unterbrechen. Wenn
an dem Brunnen von Sichar eine elende Samariterin ihr
Gewissen von Dem erreicht sah, welcher sie bat: „Gieb
mir zu trinken," ohne daß sie Ihm auch nur einen Tropfen
Wassers geben konnte, so floß der Bach auf dem Wege
des Heilandes. Mit welcher Freude löschte Er dort im
213
Vorbeigehen Seinen Durst! „Ich habe Speise zu essen,"
sagt Er zu Seinen Jüngern, „die ihr nicht kennet;" und
weiterhin: „Der da erntet, empfängt Lohn und sammelt
Frucht zum ewigen Leben, auf daß beide, der da
säet und der da erntet, sich freuen." (Joh. 4,
32. 36.) Wenn an dem Tische des Pharisäers eine arme,
von der Sünde überführte Sünderin zu den Füßen der
Gnade saß, die allein Vergebung schenken konnte, und ihre
Thränen, ihre Küsse und ihre wohlriechende Salbe dem
Heiland darbrachte, so war es nicht das Mahl des Simon,
an welchem Er teilnahm, sondern Er aß von dem Tische,
welchen Gott Ihm in dem Herzen dieses WeibeS aufrichtete.
Wenn Martha, besorgt und beunruhigt, mit vielem Dienen
beschäftigt war, um den geliebten Herrn in ihrem Hause
würdig zu empfangen, so trank Er auf dem Wege aus
dem Bache, indem Seine Augen auf Maria ruhten, die 
zu Seinen Füßen sitzend, stillschweigend Ihm zuhörte und
in Ihm das gute Teil fand. Und am Ende Seiner letzten
Reise, als der Augenblick herannahte, wo Er unter dem
verzehrenden Feuer des Gerichts ausrufen sollte: „Mich
dürstet!" fand Er zum zweiten Male, nicht an dem Tische
von Bethanien, sondern bei Maria den erquickenden Bach
bereitet, indem diese, dem Tage Seines Begräbnisses gleichsam zuvorkommend, ihre kostbare Salbe über die Füße
und das Haupt des dem Tode entgegengehenden Heilandes
ausgoß.
Ach! solche Gelegenheiten waren selten, aber sie genügten diesem vollkommenen Herzen, das dem Vater völlig
unterworfen und von Ihm abhängig war. Anbetungswürdiger Heiland! Du hast auf dem Wege aus dem
Bache getrunken, aber Du wirst Dein Haupt erheben!
214
Schon jetzt bist Du in der erhabensten Sellung, sitzend
auf dem Throne des Vaters, zu Seiner Rechten. Du hast
die Genugthuung, Dein Werk zur Verherrlichung Deines
Vaters erfüllt zu haben, und Dein Sitzen droben ist der
unwiderlegliche Beweis dafür. Kraft dieses Werkes bist
Du von Gott begrüßt worden als Hohepriester für uns
in Ewigkeit, nach der Ordnung Melchisedeks. Aber es
bleibt Dir noch übrig, Deinen Thron einzunehnien, ihn
zu besteigen, indem Du Deine Feinde zum Schemel Deiner
Füße machst. Dann wirst Du uns dort bei Dir haben.
Du wirst die Frucht der Mühsal Deiner Seele sehen und
gesättigt werden! (Jes. 53, 11.) (Fortsetzung folgt.)
Einige Gedanken über Hebräer 11, 1—7.
(Nach einem Vortrag.)
Im 10. Kapitel dieses Briefes lenkt der Apostel die
Blicke der Hebräer auf den neuen und lebendigen Weg
und auf das Heiligtum droben, zu welchem dieser Weg
führt, und sagt dann: „So lasset uns hinzutreten mit
wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens."
Die gläubigen Hebräer standen in Gefahr, zn dem irdischen
Heiligtum zurückzukehren, sich von dem Unsichtbaren zu dem
Sichtbaren zurückzuwenden, und es bedurfte der ganzen
Energie des Apostels, sie vor einem solch gefährlichen
Schritt zu warnen, sowie einer solchen Wolke von Zeugen,
um sie von der Eitelkeit alles Sichtbaren und von der
Wichtigkeit des Unsichtbaren zu überzeugen. Das 11. Kapitel hat den Glauben zum ausschließlichen Gegenstand,
und zwar benutzt der Apostel zu seinen Beweisführungen
Beispiele von Personen, welche den Hebräern aus den
Schriften wohlbekannt waren.
215
Der Glaube, diese wunderbare Sache, verbindet uns
mit den unsichtbaren Dingen, ja, mit Gott selbst. Gott
selbst, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, ist der
vornehmste Gegenstand des Glaubens. Er ist es auch, der
den Glauben in uns wirkt, in unsern armen, schwachen
Herzen, welche ohne die gnadenreiche Wirksamkeit Gottes
hin und her geworfen werden würden wie ein Rohr, das,
vom Winde bewegt, bald nach dieser, bald nach jener
Seite schwankt. Dieser Glaube entspricht unserm natürlichen Herzen durchaus nicht; er ist vielmehr allem, was
sich in uns regt, allen unsern Neigungen und Empfindungen schnurstracks entgegengesetzt. Wir sind so in das
Sichtbare hineingelebt, daß sich alle unsre Ansichten und
Urteile nach dem bilden, was unser natürliches Auge
sieht. Daher bedurfte es, wie gesagt, der göttlichen Wirksamkeit, um unsre Herzen in andere Bahnen zu lenken
und uns dahin zu bringen, daß wir über Tod und Grab
hinüberzuschauen vermögen, in jene Sphären, wo Christus,
„der Anfänger und Vollender des Glaubens", zur Rechten
Gottes sitzt.
Der Glaube nun, welchen Gott in der Seele wirkt,
ist keineswegs etwas Unsicheres, nein, er ist eine gewisse
Zuversicht. Wir sind von den Dingen, welche wir durch
diesen Glauben erfaßt haben, so völlig überzeugt, als wenn
wir sie sähen. Wir wissen, daß die Welten nicht aus dem
Erscheinenden geworden, sondern entstanden sind durch daS
Wort des allmächtigen Gottes. Und indem wir diesen
Gott durch den Glauben kennen, verstehen wir sehr wohl,
was der gelehrteste Naturforscher trotz alles Grübelns
nicht ergründen kann.
Schon für Adam war die Erschaffung des Himmels
216
und der Erde ein Gegenstand des Glaubens; denn er hatte
es ebensowenig gesehen wie wir und alle Menschen. Alles
war fertig, ehe Gott den Menschen schuf: die Himmelskörper, Sonne, Mond und Sterne, das Meer und das
Trockene, Bäume, Sträucher und die Blumen des Feldes,
kriechende und vierfüßige Tiere, die Fische und die Vögel
des Himmels. Adam wurde in die vollendete Schöpfung
hineingesetzt; folglich mußte er glauben, daß alles,
was er sah, von Gott bereitet war. Doch nicht allein
das; auch das, was damals noch zukünftig war, der
Same des Weibes, welcher der Schlange den Kopf zertreten sollte, war für ihn ein Gegenstand des Glaubens.
Und von Adam an bis auf Mose sind die Menschen mit
den göttlichen Aussprüchen bekannt geworden, indem dieselben von Mund zu Mund gingen, bis sie durch Mose
eine schriftliche Form bekamen. Alle vor Mose Lebenden
wurden mit den Aussprüchen Gottes durch mündliche Mitteilung bekannt gemacht.
So sehen wir auch hier in dem zweiten Beispiel,
wie Abel, durch die Gnade mittelst der mündlichen Ueberlieferung seines Vaters, welcher er Glauben schenkte, fähig
gemacht wurde, Gott ein wohlgefälliges Opfer darzubringen.
Abel unterschied sich, was seinen natürlichen Zustand betraf, in keiner Weise von seinem Bruder Kain. Beide
waren Sünder, beide standen unter dem Fluche. Der große
Unterschied zwischen den Brüdern lag nicht in ihrem natürlichen Wesen, sondern in ihrem Opfer. Abels Opfer
war mit Glauben vermischt und daher angenehm vor Gott.
Der Glaube machte Abel fähig, auf die Gedanken Gottes
einzugehen; sein Gewissen war von Gott unterrichtet, und
deshalb brachte er ein Opfer, welches mit diesen Gedanken
217
in Uebereinstimmung stand. Durch Glauben wußte Abel,
daß ohne Blutvergießen keine Vergebung ist, und brachte
deshalb ein Lamm, ein Vorbild deS fleckenlosen Lammes
Gottes, dessen Blut auf Golgatha geflossen ist. Kain
hingegen brachte die Früchte einer verfluchten Erde als
Opfer dar. Im Schweiße seines Angesichts hatte er dieselben gewonnen; denn nur mit Mühe sind der Erde,
welche, infolge der Sünde, unbearbeitet nur Dornen und
Disteln trägt, diese Früchte abzugewinnen. Wie hätte ein 
solches Opfer Gott angenehm sein können?
Die Grundsätze Gottes sind zu allen Zeiten dieselben.
So lesen wir im Neuen Testament: „Dem aber, der
nicht wirkt, sondern an Den glaubt, welcher Gottlose rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet."
Abel, wußte durch den Glauben, daß er ein Sünder
war, welcher der Vergebung bedurfte. Kain dagegen beugte
sich nicht unter das Urteil Gottes, sondern glaubte mit
den Ergebnissen seiner Mühe, den Früchten eines verfluchten Erdbodens, Gott Wohlgefallen zu können.
Die Worte: „und durch diesen, obgleich er gestorben
ist, redet er noch," welche der Heilige Geist hier hinzufügt, zeigen uns, daß Gott selbst die vorbildliche Bedeutung dieses Opfers auf das Erlösungswerk bestätigt. Wenn
dies aber der Fall ist, so haben wir in den ersten vier
Beispielen, welche uns hier vorgeführt werden, in großen
Grundzügen die Reihenfolge der Handlungen und Wege
Gottes von Anbeginn der Welt bis zum tausendjährigen
Reiche, oder mit andern Worten: die großen Fundamental-Grundsätze des Glaubens. In dem ersten Beispiel wird
uns, wie wir gesehen haben, die Schöpfung gezeigt; im
zweiten die Erlösung, Md in diesem zugleich dix neue
218
Schöpfung, welche ihren Anfang nimmt durch das von
dem Sohne Gottes, als dem letzten Adam, dem Herrn
vom Himmel, vollbrachte Erlösungswerk.
Als drittes Beispiel finden wir die Entrückung Heuochs, welcher vor derselben das Zeugnis gehabt, daß er
Gott gefallen habe. Henoch ging nicht durch den Tod,
sondern wurde entrückt und ward nicht mehr gefunden.
Hier sehen wir vorbildlich das Los der Kirche als unmittelbare Folge des Erlösungswerkes. Im ersten Briefe
an die Thessalonicher giebt uns der Heilige Geist die
hierauf bezüglichen näheren Mitteilungen. Wir, die wir
leben und übrigbleiben bis zur Ankunft. des Herrn, werden, wie Henoch, entrückt und nicht mehr gefunden werden.
Wenn unser Herr heute oder morgen kommt, um uns
heimzuholen in die Wohnungen des Vaterhauses, werden
wir Ihm entgegengerückt werden in Wolken in die Luft.
Hier wird ein Einzelner weggenommen werden, dort eine
ganze Familie, deren Glieder alle den Herrn kennen; sie
werden, wie Henoch, von diesem Schauplatz verschwinden.
Man wird sie suchen, aber nicht finden; sie sind fort,
beim Herrn!
Dies ist selbstverständlich nicht die Ankunft des
Herrn zum Gericht; denn dann werden wir mit Ihm
kommen, mit Ihm gesehen und mit Ihm geoffenbart
werden in Herrlichkeit. Dann wird Er kommen gleich
dem Blitze, der in einem Nu von einem Ende des Himmels bis zum andern leuchtet; wie ein Adler, der sich
auf seine Beute herabstürzt, wird Er die Gottlosen verzehren mit dem Hauche Seines Mundes. Das ist eine
ganz andere Art Seines Kommens, als diejenige, von
welcher Er in Joh. 14 spricht, wenn Er sagt: „Ich gehe
219
hin, euch eine Stätte zu bereiten; und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, so komme
ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf daß, wo
ich bin, auch ihr seid."
Auch wurde Henoch nicht, wie Elias, mit augenscheinlicher göttlicher Machtentfaltung, in einem feurigen Wagen
zum Himmel emporgehoben; nein, niemand Hal es gesehen ; der Heilige Geist teilt uns die einfache Thatsache
ohne alle Nebenumstände mit. Aber wie köstlich ist diese
Thatsache für uns, die wir glauben, für uns, die wir
das gleiche Los erwarten! Allerdings ist das nichts für
die menschliche Vernunft; diese wird sich nie mit einer
solch einfachen Thatsache begnügen, sondern wird eine
Erklärung fordern und Beweise verlangen für die Vereinbarung einer solchen Thatsache mit den bestehenden
Naturgesetzen w. Nur der Glaube versteht diese Sache,
nur der Glaube ergreift sie, und nur für den Glauben
ist sie köstlich.
Nach der Entrückung des Henoch richtet der Heilige
Geist unsre Aufmerksamkeit auf Noah, welcher, von Furcht
bewegt, eine Arche baute. Wir wissen, daß diese Arche,
als die Gnadenzeit abgelaufen war, von Gott selbst zugeschlossen wurde; und sobald dieses geschehen war, brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf, und die Flut
kam. Dieselben Wasser aber, welche dazu dienten, sämtliche lebenden Wesen von der Erde zu vertilgen, hoben
die Arche empor; sie schwamm auf dem Gewässer, über
dem Schauplatz des schrecklichsten Gerichts. Noah war
mit seiner Familie geborgen in der Arche, welche er auf
göttlichen Befehl gebaut hatte. Hier haben wir ein Bild
von den Gerichten, welche über diese Welt hereinbrechen
220
werden, wenn die Entrückung der Kirche stattgefunden hat.
Henoch wurde entrückt, ehe die Fluten des göttlichen Zornes
über diese Erde kamen. So wird die Kirche entrückt
werden, ehe die göttlichen Gerichte zum zweitenmal über
diese Welt kommen werden, um alle diejenigen zu versuchen, welche auf der Erde wohnen. Dann aber wird
es keine plötzliche und gänzliche Vertilgung des Menschengeschlechtes sein, wie zur Zeit Noahs, sondern eine Kette
von stufenweise fortschreitenden Gerichtsperioden, während
welcher Gott dem Teufel erlauben wird, die Menschen zu
quälen. Da diese die Gnade verschmäht haben, welche
Gott ihnen Jahrtausende hindurch in Christo Jesu angeboten hat, und es vorgezogen haben, dem Fürsten der
Finsternis zu dienen, so wird Gott ihnen zeigen, nnter
wessen Herrschaft sie stehen.
Der Ueberrest cheL^M>ischev.SoMs hingegen wird in
diesen Gerichten bewahrt werden. So wie dem Noah
eine Zufluchtsstätte bereitet wurde, so wird auch Gott in
den letzten Tagen für eine solche Sorge tragen. Wir
lesen in der Offenbarung von 144 000 Juden, welche
versiegelt werden, ehe die Gerichte hereinbrechen. (Kap. 7.)
Ferner hören wir, daß dem Sonnenweibe (Kap. 12.) in
der Wüste eine Zufluchtsstätte von Gott bereitet wird für
die Dauer von 3^ Jahren. Dieses Weib stellt Israel
vor, welches am Ende der Tage allerdings nur aus jenem
Ueberrest bestehen wird, von welchem der Prophet sagt,
daß er geläutert werden wird, wie man Gold läutert,
d. h. durch Feuer der Trübsal. Henoch war entrückt, ehe
Noah durch die Gerichte ging; so wird auch, bevor Israel
diese Zufluchts- und Bewahrungsstätte gefunden hat, der
Lobgesang der Kirche, der Braut, vor dem Throne Gottes
221
und des Lammes erschallen, in Gemeinschaft mit den
Hallelujas der himmlischen Heerscharen.
In dem jetzt folgenden Beispiel begegnen wir Abraham, dem Vater der Gläubigen.
So sind also in den vier ersten Beispielen dieses
Kapitels die Hauptabschnitte der Wege Gottes an unsern
Blicken vorübergezogen. Wir sehen zuerst die Schöpfung,
dann die Erlösung, drittenL- die Entrückung und
viertens die Gerichte mit der Bewahrung eines Ueberrestes in denselben. Mit Abraham wird das Erbteil erwähnt, welches Gott ihm verheißen hatte, und damit ist 
wohl der letzte entscheidende Moment angedeutet, welcher
die Thätigkeit Gottes auf dieser Erde zu Ende führt.
Alle Verheißungen, welche in Verbindung mit der Erde
stehen und dem irdischen Volke Gottes gegeben sind, werden nach Vollendung der Gerichte ihre Erfüllung finden.
Von Palästina aus, jenem Lande, welches Gott dem
Abraham gegeben hat und seinem Samen ewiglich, werden
sich die Ströme der Segnungen über die übrigen Teile
der Erde ergießen und verbreiten.
Unsre Geschichte auf dieser Erde aber schließt mit
der Entrückung des Henoch ab. Er wurde entrückt, ich
wiederhole eS noch einmal, ehe das Gericht stattfand und
ehe Noah Besitz nahm von einer Erde, die durch das
Gericht von aller Gottlosigkeit gereinigt war. Ebenso
werden wir, ehe die Donner der Gerichte zu rollen beginnen, und ehe die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches
auf der durch diese Gerichte gereinigten Erde erscheint, bei
dem Herrn sein. Also ist weder das Gericht mit seinen
Schrecken, noch das Reich mit seiner Herrlichkeit der
Gegenstand unsrer Erwartung, obwohl diese Dinge, Dank
222
der Gnade, welche uns jetzt schon damit bekannt gemacht
hat, für uns von Wichtigkeit sind. Aber das Wichtigste für
uns ist, daß wir den Herrn schauen werden. Den, der
uns liebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in
Seinem Blut, Ihn, der uns auf unserm mühe- und gefahrvollen Wege durch diese Wüste geleitet und uns in
allen Schwierigkeiten und Schwachheiten zur Seite gestanden hat als unser mitleidiger Hoherpriester, der uns, so
lange wir hienieden pilgerten, vertreten hat als Fürsprecher
bei dem Vater, Ihn werden wir schauen; und keine Macht
wird imstande sein, uns je von Ihm zu trennen. Wir
werden mit Ihm verbunden sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.
„Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist."
(1. J°h. 3. 8.)
„Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat." Welche
Hoffnung? Einmal der Erde entrückt zu sein und die
Herrlichkeit des Himmels zu genießen? Nein, sondern Ihm
gleich zu sein und Ihn zu sehen, wie Er ist. Wunderbare Hoffnung! Meine Augen sollen Ihn sehen in all
Seiner Schönheit, Ihn, den verherrlichten Menschen Christus
Jesus, Ihn, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat, Ihn, die Wonne des Herzens Gottes und
den Gegenstand der anbetenden Bewunderung aller himmlischen Heerscharen. Und — ich soll Ihm gleich sein!
Anbetungswürdige Gnade! Wahrlich, das ist zu viel für
das schwache, kleine Herz des Menschen; aber nicht zu
viel für das Herz Gottes; nicht zu hoch und zu wunderbar für die Ratschlüsse der ewigen Liebe.
223
„Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat" — nicht
wer davon gehört hat; nein, wer sie hat, wer sie besitzt als eine lebendige Wahrheit in seinem Innern. Was
thut ein solcher? „Er reinigt sich selbst, gleichwie Er
rein ist." Was thut ein Bettler, dem die Botschaft gebracht wird, der König habe ihn erkoren, neben ihm aus
seinem Throne zu sitzen, bekleidet mit königlichen Kleidern
und ausgestattet mit der ganzen Würde und Herrlichkeit
des Königs; und der König selbst werde in einigen Tagen
kommen, um ihn in sein Haus zu holen und ihm diesen
Platz zu geben? Wahrlich, wenn er der Botschaft glaubt,
so wird er sich waschen und reinigen und alles Anstößige
von sich thun, damit der König sehe, wie hoch er diese
Ehre zu schätzen weiß, und welch einen Wert das Wohlgefallen des Königs für ihn hat.
So ist es mit dem Gläubigen, der diese Hoffnung
zu Ihm hat. Er thut alles Anstößige aus seinem Wandel und Verhalten weg, er reinigt sich; und sein Muster
dabei ist Christus selbst, wie Er rein ist. Kein geringeres Muster kann seinem liebenden und dankbaren
Herzen genügen. Er weiß, daß er Ihm dereinst gleich
sein wird, und so wünscht er in seinem geringen Maße
es jetzt schon zu sein. Möchte es so sein mit dem Schreiber und Leser dieser Zeilen!
Ich warte Dem!
Ich warte Dein!
Bald wirst Du wiederkommen;
Bald werd' ich allem Erdenleid entnommen,
Bald führst Du mich zur ew'gen Ruhe ein.
Ich warte Dein!
224
Du gingst voran
Durch Kampf, durch Schmerz, durch Leiden;
Am Kreuze sah ich blutend Dich verscheiden;
Durch Tod und Grab brachst siegreich Du die Bahn,
Du gingst voran.
Im Heiligtum
Seh' ich Dich herrlich prangen;
Mit eignem Blut bist Du hincingegangen,
Und sitzest nun, gekrönt mit Macht und Ruhm,
Im Heiligtum.
Dort ist mein Platz,
Von aller Sünd' gereinigt,
Aus immerdar mit Dir, dem Haupt, vereinigt;
Wo ich Dich sehe, meines Herzens Schatz,
Dort ist mein Platz.
Noch wall' ich hier
In diesem Wüstenstaube,
An die Verheißung hält sich fest der Glaube;
Die Hoffnung eilt, o Jesu, hin zu Dir.
Noch wall' ich hier.
Bald wirds gescheh'n!
Bald wirst Du Dich erheben,
Bald werden offenbar, die in Dir leben;
Bald werden wir Dich herrlich sichtbar seh'n.
Bald wird's gescheh'n!
Wir harren Dein!
Du harrest selbst entgegen
Dem Augenblick voll Glück, voll Heil und Segen,
Da Deiner Glieder Zahl wird völlig sein.
Wir harren Dein!

Ruth.
(Fortsetzung.)
Ich möchte hier einen Augenblick bei der treffenden
Darstellung der Wege Gottes mit Israel verweilen, welcher
wir in dem Propheten Hosea begegnen und die wir in ähnlicher Weise auch in der Geschichte Ruths, der Moabitin, dargestellt finden. Hosea empfängt von dem Herrn den Befehl,
sich ein Hurenweib und Hurenkinder zu nehmen, und er thut
dies. Er geht hin und nimmt Gomer, eine Tochter Diblaims, und erhält von ihr einen Sohn, den er nach dem
Befehle Jehovas „Jisreel" nennt; dann eine Tochter,
welcher er den Namen „Lo-Ruhama" geben muß, und
endlich nochmals einen Sohn, den er, wiederum auf göttlichen Befehl, „Lo-Ammi" nennt. Der erste dieser Namen
bezeichnet die Zerstreuung Israels, der zweite die 
Entziehung der Gnade, und der dritte die Verwerfung Israels als des Volkes Gottes.
Hosea hätte bei dieser Gelegenheit wohl Ursache gehabt, mit den Worten eines andern Propheten auszurufen:
„Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat,
find zu Zeichen und zu Wundern in Israel;" (Jes. 8,18.)
denn in allen jenen Dingen werden der Abfall und das
Gericht Israels in klaren Bildern vor unsre Augen gestellt. Die Ehe des Propheten mit dem Hurenweibe ist
der Bund Jehovas mit dem treulosen Israel, welcher des­
226
halb, als seine Frucht, Gericht über Gericht hervorbrachte,
bis die Kinder Israel als das erfunden wurden, was sie
jetzt sind, als verwerfliches Silber, ein „Lo-Ammi", ein
Volk, das von seinem Gott nicht mehr anerkannt wird.
Indes ist diese Ehe des Propheten auf eine ernste
Thatsache in der Geschichte Israels gegründet. Hosea
weissagte in den Tagen Jerobeams, des Sohnes Joas',
aus dem Hause Jehus; und gerade die Sünde, welche
dieses Haus zu der Ehre des Königtums brachte, „das
Blut Jisreels", rief die vorbildliche Heirat des Propheten hervor, und wird von ihm gleichsam als das Muster
der Uebertretung Israels hingestellt.
Die Regierung Ahabs, des Königs von Israel, war
eine Zeit des tiefsten, schrecklichsten Verderbens. „ES ist
gar keiner gewesen wie Ahab, der sich verkauft hat, zu 
thun, was böse ist in den Augen Jehovas, welchen Jsebel,
sein Weib, anreizte. Und er that sehr viele Greuel, indem
er den Götzen nachwandelte, nach allem, was die Amoriter
gethan hatten." (1. Könige 21, 25. 26.) In jenen Tagen
stand Naboth, der Jisreeliter, da als der Gerechte inmitten
des Landes. Obgleich es dem König Wohlgefallen hätte,
wollte er doch nicht von dem Gesetz Jehovas abweichen und
sein Erbteil verkaufen. Er kannte das Gebot des Herrn,
daß nicht ein Erbteil von einem Stamme zum andern übergehen, sondern daß in Israel ein jeder dem Erbteil seiner
Väter anhangen sollte. (4. Mose 36, 9.) Aber er mußte
um seiner Gerechtigkeit willen leiden. Durch die Verschlagenheit Jsebels und die Bosheit zweier Söhne Belials,
die sich als willige Werkzeuge der götzendienerischen Königin
gebrauchen ließen, wurde sein Blut zu Jisreel vergossen,
(1. Könige 21, 13.) und das Erbteil seiner Väter von
— 227 —
Ahab gewaltsam in Besitz genommen. Um dieser That
willen kündigte der Herr durch Seinen Propheten das Gericht über Ahab und sein Haus an, und Schlag auf Schlag
kam über das schuldige Geschlecht, bis es völlig ausgerottet war. Das Blut Ahabs, das Blut Jorams, seines
Sohnes, und das Blut Jsebels tränkte den Boden des
Ackerstückes von Jisreel. Jehu, der Sohn Josaphats, des
Sohnes Nimsis, wurde berufen, dieses Gericht zu Ende zu
führen und als Bluträcher das Land von dem Blute zu
reinigen, durch welches es entweiht worden war; (4. Mose
35, 33.) und als Lohn wurde seiner Familie der Thron
Israels für vier Geschlechter zugesichert. (2. Kön. 10, 30.)
Aber Jehu hatte bei diesem allem sich selbst im Auge;
und während er vorgab, für den Herrn zu eifern, befriedigte er thatsächlich seine eignen Begierden. Wie es
Ahab nach dem Weinberge Naboths, der neben seinem
Palaste lag, gelüstet und er deshalb das Blut des Gerechten vergossen hatte, so begehrte Jehu nach der Herrschaft; und um diese zu erlangen, nicht aber in dem Geiste
eines ergebenen Dieners Jehovas, führte er das göttliche
Gericht über das Haus AhabS aus. Und deshalb wird
auch er seinerseits für das Blut Jisreels verantwortlich
gemacht. Nicht nur wollte Jehova dieses Blut an dem
Hause Ahabs rächen, sondern wir lesen in dem Propheten:
„Noch um ein Kleines, so werde ich das Blut Jisreels
heimsuchen an dem Hause Jehus, und werde dem
Königreiche des Hauses Israel ein Ende machen. Und es
wird geschehen an selbigem Tage, daß ich den Bogen
Israels zerbrechen werde im Thale Jisreel." (Kap. 1,
4. 5.) So leitet also der Prophet das endliche Gericht
und die Austreibung Israels von dieser Sünde, dem Blut­
228
vergießen zu Jisreel, her; und zwar mit allem Recht, denn
die Sünde Israels war, wie wir sogleich sehen werden,
gleich der Sünde Ahabs oder der Sünde Jehus.
Unser gepriesener Herr war in Seinen Tagen der
Gerechte in Israel, wie Naboth es zu den Zeiten AhabS
gewesen war. Er war der eigentliche Erbe aller Größe
und Herrlichkeit des Volkes. Er war der Sohn Davids,
und machte Anspruch darauf, als solcher ausgenommen zu
werden. (Matth. 21.) Der Weinberg, das Erbe, war Sein;
aber die bösen Knechte, obgleich sie Sein Recht anerkannten,
verweigerten Ihm den Besitz desselben, indem sie sagten:
„Dieser ist der Erbe; kommet, lasset uns ihn töten und
sein Erbe in Besitz nehmen!" Und ihren Worten ließen
sie die That folgen; sie begehrten den Weinberg selbst zu
besitzen; sie liebten „ihren Ort und ihre Nation" unter
der Herrschaft der Römer, und in dem Geiste Ahabs und
Jehus warfen sie den Erben aus dem Weinberg hinaus
und erschlugen ihn. Sein Blut ist jetzt auf ihnen und
ihren Kindern, wie einst das Blut Jisreels, das Blut
Naboths, des Jisreeliters, auf dem Hause Ahabs war;
und deshalb tragen sie den Charakter der Kinder des
Propheten: sie sind zerstreut als „Jisreel", nicht begnadigt
als „Lo-Ruhama", und von dem Herrn dahingegeben als
„Lo-Ammi". Und wie Jehova einst von dem Weinberge
Naboths sagte: „Wenn ich nicht das Blut Naboths und
das Blut seiner Söhne gestern gesehen habe! spricht Jehova; und ich werde es dir (Ahab) vergelten auf diesem
Ackerstück," so werden auch die bösen Knechte einmal
Rechenschaft zu geben haben für das von ihnen vergossene
unschuldige Blut, auf daß das Land gereinigt, und das,
was jetzt den Namen Akeldama trägt, das Teil des Ge­
229
rechten, der Weinberg des Herrn der Heerscharen werde.
(Vergl. Dan. 12, 1; Sach. 13, 8.)
Zehn handelte als der Bluträcher, der Verwandte
Israels, und wurde, wie wir gesehen haben, mit dem
Königtum für vier Geschlechter belohnt. So wird einmal
der wahre Verwandte und Rächer Israels, der gesegnete
und verherrlichte Sohn des Menschen, auf alle fallen, die
sich wider Ihn auflehnen, und sie zu Staub zermalmen;
und Er wird vor den Alten der Tage gebracht werden,
um Herrschaft und Herrlichkeit zu empfangen, und ein 
Königtum, das nie vergehen wird. (Vergl. Dan.
7, 13. 14.)
Doch wie sollten wir uns durch diese Dinge warnen
lassen und uns oft an Naboths Weinberg erinnern, so
wie der Herr uns lehrt, an Lots Weib zu gedenken! Es
waren die nichtigen Dinge dieser Welt, nach welchen beide
gelüstete, und die aus beiden gleichsam Salzsäulen machten,
immerwährende Zeugen für uns, daß die, „welche 
reich werden wollen, in Versuchung und Fallstrick fallen
und in viele unvernünftige und schädliche Lüste, welche
die Menschen versenken in Verderben und Untergang."
(1. Tim. 6, 9.) Zehn wollte auch religiös sein und Eifer
für den Herrn zeigen, wenn das seinen Zwecken dienen
konnte. Die Interessen des Baal und seiner Anbeter
waren nicht die seinigen; vielmehr geschah ihm ein Dienst
durch das Gericht des Herrn über sie, und deshalb konnte
er die Bildsäule des Baal niederreißen und sein Haus
zu Kotstätten machen bis auf diesen Tag. (2. Kön.
10, 27.) Aber er diente sich selbst in all der Zeit; er
bemühte sich nicht, in den Geboten und Satzungen des
Her.n zu wandeln. — Geliebte Brüder! die Freundschaft
230
der Welt ist Feindschaft gegen Gott, auch dann wenn sie
sich anscheinend mit Eifer für den Herrn bekleidet.
Doch in dem Propheten Hosea, wie auch in dem
Vorbilde von Ruth (wie wir am Ende sehen werden) läßt
Gott schließlich die Barmherzigkeit sich rühmen wider daS
Gericht. Das „Weib, das von ihrem Freunde geliebt wird,
aber Ehebruch treibt", wird wieder ausgenommen werden
nach vielen Tagen. (Hos. 3.) Jisreel, die Zerstreute, wird
gesammelt werden; Lo-Ruhama, die Nichtbegnadigte, wird
Gnade und Barmherzigkeit erlangen, und Lo-Ammi, Nicht
mein Volk, wird wiederum das Volk Gottes werden. Denn
so spricht der Herr durch den Mund Seines Propheten:
„Die Zahl der Kinder Israel wird sein wie der Sand
des Meeres, der nicht zu zählen und nicht zu messen ist;
und es wird geschehen, an dem Orte, wo zu ihnen gesagt ward: „Nicht mein Volk seid ihr", wird zu ihnen gesagt werden: „Kinder des lebendigen Gottes". Und die
Kinder Juda und die Kinder Israel werden mit einander
versammelt werden und sich ein Haupt setzen und aus
dem Lande Heraufziehen; denn groß ist der Tag Jisreels."
(Hos. 1, 10. 11.) Dann wird Jisreel, das ganze Land
und Volk, Zeuge der Gnade sein, wie es jetzt Zeuge
des Gerichts ist; wie der Herr sagt: „Ich werde sie
von dem Blute reinigen, von dem ich. sie nicht gereinigt
hatte; und Jehova wird in Zion wohnen." (Joel 3, 21.)
Der Weinberg und das Erbteil des Herrn wird in den
letzten Tagen einer Nation gegeben werden, welche die 
Früchte desselben bringen wird.
Gerade so ist es mit den verwandten Vorbildern,
welche wir in Ruth finden. Ruth, eine Sünderin aus
den Nationen, und kommend aus der Mitte derer, welche
231
Lo-Ammi, d. h. nicht mein Volk, waren, wird, wie wir
sehen werden, das Weib „eines vermögenden Mannes"
und die Mutter eines neuen und geehrten Geschlechts in
Israel: ein schönes und vollkommenes Pfand der ewigen
Liebe Jehovas. Dieser vorbildliche Charakter Ruths wird
nachher bestimmt anerkannt, denn es wird zu Boas gesagt: „Jehova mache das Weib, das in dein HauS kommt,
wie Rahel und wie Lea, die beide das Haus Israel
erbaut haben." (Kap. 4, 11.) Dies zeigt uns ganz deutlich, daß wir in ihrer Geschichte ein Gleichnis lesen, und
daß Israel in Ruth dargestellt wird.
Noomi und Ruth kommen also in dem Lande der
Verheißung, dem Orte der ersehnten Segnung und dem
Schauplatze der dereinstigen Herrlichkeit, au; aber sie sind
arm und betrübt, obgleich das Land wieder fruchtbar ist
und die Ernte gerade eingesammelt wird. Aber gerade
so wird dereinst der Ueberrest des Herrn gefunden werden,
wenn das Volk ins Land zurückgekehrt ist; wie der Herr
durch den Propheten Zephanja sagt: „Und ich werde in
deiner Mitte übriglassen ein elendes und armes Volk,
und sie werden auf den Namen Jehovas vertrauen."
(Kap. 3, 12.) Aber Ruth und Noomi sind nicht völlig
ungesegnet; sie sind wenigstens daheim. Und es wird
ihnen, wenn auch in geringem Maße, indem sie von der
Nachlese auf dem Felde eines Andern leben und auf die
Brosamen warten, die von dem Tische eines Andern fallen, doch Güte von Jemandem erwiesen, der „ein vermögender Mann" war. (Kap. 2, 8 — 13.) Und ebenso
wird dereinst die Güte eines Mächtigeren und Freigebigeren, als Boas war, ans Licht treten, wenn „die Armen
der Herde, die Herde des Würgens," wiederum geweidet,
232
und wenn ihnen Brot gegeben werden, und ihr Wasser
gewiß sein wird. (Jes. 33, 16.) Die Armen der Herde
werden dann Ihm vertrauen und auf Seine Hand warten, als ihrem Hirten an dem trüben und finstern Tage;
sie werden in das Zelt Seiner Gegenwart eintreten und
sich darin verbergen, bis jener Tag vorüber ist, und indem sie sich der Tage ihrer Väter erinnern, werden sie
sich demütigen, wie Ruth es that, noch unter die Mägde
des Herrn.
Sehr bald wurde Ruth veranlaßt, auf jenen „vermögenden Mann" zu blicken, als ans ihren Verwandten
und Gatten, der die Schätze jener Felder, auf welchen sie
jetzt zu ihrem dürftigen Unterhalt die Aehren auflas, mit
ihr teilen, ja freudig mit ihr teilen würde. So wird der
arme, tiefgebeugte Ueberrest, *) der betreffs seines Brotes
*) Wir reden hier von dem auserwählten Volke in den letzten
Tagen als „dem Ueberrest," denn so nennt ihn die Schrift; das
wahre Israel, oder das Israel Gottes, befand sich zu allen Zeiten
nur als ein Ueberrest inmitten der verworfenen Nation, sowie jetzt,
und auch in früheren Zeiten, im Blick auf die Kirche, nur die
wahren Heiligen die Auserwählten inmitten der verderbten Christenheit bildern Ebenso wird am Ende, wenn Israel wieder zn einer
Nation geworden und in dem Lande seiner Väter wiederhergcstelll
ist, das wahre Israel nur aus einem Ueberrest bestehen. (S. Jes.
6, 12. 13; 65, 8—10; Rom. 9, 27—29; 11, 26.) Und dieser
letzte Ueberrest wird der Same der künftigen Nation werden, „des
ganzen Israel," das errettet werden soll, (Röm. 11, 20.) wie geschrieben steht: „Der Kleinste wird zu Tausenden werden, und der
Geringste zur mächtigen Nation." (Jes. 60, 22.) Doch bis dahin,
so lange die Stunde der Drangsal dauert, werden sie als solche,
die inmitten des Bösen allein treu und gerecht sind, zu leiden haben.
Sie werden in der Drangsal zu Jehova schreien, wie uns dies in
den Psalmen so wiederholt dargestellt wird, und Er wird zur be­
233
And Wassers auf Ihn vertraut, bald seinen Verwandten
schauen, „den König in Seiner Schönheit," und Zion
wird „eine ruhige Wohnstätte sein, ein Zelt, das nicht
tvandern wird." (Jes. 33, 20.)
Israel war vor alters belehrt worden, den Fremdling zu lieben wie denjenigen, der in ihrer Mitte geboren
war; denn sie selbst hatten das Herz eines Fremdlings
kennen gelernt. Und Jehova, der reich an Gnade und
Güte ist, und dem sie angehörten — Er, der die jungen
Raben speist, die Zu Ihm schreien, und der Seine Hand
aufthut und alles, was da lebt, mit Wohlgefallen sättigt,
hatte zu ihnen gesagt: „Wenn ihr die Ernte euers Landes
erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht gänzlich
abernten und keine Nachlese deiner Ernte halten. Und in
deinem Weinberge sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinberges sollst du nicht auflesen; für den Armen und für den Fremdling sollst du
sie lassen." (3. Mose 19, 9. 10.)
Als ein wahrer Sohn Israels erinnert sich Boas,
der Bethlehemit, dieses Gebotes des Gottes Israels und
thut noch mehr, als ihm befohlen war. Nachdem er von
seinen Schnittern einen guten Bericht über die arme Fremde
aus Moab erhalten hat, begrüßt er sie freundlich und
gewährt ihr Vergünstigungen; und Ruth nimmt seine Güte
mit Dankbarkeit an, und ist zufrieden mit dem, was ihre
Mühe zusammenbringt. Dann aber übertrifft er alle ihre
Wünsche, indem er ihr mit seinen eigenen Händen dient
stimmten Zeit ihretwegen erscheinen; und wenn Sein Zorn sich über
die Feinde ergießt, wird Sein Ueberrest erhalten bleiben, (Jes. 26,
20. 21.) zum Preise des Namens Dessen, der immer auf das Geschrei der Elenden hört!
234
und ihr einen Platz unter seinen Schnittern giebt. Welch
eine liebliche Darstellung der Wege unsers Herrn mit den
Armen, die jetzt auf Ihn warten, und von der Versorgung
Seines Ueberrestes im Lande in späteren Tagen! Auch sehen
wir hier, wie die Güte dieses „vermögenden Mannes" den
Glauben jener betrübten Töchter Israels ermutigt. Ruth
erzählt ihrer Schwiegermutter, wie gütig Boas gegen sie
gewesen sei; und diese Mitteilung ruft in Noomi die Erinnerung an ihre Verwandtschaft mit Boas wach, die bis
dahin geschlummert zu haben scheint, und sie wird angeregt, sich seine Macht zu Nutzen zu machen und eine noch
größere Segnung von seiner Hand zu erwarten. „Es ist
gut, meine Tochter," sagt sie, „daß du mit seinen Dirnen
ausgehst, daß man dich nicht auf einem andern Felde
anfalle." (Kap. 2, 22.)
Wir dürfen voraussetzen, daß bis zur Beendigung
der Ernte noch weitere Ermutigungen und noch andere
Beweise der Güte von feiten des Boas gegeben wurden,
so daß endlich der Glaube Noomis auf das höchste Maß
seiner Gunst rechnete. Gerade seine Gaben scheinen in
ihr die Hoffnung auf weitere und größere Gunstbezeugungen erweckt zu haben, bis sie endlich in vollem Vertrauen darauf zu ihrer Tochter sagen konnte: „Meine
Tochter, sollte ich dir nicht Ruhe suchen, daß es dir wohlgehe? Und nun, ist nicht Boas, bei dessen Dirnen du gewesen bist, unser Verwandter? Siehe, er worfelt diese
Nacht in der Gerstentenne. So bade dich und salbe dich
und lege deine Kleider an, und gehe hinab zur Tenne;
laß dich nicht bemerken von dem Manne, bis er fertig
ist mit Essen und Trinken. Und es geschehe, wenn er
sich hinlegt, so merke den Ort, wo er sich hinlegt, und
235
gehe und decke auf zu seinen Füßen und lege dich hin;
er aber wird dir kundthun, was du thun sollst." (Kap. 3,
1 — 4.) Noomi will nichts weniger haben, als ihn selbst
und seinen ganzen Reichtum. Ihre Lippen vermögen
kaum den großen Wunsch ihres Glaubens auszusprechen;
aber sie rechnet auf die Erfüllung desselben und richtet ihre
Pläne darnach ein. Der Name „Baal" (Herr) genügt ihr
nicht länger; sie will ihn „Mann" nennen. (Vergl. Hos.
2, 15.) Ebenso werden in den letzten bösen Tagen die Ausd
erwählten ermutigt und durch ihren Verwandten angezogen
und getröstet werden. Sie mögen für eine Zeitlang keine
Anerkennung finden; aber der Augenblick wird kommen,
wo sie sagen werden: „Gewiß, Du bist unser Vater, wenn
auch Abraham nichts von uns weiß und Israel uns nicht
kennt. Du, Jehova, bist unser Vater; unser Erlöser von
alters her ist Dein Name." (Jes. 63, 16.) Die Erinnerung
an ihren Erlöser, ihren Verwandten, wird ihnen
wiederkehren, und dann werden sie sich auf Ihn berufen.
(Jes. 62, 6. 7; 64.)
In völligem Vertrauen auf die Segnung, und daß
Boas, wie Noomi erwartete, ihr sagen würde, was sie
thun sollte, ging Ruth auf den Plan Noomis ein, um
Boas als Mann zu erhalten. In diesem allem sind Noomi
und Ruth als eins zu betrachten. Zur Erlangung der
gemeinschaftlichen Segnung macht die eine den Plan, die
andere führt ihn aus. Ruth geht hinab zur Dreschtenne
des Boas und handelt genau nach dem Rate Noomis.
Sie kommt, um zu ruhen unter dem Schatten seiner Flügel; sie wünscht, daß er seinen Saum über sie ausbreite
und ihr den völligen Dienst eines nahen Verwandten erweise. Denn sie meinte, daß Boas ihr nächster Verwandter
236
sei, und daß es ihm obliege, die Ruinen des Hauses
Elimelechs wieder aufzubauen; und so war sie stark im
Glauben und suchte die Segnung mit Vertrauen, aber
zugleich in aller Demut und Bescheidenheit. Und ihr
Glaube wird belohnt; wie sie geglaubt hat, so geschieht ihr.
Sie hat keine Furcht vor diesem „vermögenden Manne";
wie hätte sie sich auch angesichts seiner Güte fürchten können?
Boas kann zwar nicht anerkennen, daß er nach dem Gesetz
des nächsten Verwandten ihr gegenüber zuerst verpflichtet sei,
aber er segnet sie in dem Namen Jehovas, nennt sie seine
Tochter, (Kap. 3, 10.) versichert sie seiner Liebe, rechtfertigt sie und bekennt sich in Gnade als ihr bereitwilliger
Schuldner in Bezug aus alles, waS sie bedarf und fordert. Zartgefühl und Güte charakterisieren diese nächtliche
Unterhaltung; auf Ruths Seite ist völliges Vertrauen,
und auf Boas' Seite vollkommene Gnade und bereitwillige
Liebe. Am Morgen entläßt er sie mit den Zeichen seiner
Zuneigung und zärtlichen Sorgfalt. Mit diesen beladen,
kehrt Ruth zu Noomi zurück, und die beiden Frauen freuen
sich mit einander. Noomi versichert Ruth, daß Boas
„nicht eher ruhen würde", bis er seine Güte au ihr vollendet habe.
In diesem allem sind uns sehr deutlich und in lieblichster Weise die zukünftigen Wege Gottes mit den Kindern
Israel vorgezeichnet. Vor alters hatte Er sie gesucht; Er
fand sie in einem öden Lande, Er leitete sie, bis Er sie einherreiten ließ auf den Höhen der Erde. Das war ihre Zeit
der Liebe. Ohne daß sie Ihn gesucht hätten, erwählte
Er Israel zu Seinem Erbteil und breitete Seine Flügel
über sie aus. „Ich ging an dir vorüber und sah dich,
und siehe, deine Zeit war die Zeit der Liebe; und ich
237
breitete meinen Zipfel über dich aus und bedeckte deine
Blöße, und ich schwur dir, und ich trat mit dir in einen
Bund, spricht der Herr, Jehova; und du wurdest mein."
(Hos. 16, 8.) Allein am Ende der Tage muß der Herr
gesucht werden, wie Ruth den BoaS suchte, und wie
der Herr durch Seine Propheten bezeugt: „Ich werde davongehen, zurückkehren an meinen Ort, bis sie sich für
schuldig halten und mein Angesicht suchen;
in ihrer Bedrängnis werden sie mich frühe suchen."
(Hos. 5, 15.) „Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und zu mir beten, und ich werde auf euch hören;
und ihr werdet mich suchen und finden, denn ihr werdet nach mir fragen mit euerm ganzen Herzen."
(Jer. 29, 12. 13.) Und wiederum: „Auch um dieses
werde ich mich erbitten lassen vom Hause Israel,
daß ich es ihnen thue: Ich werde sie an Menschen vermehren wie eine Herde." (Hes. 36, 37.) Dann wird Israel, wie Ruth und Noomi, sich im Herrn stärken; es
wird den Schirm Seiner Flügel und die Bedeckung Seines
Saumes wieder aufsuchen, und wegen Seines Landes und
Seines Volkes mit Ihm reden: der Ueberrest wird zurückkehren zu dem mächtigen Gott Jakobs. Das Vertrauen
und Zartgefühl Ruths bei ihrem Hinzunahen, und das
bereitwillige Anerkennen ihres schönen und würdigen Verhaltens von selten des Boas, stellt etwas dar von dem
Wege Jehovas mit dem jüdischen Ueberrest in jenen Tagen,
wenn dieser auf Ihn warten wird, um in Sein gesegnetes
Haus eingeführt zu werden und um Ihn alle die Pflichten
eines Verwandten erfüllen zu sehen. Das Hohelied, in
seiner vollen prophetischen Bedeutung, stellt dieselben Wahrheiten in schönen, geheimnisvollen Bildern dar. Vertrauen
238
auf die Liebe des Herrn und doch zugleich Zartgefühl und
Demut werden dann sicherlich den Pfad des Geistes Seines wartenden Volkes Israel kennzeichnen.
Und ihre Hoffnung wird nicht beschämt werden, ebenso
wenig wie die Erwartung NoomiS; denn Boas ruhte
wirklich nicht eher, bis er die Sache beendigt hatte. Am
Morgen, nachdem er Ruth seine Gelübde als Verwandter
gegeben, geht er hin, um seine Pflichten gegen sie zu erfüllen; und da ist kein Anderer, der Ruth sich zueignen
oder ihre Armut und den Ruin ihres Hauses auf sich
nehmen will. Sie wird durch den nicht anerkannt, der eigentlich den Bruch hätte heilen sollen; und Boas allein tritt als
ihr Verwandter und Löser in den Vordergrund. Ohne Zögern nimmt er, in Gegenwart der dazu berufenen Zeugen,
Ruth in all ihrer Niedrigkeit als ihm gehörend an und
bekleidet sie mit seinem Namen und seinem Wohlstände.
Die arme Aehrensammlerin wird berufen, in allem das
Ansehen dieses „vermögenden Mannes" zu teilen; die
arme Fremde aus Moab wird zu der ersten aller Mütter
in Israel gemacht. Rahel und Lea können jetzt vergessen
werden; denn eine Andere ist an ihre Stelle getreten,
um das Haus Israel aufzubauen.
Das Bild von Israel, wie es einst sein wird, tritt
hier in schönen, deutlichen Zügen vor uns. Es wird geschehen, wenn der Herr sieht, daß da niemand ist, wenn
Er sich gleichsam darüber verwundert, daß kein Vermittler
für Israel auftritt, dann wird Sein eigener Arm Rettung
bringen. Von allen Söhnen, die Zion hervorgebracht hat,
wird keiner Israel leiten, keiner es bei der Hand fassen;
der nächste Verwandte wird in jenen Tagen fehlen. Den
Weisen wird der Rat und den Klugen der Verstand gc-
239
uommen sein. Vergebens wird man zu den Hügeln und zu
der Menge der Berge nach Hülfe ausschanen. Aber „dann
wird Jehova eifern über Sein Land, und über Sein Volk
wird Er sich erbarmen." (Joel 2, 18.) „Dann wird Er
sich in Eifer hüllen wie in einen Mantel," (Jes. 59,17.)
und erscheinen, um die Rechtssache Zions auszuführen.
Als der wahre Boas wird Er nicht ruhen, bis Er die
Sache beendigt, bis Er Sein Volk bekleidet hat mit Kleidern des Heils und sich über dasselbe freuen kann, wie
ein Bräutigam sich freut über seine Braut.
(Schluß solgl.)
Johannes der Täufer.
IV.
Johannes als Prophet.
(Matth. 3.)
Das 3. Kapitel des Evangeliums Matthäus führt
Johannes den Täufer in seinen öffentlichen Dienst ein.
Dieser Dienst scheint mir durch die wenigen Worte des
Heilandes charakterisiert zu sein, welche Er gelegentlich der
Verteidigung Seines Knechtes vor der Volksmenge aussprach: „Was aber seid ihr hinausgegangen zu sehen?
Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr
als einen Propheten." (Matth. 11, 9.)
Johannes der Täufer war ein Prophet, aber selbst
als solcher waren seine Stellung und sein Dienst über
diejenigen der alten Propheten erhaben. Die letzteren wirkten
und redeten entweder in Jerusalem oder Israel, oder in
der Mitte des gefangenen oder des aus der Gefangenschaft zurückgeführten Volkes. Johannes der Täufer aber
240
sonderte sich von dem Volke ab; er lebte in der Wüste.
Der einzige Prophet, welchem er gleichgestellt werden darf
unter anderen Verhältnissen, ist Elias, aber dieser wurde
durch seine Schwachheit und nicht durch den Herrn in die
Wüste geführt. (1. Kön. 19.)
Ein Ueberrest von Juda war einst aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt; aber in den Augen des
Propheten gab es von jetzt an nur noch einen Ueberrest von
diesem Ueberrest, der als Israel anerkannt werden konnte.
Darum richtet Johannes der Täufer seine Botschaft nicht
mehr an die Masse des Volkes, wie die Propheten, welche
ihm vorangegangen waren; vielmehr sagt er: „Stimme eines
Rufenden in der Wüste." Israel selbst war eine Wüste
für Gott geworden. Das prophetische Zeugnis gründet sich von
nun"äis auf den unheilbaren Verfall des Volkes, während
der Dienst der alten Propheten immer noch die Möglichkeit einer nationalen Rückkehr zu Jehova voraussetzte.
Damals war das göttliche Urteil über das menschliche
Geschlecht noch nicht endgültig ausgesprochen. Die Propheten waren durch ihre Sendung berechtigt, zu untersuchen,
ob es nicht noch etwas Gutes in dem Menschen gäbe,
durch das er zu Gott zurückgeführt werden könnte. Johannes der Täufer hat ohne Zweifel, wie jene, Buße
gepredigt, aber eine Buße, die auf einen unheilbaren Ver.-
fall gegründet war. Darum fügt auch Jesaia, wenn erden Dienst Johannes' des Täufers beschreibt, die Worte
hinzu: „Eine Stimme spricht: Rufe! Und er spricht:
Was soll ich rufen? Alles Fleisch ist Gras, und alle
seine Güte wie des Feldes Blume. Das Gras verdorrt,
die Blume fällt ab, denn der Geist Jehovas bläset darein.
Fürwahr, das Volk ist Gras!"
241
Was bleibt also von dem Menschen übrig? Nichts;
der Geist Jehovas hat darein geblasen. — Von da an
erkannte die Buße diese Thatsache an; man hatte sich zu
richten in der Gegenwart Gottes, und man ging hinaus
zu dem Propheten, um, indem man seine Sünden bekannte,
durch ihn in dem Jordan getauft zu werden. Der Sünder
beschränkte sich nicht mehr darauf, seine Fehler zu bekennen, sondern er erkannte auch an, daß von jetzt an die 
einzige Antwort auf seinen Zustand der Tod war, und
daß es kein Heilmittel mehr für diesen Zustand gab. Der
Zeitabschnitt, in welchen die Welt eintrat, machte einen
solchen Dienst auch notwendig. Der Herr erschien auf dem
Schauplatz. Die Geschichte des ersten Menschen war thatsächlich geschlossen, (sie endigte allerdings eigentlich erst
aus dem Kreuze) um der Geschichte des zweiten Menschen, 
dem man von jetzt an angehören mußte, Platz zu machen.
Das Mittel, um diesem auf der Erde lebenden Messias *)
anzugehören, bestand darin, sich selbst zu verurteilen und
sich in die Arme der Gnade zu werfen. Auch Zacharias,
der Vater Johannes' des Täufers, weissagte von dem
Kindlein: „Du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, Seine Wege zu bereiten, um Seinem Volke Erkenntnis des Heils zu geben in Vergebung ihrer Sünden,
durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes, in welcher
uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, um zu leuchten denen, die da sitzen in Finsternis und im Schatten
des Todes." (Luk. 1, 76—79.) Und welche Leute sehen
wir zu der Taufe des Propheten gehen? Zöllner, Menschen von offenbar verabscheuungswertem Charakter, und
*) Johannes taufte für einen lebenden Christus; die christliche Taufe geschieht auf den Tod Christi.
242
Äriegsleute, die gewohnt waren, das Volk zu bedrücken.
Verderbnis und Gewaltthat, aber beide anerkannt und gerichtet, fanden sich zur Taufe der Buße ein. „Johannes,"
sagt der Herr, „kam zu euch im Wege der Gerechtigkeit,
und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die
Hurer glaubten ihm." (Matth. 21, 32.) Für solche Leute
giebt eS offenbar keine Hülfe mehr, und Gott kann in
ihnen nur die Frucht Seines Werkes anerkennen. „Gott
vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken." (Matth. 3, 9.)
Indes giebt es noch eine andere Seite des prophetischen Dienstes, welche Johannes dem Täufer nicht fehlen
durfte, und welche er in vollkommnerer und entschiedenerer
Weise als seine Vorgänger darstellte; ich meine das Gericht, im Gegensatz zu der Gnade. Die Pharisäer und
Sadducäer kamen mit der Volksmenge zu der Taufe des
Johannes; sie kamen aber nicht als Schuldige, sondern
als Eigengcrechte. Der Anblick des Werkes Gottes in den
Zöllnern und Hurern brachte bei diesen Leuten weder Gewissensbisse noch Glauben hervor; (Matth. 21, 32.) auch
wird sogleich das entscheidende Urteil über sie gesprochen.
Eine „Otternbrut" kann nur für den kommenden Zorn
bestimmt sein; man kann sie nicht lehren, demselben zu
entfliehen. Wenn sie dieses Urteil annähmen, so würden
sie die Frucht bringen, welche der Buße geziemt. Die
Abstammung von Abraham nach dem Fleische sollte beiseite
gesetzt werden; Gott wollte dem Abraham Kinder erwecken,
indem Er demjenigen Leben gab, was tot und hart wie
Stein war. (Matth. 3, 9.)
Der Täufer fügt seinem ernsten Urteilsspruch noch
die Worte hinzu: „Schon ist aber die Art an die Wurzel
243
der Bäume gelegt." Wie man in einem Walde mit der
Art die Bäume bezeichnet, welche gefällt werden sollen,
so waren die - Gegenstände des Gerichts schon bezeichnet.
Allein es handelte sich nicht länger darum, nur die Zweige
oder selbst den Stumpf abzuhauen; nein, die Wurzel
war schlecht. Es wird von euch, so sagt der Prophet
gleichsam, nichts übrigbleiben gegenüber dem Gericht, das
vor der Thür steht. Und wer wird dieses Gericht vollziehen? Christus. „Er wird euch mit dem Heiligen
Geiste und mit Feuer taufen." (V. 11.) Er besitzt die
beiden Mittel, welche die Sünde zu vernichten vermögen:
den Geist, das Geschenk der Gnade, als Folge des Werkes
des Heilandes, und das Feuer, d. h. das Gericht, welches
alles verzehrt. Ich kann, so scheint Johannes zu sagen,
nichts für euch thun, ich taufe nur mit Wasser; aber Er,
der unter euch steht, der Christus, Er bringt euch eine völlige
Befreiung, und der Welt ein endgültiges Gericht.
Alsdann betrachtet er, indem er beschreibt, was der
Herr im Begriff stand, in Israel zu thun, das Endresultat Seiner Thätigkeit in der Zukunft: „Seine Worfschaufel ist in Seiner Hand": ein Gericht, welches die
Spreu absondert, aber das Korn aufbewahrt, um es in
die Scheune einzusammeln. Das ist es, was dereinst in
Bezug auf Israel stattfinden wird. Alsdann wird die
Tenne Jehovas durch und durch gereinigt werden; es wird
kein Schmutz darin zurückbleiben, denn das unauslöschliche
Feuer wird jeden Strohhalm verzehren. Das ist also die
zweite Seite des Dienstes Johannes' des Täufers: die
Fülle des Gerichts und die Größe der Errettung, beide
dargestellt und eingeführt in der Person des Messias.
(Fortsetzung folgt.)
244
„Komme zu mir und trinke!"
„Wenn jemanden dürstet, der komme zu mir und
trinke." (Joh. 7, 37.) Diese Worte redete der Herr Jesus
in einer Zeit, welche der gegenwärtigen in mehr als einer
Beziehung ähnlich war. Israel befand sich in einem Zustande völliger Verblendung, so daß der Herr ihm die
Worte des Propheten zurufen mußte: „Dieses Volk ehrt
mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von
mir." (Matth. 15, 8.) Ihr Gottesdienst war trotz allem
schönen äußern Schein nur eine leere Form. Sie beobachteten die vorgeschriebenen Ceremonien, brachten die
Opfer dar und hielten streng auf die Feier des Sabbaths
und der Feste; aber bei alledem kannten sie Jehova nicht.
Obgleich dieser in der Person Jesu in ihrer Mitte erschienen war und sich in Wort und That als der verheißene Messias erwies, so verriet doch ihr ganzes Verhalten Ihm gegenüber, daß ihre Herzen weit von Ihm
entfernt waren. Ja, mehr noch; sie haßten Ihn so völlig
und waren mit solcher Feindschaft gegen Ihn erfüllt, daß
sie Sein Wort nicht hören konnten und Ihn zu töten
suchten. (Joh. 8, 40. 43.) Wie wertlos und eitel mußte
daher ihr Gottesdienst in den Augen des Herrn sein;
aber auch wie schmerzlich und unbefriedigend war ein solcher Zustand für alle diejenigen unter ihnen, welche den
Herrn aufrichtig liebten!
Genau denselben Erscheinungen begegnen wir in unsern Tagen inmitten der sogenannten Christenheit. Obgleich die große Masse ihrer Bekenner sich nach dem Namen
Christi nennt und Sein Wort als die Grundlage ihres
Bekenntnisses bezeichnet, sind doch ihre Herzen weit von
245
Ihm entfernt. Sie kennen Ihn nicht, und wollen Sein
Wort ebensowenig hören wie einst die Juden; sie hegen
denselben Haß gegen Ihn und würden Ihn, wenn Er
wiederum in ihrer Mitte erschiene, mit derselben Feindschaft verfolgen. Darum ist auch das christliche Bekenntnis zu einer kraftlosen, leeren Form geworden, und kann
ebensowenig, wie damals das jüdische, ein nach Wahrheit
dürstendes Herz befriedigen.
Aber der Herr sei gepriesen! Er hat sich nicht verändert, trotz des Verfalls und Verderbens um uns her.
Er „ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit."
(Hebr. 13, 8.) Wie damals, so spricht Er auch heute
noch: „Wenn jemanden dürstet, der komme zu mir und
krinke." Seine Einladung richtet sich an einen jeden, den
da dürstet; für dessen Herz der gegenwärtige Zustand
der Dinge einer öden, dürren Wüste gleicht, in welcher
sich trotz alles Suchens nirgend eine erfrischende Quelle
zeigt. Einem solchen ruft der Herr zu: Komm zu mir!
Suche nicht länger vergeblich! „Ich bin das Brot des
Lebens: wer zu mir kommt, wird n i e hungern, und wer
an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten." (Joh. 6, 35.)
Christus vermag vollkommen allen geistlichen Bedürfnissen einer Seele, die im Glauben zu Ihm kommt, zu
entsprechen. Zunächst kann eine solche Seele mit vollen
Zügen aus dem Becher überströmender Gnade schlürfen,
einer Gnade, die sich kundgiebt in einer völligen Vergebung
und einem ewigen Heil. „Komm und trinke," ruft der
Herr ihr zu; „bei mir ist Gnade in Fülle für dich;
Gnade ohne Maß, ohne Grenzen und ohne Schranken.
Trinke in Ueberfluß, und zwar Gnade um Gnade!" —
„Wo aber die Sünde überströmend geworden, ist die
246
Gnade noch überschwänglicher geworden." (Röm. 5, 20.)
„Denn ans Seiner Fülle haben wir alle empfangen, und
zwar Gnade um Gnade." (Joh. 1, 16.) Welch einer
unerschöpflichen Fülle sehen wir uns hier gegenüber! So
wenig wir fähig sind, die Größe unsrer Schuld und unsers
Verderbens zu ermessen, so wenig vermögen wir den
Reichtum dieser Gnade zu erfassen, die in Christo Jesu
unser ewiges Teil geworden ist. Mögen unsre Sünden
und Uebertretungen auch so zahlreich sein wie der Sand
am Ufer des Meeres, so erklärt Gott dennoch auf Grund
dieser Gnade: „Und ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." (Hebr. 10, 17.)
„Mein Becher fließt über!" ruft der Glaube aus und
betet an angesichts einer solchen Gnade. Er stimmt von
Herzen ein in das Wort des Apostels: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir
Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum." (Röm. ö, 1.) Niemand kann ihm diesen Frieden
rauben, und nichts vermag denselben zu erschüttern, weil er
auf dem unwandelbaren Grunde des Werkes Christi ruht.
Indes findet der Glaube in Christo nicht nur eine
allumfassende, ewig gültige Vergebung, sondern auch eine
vollkommene Befreiung. Der alte Mensch, die Sünde, die
Welt, ja, Tod und Teufelsmacht sind für den Gläubigen in
dem Tode nnd der Auferstehung Christi für immer beseitigt.
„Komm und trinke," sagt der Herr; „ergötze dich au der
Freiheit, für welche ich dich freigemacht habe!" (Gal. 5, 1.)
Alle Feinde, die uns geknechtet hielten, liegen überwunden
zu den Füßen des Auferstandenen. „Indem wir dieses
wissen, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist,
auf daß der Leib der Sünde abgethan sei, daß wir der
247
Sünde nicht mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist
freigesprochen von der Sünde." (Röm. 6, 6. 7.)
„Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu
hat mich freigemacht von dem Gesetz derSünde
und des Todes. Denn das dem Gesetz Unmögliche,
weil es durch das Fleisch kraftlos war, that Gott, indem
Er, Seinen eignen Sohn in Gleichheit des Fleisches der
Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im
Fleische verurteilte." (Röm. 8, 2. 3.) „Von
mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des
Kreuzes unsers Herrn Jesu Christi, durch welchen mir
die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt."
(Gal. 6, 14.) „Welcher den Tode zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium." (2. Tim. 1, 10.)
„Auf daß Er durch den Tod zunichte machte den,
der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel."
(Hebr. 2, 14.)
Geliebter Leser! Wenn du dürstest nach Vergebung
deiner Sünden, so komme zu Jesu und erfreue dich durch
den Glauben an Ihn einer vollkommenen Vergebung. Oder
wenn du noch seufzest unter dem Joch der Sünde, so
komme zu Jesu und erfreue dich im Glauben an Seinen
Tod und Seine Auferstehung einer vollkommenen Befreiung. Er hat uns ein ewiges Heil, einen vollkommenen
Frieden und eine völlige Freiheit erworben. Komm und
trinke! Glaube Seinem Worte: „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind." (Röm. 8,1.)
Höre, wie freundlich Er als der Auferstandene den Seinigen wiederholt zuruft: „Friede euch!" (Joh. 20, 19.
21. 26.) Nichts ist für uns übriggeblieben, als Freude,
248
Dank und Anbetung. „Freuet euch in dem Herrn allezeit!
wiederum will ich sagen: Freuet euch!" (Phil. 4, 4.)
Aber, wird vielleicht der eine oder andere Leser einwenden
— ach! unsre armen, ungläubigen und unverständigen Herzen sind ja immer so geneigt, den klarsten Unterweisungen
und kostbarsten Belehrungen der Gnade Gottes ein „Aber"
entgegenzusetzen — das ist alles sehr gut und schön, und
ich glaube auch, daß es wahr ist; allein ich kann trotzdem
nicht glücklich sein; ich kann mir diese herrlichen Wahrheiten nicht zueignen, so gern ich es auch möchte; immer
wieder überwältigt mich die Sünde, immer wieder unterliege ich im Kampfe. — Woran liegt das? Ist das Werk
Christi nicht von demselben Werte und von gleicher Tragweite für jeden Gläubigen? Sicher und gewiß! Die Ursache liegt also anderswo, in dem Gläubigen selbst. Denn
wer so redet, beweist dadurch, daß es ihm an einem einfältigen, kindlichen Glauben mangelt. Anstatt seine Befreiung in Christo zu erkennen, sucht er sich selbst zu befreien und bekämpft etwas, was in Christo längst beseitigt
ist. Er hat in Wahrheit sich selbst nicht aufgegeben, um,
verzweifelnd an seiner eignen Kraft, der freundlichen Einladung des Herrn zu folgen: Komme zu mir und trinke!
Warum, geliebter Leser, mühst du dich vergeblich ab?
Lausche doch auf die gnädigen Worte des Herrn: „Wohlan,
ihr Durstigen, kommet zu den Wassern, und die ihr kein
Geld habt, kommet, kaufet und esset; ja, kommet, kaufet
ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und Milch! Warum
wäget ihr Geld dar für das, was nicht Brot ist,
und eure Arbeit für das, was nicht sättigt? Höret
doch mir zu und esset daS Gute, und lasset eure
Seele sich ergötzen an Fettem." (Jes. 55, 1.2.) Darum,
249
wenn du bis jetzt vergeblich gekämpft, vergeblich gearbeitet
und gerungen hast, gieb dich selbst und dein eignes Wirken
auf; glaube und genieße, was in Christo gewirkt
ist. Siehe nicht auf deine geistliche Ohnmacht und Armut,
sondern glaube, wie einst Abraham, der nicht seinen eignen,
schon erstorbenen Leib ansah, sondern Gott glaubte und
Ihm die Ehre gab. (Röm. 4.) Gehe hin als ein Erlöster
und Befreiter, und „kämpfe den guten Kampf des Glaubens", den Kampf in den himmlischen Oertern. Und wenn
der Kampf dir schwer werden will am „bösen Tage", und
die geistlichen Mächte der Bosheit dich von allen Seiten
umringen, um deinen Lauf zu erschweren und Zu hemmen,
so höre auf das Wort des Herrn: „Es soll niemand vor
dir bestehen alle Tage deines Lebens: so wie ich mit
Mose gewesen bin, werde ich mit dir sein; ich werde dich
nicht versäumen und dich nicht verlassen. Sei stark und
mutig! . . . Erschrick nicht und sürchte dich nicht; denn
Jehova, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehest."
(Jos. 1, 5. 9.) Wenn der Herr zu einem Gläubigen
des alten Bundes also reden konnte, sollte Er dann nicht
dasselbe uns Zurufen, die wir ein Leib mit Ihm sind,
berufen, den Kampf in den himmlischen Oertern zu
kämpfen? (Vergl. Eph. 6, 10.)
Christus ist und bleibt für den Gläubigen die unversiegbare Quelle der Kraft, des Trostes und der Erfrischung auf dem ganzen Wege bis zur Herrlichkeit hin.
Darum kann diesen, so lange sein Auge auf Ihn gerichtet
bleibt, nie hungern und nimmermehr dürsten. Selbst
wenn er durch den Feuerofen der Trübsale und Prüfungen gehen muß, wird ihn nicht dürsten. Christus ist auch
dort fein vollkommener Trost. Vor Ihm schüttet er sein
250
ganzes Herz aus, und er weiß, daß niemand ihn besser
versteht als Er. Ein freundlicher Zuruf von Ihm, e i n
„Ich bin's!" genügt, um sein Herz in den bangen Stunden der Trübsalsnächte mit Ruhe und Frieden zu erfüllen,
und ihn selbst in dem herben Schmerz über den Verlust
des Teuersten hienieden zu trösten. (Matth. 14, 27.) Er
erfährt in solchen Stunden die Allgenugsamkeit der Person des Herrn Jesu, wie Paulus sie erfuhr in jener
Nacht angesichts der bittern Feindschaft einer gottlosen
Welt: „In der darauf folgenden Nacht aber stand der
Herr bei ihm und sprach: Sei gutes Mutes!" (Apstgesch.
23, 11.) Oder als er sich, vor einem grausamen Richter
stehend, selbst von den Brüdern verlassen sah: „Bei meiner
ersten Verantwortung aber stand mir niemand bei, sondern
alle verließen mich .... Der Herr aber stand mir
bei und stärkte mich." (2. Tim. 4, 16.) Oder wie
Maria sie erfuhr, als sie weinend über den Verlust ihres
geliebten Bruders zu den Füßen Jesu lag, und dieser mit
ihr weinte. (Joh. 11, 32—35.) O, geliebter Leser, wie
köstlich ist es, in solchen Stunden mit dem Herrn allein
zu sein und Seine innige Gemeinschaft zu genießen! Wer
könnte mitfühlen und trösten, wer stärken und aufrichten
wie Er? Ja, Er füllt jede Leere und Lücke vollkommen aus.
„Und wenn ich wandle im Thal des Todesschattens,
fürchte ich nichts Uebels, denn Du bist bei mir; Dein
Stecken und Dein Stab — sie trösten mich." (Ps. 23, 4.)
Ebenso völlig ist Christus genug für uns in der verleugnungsvollen Thätigkeit eines Ihm geweihten Lebens.
Der Glaube folgt Ihm auf dem mühevollen Pfade rastloser Liebesarbeit nach, auf welchem Er hienieden gewandelt hat. Körperlich hungrig, durstig und müde von der
251
Reise, setzt sich der Glaube mit Ihm im Geiste an dem
Brunnen zu Sichar nieder und genießt von der Speise,
welche die armen Jünger nicht kannten. Er hebt seine
Augen aus und sieht die Felder weiß zur Ernte, und sein
Geist erfreut sich im Voraus der unzähligen Scharen der
Erlösten, die den Thron des Lammes umgeben werden.
Und mit Freuden nimmt er teil an dem großen Werke
des Herrn, das zu diesem herrlichen Resultate führt; ja,
mit Freuden nimmt er in seinem geringen Maße teil „an
den Trübsalen des Christus für Seinen Leib, das ist die
Versammlung." (Kol. 1, 24.)
Und selbst wenn am Tage des Verfalls die Arbeit
des Gläubigen verloren zu sein und der Irrtum und die
Lüge Satans zu triumphieren scheinen; wenn das Häuflein der Getreuen zusammenschmelzen oder der Gläubige
in seiner Treue und seinem Zeugnis für den Herrn vereinzelt dastehen sollte; selbst dann, wenn alles wankt, ist
Christus genug für den Glauben. Denn der Glaube weiß,
daß Christus der Sohn des lebendigen Gottes, der Felsengrund der Kirche ist, und daß „der feste Grund Gottes
steht" und nimmermehr erschüttert werden kann. (Matth. 16,
16—18; 2. Tim. 2, 19.) In Christo sind alle Verheißungen gesichert, und alle Ratschlüsse Gottes finden durch
Ihn ihre gewisse Erfüllung. Selbst die Anstrengungen
des Feindes, der Unglaube des Menschen und der Verfall
aller ursprünglich göttlichen Einrichtungen müssen unter
der Leitung der Vorsehung Gottes zur Erfüllung dieser
Ratschlüsse mitwirken. Darum bleibt Christus für den einfältigen Gläubigen auch am Tage des Verfalls die Quelle
alles Heils, alles Friedens und aller Kraft, so daß ihn
nicht dürstet; vielmehr wird er für Andere ein Kanal,
252
durch welchen „Ströme lebendigen Wassers fließen;" wie
geschrieben steht: „Wer an mich glaubt, gleichwie die
Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen." (Joh. 7, 38.)
Die sogenannte Christenheit geht an den beiden
Uebeln zu Grunde, an welchen auch Israel zu Grunde
gegangen ist: „Denn zwei Uebel hat mein Volk begangen:
Mich, die Quelle des lebendigen Wassers haben sie verlassen, um sich selbst Gruben auszuhauen, geborstene Gruben, die kein Wasser halten." (Jer. 2, 13.) Ach! selbst
wahre Christen machen sich in unsern Tagen dieser beiden
Uebel schuldig. Anstatt an Christo allein genug zu
haben, und Ihn als ihren einzigen Mittelpunkt, Zweck
und Beweggrund zu kennen, hauen sie sich selbst Gruben
aus, die kein Wasser halten. Sie suchen außer Christo
das, was nur in Ihm zu finden ist — Kraft und Trost,
Friede und Freude. Darum wird ihnen der Weg so
schwer, und darum fühlen sie ihre Kräfte schwinden; aber
auch darum ruft der Herr ihnen zu: „Wenn jemanden
dürstet, der komme zu mir und trinke!" Möchten wir
deshalb nie vergessen, daß nur in Jesu das gefunden
werden kann, was das Herz vollkommen befriedigt!
Möchten wir immer mehr fähig werden, in Wahrheit zu
singen und zu sagen:
Jesu Du, Jesu Du!
Du bist meiner Seele Ruh'.
Bist mein Trost auf meiner Reise,
Meine Kraft und meine Speise;
Führst dem Vaterhaus mich zu.

Ruth.
(Schluß.)
„Und BoaS nahm Ruth, und sie ward sein Weib."
(Kap. 4, 13.) Die Segnungen, die ihr zuvor durch das
Volk im Thore und durch die Aeltesten angekundigt worden
waren, (V. 11. 12.) werden ihr jetzt durch die Hand des
Herrn zu teil. Sie hatten gesagt: „Jehova mache das
Weib, das in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea,
die beide das Haus Israel erbaut haben; und werde
mächtig in Ephratha und stifte einen Namen in Bethlehem!" (V. 11.) Und so geschah es. Ruth gebar einen
Sohn, und sie nannten seinen Namen Obed. Dieser wurde
der Vaters Jesses, und Jesse der Vater Davids; und in
David, dem Bethlehemiter, wurde der Thron festgestellt
auf immer uud ewig. Mächtige Thaten werden in Ephratha
gethan, und große Dinge von Bethlehem geredet werden;
denn aus Bethlehem-Ephratha ist der Same Ruths nach
dem Fleische hervorgekommen, welcher der Herrscher über
Sein Volk Israel sein wird. Dann, in jener Zeit, wird
„das Haus Israel erbaut werden" durch diese geehrte
Mutter in Israel. Der Herr, welcher dem Fleische nach
aus ihr entsprossen ist, wird Sein Volk Israel wieder zu
einer Krone in Seiner Hand und zu einem königlichen
Diadem machen. Die erste Herrschaft, das Königtum, wird
der Tochter Jerusalems wieder zu teil werden. Nicht
254
mehr wird zu ihr gesagt werden: Verlassene, und zu
ihrem Lande nicht mehr: Verwüstete; sondern sie wird
genannt werden: Meine Lust an ihr, und ihr Land: Vermählte; denn Jehova hat Seine Lust an ihr, und ihr Land
wird vermählt werden. (Vergl. Jes. 62, 4.) Dann wird
sie Knospen und Blüten treiben, und die Fläche der Erde
mit Frucht erfüllen; die Unfruchtbare wird singen und
jubeln. Sie, die „Arme und Fremde", die Tochter MoabS
und die Witwe in Juda, wird die Schande ihrer Jugend
und die Schmach ihres Witwentums vergessen; denn ihr
Schöpfer wird ihr Mann sein, und sie, die Verwüstete
und Gefangene und Umhergeworfene, wird ihre Kinder
wieder in ihren eigenen Grenzen empfangen. Die Unfruchtbare wird sieben gebären. Die Aehrenleserin wird
die geehrte Mitgenossin des Vermögenden und Mächtigen
sein. Denn Er ist es, „der aus dem Staube emporhebt
den Geringen, aus dem Kote erhöht den Armen, um ihn
sitzen zu lassen bei den Edlen, bei den Edlen Seines
Volkes; der die Unfruchtbare des Hauses wohnen läßt als
eine fröhliche Mutter von Söhnen." (Ps. 113,7—9.) *)
*) Bemerken wir, daß zwischen der Rückkehr Naomis und der
Heirat Ruths nur ein verhältnismäßig kurzer Zwischenraum lag.
Naomi war zehn Jahre in Moab, gleichsam in Gefangenschast;
aber noch ehe die Ernte, während welcher sie nach Judäa zurückkehrte, ihr Ende erreicht hatte, war Ruth das Weib ihres vermögenden Verwandten. So ist auch die Nacht Judas lang und
trübe; aber verhältnismäßig bald nach seiner Rückkehr wird derUebcrrest (obwohl er, wie Noomi, elend und arm zurückkonnnt) zu einer
starken Nation werden und Juda ein Ruhm auf der ganzen Erde.
Aus der Unterhandlung des Boas mit dem Verwandten geht deutlich hervor, daß er sich nicht verpflichten
wollte, das Erbteil Elimelechs zu lösen, es sei denn, daß
255
die arme verlassene Fremde sein Weib würde. In gleicher
Weise hat der Sohn des Menschen sich so innig mit Israel
verbunden, daß Er sich nicht erheben wird, um die Erde
und ihre Fülle, die Welt und das Königtum für sich in
Anspruch zu nehmen, außer als „König in Zion", als
der „Sohn Davids", als eins mit jener Nation, die Er
vor alters für sich abgesondert hat als das Los Seines
Erbteils. (S. Ps. 2, 6—8.) Denn in Israel wird Er
sich verherrlichen, (Jes. 44, 23.) wie Er durch Jcsaia geredet hat: „Dieses Volk habe ich mir gebildet; sie sollen
meinen Ruhm erzählen." (Jes. 43, 21.) Er wird die 
Pflichten eines Blutsverwandten in ihrer ganzen Ausdehnung gnädiglich anerkennen und erfüllen. Er wird ihr Blut
rächen, Er wird das Erbteil lösen und das Haus
Seines Bruders bauen; (3. Mose 25, 25; 5. Mose
25, 5.) denn „so spricht Jehova: Siehe, ich werde die
Gefangenschaft der Zelte Jakobs wenden und mich über
seine Wohnungen erbarmen; und die Stadt wird auf
ihrem Schutthaufen gebaut, und der Palast nach seiner
Weise bewohnt werden. Und Lobgesang und die Stimme
der Spielenden wird von ihnen ausgehen; und ich will
sie mehren, und sie werden nicht vermindert werden, und
ich will sie verherrlichen, und sie werden nicht gering werden. Und seine Söhne werden sein wie ehedem, und seine
Gemeinde wird vor mir befestigt werden; und alle seine
Unterdrücker werde ich heimsuchen." (Jer. 30, 18 — 20.)
In Verbindung mit Ruth möchte ich hier darauf
aufmerksam machen, daß die Person und dereinstige Handlungsweise des Herrn Jesu, als des Verwandten Israels
und des Lösers Seines Erbteils, eine weitere, höchst treffende Darstellung in dem Propheten Jeremia gefunden hat.
256
Jeremia war der Repräsentant des treuen Ueberrestes in seinen Tagen. Er war der Zeuge der Sünden
seines Volkes und kündigte weinend und wehklagend die 
schmerzlichen Wege an, welche dasselbe geführt werden sollte.
So stand auch der Herr in den Tagen Seines Fleisches
inmitten des Ihn umringenden Bösen als der allein Treue
da; und gleich einem zweiten trauernden Propheten redete
Er von den kommenden Gerichten über die Tochter Zion.
In Jeremia erkennen wir daher ein Bild von Christo,
selbstverständlich nicht in Seinem Charakter als das Lamm
Gottes, wohl aber in demjenigen des Verwandten, des treuen,
klagenden Propheten Israels. Wer könnte die Bitterkeit
der Thränen des Herrn Jesu ermessen, als Er weinend über
Jerusalem ausrief: „Wenn du erkannt hättest, und selbst
an diesem deinem Tage, was zu deinem Frieden dient!"
Aber Er, der mit Thränen säete, wird dereinst mit
Freuden ernten und Seine Garben in dem Lande Israel
einsammeln. Diese Ernte finden wir auch in der Handlungsweise Jeremias vorbildlich dargestellt, der als der
nächste Verwandte das Feld zu Anathoth kaufte, welches
Hauameel, dem Sohne seines Oheims, gehörte. In dieser
geheimnisvollen Handlung stand Jeremia unter der unmittelbaren Leitung und Belehrung des Herrn. (Vergl.
Jer. 32.) Er lag in jener Zeit im Gefängnis wegen
des Zeugnisses Gottes wider Israel, dessen Träger er gewesen war; und die Chaldäer standen vor den Thoren
Jerusalems. Aber trotz dieser Umstände gab es für den
Propheten nichts anderes zu thun, als einfach dem Worte
zu gehorchen, welches der Herr ihm gesandt hatte. Er
erhob keine zweifelnden Fragen über den Weg, welchen
der Herr in dieser Sache einschlug, noch stand er einen
257
Augenblick zögernd still, um mit seinem eignen Herzen Rat
zu nehmen; sondern sobald er den Befehl des Herrn empfangen hatte, wog er im Hofe des Gefangenhauses das Geld
dar, unterschrieb den Kaufbrief, versiegelte ihn und rief
Zeugen herbei, um den Kauf rechtsgültig zu vollziehen.
In dem Glauben, daß „das Ende des Herrn" sicher und
gewiß in Gnade und Wahrheit sich offenbaren würde,
trug er Sorge, daß der Kauf nach dem Gesetz und den
damals herrschenden Gebräuchen festgestellt wurde. Dann
übergab er den Kaufbrief den Händen Baruchs, eines
treuen Mannes, damit er denselben an einen sichern Ort
bringe, um dort „viele Tage" aufbewahrt zu werden.
Und erst nachdem er das Gebot des Herrn vollführt hatte,
und keinen Augenblick früher, wandte er sich in Demut
mit der Frage an seinen Gott, warum alles dieses geschehen sei; warum Er von ihm gefordert habe, sein Geld
gleichsam in dem verbannten Lande zu vergraben, das
nach den Worten des Herrn selbst bald der Raub der
eingedrungenen Chaldäer werden sollte. Der Herr teilt
ihm als Antwort die Ratschlüsse Seines Herzens mit;
denn Seine Geheimnisse sind für die, welche Ihn fürchten.
Er sagt ihm, daß das Land, welches jetzt für eine Zeit
„wüste, ohne Mensch und Tier," sein sollte, wieder in
den Besitz Israels gelangen würde. „Man wird Felder
um Geld kaufen, und die Briefe unterschreiben und versiegeln, und Zeugen nehmen im Lande Benjamin und in
den Umgebungen Jerusalems und in den Städten Judas."
(Jer. 32, 44.)
So wird dereinst der wahre und treue Verwandte
Israels handeln. Er hat den Preis der Erlösung bereits
bezahlt; Er hat ihn dargewogen auf den Wagschalen der
258
göttlichen Gerechtigkeit, als „Er ein wenig unter die Engel
erniedrigt war wegen des Leidens des Todes;" und Gott
ist vollkommen befriedigt worden und „hat Ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" und auf diese Weise Seinen
Rechtsanspruch auf das Erbteil besiegelt; und Er, der gesegnete Verwandte, wartet „viele Tage", bis Er in dem
kommenden Zeitalter alle Dinge sich unterworfen sehen
wird. (Hebr. 2, 5—9.) Dann wird Er in das so lange
verlorene Erbteil zurückkehren, in Adams verwirkte Würde
eingesetzt werden, und herrschen über die Werke Gottes;
ja, Er wird als „der Erbe aller Dinge" auf den Schauplatz treten. Der Erdkreis und seine Fülle wird Ihm gehören, wie eS jetzt schon dem Rechtstitel nach der Fall
ist, und die ewigen Pforten werden sich vor Ihm öffnen.
(Ps. 2; 8; 24; 110.) Dann wird auch jenes herrliche
Lied in voller freudiger Erkenntnis von den Lippen der
Erlösten ertönen: „Du bist würdig, das Buch zu nehmen
und seine Siegel zu öffnen; denn Du bist geschlachtet
worden und hast für Gott erkauft, durch Dein Blut, aus
jedem Geschlecht und Sprache und Volk und Nation, und
hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht,
und sie werden über die Erde herrschen." (Offb. 5, 9.)
Geliebte Brüder, welch eine glückselige Schar und
welch eine Freude wird das sein! Möchten wir alle im
Glauben wachsen, um dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf
stets neue Beute zu entreißen und allezeit auf den zukünftigen zu warten! Die gegenwärtige Welt hat den
Sohn Gottes verworfen, aber die zukünftige wird Ihn
anerkennen. Die gegenwärtige Welt hat ihn für dreißig
Silberlinge verkauft, und Ihn dann ans Kreuz geschlagen.
Es war der „Hochmut des Lebens", der „Betrug des
259
Reichtums", das „Ehrenehmen einer vom andern", das
Dichten und Trachten der Welt, das Ihn verwarf und
tötete. Das was in dieser Welt hoch angesehen war,
stand an der Spitze derer, welche Ihn verwarfen. Und
alles dieses verhindert heute noch die Menschen dieser Welt,
die Herrschaft Christi anzuerkennen, und bewirkt den Wunsch
in ihnen, daß der Augenblick Seiner Ankunft noch in
weiter Ferne liegen möge. Aber über dieses alles wird
Sein Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht.
Darum, Geliebte, habt nicht lieb die Welt, noch was
in der Welt ist! Gedenket an Lots Weib! Seid gleich
den Menschen, die auf ihren Herrn warten; sehnet den
Tag Seiner Ankunft herbei! Als solche, die nach Seiner
Wiederkunft ausschauen, seid wachsam und auf eurer Hut!
Rühmet euch Seines Kreuzes; achtet das Blut des Sohnes Gottes, welches die Welt vergossen hat, für überaus
kostbar, und seid bereit, den Platz und Pfad Seiner Verwerfung zu teilen! Und wisset, daß Er binnen kurzem
eure wertlosen Namen vor den Engeln Gottes bekennen
und euch tadellos darstellen wird vor Seiner Herrlichkeit
mit überströmender Freude! Seinem Namen, der allein
würdig ist gepriesen zu werden, sei Lob und Anbetung
in alle Ewigkeit!
Johannes der Täufer.
IV.
(Fortsetzung.) .
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Teile der Worte
des Herrn: „Ja, ich sage euch, und mehr als einen
Propheten". Johannes der Täufer ist der einzige
Prophet, welcher durch die Propheten selbst angekündigt
260
worden ist. (Jes. 40; Mal. 3. 4.) Aber nicht darin besteht die besondere Größe, welche ihm einen Platz über
allen andern Propheten gegeben hat; nein, sie hatte ihren
Grund darin, daß er in der Mitte Israels nicht mehr
zukünftige, durch die Ankunft des Messias einzuführende
Herrlichkeiten ankündigte, sondern der Vorbote des Herrn
selbst war, gesandt, um den Weg vor Ihm zu bereiten.
(Mal. 3, 1; Luk. 1, 76.) Der Messias, den er ankündigte, war ein kommender Messias, ja, ein Christus, der
schon gegenwärtig war in der Mitte Seines Volkes.
Welch eine herrliche, unvergleichliche Botschaft! Das Reich
der Himmel war nahe herbeigekommen in der Person
Jesu Christi. (Matth. 3, 2.) Der Herr stand im Begriff, vorausgesetzt daß Er ausgenommen wurde, sofort
die Zügel der Regierung der Erde in die Hände zu nehmen.
Johannes verfehlte seine Sendung nicht. Er bereitete
den Weg des Herrn. (Mal. 3, 1.) Er wandte sich an
den Glauben, und sein Ruf fand eine Antwort in dem
Herzen eines armen Ueberrestes von Israel; errief: „Bereitet den Weg!" Dieser Weg, welchen der Herr betreten
konnte, waren von der Sünde überführte, ihre Fehler bekennende, bußfertige Herzen, die das Ende des Fleisches
in dem Tode fanden und keine andere Hülfsquelle kannten
als die Gnade. Kaum hat Johannes die Worte: „Der,
welcher nach mir kommt," ausgesprochen, als Jesus selbst
auf den Schauplatz tritt. (Matth. 3,13.) Johannes öffnet
die Thür, und sogleich erscheint auf der Schwelle der
Messias Israels, in der Person jenes armen und demütigen Menschen Jesus.
Wie bewunderungswürdig steht in diesem Augenblick
der große Prophet vor unsern Augen: er erniedrigt sich
261
gleichsam unter die Riemen der Sandalen Christi. (Matth. 3,
11; Joh. 1, 27.) Er erklärt, nötig zu haben, von Ihm
getauft zu werden. (V. 14.) Indem er sich erniedrigt,
erhebt er einerseits die persönliche Würde seines Herrn,
und andrerseits erkennt er, angesichts einer solchen Vollkommenheit, seine eigene Stellung als Sünder an. Aber
noch tausendmal bewunderungswürdiger ist der Heiland
selbst. Er erniedrigt sich, Er, der Allerhöchste, unter Johannes, unter den, der nicht genugsam zu sein erklärte,
die Riemen Seiner Sandalen aufzulösen. „Laß es jetzt
so sein," sagt Er; und indem Er in Gnade an der Taufe
Johannes' mit denen teilnimmt, welche Buße thaten, findet
Er Seine Lust an diesen zerbrochenen und zerknirschten Herzen und will sich mit diesen Herrlichen der Erde verbinden.
(Ps. 16.) Und dann, nicht zufrieden mit dieser Erniedrigung, fügt Er hinzu: „Es gebührt uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen," indem Er so Johannes den Täufer bis
zu sich selbst erhebt und ihn zu Seinem Gefährten in der
Erfüllung des Willens Gottes macht. Der Himmel öffnet
sich über einer solchen Vollkommenheit und betrachtet sie;
und wahrlich, unsre Herzen dürfen sich ebenfalls öffnen,
um sie zu betrachten und zu bewundern.
Johannes der Täufer als Mensch und Zeuge.
(Joh. 1; 3, 28-31.)
Wir haben soeben die Größe Johannes' des Täufers
als Prophet, gemäß dem Worte des Herrn in Matth.
11, 9, betrachtet. Ein zweites Wort aus diesem Kapitel
macht uns mit seiner Größe als Mensch bekannt.
„Wahrlich," sagt der Herr, „unter den von Weibern Ge­
262
bereuen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes
der Täufer." (Matth. 11, 11.) (In Luk. 7, 28 werden
diese Worte allerdings auch auf den Propheten Johannes angewandt.)
In dem ersten Kapitel des Evangeliums Johannes
ist der Täufer, wenn wir so sagen dürfen, in dreierlei
Hinsicht groß: 1) als Person, 2) als Zeuge und 3)
in moralischer Beziehung. Betrachten wir zunächst
seine Person. Von Anfang des Evangeliums an führt
der Heilige Geist, nachdem Er zunächst das vorgestellt hat,
was der Herr in Seiner Gottheit in sich selbst ist, (V. 1 — 5.)
feierlich einen Menschen auf den Schauplatz, der sich durch
seine Sendung vor allen seinen Mitmenschen auszeichnete:
„Es ward ein Mensch gesandt von Gott, sein Name Johannes." (V. 6.) Dann, in V. 8, kennzeichnet Er ihn
durch ein verneinendes Merkmal: „Er war nicht das
Licht." Welch einen persönlichen Wert mußte dieser
Mann haben, wenn der Heilige Geist es für gut gehalten
hat, zu erklären, daß er nicht das war, was Gott selbst
in Seinem Wesen ist! Was Johannes wirklich war, sagt
uns der Herr im 5. Kapitel: Er war „die brennende und
scheinende Lampe; ihr aber wolltet gern für eine Zeit in
seinem Lichte fröhlich sein." (V. 35.) Die Helle dieser
Lampe war so groß, daß sie bei ihrem Erscheinen fast
die Fröhlichkeit hervorrief, welche das Tagesgestirn erzeugt.
Als die Juden von Jerusalem aus Priester und Leviten sandten, um ihn zu fragen, wer er wäre, da antwortete Johannes: „Ich bin nicht der Christns . . . noch
der Prophet", (der in 5. Mose 18, 15—18 angekündigt
worden war). Er hatte also einen solchen Wert in den Augen der Menschen, daß er erklären mußte, er sei nicht die
263
Person, welche in Israel den höchsten Platz einnehmen
sollte! Mit Ausnahme des Christus hatte es niemals
einen Menschen in der Welt gegeben, der größer war als er.
Werfen wir jetzt einen Blick auf sein Zeugnis.
Dasselbe war beinahe unbegrenzt in Verbindung mit dem
göttlichen Charakter, welchen Christus in diesem Evangelium trägt; es war ein vielseitiges Zeugnis, obwohl es
sich nur auf einen einzigen und alleinigen Gegenstand 
bezog.
Zunächst kam Johannes „zum Zeugnis, auf daß er
Zeugte von dem Lichte" — eine Sendung, wie sie in der
Geschichte des Menschen noch nicht dagewesen war. In
moralischer Beziehung war die Welt eine Wüste, in immerwährende Nacht gehüllt; Johannes der Täufer erscheint,
um das Aufsteigen eines Gestirns anzukündigen, das die
Finsternis zerstreuen und den Elenden Gesundheit, Freude
und Leben bringen sollte. Das war das erste Zeugnis
dieses Mannes. Ach! das Resultat desselben hätte seiner
Wichtigkeit entsprechen sollen, denn Johannes kam, „damit alle durch ihn glaubten;" (V. 7.) aber das angekündigte Gestirn wurde weder von der Finsternis erfaßt,
noch von der Welt erkannt, noch endlich von den Seinigen
(Israel) ausgenommen. Die letzteren wollten Wohl für
eine Zeit in dem Lichte der Lampe fröhlich sein, aber sie
wollten nicht zu der Sonne kommen, um das Leben zu
haben. (Joh. 5, 35. 40.)
Zweitens giebt Johannes der Täufer Zeugnis von
dem fleischgewordenen Wort, (V. 15.) von dem Gott,
der Mensch wurde und aus dem Himmel auf die Erde herniederkam, um unsern traurigen Zustand zu heilen und
den Vater zu offenbaren. Welch ein Zeugnis im Vcr-
264
gleich mit dem, was Gott in den früheren Jahrhunderten
geoffenbart hatte! Das Gesetz war durch Mose gegeben
worden; aber das was dem Zustande des Menschen in
Gnade begegnete, indem es zugleich ihn völlig offenbar
machte, war bis dahin unbekannt geblieben. Israel hatte
Gott als den Ewigen, als Jehova erkennen können;
der eingeborene Sohn aber, der in des Vaters Schoß ist,
hat uns in Beziehung zu dem Vater gebracht.
In Vers 19 finden wir ein drittes Zeugnis, und
zwar verneinender Art; denn Johannes sagt hier, was
er nicht ist. Auf dieses Zeugnis scheint der Herr im
5. Kapitel anzuspielen, wenn Er sagt: „Ihr habt zu Johannes gesandt, (vergl. Kap. 1, 19.) und er hat der
Wahrheit Zeugnis gegeben." (V. 33.) Dieses
Zeugnis setzte Johannes den Täufer gänzlich beiseite. Die
Wahrheit bestand darin, daß er, Johannes, nichts war,
und Christus, jener Prophet, den er noch nicht gesehen
hatte, alles. Gerade dieser Umstand verleiht diesem
Zeugnis, wie mir scheint, eine besondere Schönheit: Johannes der Täufer machte sich zu nichts um des Triumphes
der Wahrheit willen. Später erscheint dieser von Johannes
angekündigte Christus, nachdem Er sich selbst zu nichts
gemacht hat, vor Pilatus, giebt der Wahrheit Zeugnis,
daß Er ein König sei, und nimmt keinerlei Rücksicht auf
die Erhaltung Seines Lebens. Johannes der Täufer hatte
gesagt: „Ich bin es nicht." Jesus sagt: „Ich bin es."
Der Herr hätte bei dieser Gelegenheit Stillschweigen beobachten können; aber da es sich um die Wahrheit handelte, so redete und antwortete Er, und Sein Wort war
gleichsam die Unterzeichnung Seines eignen Todesurteils.
Indes giebt es noch ein viertes Zeugnis, (V. 29.)
265
das in der Laufbahn dieses Mannes Gottes von besonderer Wichtigkeit ist. Bis dahin hatte Johannes den Herrn
Jesum noch nicht persönlich kennen gelernt. Jetzt „sieht
er Jesum zu sich kommen", und ein Freudenruf ertönt
von seinen Lippen. Er sagt nicht: Siehe, das Licht, oder:
Siehe, daS Wort, welches Fleisch geworden ist, oder: Siehe,
der Christus! sondern: „Siehe, das Lamm Gottes, welches
die Sünde der Welt wegnimmt!" Der Wert des Werkes
Christi offenbart sich ihm in demselben Augenblick wie
derjenige Seiner Person. Er entdeckt in Jesu das vollkommene Opfer und den Heiland, „das Lamm Gottes," und er sieht Sein Werk; er sieht es bis zur Grenze
der Ewigkeit; er betrachtet es in seinen gesegneten Folgen
bis zur Erschaffung des neuen Himmels und der neuen
Erde, auf welcher Gerechtigkeit wohnt und wo die Sünde
für immer von dem Schauplatz verschwunden sein wird.
Ja, er betrachtet es noch in seinen Resultaten, wenn er
Zeugnis ablegend sagt: „Ich schaute den Geist wie eine
Taube aus dem Himmel herniederfahren, und Er blieb
auf Ihm . . . Dieser ist's, der mit dem Heiligen Geiste
tauft." (V. 32. 33.) Der Gläubige ist durch diese Geistestaufe nunmehr der Wirksamkeit jenes, zu seinen Gunsten
vollbrachten Werkes versichert und mit der Hoffnung erfüllt, bald bei Christo zu sein und Ihm ähnlich in den
Himmeln.
Teurer Leser! das was sich hier mit Johannes ereignete, sollte mit uns allen geschehen. Wir schätzen den
Wert des Werkes Christi nur dann hoch, wenn wir Ihn
persönlich kennen. Wenn Johannes der Täufer eine ausgedehnte Kenntnis in diesen Dingen besaß, so hatte dies
darin seinen Grund, daß Jesus jeden Platz in seinen
266
Gedanken ausfüllte. Die persönliche Bekanntschaft mit
Christo erweitert in unsern Herzen die Kenntnis aller
Dinge, während sie uns zu gleicher Zeit in unsrer eignen
Achtung und in der Achtung der Welt, oder vielmehr in
der Art und Weise, wie wir von ihr geachtet zu werden
suchen, zu nichts werden läßt. Der Apostel Paulus sagt,
indem er die unergründlichen Reichtümer Christi betrachtet:
„Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen." Aber
diese gesegnete Person kann nur durch den Glauben erkannt werden. Sehet nur, zu welchen Entdeckungen die
Menschen kommen, wenn sie sich anstrengen, mit ihrer
Vernunft Gott zu erkennen: sie halten Johannes den
Täufer für den Christus, und sie sagen von Christo, daß
Er Johannes der Täufer sei. (Matth. 16, 14.)
Das letztgenannte Zeugnis des Johannes ist nicht
im eigentlichen Sinne prophetisch, und das ist sehr beachtenswert. Johannes, im voraus unterrichtet, hat diese
Dinge verstanden, wie wir sie verstehen können, indem
wir die Bekanntschaft des Lammes Gottes machen. Auch
finden wir im 34. Verse ein fünftes Zeugnis: „Und
ich habe gesehen und habe bezeugt, daß dieser der Sohn
Gottes ist." Er kann sagen: Jetzt habe ich gesehen,
und ich habe bezeugt, was ich gesehen habe. Dieser Mensch,
welchem Gott selbst Zeugnis gab, indem Er den Heiligen
Geist aus Ihn herabkommen ließ, war der Sohn Gottes.
Ein Zeuge, wie Johannes der Täufer einer war,
hätte sehr leicht eine hohe Meinung von sich selbst bekommen können. Aber was ihn moralisch so groß
macht, (wir haben diesen Punkt schon berührt,) ist dies,
daß er in seinen eignen Augen weniger als nichts war;
nicht weil er sich selbst zu nichts zu machen suchte, sondern
267
weil für ihn Christus alles ausfüllte: die Erde, den
Himmel, die Ewigkeit und sein eigenes Herz; und weil
für ihn nur das Wert hatte, was jene kostbaren Namen
ausdrücken: Herr, Christus, Prophet, Lamm Gottes,
Gegenstand des Himmels, Sohn Gottes, Bräutigam. Sein
Herz war ganz und gar von dem wunderbaren Menschen
eingenommen, der zu ihm kam, aber vor ihm war. Auch
wenn die Abgesandten der Juden ihn fragen: „Was sagst
du von dir selbst?" so antwortet er ihnen: „Ich bin die
Stimme eines Rufenden in der Wüste." Ich sage nichts
von mir selbst; ich bin eine Stimme. Er hätte sagen
können: Ich bin das Sprachrohr Gottes, ein Werkzeug,
durch welches Er redet. Aber nein; ein Werzeug würde
sich noch für etwas halten können. Aber „die Stimme
eines Rufenden" — das nimmt Johannes so zu sagen seine
Persönlichkeit. „Ich bin die Stimme eines Rufenden in
der Wüste," eine Stimme, die ohne Echo bleibt, ohne
Wert für die Ohren der Menschen. „Warum taufst du
denn?" fragt man ihn. Er antwortet: Ich taufe mit
Wasser; aber mitten unter euch steht Einer, den ihr nicht
kennet. Was ist meine Taufe neben der Seinigen!
Am folgenden Tage steht Johannes in Gesellschaft
feiner Jünger und sieht den Sohn Gottes wandeln.
Sein Herz eilt zu Ihm: „Siehe das Lamm Gottes,"
fagt er. Ein hervorragender Lehrer sammelt gern Schüler
um sich, welche seine Lehren anhören. Ist dieser Lehrer
von Gott gesandt, so wird es eine doppelte Befriedigung
für ihn sein, wenn er seinen Schülern eine göttliche
Belehrung mitteilen kann. Nun, ein solcher Lehrer
war Johannes. Aber er treibt seine Jünger zu Jesu
hin und bleibt allein; nicht allein in der Wüste, —
268
daran war er gewöhnt, — sondern allein in der Mitte
dessen, was im Begriff stand, die Familie Gottes zu
werden.
Seine Jünger offenbaren nachher (Kap. 3, 26.) nicht
dieselbe Selbstverleugnung wie ihr Lehrer. Sie kommen
zu ihm und sagen: „Rabbi! der jenseit des Jordans bei 
dir war, dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, Er taust,
und alle kommen zu Ihm." Sie machen aus Johannes
die wichtigste Person und geben Christo den zweiten Platz.
Siehe nm, sagen sie gleichsam zu ihm, wie Er dich behandelt! Johannes aber erinnert seine Jünger an sein
eignes Zeugnis über Christum, und fügt dann hinzu:
„Der die Braut hat, ist der Bräutigam." (V. 29.)
Johannes wußte sehr wohl, daß er nicht die Braut war;
aber der große Prophet begnügte sich gern mit einer untergeordneten Stellung, denn er hatte Christum. Er
war „der Freund des Bräutigams." Die Freudenbezeugungen galten nicht ihm, sondern dem Bräutigam; aber 
was lag daran? Er hörte die Stimme des Bräutigams,
und seine Freude war erfüllt. Andere sollten ihre Freude
in innigeren Beziehungen zu Christo finden, aber die 
Freude Johannes' des Täufers war in einem geringeren
Verhältnis erfüllt; der Herr hatte sie ihm gegeben. Es
war nicht die höchste Freude, aber sie war von Ihm;
und das genügte diesem Manne Gottes. Seine Freude war
in der Person Dessen erfüllt, welcher der Bräutigam einer
Anderen ist. Welch eine rührende Demut bei „dem Größten
unter denen, die von Weibern geboren worden sind"! Ist es
nicht wahr, daß die Freude Johannes' des Täufers, der
doch in einer gewissen Entfernung von dem Herrn stand, viel
größer war, als die unsrige gewöhnlich ist, die wir doch
269
als Christen das Vorrecht haben, uns die Braut Christi
zu nennen? und ruft nicht dieser Gedanke tiefe Demütigung in unsern Herzen hervor? Johannes würdigte
und schätzte unser Verhältnis zu Christo, er bewahrte
das seinige und wünschte kein anderes. Es gab nicht
mehr Eifersucht in ihm als in den Engeln, als diese bei
der Geburt Christi das Wohlgefallen an den Menschen
priesen und das Werk rühmten, welches nicht für sie bestimmt war, sondern für unreine und verlorene Sünder
vollbracht werden sollte. Johannes „stand da," die Augen
auf das Antlitz des Bräutigams gerichtet, während seine
Ohren geöffnet waren, um auf dessen Worte zu lauschen.
Er fand sein ganzes Glück darin, sich selbst zu vergessen,
wie Maria zu den Füßen des Herrn; und er ließ sein
Herz, wie ein Gefäß, sich mit der Flut der Vollkommenheiten eines Bräutigams füllen, welcher nicht der seinige
war. „Er muß wachsen, ich aber abnehmen." Christus
ist gewachsen, Johannes hat abgenommen bis zum völligen
Nichts. Nachdem dieser große Zeuge sein Zeugnis abgelegt hatte, versammelte er seine Jünger um Jesum und
sah sein Zeugnis durch dasjenige von Christo völlig ersetzt.
Sein Ruhm bestand darin, den Ruhm Dessen hervorgerufen zu haben, der allein Ruhm verdient. Möchte es
so auch mit uns sein! Wir sind nicht berufen, uns mit
der prophetischen und persönlichen Größe Johannes' des
Täufers zu bekleiden; aber möchte es uns gegeben sein,
im Vergessen unser selbst, etwas von seiner moralischen
Größe an uns zu tragen, indem Christus das „Ein und
Alles" unsrer Herzen ist! (Fortsetzung folgt.)
270

Wo euer Schatz ist,
da wird auch euer Herz sein."
(Luk. 12, 84.)
Bekanntlich wird die Stellung des Christen vorgebildet durch die verschiedenen Stellungen des Volkes Israel
rn Egypten, in der Wüste und in Kanaan. Indes giebt
es für den Gläubigen, genau genommen, nur zwei Stellungen, von welchen er, je nach dem Zustande seines Herzens,
die eine oder die andere einnimmt. Entweder wandelt er,
Israels Stellung in Egypten entsprechend, in der Welt,
oder er wandelt, Kanaan entsprechend, in den Himmeln.
Im ersten Falle ist die Welt für ihn eine Heimat, im
zweiten eine Wüste. Daher verwirklicht ein Christ die Wüste
nur insoweit, als er Kanaan verwirklicht, das heißt, seinen Wandel im Himmel führt. Aber dies wird er nur
dann thun, wenn der Gegenstand seiner Zuneigungen sich
dort befindet; „denn wo euer Schatz ist, da wird auch
euer Herz sein." Das Herz folgt dem Gegenstand seiner
Zuneigungen, und die Füße folgen dem Herzen. Daher
der große Unterschied in dem praktischen Wandel der
Christen; ein Unterschied, der sie grundsätzlich in zwei
Klassen teilt, welche durchaus von einander verschieden
sind und auch völlig entgegengesetzte Richtungen verfolgen.
Beide Klassen finden sich deutlich gekennzeichnet in Phil. 3;
die eine findet ihren Vertreter in dem Apostel, die andre
in jenen Personen, von welchen in dem 18. und 19. Verse
dieses Kapitels die Rede ist. Eine Vergleichung der verschiedenen Gesinnung dieser beiden Klassen kann nur nützlich für uns sein, da sie uns in den Stand setzt, die
unsrige zu prüfen. Die Gesinnung des Apostels war eine
271
durchaus himmlische. Er konnte sagen: „Eines aber 
thue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend
nach dem, was davorne ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel
anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes
nach oben in Christo Jesu." (V. 14.) Paulus konnte am
Ende seiner Laufbahn auf ein sehr bewegtes, wechselvolles
Leben zurückblicken. Keiner seiner Zeitgenossen kam ihm
im Blick auf seine unermüdliche Thätigkeit im Werke des
Herrn gleich, wie er selbst sagt: „Ich habe viel mehr
gearbeitet als sie alle." (1. Kor. 15, 10.) Als Apostel
der Nationen war er der Gründer vieler Versammlungen,
sowohl in Asien als auch in Europa. Zugleich bildete sein
ganzes Leben eine ununterbrochene Kette von Sorgen um
das Wohl der Gläubigen, von Leiden, Gefahren und
Trübsalen aller Art. Alles zeugte von dem großen Interesse,
welches er für die Versammlung Gottes hatte. Und doch,
so groß und schön dies alles auch war, so muß es doch
als Nebensache erscheinen im Vergleich mit seinem Interesse
für die vor ihm liegende Herrlichkeit, welche Christum
zu ihrem Mittel- und Ausgangspunkt hatte. Dieser Gegenstand war so kostbar für sein Herz, daß nach seinem Urteil nichts in dieser Welt damit verglichen werden konnte.
Im Anschauen dieser Herrlichkeit vergaß er alles, was
das natürliche Herz hienieden fesseln kann, und betrachtete
die Welt mit allen ihren Leiden und Freuden gleichsam
als eine Sache, die bereits hinter ihm lag. Für ihn war
die Welt in der That eine Wüste, in welcher er gleich
seinem geliebten Herrn nur ein Fremdling war. Darum
hielt er es auch für eine Ehre, die Schmach Christi zu
tragen und der Gemeinschaft Seiner Leiden teilhaftig zu
werden.
272
Wie völlig verschieden hiervon war die Gesinnung
der anderen Klasse! Ganz und gar auf das Irdische gerichtet, stand sie mit der Gesinnung des Apostels in unmittelbarstem Gegensatz. Wir lesen in den oben genannten
Versen: „Denn viele wandeln, von denen ich euch öfters
gesagt, nun aber auch mit Weinen sage, daß sie die Feinde
des Kreuzes Christi sind: deren Ende Verderben, deren
Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande ist,
die auf das Irdische sinnen." Die hier beschriebenen Personen waren nicht Feinde Christi, aber wegen ihrer
weltlichen Gesinnung haßten sie das Kreuz Christi. Die
Schmach und die Leiden um Christi willen vertrugen sich
nicht mit ihrem Trachten nach Ehre, Ansehen und Bequemlichkeit in dieser Welt. Um diese eitlen Dinge zu erlangen, gingen sie Wege, welche eines Bekenners Christi
nicht nur unwürdig, sondern sogar eine Schande für ihn
waren. Denn gerade so wie es für den gläubigen Lot
eine Schande war, im Thore des gottlosen Sodom zu
sitzen, so ist es auch eine Schande für den Christen, einen
Ehrenplatz zu suchen in einer Welt, wo sein Herr und
Meister die Schmach des Kreuzes erduldet hat.
Welch ein vollständiger Gegensatz zwischen diesen Personen und dem Apostel! Dieser suchte, waS droben, jene,
was hienieden ist; dieser wünschte die Leiden Christi zu
teilen, indem er sein eignes Leben für nichts achtete; jene
suchten um ihrer eignen Bequemlichkeit willen diesen Leiden
auf alle mögliche Weise zu entgehen.
Vielleicht wird man sagen, es handle sich an jener
Stelle nicht um wahre Christen, da es von ihnen heiße:
„deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und deren
Ehre in ihrer Schande ist." Aber es ist nicht unsre
273
Sache, zu untersuchen, ob sie wahre Christen waren oder
nicht. Sie bekannten wahre Christen zu sein, und der
Apostel betrachtete sie von diesem Standpunkte aus; denn
wie hätte er anders mit Weinen von ihnen sprechen oder 
eine andere Gesinnung von ihnen erwarten können, als
diejenige war, welche sie offenbarten? Und ich möchte
fragen: Giebt es nicht Viele in unsern Tagen, welche
wahre Christen zu sein bekennen, und dennoch die Welt
lieb haben? Giebt es nicht Viele, die auf das Irdische
sinnen, deren Dichten und Trachten nach den Dingen
dieser Welt steht? Und ist ihre Gesinnung wohl besser
als diejenige, von welcher der Apostel in so ernsten Worten redet? Vielleicht suchen sie ihre weltliche Gesinnung
durch die Verhältnisse zu entschuldigen, durch die Dringlichkeit ihrer Geschäfte oder die Schwierigkeiten ihrer Stellung. Aber würden sie wohl in einer solchen Gesinnung
vorangehen oder derartige Entschuldigungen vorbringen,
wenn Christus der ausschließliche Gegenstand ihrer Herzen
wäre, wie es bei dem Apostel der Fall war? Wahrlich
nicht! Anstatt ihre Herzen nach den Verhältnissen und
Geschäften zu richten, würden alsdann umgekehrt diese sich
nach dem geistlichen und himmlischen Zustande ihrer Herzen
richten müssen. Aber ihr Trachten nach dem Irdischen
liefert den traurigen Beweis, daß nicht Christus den ersten
Platz in ihren Herzen hat. Sie verwirklichen weder die
Wüste noch Kanaan, sondern ihre Herzen sind in der Welt
und lieben, wie Israel, die Fleischtöpfe Epyptens. Wohl
müssen solche Gläubige trotz allem die Erfahrungen der
Wüste machen, indem Gott in Seiner züchtigenden Liebe
nicht erlaubt, daß ihre fleischlichen und irdischen Wünsche
befriedigt werden. Wo aber bleibt bei ihnen der Wandel
274
eines wahren Christen? Wo der Wandel im Himmel?
Wo die Sehnsucht nach dem Kommen des Herrn? Wo
daS freudige Ausharren inmitten der Schwierigkeiten der
Wüste? Wo die Sprache und die Gesinnung des Apostels?
Er konnte sagen: „Das Leben ist für mich Christus, und
das Sterben Gewinn", und er kannte nur den einen
Wunsch, daß Christus hoch erhoben werden möchte an seinem Leibe, sei es durch Leben oder durch Tod. (Phil. 1,
20. 21.)
Wie betrübend ist es, und wie sehr verunehrt es den
Herrn, wenn Kinder Gottes über die Wege Gottes mit
ihnen murren und klagen, wie einst die Kinder Israel:
„Wären wir doch im Lande Egypten gestorben durch die
Hand Jehovas, als wir bei den Fleischtöpfen saßen, als
wir Brot aßen bis zur Sättigung! . . . Wer wird uns
Fleisch zu essen geben? Wir gedenken der Fische, die wir
umsonst aßen in Egypten, der Gurken und der Melonen
und des Lauchs und der Zwiebeln und des Knoblauchs;
und nun ist unsre Seele dürre; gar nichts ist da, nur
auf das Mau sehen unsre Augen." (2. Mose 16, 3;
4. Mose 11, 4. 5.) Egypten mit seinen Gurken und
Zwiebeln hatte weit mehr Anziehungskraft für ihre Herzen,
als Kanaan, das herrliche Land der Verheißung. Gewiß
haben wir alle Ursache, uns tief zu schämen und vor dem
Herrn zu demütigen, wenn auch nur im entferntesten eine
ähnliche Gesinnung in uns sich kundgiebt! Eine weltliche
Gesinnung ist umso trauriger, wenn man bedenkt, daß sie
die Ursache so vieler betrübender Erscheinungen unter den
Gläubigen ist, durch welche der Name des Herrn verunehrt
wird. Vernachlässigung des Gebets, des Wortes Gottes
und der christlichen Gemeinschaft; Mangel an)Interesse
275
für das Werk des Herrn; Abnahme der Gottesfurcht;
Ausschreitungen aller Art; ungleiche, schriftwidrige Verbindungen und Eheschließungen; unredliche Geschäftsführung
und dergleichen mehr sind die schmerzlichen Folgen einer
solchen Gesinnung. Wie dringend not thut es daher, mit
allem Ernst darüber zu Wachen, daß Christus der ausschließliche Gegenstand unsrer Herzen sei und bleibe! Alsdann brauchen wir nicht für eine himmlische Gesinnung zu
sorgen. Sie wird sich als naturgemäße Folge von selbst ergeben.
„Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein."
Ein vollkommenes Gewissen.
Wir lesen in Hebr. 9, 9, daß die unter der mosaischen Haushaltung dargebrachten Gaben und Schlachtopfer denjenigen nicht vollkommen machen konnten, der den
Gottesdienst ausübte. Ebenso heißt es in Hebr. 10, 1:
„Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen
Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat, so kann es
nimmer mit denselben Schlachtopfern, die sie alljährlich
ununterbrochen darbringen, die Hinzutretenden vollkommen
machen." Der Apostel zeigt uns in den beiden genannten
Kapiteln den völligen Gegensatz zwischen den Opfern des
Alten Bundes und dem Opfer Christi. Jene konnten nie
ein vollkommenes Gewissen geben, und zwar aus dem
einfachen Grunde, weil sie selbst nicht vollkommen waren.
Sie waren nur Vorbilder und Schatten, die wohl für
einen Tag, einen Monat oder ein Jahr ihren Wert haben
mochten, aber unmöglich für immer ausreichen konnten.
Deshalb war das Gewissen eines jüdischen Anbeters nie
vollkommen. Er konnte nie sagen, daß sein Gewissen
276
völlig gereinigt sei, weil die von ihm dargebrachten Opfer
es nicht zu reinigen vermochten. „Denn würden sie sonst
nicht aufgehört haben, dargebracht zu werden, weil die
den Gottesdienst Uebenden, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden gehabt hätten? Aber in jenen
Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden; denn
unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden
hinwegnehmen." (Kap. 10, 2—4.)
Ganz anders ist es mit dem christlichen Anbeter. Er
hat in Christo ein vollkommenes Opfer gefunden. „Denn
durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden." (Kap. 10, 10.) Und auf
Grund dieses Opfers erklärt Gott: „Ihrer Sünden und
ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken. Wo
aber eine Vergebung derselben ist, da ist nicht mehr ein
Opfer für die Sünde." (V. 17. 18.) Wie das Opfer,
so ist das Gewissen, welches auf demselben ruht. Ist das
Opfer unvollkommen, so ist es auch das Gewissen; ist
jenes aber vollkommen, so ist auch das Gewissen vollkommen. Beide stehen und fallen mit einander. Sicher
könnte für ein aufgewecktes Gewissen nichts einfacher,
nichts zuverlässiger und tröstlicher sein. Es handelt sich
gar nicht um das, was ich bin. Ich weiß, daß ich in
mir selbst nur ein unreiner, gottloser und feindseliger
Sünder bin, in welchem nichts Gutes wohnt. Aber ich
habe im Glauben meine Zuflucht zu dem Opfer Christi
genommen, zu Seinem auf dem Kreuze für Sünder vergossenen Blute, und habe dieses Opfer und dieses Blut
erlangt. Mehr bedarf ich nicht; denn Sein Blut reinigt
von aller Sünde. Was könnte diesem so überaus kostbaren Blute noch hinzugefügt werden? Nichts! Was den
277
Zustand meines Gewissens betrifft, so bin ich vollkommen.
Ich bedarf weder eines Gesetzes, noch eines Sakramentes,
noch einer Zeremonie, um den Zustand meines Gewissens
vollkommen zu machen. Das zu behaupten oder zu denken,
hieße eine Unehre auf das vollkommene Werk des SohneS
Gottes bringen.
Es ist vor allem wichtig und nötig, über diese wahre
und sichere Grundlage eines guten und vollkommenen Gewissens klar und gewiß zu sein. Sind wir darüber in
Ungewißheit oder in Unkenntnis, so werden wir nie wahren Frieden mit Gott haben. Haben wir aber wirklich
durch den Glauben erkannt, daß durch das Opfer Christi
nicht nur Gott in allem, worin wir Ihn verunehrt haben,
überströmend verherrlicht worden ist, sondern auch daß
alle unsre Sünden völlig getilgt sind, und Christus an
unsrer Statt das Gericht und den Tod erduldet hat, so
wissen wir auch, daß wir jetzt stets das große Vorrecht
haben, uns auf Grund des vollbrachten Werkes Christi
als ein für allemal gereinigte Anbeter einem verherrlichten
Gott zu nahen. Da ist kein Vorhang mehr, wie zur
Zeit jener kraftlosen Opfer, welche keine Sünden hinwegnehmeu konnten; er ist von oben bis unten in zwei Stücke
zerrissen. Ebenso hat Gott durch die Auferweckung Christi
aus den Toten auf das bestimmteste erklärt, daß für diejenigen, welche an Ihn glauben, alles gut gemacht, alles
völlig geordnet ist.
ES giebt gewiß viele aufrichtige Seelen, welche die
unaussprechliche Segnung eines vollkommenen Gewissens
nicht genießen, weil sie mit sich selbst und nicht mit dem
vollgültigen Opfer Christi beschäftigt sind. Sie blicken
auf sich selbst und finden da natürlich nichts, worauf sie
278
ruhen können, nichts Vollkommenes; sie halten es deshalb für Einbildung oder gar für Vermessenheit, an
irgend welche Vollkommenheit zu denken. Sie sind aber 
im Irrtum. Sie mögen es ernst und aufrichtig meinen,
aber sie sind im Irrtum. Sprächen wir von einer Vollkommenheit im Fleische, nach welcher leider! so Viele
vergeblich trachten, dann hätte freilich jeder Christ eine
solche Anmaßung und thörichte Einbildung mit Abscheu
zurückzuweisen. Aber wir reden nicht von einer Vollkommenheit in uns selbst oder im Fleische, noch von einer
Verbesserung dessen, was unverbesserlich ist. Sich damit
zu beschäftigen, wäre in der That eine armselige, niederdrückende und durchaus vergebliche Arbeit. Es hieße auf
eine Vollkommenheit der alten Schöpfung warten, in
welcher Sünde und Tod regieren. Wie vergeblich und
hoffnungslos würde ein solches Warten sein! Und doch,
wie Viele sind damit beschäftigt! Sie suchen den Menschen
zu veredeln und die Welt zu verbessern. Sie haben nie
etwas damit erreicht; sie haben aber auch die erste und
einfachste Seite der christlichen Vollkommenheit, die Vollkommenheit des Gewissens in der Gegenwart Gottes, nie
erkannt; ja, sie verleugnen sie thatsächlich.
Es ist gewiß von der höchsten Wichtigkeit, daß wir die
feste und sichere Grundlage unsers Friedens, die Gott
selbst gelegt hat, wirklich erkennen. Erst dann treten wir
in das köstliche Bewußtsein ein, daß durch das Blut
Jesu alle unsre Sünden getilgt sind und unser Gewissen
vollkommen gereinigt ist. Die ganze Sache hängt von dem
auf Golgatha vollbrachten Opfer ab. Es handelt sich nicht
um das, was wir sind, oder welchen Wert wir dem Opfer
Christi beilegen, sondern allein um die Frage, welchen Wert
279
das Blut des eingebornen Sohnes in den Augen GotteS
hat. Das macht die ganze Sache einfach und klar. Ist
sie es auch für dich, mein lieber Leser? Ruhst du in
diesem vollkommenen Opfer? Ist dein Gewissen, im Vertrauen auf dieses kostbare Blut, vor Gott völlig frei gemacht? Möge es also sein! Möge dir der Heilige Geist
die Fülle und Vollkommenheit des Versöhnungswerkes Christi
mit solcher Klarheit und Kraft zeigen, daß du mit einem
gänzlich befreiten Gewissen Gott Lob, Dank und Anbetung
darbringen könnest!
Es ist höchst schmerzlich, an die Tausende zu denken,
welche in Dunkelheit und Knechtschaft gehalten werden,
anstatt in dem Lichte und in der Freiheit zu wandeln,
welche das Teil eines vollkommen befreiten Gewissens sind.
Mit dem einfachen Zeugnis des Wortes und des Geistes
Gottes über den Wert des Werkes Christi werden so viele
Dinge vermengt, daß es ganz unmöglich ist, zu einer
wghren Befreiung des Gewissens zu kommen. Man will
sie zum Teil durch Christum erlangen und zum Teil durch
sich selbst, teils durch Gnade und teils durch Gesetz, teils
durch Glauben und teils durch Werke. Auf diese Weise
schwebt die Seele stets zwischen Vertrauen und Zweifel,
zwischen Hoffnung und Furcht. Wie viele teure Seelen
gehen in dieser Unsicherheit und Ungewißheit einher, und
haben nicht das Bewußtsein einer völligen, gegenwärtigen
und ewigen Errettung! Ein vollkommenes Gewissen vor
Gott ist nur das köstliche Teil derer, welche im Glauben auf
dem vollbrachten Werke Christi ruhen, und auf diesem
Werke allein. Der Herr gebe, daß dies auch dein gesegnetes Teil sei, mein lieber Leser!
280
Kehre wieder zu deiner Ruhe, meine Seele
(Ps. 116, 7.)
Mein armes Herz, was klagest du
So bang und tiefbetrübt?
O kehr' zurück zu deiner Ruh',
Zu Ihm, der stets dich liebt!
Der alle, die beladen,
Einst zu sich rief in Gnaden,
Er ist's, der dir Erquickung beut
Und Ruhe giebt im tiefsten Leid.
Auf Jesum sieh' in deinem Schmerz,
Was auch dein Kummer ist;
Er hört dein Flehn, versteht dein Herz,
Weiß, was dir heilsam ist.
Dem einst, wie Er gesprochen,
Der Hohn das Herz gebrochen, —
Dies Herz, so voll von Liebesglnt,
Weiß, wie im Leiden dir zu Mut'!
Als Hoherpriester bittet Er
Voll Mitleid Tag und Nacht;
Ist Schild und Mauer um dich her,
Trotz Satans List und Macht.
Drum bleib in Seiner Nähe,
Auf daß dir nichts geschehe;
Sein sanftes Joch, die leichte Last,
Nur gern und willig ausgefaßt!
Und droben winkt dir sel'ge Ruh'
Im teuren Vaterhaus!
Ich komme bald, ruft Er dir zu —
Harr' noch ein wenig aus!
Zu Ihm emporgehoben,
Wirst du Ihn ewig loben.
Ans dieser Zeiten kurzes Leid
Folgt ew'ge Ruh' und Seligkeit.
——-----
Johannes der Täufer.
VI.
Wie Johannes schwach wurde.
(Matth. 11.)
Bis hierhin haben wir Johannes den Täufer in
den verschiedenen Abschnitten seiner Entwicklung als Mann
des Glaubens betrachtet. Wir kommen jetzt zu dem einzigen Punkt in seiner Geschichte, wo sich Ohnmacht und
Schwäche bei ihm offenbaren. Wie Elias, so hatte auch
Johannes, der große Prophet, seine Stunde der Mutlosigkeit. Er saß im GefüngnssHnd^zwar ohne daß
"sein Herr und Meister irgend etwas gethan hätte, um
ihn aus Demselben zu befreien; er sah sich in seinen
Hoffnungen getäuscht, und die Frucht seiner Sendung
schien verloren zu sein. Das Volk, an Christo sich ärgernd,
hatte sich nicht unter Seine Flügel gesammelt; der Messias
wurde so wenig anerkannt, daß Er nicht einmal hatte,
wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Dieser glorreiche
Herr, welchen er als Den angekündigt hatte, der Seinem
Boten auf dem Fuße folgen und „plötzlich zu Seinem
Tempel kommen" (Mal. 3, 1.) würde, in Seiner Hand
die Worfschaufel haltend, um Seine Tenne durch und
durch zu reinigen, war wie ein unreiner und verächtlicher
Gegenstand von Allen verworfen worden. Inmitten solcher Umstände war die Mutlosigkeit des Propheten wohl
natürlich, aber es war nicht der Glaube, welcher sie
hervorrief; denn diese Mutlosigkeit brachte Johannes den
282
Täufer dahin, an Christo zu zweifeln und sich zu fragen,
ob Er wirklich der verheißene Messias sei, welcher nach
dem Worte Maleachis kommen sollte. (Mal. '3, 1.) Johannes der Täufer fragt sich nicht in seiner Ungewißheit,
ob er selbst wohl der rechte Bote sei; ach, unsre Schwachheiten bringen uns viel eher dahin, an Gott irre zu
werden, als an uns selbst. Dennoch giebt es in dieser
Scene etwas Tröstliches; war Johannes auch dahin gekommen, den messianischen Charakter des Heilandes in
Zweifel zu ziehen, so zweifelte er in anderer Hinsicht doch
durchaus nicht an Ihm. Das Wort Jesu ist die einzige
Hülfsquelle für ihn, und dieses Wort genügt ihm. „Bist
Du der Kommende, oder sollen wir eines Anderen warten?"
Diese Frage bewies ohne Zweifel eine Abnahme seines
Glaubens, ein Einhalten auf seinem Glaubenswege; aber
Gott sei Dank! dennoch ging sie aus dem Glauben hervor, und dieser letztere fand, so schwach er auch sein
mochte, das, was er stets finden wird: eine vollkommene
Antwort. Nichtsdestoweniger hat Johannes, dieser große
Zeuge, hier in seinem Zeugnis gefehlt. So ist es immer
mit dem Menschen; er fehlt in irgend etwas, wäre er
selbst ein Johannes der Täufer; vor Christo kann er
nicht standhalten. Wir verlieren dadurch aber auch nichts.
Der Herr allein bleibt unveränderlich. In Joh. 1 war
es schön zu sehen, wie sich der Glaubensmann vor dem
Herrn demütigte; aber noch bewunderungswürdiger ist der
Herr selbst, wenn Er allein stehen bleibt, nachdem der
Mensch von dem Schauplatz hat verschwinden müssen.
Betrachten wir nun noch ein wenig eingehender die
Rollen des Heilandes in dieser Scene. Während Johannes
an Christo zweifelt, begegnet der Herr der Schwachheit
283
Seines Dieners dadurch, daß Er Seine Gnade vor ihn
hinstellt: „Gehet hin und verkündet Johannes, was ihr
höret und sehet (SeilstüWorte und Sein^Werke): Blinde
werden sehend, und Lahme wandeln, Aussätzige werden
gereinigt, und Taube hören, und Tote werden auferweckt,
und Armen wird gute Botschaft verkündigt." (V. 4. 5.)
Alle diese Wunder, welche unter den Augen der Abgesandten Johannes' des Täufers vollbracht wurden, waren
Zeichen der Gegenwart des Messias in Israel, (Vergl.
Jes. 61, 1. 2.) aber eines Messias, der in Gnade erschienen war. War diese Gnade etwa geringer als die
von dem Täufer erwartete Herrlichkeit? Auf seine Frage
antwortet Jesus gleichsam: Die Gnade wohnt in Macht
^enieden^und^Armen wird^gute Botschaft verkündigt."
Es ist ein koMarer Gedanke für mich, daß in der
gegenwärtigen traurigen Zeit, wo alle Wunder aufgehört
haben, Jesum in der Verkündigung des Evangeliums an
die Armen erkennen und sagen kann: Ich selbst habe den
Herrn gehört! — Jesus schließt Seine Botschaft an Johannes mit den Worten: „Und glückselig ist, wer irgend
sich nicht an mir ärgern wird!" (V. 6.) Angesichts der
Verwerfung Christi seitens des Volkes fand ein glückseliger Ueberrest, überführt von seiner Sündhaftigkeit,
anstatt die Herrlichkeit des Messias zu erwarten, die 
Gnade in einem verworfenen Heiland, welcher für den
sündigen Menschen gekommen war. Die Gnade in Jesu
zu erkennen, machte das Glück dieser Wenigen aus. Welch
«in sanfter und zarter Verweis für Johannes den Täufer!
Hätte er sich nicht dieser Gnade erinnern müssen, er, der
Jesum als „das Lamm Gottes" begrüßt hatte? — „Glückselig, wer irgend sich nicht an mir ärgern wird!" — Ge­
284
hörst du nicht mehr zu diesen Glückseligen? scheint ihm
die Stimme des Heilandes zuzurufen. Aber zur Verherrlichung Christi muß der große Prophet Johannes ebensosehr ein Gegenstand der Gnade sein wie die übrigen.
Während so der gefangene Vorläufer den Mut verliert und für einen Augenblick sein Zeugnis fahren läßt,
giebt der Herr selbst dem Johannes vor der Volksmenge
Zeugnis. Welch eine Gnade! Welch eine göttliche Zartheit offenbart sich darin, daß der Herr gerade diesen
Augenblick wählt, um den Charakter Johannes' des Täufers allen denen ins Gedächtnis zurückzurufen, welche infolge seiner Zweifel eine geringere Meinung von seinem
Charakter als Prophet bekommen mußten! „Was seid
ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? ein Rohr,
vom Winde hin und her bewegt?" Einen Menschen, schwach
und in der Prüfung unbeständig? Ja, mochte er sich auch
in dem Augenblick, als Jesus redete, in dieser Weise
offenbaren, so war es doch im Anfang seiner Laufbahn
anders mit ihm gewesen; und damals war der Ruf an
sie herangetreten, ihn anznerkennen. Oder waren sie wohl
hinausgegangen, um einen reichen Menschen zu sehen,
einen Mann in den Kleidern der Großen dieser Welt?
Wahrlich nicht! Und Johannes blieb der große Bote,
von welchem Mal. 3 spricht, wenn auch der Herr nicht
in Seinen Tempel eingetreten war. Ein wenig weiter
fügt Jesus, indem Er nicht mehr auf Mal. 3, sondern
auf Mal. 4, 5 anspielt, hinzu: „Und wenn ihr es annehmen wollt, er ist Elias, der kommen soll." Hätten
sie den Herrn Jesum angenommen, so hätte das Königreich aufgerichtet, der über dem Volke schwebende Fluch
entfernt und die Beziehungen Gott gemäß in Israel
285
wiederhergestellt werden können, und in diesem Falle
würde eine zukünftige Sendung des EliaS nicht notwendig
gewesen sein; Johannes der Täufer, der in dem Geiste
und der Kraft des Elias gekommen war, würde so zu
sagen den zukünftigen Propheten ersetzt haben. *)
In den folgenden Versen (16 — 19) begnügt sich Jesus
nicht damit, die Größe Seines Boten Zu bestätigen, sondern Er erhebt ihn in Gnade vor der Volksmenge zu der
Höhe seines Meisters, oder besser gesagt, Er vereinigt sich
mit ihm im Zeugnis. Ihre beiden Zeugnisse glichen sich
nicht: Johannes der Täufer wurde vou deuen dargestellt,
welche Klagelieder sangen, da er das Volk zur Buße rief;
der Herr war deuen gleich, welche auf der Flöte spielten:
Er brachte allen die süße Melodie der Gnade. Johannes
zeigte sich den Juden in der Strenge eines Propheten,
abgesondert von dem Volke, über welches das Gericht ausgesprochen war; der Herr Jesus verkehrte vertraulich und
freundlich mit dem Menschen, um, wenn möglich, das Vertrauen der Sünder für Gott zu gewinnen. Doch beide
Zeugnisse hatten keinen Widerhall gefunden, beide Zeugen waren verworfen worden. Ja, der Mensch ließ diese
Zeugnisse nicht nur unbeantwortet, er that noch weit
Schlimmeres: er sagte von Johannes, er habe einen
Teufel, und er klagte Christum der Teilnahme an den
*) Dies erklärt auch, warum Johannes der Täufer den Abgesandten der Juden sagte, daß er nicht Elias wäre. Infolge der
Verwerfung des Messias ist es einem Andern aufbewahrt, die Sendung von Maleachi 4 auszuführen. Wer wird dieser zukünftige
Elias sein? „Elias der Prophet" wird er genannt. Wir müssen
uns daran erinnern, daß Elias den Tod nicht gesehen hat. Dieser
Mann wird ein würdiger Vorläufer Dessen sein, der zum Gericht
kommen wird.
286
Befleckungen derer an, welche zu erretten Er gekommen
war. Welch ein Gewicht von Leiden haben die Menschen,
dadurch daß sie die Gnade verwarfen und sie s o verwarfen, auf das Herz des Heilandes gehäuft!
Während nun Johannes der Täufer, wankend unter
der Last der Verwerfung und der Schande, einem Rohre
gleicht, das vom Winde hin und her bewegt wird, bleibt
Christus allein aufrecht in der Mitte der Trümmer. Der
Prophet und der Mann des Glaubens, die Weisen und
Verständigen dieser Welt, Israel mit seinen Städten und
Dörfern, nichts bleibt übrig; Er aber bleibt ewig. Er
bleibt, nicht nur in einer göttlichen Ruhe, die allem zu begegnen weiß, sondern auch in einer heitern und unaussprechlichen Freude, obwohl Sein liebendes Herz blutet und von
der unverdienten Schmach zerrissen ist. „In selbiger Stunde
frohlockte Jesus im Geiste," lesen wir im Evangelium
Lukas. (Kap. 10, 21.) Die Hoffnungen Israels wurden
durch die Thatsache der Verwerfung Christi unterbrochen,
aber gerade dieses eröffnete vor dem Auge des Herrn weite
und unendliche Gebiete. Jehova verbarg sein Antlitz, —
der Vater wurde geoffenbart. Der Himmel öffnete sich,
wenn die Erde dem Christus die Thür verschloß. Unmündige, kraft- und wertlose Wesen, wurden zu dem Genuß derDöchsten Segnungen erhoben, während die Weisen und die Verständigen der Verblendung anheimfielen.
Der Kleinste im Reiche der Himmel war von nun an
größer als^der Größte der Propheten, (V. 11.) und zwar
durch den Genuß von Vorrechten, welche den Hervorragendsten unter den Vertretern des Gesetzes unbekannt
geblieben waren. Von nun an sollte ein kleines Kind
Christo näher sein, was seine Stellung, Erkenntnis und
287
Herrlichkeit betrifft, als der größte Zeuge von dem Kommen Seines Reiches. Ich wiederhole, der Herr sieht in
Seiner Verwerfung die Grundlage der gegenwärtigen und
zukünftigen Segnungen des Reiches für das Volk Gottes.
Das Volk nach dem Fleische hatte in der traurigsten
Weise gefehlt; es hatte der fleischlichen Abstammung nach
kein Recht mehr an dem Reiche. Von nun an bemächtigte 
man sich desselben mit Gewalt, man trat nicht mehr durch
Erbrecht in das Reich ein; um daran teil zu haben, bedurfte es einer That des Glaubens, des Verlassens der
bisherigen Verbindungen und des Bruches aller natürlichen Bande.
Die Masse des Volkes hatte sich von dem Herrn
abgewandt, aber ein Ueberrest blieb nach der Wahl der
Gnade, gebildet kraft des infolge der Verwerfung des
Heilandes vollbrachten Erlösungswerkes. Wer zu diesem
Ueberrest gehörte, ärgerte sich nicht an Ihm. Diesen Gewaltthuenden gehörte von jetzt an das Reich; als Kinder
der Weisheit, durch sie gezeugt, rechtfertigten sie ihre
Mutter, indem sie die Gnade annahmen. An diesen Wenigen fand der Herr Seine Wonne; und wenn Sein
Gnadenwerk auch nur eine einzige arme Samariterin Ihm
zugeführt hätte, so würde Ihm dies dennoch genügt haben,
um zu sagen: „Die Felder sind weiß zur Ernte."
Der verworfene Jesus bleibt allein inmitten der
Trümmer, fest und sicher, ist mit Freude erfüllt und lobt den
Vater, wenn es keine Hoffnung mehr auf feiten des Menschen giebt. Er ist nicht vollkommener (das wäre unmöglich), wohl aber steht Er in unbedingterer Vollkommenheit
vor uns in den Umständen, welche, den Glauben des
Menschen auf die Probe stellend, die Untüchtigkeit und
288
Schwäche desselben offenbarten. Allein stehend als ein
starker Turm, als eine sichere Zufluchtsstätte, sagt Er:
Kommet her zu mir! Man hätte weder zu Johannes dem
Täufer, noch zu irgend einem Andern seine Zuflucht nehmen können; die Mühseligen und Beladenen dieser Welt
konnten nur bei Christo Ruhe finden. Die Gnade, welche
armen Sündern das Herz des Vaters offenbarte, konnte
nur in Seiner Person erkannt werden. Und der praktische
Frieden des Herzens in dem Aufgeben des eigenen Willens konnte nur dann verwirklicht werden, wenn man ihn
von Ihm, dem vollkommenen und dem Willen des Vaters
unterworfenen Menschen, gelernt hatte.
Johannes der Täufer ist verschwunden, ^er, welchen
er angekündigt hatte, bleibt allein übrig: Er, der allein fähig
war, in Gnade der Schwäche Seines Dieners zu begegnen;
Er, der allein die ganze Last eines Gnadenwerkes zu
tragen vermochte, welches die Grundlage der neuen Schöpfung bildet; Er, der einzige Anziehungspunkt für jeden
nach Gnade dürstenden Sünder, das einzig vollkommene
Vorbild für einen jeden, der Ihm nachahmen will.
Das Gesetz und die Propheten haben ihr Ende gefunden; die Gnade in Christo bleibt, sie ist festgcstellt in
Ewigkeit. (Schluß folgt.)
Was ist Gemeinschaft?
Bei den verschiedenen Auffassungen, welche unter den
Gläubigen betreffs unsrer Gemeinschaft mit Gott und unter
einander herrschen, mag es gut sein, das Wesen und den
Charakter dieser Gemeinschaft ein wenig näher zu untersuchen; umsomehr als unser praktischer Zustand, unser
289
Wandel und unser gegenseitiges Verhältnis als Christen
aufs innigste damit verbunden sind. Wenn wir nicht in
Gemeinschaft mit Gott wandeln, so haben wir auch keine
wahre Gemeinschaft unter einander, und unser Wandel
trägt nicht einen himmlischen, sondern einen irdischen
Charakter.
Was also ist Gemeinschaft mit Gott, und was ist
die Grundlage derselben?
Viele wähnen, die Gemeinschaft mit Gott bestehe
darin, daß man in allen Dingen seine Zuflucht zu Ihm
nehme, und seine Angelegenheiten mit Gebet und Flehen
vor Ihn bringe. Daß dies gut und dem Herrn wohlgefällig ist, brauchen wir nicht zu sagen. Allein man würde
sich täuschen, wenn man unter einem solchen Verhalten die 
eigentliche Gemeinschaft mit Gott verstehen wollte. Vielmehr ist jenes die Folge und gesegnete Frucht von diesem,
so daß man in dem Gebet und Flehen zu Gott um so
treuer sein wird, je mehr man in Gemeinschaft mit Gott
ist. Dian wird alsdann alle seine leiblichen und geistlichen Bedürfnisse zu einem Gegenstand des Gebets machen,
und die geringsten Dinge mit demselben Ernst vor Gott
erwägen wie die wichtigsten. Das Gebet ist der Ausdruck
unsrer Abhängigkeit von Gott; und wir wandeln nie abhängiger von Ihm, als wenn wir uns wirklich in Seiner
Gemeinschaft befinden. Nichts könnte auch tröstlicher für
uns sein inmitten einer Welt voll Prüfungen, Schwierigkeiten und Versuchungen, als unsre Herzen vor Ihm ausschütten, Ihm alles sagen, und auf Seinen Beistand und
Seine Hülfe rechnen zu dürfen. Sein köstliches Wort ermuntert uns sogar dazu: „Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Dank­
290
sagung eure Anliegen vor Gott kundwerden." (Phil. 4, 6.)
Je geistlicher daher der Zustand eines Christen ist, desto
mehr wird er Gebrauch von diesem Vorrecht machen, und
desto treuer wird er in unablässigem Gebet vor Gott
wandeln. Allein ich wiederhole, ein solcher Wandel, so
wohlgefällig er auch vor Gott ist, kann nicht eigentlich
Gemeinschaft mit Gott genannt werden. Wohl ist der
erstere nicht denkbar ohne die Verwirklichung der letzteren,
aber es sind zwei verschiedene Dinge.
Ebenso irrtümlich ist die Meinung vieler Christen,
welche das Bekenntnis ihrer Sünden, das Seufzen über
ihren Zustand und ihre Selbstanklagen vor Gott für Gemeinschaft mit Ihm halten. Ohne Zweifel sind diese
Dinge der Weg dahin, wenn sie anders mit wahrer Aufrichtigkeit ausgeübt werden. Aber weil es bei so Manchen
an dieser aufrichtigen Gesinnung fehlt, so bleiben sie in
einem unbefreiten und ungereinigten Zustande. Im Gefühl
ihres Mangels an geistlichem Leben und himmlischer Gesinnung seufzen sie beständig und klagen über ihre Schwachheiten, ihre Nachlässigkeit im Gebet, ihre Leichtfertigkeit,
ihren Hochmut und dergleichen mehr. Bei alledem aber
bleiben sie, wo und wie sie sind, und halten gar dieses
Seufzen und Klagen für Gemeinschaft mit Gott. Wie betrübend ist ein solcher Zustand! Das Christentum wird
dadurch seines wahren Wesens, seiner Kraft und Schönheit beraubt, so daß es nur noch als eine trübselige Sache
erscheint, welche in dem Unbekehrten keinerlei Interesse zu
erwecken vermag. Es ist nichts weniger als Gemeinschaft mit
Gott, sondern ein Zustand der Halbheit, Unentschiedenheit
und Wankelmütigkeit. „Jener Mensch denke nicht, daß er
etwas von dem Herrn empfangen werde." (Jak. 1, 7. 8.)
291
Ein jeder, der aufrichtig seine Sünden und seinen Zustand vor Gott bekennt, wird nicht darin bleiben, sondern
davon befreit werden und seinen Platz in der glückseligen
Gemeinschaft mit Gott einnehmen. „Wenn wir unsre
Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns
die Sünden vergiebt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." (1. Joh. 1, 9.)
Was ist denn nun Gemeinschaft mit Gott? Gemeinschaft mit Gott bedeutet, ein und dasselbe Teil mit
Ihm haben. Und was ist das Teil Dessen, der alle
Dinge geschaffen hat und der die Quelle von allem ist?
WaS allein kann Den befriedigen, den die Himmel und
der Himmel Himmel nicht Zu fassen vermögen? (1. Kön.
8, 27.) Was ist Seinem Herzen teurer und höher als
alles, was im Himmel und auf Erden gefunden wird?
Es ist Jesus Christus, Sein geliebter Sohn. Er
ist Sein Teil, und dieses Teil sollen wir mit Ihm besitzen. Unsre Gemeinschaft mit dem Vater setzt daher voraus,
daß wir ein Verständnis für die Freude des Vaters
haben, sowie für das Vorrecht, Seine Mitgenossen sein
Zu dürfen. Der Sohn Gottes ist alsdann auch für unsre
Herzen der teuerste und höchste Gegenstand.
Allein wir haben nicht nur Gemeinschaft mit dem
Vater; „unsre Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit
Seinem Sohne Jesu Christo." (1. Joh. 1, 3.)
Wie der Sohn in den Augen des Vaters der kostbarste
Gegenstand ist, so auch der Vater in den Augen des Sohnes.
Gemeinschaft mit dem Sohne haben, heißt also, teilhaben
an der Freude und Wonne, welche der Sohn in der
Liebe Seines Vaters genießt, deren besonderer Gegenstand
Er ist. Wir freuen uns mit Ihm über das, was der
292
Vater für Ihn ist; und Er ist glücklich, in uns Mitgenossen zu haben, die Seine Freude über den Vater verstehen und zu schätzen wissen.
So ist denn die Gemeinschaft mit dem Vater und
dem Sohne die Teilnahme an dem unvergleichlich vertrauten und innigen Verhältnis, welches zwischen beiden
besteht. Man ist eingeweiht in die tiefsten Geheimnisse
und die innigsten Zuneigungen, welche in dem Herzen des
Vaters und des Sohnes sind; zugelassen zu dem vertrauten
Verkehr, welchen beide miteinander pflegen; man ist Mitwisser der Ratschlüsse und Gedanken, die schon vor Grundlegung der Welt in dem Herzen des Vaters verborgen
waren. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der
Knecht weiß nicht, was sein Herr thut; sondern ich habe
euch Freunde genannt, weil ich all es, was ich von meinem
Vater gehört, euch kundgethan habe." (Joh. 15,15.)
Man wird bekannt gemacht mit der „Weisheit", die „unter
den Vollkommenen" geredet wird; mit „dem, was kein
Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines
Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen,
die Ihn lieben." (1 Kor. 2, 6.9.) Selbstredend muß die 
Erkenntnis dieser Dinge und das Verständnis über ein
so inniges Verhältnis unsre Herzen mit unaussprechlicher
Freude erfüllen. Darum sagt auch Johannes: „Und dieses
schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig sei." (1.
Joh. 1, 4.) Anstatt an uns selbst zu denken, betrachten
wir mit dem Sohne die Herrlichkeit des Vaters; denn
unter diesem süßen Namen ist uns Gott durch den Sohn
geoffenbart worden ; wie Er selbst sagt: „Ich habe Deinen
Namen geoffenbart den Menschen, die Du mir aus der
Welt gegeben hast." „Und ich habe ihnen Deinen Namen
293
kundgethan und werde ihn kundthun, auf daß die Liebe,
womit Du mich geliebt hast, sei in ihnen und ich in ihnen."
(Joh. 17, 6. 26.) Es war die Absicht des Sohnes, daß
wir Seinen Vater auch als den unsrigen kennen, und
daß wir die Gegenstände derselben Liebe sein sollten, welche
Sein Teil ist. Wir sind Kinder Gottes; „wenn aber Kinder,
so auch Erben: Erben Gottes und Miterben Christi."
(Röm. 8, 16. 17.) Aber noch ungleich köstlicher als das
Erbteil ist für ein Kind der Name „Abba Vater." Dieser
Name ruft die innigsten Zuneigungen in uns wach und
bringt unsre Herzen in Einklang mit den Gefühlen der
Liebe, welche in dem Herzen des Sohnes gegen den
Vater sind.
Andrerseits ruft das Anschauen der Herrlichkeit des
Sohnes die Gefühle und Zuneigungen in unS hervor,
welche der Vater gegen den Sohn hegt. Doch haben wir
erst dann ein Auge für diese Herrlichkeit, wenn wir in
praktischer Gemeinschaft mit dem Vater sind. Anders begnügen wir uns mit den Resultaten, die das Werk Christi
uns gebracht hat, und lassen das Werk selbst und die
Person Christi mehr im Hintergründe stehen. Und doch
werden wir selbst diese Resultate nie höher zu schätzen
wissen, als wenn wir wirklich in Gemeinschaft mit dem
Vater sind. Erst in Seiner Gegenwart, in Seinem Lichte
erkennen wir völlig, welch eine Erlösung und welch eine
Reinigung von aller Schuld und federn Flecken uns das
kostbare Blut Christi gebracht hat, und welch eine Befreiung uns durch den Tod des Lammes Zu teil geworden
ist. Aber gerade diese bessere Einsicht in die herrlichen
Resultate dieses Werkes lenkt alsdann naturgemäß unsre
Blicke auf die Person Dessen hin, der allein imstande
294
war, ein solches Werk zu vollbringen. Die tiefsten Zuneigungen unsrer Herzen fühlen sich unwiderstehlich zu
Dem hingezogen, dessen persönliche Herrlichkeit außer dem
Vater niemand in ihrer ganzen Tiefe schätzen kann. Niemand hat diesem je einen Beweggrund zur Erweisung
Seiner Liebe gegeben, weil niemand etwas aufweisen kann,
das er nicht zuvor von Ihm empfangen hätte. Aber der
Sohn konnte sagen: „Darum liebt mich der Vater, weil
ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme."
(Joh. 10, 17.) Der Sohn konnte uns den Vater offenbaren; denn Er ist das ewige Wort, der Eingeborne,
der in dem Schoße des Vaters Seinen Platz hat von
Ewigkeit her. Wir sind Kinder Gottes durch Ihn, und
können als solche die Gefühle eines Kindes gegen den
Vater haben; aber den Sohn kennt nur der Vater. „Niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater; und niemand
erkennt den Vater, als nur der Sohn, und wem irgend
der Sohn Ihn offenbaren will." (Matth. 11,27.) Aber
je unergründlicher die persönliche Herrlichkeit des Sohnes
ist, um so größer ist unser Vorrecht und unsre Freude,
mit dem Vater teil zu haben an diesem herrlichen, über
alles erhabenen Gegenstände.
Im allgemeinen setzt also unsre Gemeinschaft mit
Gott voraus, daß wir in der Beurteilung und Wertschätzung aller Dinge völlig eines Sinnes mitJhm
sind. Aber das heißt mit andern Worten, Seiner
eignen göttlichen Natur teilhaftig sein. Darum ist auch
der bewußte Besitz dieser Natur die erste Bedingung oder
die Grundlage dieser Gemeinschaft. Der Gläubige muß
wissen, daß er daS Leben aus Gott hat; er muß
wissen, daß er kraft dieses Lebens von Sünde, Welt,
295
Tod und Teufel befreit und in eine neue Stellung gebracht ist; er muß wissen, daß er seiner neuen Stellung
nach bereits in Christo in der Gegenwart Gottes ist;
anders kann er unmöglich die Gemeinschaft mit Gott verwirklichen. Darum sagt der Apostel: „Und das Leben
ist geoffenbart worden, und wir haben gesehen und zeugen
und verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem
Vater war und uns geoffenbart worden ist; was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf daß
auch ihr mit uns Gemeinschaft habet; und zwar ist unsre
Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne
Jesu Christo." Und damit kein wahrer Gläubiger noch
irgend welchen Zweifel über den Besitz des ewigen Lebens
habe, sagt Johannes an einer späteren Stelle: „Dies
habe ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr
das ewige Leben habt, die ihr glaubet an den
Namen des Sohnes Gottes." (1. Joh. 1, 2. 3; 5, 13.)
Alle diejenigen, welche im wahren Sinne des Wortes
an Jesum glauben, besitzen also das ewige Leben und
sind eins mit dem Sohne Gottes; und sie dürfen und
sollten dieses wissen. Dann aber tritt die Frage an sie
heran, ob sie auch diesem Leben gemäß wandeln.
Denn dies ist die zweite Bedingung, ohne welche es unmöglich ist, die Gemeinschaft mit Gott zu verwirklichen.
Denn der Apostel sagt: „Und dies ist die Botschaft, die
wir von Ihm gehört haben und euch verkündigen: daß
Gott Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm ist."
So wenig das Licht sich mit etwas vermischen läßt, was
nicht Licht ist, ebenso wenig kann Gott mit dem in Gemeinschaft sein, was nicht in vollkommenem Einklang steht
mit Seiner heiligen Natnr. „Wenn wir sagen, daß wir
296
Gemeinschaft mit Ihm haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und thun nicht die Wahrheit." (1. Joh.
1, 5. 6.) Unsre Berufung in die Gemeinschaft mit Gott
ist daher einerseits ein Beweis von der Größe unsers Vorrechts, andrerseits aber auch von der Größe unsrer Verantwortlichkeit: von der Größe unsers Vorrechts, weil wir
kraft des Lebens zu einem Wandel in dieser heiligen Gemeinschaft befähigt sind; von der Größe unsrer Verantwortlichkeit, weil wir dieser Natur gemäß in Heiligkeit zu wandeln haben. Die geringste bewußte Befleckung,
ein einziger unreiner Gedanke genügt schon, um unsre Gemeinschaft mit Gott zu unterbrechen. Mit welcher Vorsicht
und Wachsamkeit sollten wir daher inmitten einer Welt
wandeln, wo die Sünde uns von allen Seiten umgiebt
wie die Luft!
Viele Gläubige halten einen solch unbefleckten Wandel
in Heiligkeit geradezu für unmöglich, und betrachten es
als Anmaßung, nur davon zu reden. Dennoch bleibt es
wahr, daß niemand ohne einen solchen Wandel praktische
Gemeinschaft mit Gott haben kann. Die Bedingung bleibt
stets: „Wenn wir in dem Lichte wandeln, wie Er in
dem Lichte ist." Wer einen solchen Wandel im Lichte
für unmöglich oder gar für Anmaßung hält, verrät dadurch, daß er nicht wirklich im Lichte ist und die Kraft
des Lebens nicht kennt. Wäre derselbe wirklich unmöglich,
so wäre auch die Sprache des Apostels anmaßend, wenn
er sagt: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß
ihr nicht sündiget." (1. Joh. 2, 1.) Und wiederum:
„Wir wissen, daß jeder, der aus Gott geboren ist, nicht
sündigt; sondern der aus Gott Geborne bewahrt sich,
und der Böse tastet ihn nicht an." (1. Joh. 5, 18.)
297
Würde der Apostel so reden können, wenn jener Wandel
im Lichte überhaupt nicht möglich wäre?
Aber ach! die Mehrzahl der Christen unsrer Tage
denkt leider so, und dies beweist, auf welch niedriger Stufe
ihr geistliches Leben steht, und wie wenig die Gemeinschaft mit Gott verstanden und verwirklicht wird. Wenn
auch nicht alle es offen heraussagen, weil sie wissen, daß
sie sich in unmittelbaren Widerspruch mit dem Worte
Gottes setzen würden, so bezeugt ihr Wandel doch nur zu
deutlich, daß sie es nicht sehr genau mit der Sünde nehmen. Die Art und Weise, in welcher sie diese zu entschuldigen suchen, Ausdrücke wie die folgenden: „man ist
eben nicht vollkommen", oder: „man ist noch Mensch und
noch in der Welt", verraten, daß sie einen Wandel in
Heiligkeit für durchaus unmöglich halten und sich im besten
Falle mit einem in den Augen der Menschen anständigen
Verhalten begnügen. Ich sage, im besten Falle; denn
leider führen Manche nicht einmal einen solchen Wandel.
Wenn aber Gläubige also reden und denken, so stellen sie
sich dadurch selbst das Zeugnis aus, daß sie nicht in Gemeinschaft mit Gott, sondern als Menschen im Fleische
wandeln. (Röm. 7, 5; 8, 9.)
Sind wir denn vollkommen in uns selbst, oder sollen
wir überhaupt eine solche Vollkommenheit erstreben? Gewiß nicht! Wer eine derartige Vollkommenheit predigt oder 
in seiner Einbildung gar erreicht zu haben meint, lebt in
einem traurigen, verhängnisvollen Irrtum. Das ist nichts
anderes als die Vollkommenheit des Fleisches, welche das
Licht der Gegenwart Gottes ebenso wenig ertragen kann
wie die Sünde selbst. Wer darin wandelt, täuscht sich
umsomehr, weil er auf Fleisch vertraut, ohne es zu ahnen.
298
Der Apostel sagt: „Denn wir sind die Beschneidung, die
wir durch den Geist Gottes dienen und uns Christi Jesu
rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen." (Phil.
3, 3.) Ein jeder, der die gänzliche Verderbtheit des Fleisches
erkannt hat, stützt sich nicht mehr auf dieses, sondern auf
die Macht des Lebens in Christo; und indem er dies
thut, bleibt er vor der Wirksamkeit des Fleisches bewahrt.
Der Wandel in Gemeinschaft mit Gott schließt den
Wandel nach dem Fleische unter allen seinen Formen aus
und erzeugt ein beständiges Selbstgericht in uns. Allerdings
ist das Fleisch noch in uns: „Wenn wir sagen, daß wir
keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die
Wahrheit ist nicht in uns." (1. Joh. 1, 8.) „Ich weiß,
daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes
wohnt." (Röm. 7, 18.) So lange wir in diesem Leibe
sind, hört die Sünde nicht auf in unS zu wohnen, selbst
dann nicht, wenn wir in der innigsten Gemeinschaft mit
Gott wandeln. Wir werden in uns selbst nicht eher
heilig und vollkommen, bis wir einen neuen Leib empfangen
haben. Aber dies hindert uns nicht, jetzt schon in Gemeinschaft mit Gott zu wandeln; denn „das Blut Jesu
Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde."
(1. Joh. 1, 7.) Alle unsre Sünden sind durch dieses kostbare Blut für immerdar gesühnt und hinweggethan, und
die in uns wohnende Sünde, „die Sünde im Fleische",
ist gerichtet. Das Blut Christi steht in seinem ewigen,
unendlichen Werte allezeit vor den Augen Gottes, so daß 
wir kraft desselben mit aller Freiinütigkeit in der Gegenwart Gottes sein können, obgleich die Sünde noch in uns
wohnt. Aber da wir durch diese verunreinigt werden, sobald sie in Thätigkeit tritt, so ist ihr Vorhandensein eine
299
stete Mahnung zur Wachsamkeit. So lange wir wachsam
sind, oder mit andern Worten praktisch im Lichte wandeln,
hat weder die Sünde noch der Feind irgendwelche Macht
über uns, „sondern der aus Gott Geborne bewahrt sich,
und der Böse tastet ihn nicht an." Die Kraft des
Lebens und die mit einem Wandel im Lichte verbundene
Freude und Einsicht setzen uns in den Stand, uns dem
Fleische und der Welt für tot zu halten.
Wenn daher ein Gläubiger die Gemeinschaft mit
Gott nicht verwirklicht, so geschieht dies nur aus Mangel
an Wachsamkeit und Energie, nicht aber weil es ein Ding
der Unmöglichkeit ist. Wohl kann der treueste Christ fehlen;
aber eben weil er treu ist, wird er nicht in der Sünde
vorangehen, sondern in ernstem Selbstgericht sich vor Gott
demütigen. Er wird tiefen Schmerz und bittere Reue
darüber empfinden, daß seine Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne durch seine Schuld für einen Augenblick
unterbrochen worden ist, und wird aufrichtig vor Gott bekennen, was die Ursache dieser Unterbrechung war. Auf
dieses Bekenntnis folgt dann die Reinigung und die Wiederherstellung von feiten Gottes. Denn „wenn wir unsre
Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns
die Sünden vergiebt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." Gott selbst führt den Bekennenden wieder in
den Genuß Seiner glückseligen Gemeinschaft ein.
Welch eine Fürsorge hat Gott in Seiner unendlichen
Gnade für unS getroffen, damit wir Seine Gemeinschaft
nie zu entbehren brauchen! Nicht allein hat Christus
durch Sein Erlösungswerk uns ein für allemal vollkommen
gereinigt in die Gegenwart Gottes gestellt, sondern Er ist
auch jetzt als unser Sachwalter bei dem Vater thätig, um
300
uns wieder praktisch in dieselbe zurückzuführen, so oft wir
uns durch unsre Nachlässigkeit und Unwachsamkeit daraus
entfernt haben. Was nun, wenn wir trotz alledem nicht
in der Gemeinschaft mit Gott wandeln? Ach! es ist nicht
nur ein Beweis von Mangel an Wachsamkeit, sondern
auch von Mangel an wirklicher Liebe für Christum.
Seine Person ist nicht der teure Gegenstand des Herzens,
und die Gemeinschaft mit Ihm wird nicht hochgeschätzt.
Und doch sehnt Er sich so sehr darnach, uns in Seiner
Gemeinschaft zu haben, daß Er sich mit dem Leintuch
umgürtet hat, um den niedrigsten Dienst an uns zu üben,
uns die Füße zu waschen. (Vergl. Joh. 13.) Wir verstehen den Zweck und die Notwendigkeit eines solchen
Dienstes, während wir durch eine böse, versuchungsreiche
Welt wandeln und da unsre Füße besudeln. Ziehst du deshalb
deine Füße zurück, so geschieht es nicht aus Unwissenheit,
wie bei Petrus, sondern aus Mangel an Liebe zu Ihm,
weil dir Seine Gemeinschaft nicht wichtig ist. Denn sobald Petrus hörte, daß er kein Teil mit seinem innig
geliebten Herrn haben könnte, wenn er sich nicht waschen
ließe, streckte er nicht nur bereitwillig seine Füße hin,
sondern wollte auch Haupt und Hände gewaschen haben.
Die Gemeinschaft mit Christo war ihm über alles teuer
und kostbar. Er war bereit, alles mit sich geschehen
zu lassen, wenn Er nur Teil mit Ihm haben konnte.
Wenn du dich daher weigerst, dich von dem Herrn reinigen zu lassen, so bezeugst du damit, daß du Ihn nicht
liebst und ein Leben in Unreinheit dem Wandel im
Lichte vorziehst! (Schluß folgt.)
301

Aus Glauben leben.
„Der Gerechte aber wird aus Glauben
leben." Wir begegnen diesen inhaltsreichen Worten zum
ersten Male in dem 2. Kapitel des Propheten Habakuk;
im Neuen Testament werden sie dann dreimal durch den
inspirierten Schreiber der Briefe an die Römer, Galater
und Hebräer angeführt, und jedesmal in einer anderen
Verbindung und unter anderer Anwendung. In Röm. 1,17
wendet der Apostel sie an auf die große Frage der Rechtfertigung. Nachdem er gesagt hat, daß er sich des Evangeliums nicht schäme, fährt er fort: „Denn es ist Gottes
Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden
zuerst, als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit
wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, so wie
geschrieben steht: „Der Gerechte aber wird aus Glauben
leben.""
Dann, in dem Briefe an die Galater, in welchem
der Apostel jene irregehenden Versammlungen zui>en Grundlagen des Christentums zurückzuführen bemüht ist, lesen
wir: „Daß aber durch Gesetz niemand vor Gott gerechtfertigt wird, ist offenbar, „denn der Gerechte wird aus
Glauben leben."" (Gal. 3, 11.)
Endlich, im 10 Kapitel des Briefes an die Hebräer,
wo es sich darum handelt, Gläubige zu ermahnen, an
ihrem Vertrauen auf Gott festzuhalten und kühn im Glauben
voranzugehen, heißt es: „So werfet nun eure Zuversicht
nicht weg, die eine große Belohnung hat. Denn ihr bedürfet des Ausharrens, auf daß ihr, nachdem ihr den
Willen Gottes gethan, die Verheißung davontraget. Denn
noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird
302
kommen und nicht verziehen. „Der Gerechte aber wird
aus Glauben leben."" (V. 3ö —38.) Hier wird der
Glaube nicht vor uns gestellt als der Grund unsrer Rechtfertigung, sondern als der überaus wichtige Grundsatz,
nach welchem wir Tag für Tag zu leben haben, vom
Ausgangspunkt bis zum Ziele unsrer christlichen Laufbahn.
Da ist kein anderer Weg, um Gerechtigkeit zu erlangen,
kein anderer Weg, um zu leben, als „aus Glauben". Durch
Glauben werden wir gerechtfertigt, durch Glauben leben
wir. Durch Glauben stehen wir gerechtfertigt vor Gott,
und durch Glauben führen wir unsern Wandel.
Dies ist wahr von allen Christen, und alle sollten
suchen, in die volle Bedeutung dieser Wahrheit einzutreten.
Jedes Kind Gottes ist berufen, aus Glauben zu leben.
Es ist ein großer Fehler, gewisse Personen, welche keine
sichtbaren Hülfsguellen für ihren zeitlichen Unterhalt haben,
auszusondern und von ihnen zu reden, als ob sie allein
aus Glauben lebten. Die Sache von diesem Gesichtspunkt
aus betrachten, heißt neun und neunzig von hundert Christen
des kostbaren Vorrechts berauben, ein Leben des Glaubens
zu führen. Wenn jemand ein bestimmtes Einkommen hat,
wenn er ein gewisses Gehalt bezieht, oder ein Geschäft
treibt, das ihm und seiner Familie das tägliche Brot liefert,
hat er dann nicht mehr das Vorrecht, aus Glauben zu
leben? Lebt niemand anders aus Glauben als diejenigen,
welche keine sichtbaren Existenzmittel haben? Ist das Leben
des Glaubens nur darauf zu beschränken, daß man auf
Gott vertraut für Nahrung und Kleidung?
Wer möchte so etwas behaupten? Wer das Leben
aus Glauben so erniedrigen? Ohne Zweifel ist es eine
sehr gesegnete Sache, in Bezug auf alles sein Vertrauen
303
auf Gott zu setzen; aber das Leben des Glaubens hat
einen weit höheren und ausgedehnteren Bereich als bloß
leibliche Bedürfnisse. Es umfaßt alles, was uns in irgend
einer Weise nach Leib/ Seele und Geist angeht. Aus
Glauben leben heißt mit Gott wandeln, an Ihn sich anklammern, auf Ihn sich stützen, aus Seinen unerschöpflichen
Hülfsguellen schöpfen, alle unsre Quellen in Ihm finden
und Ihn als den völlig befriedigenden Gegenstand unsrer
Herzen haben. Ihn zu kennen als unsre einzige Zuflucht und Hülfe in allen Schwierigkeiten und Prüfungen;
völlig und ausschließlich auf Ihn geworfen zu sein; in
beständiger, ungeteilter Abhängigkeit von Ihm voranzugehen, fern von allem Vertrauen auf Menschen und vielleicht
wider alle menschliche Hoffnung und Erwartung, das ist
ein Leben aus Glauben.
Möchten wir mehr von diesem kostbaren Leben
kennen! Es muß eine Wirklichkeit sein, oder es ist gar
nichts. Es genügt nicht, über das Leben aus Glauben
zu sprechen, wir müssen es leben; und um es leben zu
können, müssen wir Gott praktisch kennen, ja, wir müssen
in dem tiefsten Innern unsrer Herzen eine vertraute
Bekanntschaft mit Ihm gemacht haben. Es ist durchaus
eitel und nichts als Täuschung, wenn wir bekennen, aus
Glauben zu leben und nur auf den Herrn zu blicken,
wenn in Wirklichkeit unsre Herzen auf irgend ein Geschöpf
schauen und von ihm Hülfe erwarten. Wie oft geschieht
es, daß jemand über seine Abhängigkeit von Gott in Bezug auf die Befriedigung dieser oder jener Bedürfnisse
redet und schreibt, und gerade durch die Thatsache, daß 
er andere Sterbliche zu Mitwissern seiner Erwartungen
macht, grundsätzlich das Leben des Glaubens verläßt.
304
Wenn ich einem Freunde schreibe oder der Versammlung
mitteile, daß ich in irgend einer Sache Hülfe von dem
Herrn erwarte, so stehe ich in dieser Sache thatsächlich
nicht mehr auf dem Boden des Glaubens. Die Sprache
des Glaubens lautet: „Nur aus Gott vertraue still, meine 
Seele, denn von Ihm kommt meine Erwartung." Meine Bedürfnisse mittel- oder unmittelbar einem menschlichen Wesen
kundzuthun, ist ein Abweichen von dem Pfade des Glaubens
und eine Verunehrung Gottes. Ich könnte gerade so gut
sagen: Gott hat meinen Erwartungen nicht entsprochen,
und so muß ich mich jetzt zu einem Mitmenschen um Hülfe
wenden. Es heißt, die lebendige Quelle verlassen und sich
zu geborstenen Gruben hinwenden, die kein Wasser halten.
Es heißt, die Kreatur zwischen meine Seele und Gott
stellen und auf diese Weise jene eines reichen Segens und
Gott der Ihm gebührenden Ehre berauben.
Das ist sehr ernst und erfordert unsre eingehende,
aufmerksame Beachtung. Bei Gott handelt es sich stets
um Wirklichkeit. Er kann und wird niemals ein Herz
beschämen, das auf Ihn vertraut. Aber dieses Vertrauen
muß auch eine Wirklichkeit sein. Es ist völlig nutzlos,
zu sagen, daß man auf Gott vertraue, während das
Herz thatsächlich auf die Kreatur hinblickt. „Was nützt
es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Klauben?" Ein leeres Bekenntnis ist nichts als eine Täuschung
der Seele und eine Verunehrung Gottes. Ein wahres
Glaubensleben ist dagegen eine Wirklichkeit. Gott erfreut
sich daran und wird dadurch verherrlicht. Es giebt nichts
in der ganzen Welt, was Gott so wohlgefällig wäre, als
ein wirkliches, einfältiges Leben des Glaubens. „Wie
groß ist Deine Güte, welche Du aufbewahrt hast denen,
305
die Dich fürchten, gewirkt für die, die auf Dich trauen,
angesichts der Menschenkinder!" (Pf. 31, 19.)
Geliebter Leser! wie steht es mit dir im Blick auf
diese wichtige Frage? Lebst du aus Glauben? Kannst du
mit dem Apostel sagen: „Was ich jetzt lebe im Fleische,
lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes,
der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben 
hat?" Weißt du, was es heißt, den ganzen Gesichtskreis
deiner Seele mit Gott und mit Ihm allein ausgefüllt zu
haben? Ist Er genug für dich? Kannst du Ihm für
alles vertrauen, für Leib, Seele und Geist, für Zeit und
Ewigkeit? Oder ist es deine Gewohnheit, das was du
bedarfst und was dich drückt, in der einen oder andern
Weise den Menschen mitzuteilen? Ist es die Gewohnheit
deines Herzens, sich zu der Kreatur zu wenden, um da
Mitgefühl, Hülfe oder Rat zu suchen?
DaS sind ernste Fragen, welche Herz und Gewissen
auf die Probe stellen; und wir bitten den Leser, sie nicht
von sich abzuweisen. Es ist nötig und heilsam für uns,
unsre Herzen oft in wahrer Aufrichtigkeit, wie in der
Gegenwart Gottes selbst, zu prüfen und zu untersuchen.
Unsre Herzen sind so verräterisch, daß wir nicht selten
gerade daun, wenn wir uns nur auf Gott zu stützen
meinen, unsre wahre Stütze in einem Menschen finden.
Gott wird auf diese Weise ausgeschlossen, und unsre Herzen bleiben dürre und öde.
Nicht als ob Gott das Geschöpf nicht gebrauchte,
um uns zu helfen und von Segen zu sein. Er thut das
unablässig; und der Mann des Glaubens wird sich dieser
Thatsache tief bewußt und jedem menschlichen Werkzeug,
welches Gott benutzt, um ihn zu segnen, aufrichtig dank-
306
bar sein. Aber er setzt nicht das Werkzeug an die Stelle
Gottes. Gott tröstete Paulus durch die Ankunft des
Titus; aber hatte Paulus auf Titus geblickt, so würde
er nur wenig Trost empfangen haben. Gott benutzte die
arme Witwe zu Sarepta, um Elia zu ernähren; aber 
Elia war nicht von der Witwe abhängig, sondern von
Gott. So ist es in jedem Falle.
Eine arme alte Negerin auf einer der westindischen
Inseln befand sich einmal in großer Not. Die Zeiten waren
hart; sie selbst war kränklich und unfähig zu arbeiten.
So fehlte es ihr am Nötigsten; was sie aber am meisten
betrübte, war der Umstand, daß ihre Schuhe so schlecht
waren, daß sie Sonntags nicht zur Versammlung gehen
konnte, ohne nasse Füße zu bekommen; und das machte
sie jedesmal krank. Sie war eine von jenen Seelen, die
in Wahrheit sagen können: „Es sehnt sich, ja, es schmachtet
meine Seele nach den Vorhöfen Jehovas."
Nun kam der Sonntag heran; es war schon mehrere 
Tage nasses Wetter gewesen, und es regnete noch immerfort. Unsre alte Negerin war tief niedergeschlagen, denn
es gab keine Aussicht für sie, das Versammlungshaus zu
besuchen. Doch was geschieht? Wir wollen sie selbst erzählen lassen: „Am Samstag Abend ich sitzen in meiner
Hütte und denken an Sonntag und an Versammlung und
an meine alten Schuhe. Da auf einmal mir einfallen:
Massa Jesus Christus sagen: „Bittet, und es wird euch
gegeben werden." So ich nehmen meine alten Schuhe,
fallen auf meine Kniee und sagen: „O Massa Jesus!
Siehe auf meine alten Schuhe; thue es, Massa, sie sind
ganz zerrissen. Ich morgen nicht können gehen mit alte
Schuhe in die Versammlung. Ja, Massa, hilf mir!" Ich
307
dann wieder aufstehen und meine Schuhe anziehen; mein
Herz war ganz leicht. Ich wissen, daß Jesus sie haben
gesehen, und das mir genug. Am Abend jemand klopfen
an die Thüre, bum! bum! Ich fragen: „Wer ist da?" „Ich
bin's," antworten der Knabe von Massa D.; „Massa
senden dieses Packet für Dich." Wenn der Knabe wieder
fort sein, ich das Packet öffnen, und was ich finden? Ein
Paar neue Schuhe! Ich wissen, daß Jesus sie haben geschickt, und mein Herz sich freuen o so sehr! O wie ich
Ihm danken!"
Siehe, mein Leser, das ist der einfältige Glaube, den
wir so sehr bedürfen; das ist es, wodurch Gott geehrt
wird und uus selbst reicher Segen zufließt. Möchten wir
von der Einfalt jener alten Negerin lernen!
Der Pfad der Demut.
„Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen
aber giebt Er Gnade." (1. Petr. 5, 5.) Welch ein Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen! Gott muß dem
Hochmütigen widerstehen. Aber wenn der Mensch seinen wahren Platz einnimmt, so findet Gott nichts, dem er widerstehen müßte; jedes Hindernis für Seine Gnadenerweisungen ist beseitigt, und der volle Strom Seiner Güte
kann sich in daS demütige Herz ergießen. Es mag große
Schwachheit und Armut, nichts Anziehendes vorhanden
sein; aber Gott kann bei einem solchen Herzen wohnen,
und das ist genug. Es ist etwas Großes, daß wir bestimmt wissen können, auf welchem Pfade Gott mit uns
sein kann. Sicher kann Er nicht mit Stolz, Anmaßung,
Eigendünkel und Wichtigthuerei Hand in Hand gehen.
308
Wenn wir diese Dinge bei einem Menschen finden, so
können wir sicher sein, daß Gott nicht bei ihm wohnt.
Ein solcher Mensch mag errettet sein, aber er genießt
nicht das köstliche Vorrecht, Gott bei sich wohnen zu
haben, und das allein ist es doch, was unsern Pfad gesegnet und sicher macht. Möchten wir dieses Glück aus
Erfahrung kennen in dieser Zeit menschlicher Anmaßung!
„Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in
der Ewigkeit wohnt, und deß Name heilig ist: Ich wohne
in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der
zerschlagenen und demütigen Geistes ist, auf
daß ich belebe den Geist der Demütigen, und auf daß
ich belebe das Herz der Zerschlagenen." (Jes. 57, 15.)
Bruchstücke.
Der nicht wiedergeborue Mensch kann sich nie an
der Heiligkeit Gottes erfreuen. Wenn er sie nicht ganz
vergessen kann, so versucht er doch wenigstens, sie zu mildern oder zu schwächen. Er tröstet sich mit dem Gedanken, daß Gott gütig, gnädig und barmherzig sei; aber
niemals hört er gern davon, daß Gott heilig ist.
Eine wiedergeborne, aufrichtige Seele dagegen erfreut sich
gerade in dem Gedanken an die fleckenlose Heiligkeit
Gottes.
Geliebte, laßt uns Dem leben, der für uns gestorben ist!
Der Sünder bedarf eines Opfers, der Gläubige
eines mitleidigen, barmherzigen Hohen prie st ers. Beides
besitzen wir in göttlicher Vollkommenheit in Christo.
Johannes der Täufer.
VII.
Der Tod Johannes' des Täufers.
(Matth. 14, 1—12; Mark. 6, 14-29.)
Wir können diese Betrachtungen nicht schließen, ohne
einige Worte über das Ende der Laufbahn Johannes' des
Täufers zu sagen. Gekommen „im Wege der Gerechtigkeit", (Matth. 21, 32.^ hielt er bis zum Ende in diesem
Wege aus; von Mutterleibe an für Gott abgesondert, bewahrte er auch diesen köstlichen Charakter bis ans Ziel.
Herodes kannte ihn als einen „gerechten und heiligen
Mann". (Mark. 6, 20.) Seine praktische Gerechtigkeit
und Heiligkeit zeigen sich, wenn er zu dem Könige sagt:
„Es ist dir nicht erlaubt, das Weib deines Bruders zu
haben." Aber das Zeugnis der Treuen, anstatt die
Welt zu verbessern, verurteilt dieselbe; und das kann
die Welt nicht ertragen. — In dieser Geschichte entfaltet
sich der Charakter des im Kampfe mit der Wahrheit liegenden Herodes in der schrecklichsten Weise. Die Lust
deS Fleisches war in dem Herzen dieses Mannes
wirksam. Um sie zu befriedigen, ließ er sich zur Ungerechtigkeit und Befleckung verleiten. Aufgefordert,
das Böse zu lassen, vermag er es nicht; der Sünder
will lieber seine Sünde behalten, indem er sich von dem
310
Zeugen, der ihn verurteilt, losmacht. Herodes läßt Johannes ergreifen, binden und ins Gefängnis werfen.
(Mark. 6, 17.) Die Gewaltthat folgt notwendigerweise dem sittlichen Verderben und bahnt schließlich den
Weg zur Mordlust. (Matth. 14, 5.) Das Gewissen
verhärtet sich mehr und mehr. Was der Ausführung des
Verbrechens hindernd im Wege steht, ist nicht die Furcht
vor Gott, sondern vor der öffentlichen Meinung, die Furcht
deS Selbstsüchtigen, seinem Einfluß und seinem Glanze zu
schaden; (Vergl. die eben angeführte Stelle, Matth. 14, 5.)
zugleich auch eine gewisse Achtung vor einem überlegenen,
sittlich erhabenen Menschen, von welcher man sich nicht ohne
weitere Umstände freizumachen vermag, und endlich der Gedanke an den Nutzen, den man aus den Ratschlägen desselben ziehen kann, allerdings wiederum nur zu dem Zwecke,
sich selbst geltend zu machen. (Mark. 6, 20.) Herodes
wird durch Herodias, dieses leidenschaftliche und haßerfüllte
Weib, welches in dem Verweise des Propheten einen unverzeihlichen Schimpf erblickt, verführt. Sie würde auch von
Herodes verlangt haben, Johannes töten zu lassen, (Mark.
6, 19.) wenn sie nicht in den Gefühlen der Achtung, die 
Herodes für Johannes den Täufer hegte, ein Hindernis
erblickt hätte. (Mark. 6, 20.)
Die Leidenschaften dieser beiden Menschen treffen in
demselben Punkte zusammen; diejenige des Herodes ist
listiger (Vergl. Luk. 13, 32.) und noch mit einigen Gewissensskrupeln verbunden, die der Herodias energischer,
um das Böse zu vollbringen und alle Hindernisse zu
besiegen.
„Ein geeigneter Tag" kommt; die Hand Satans ist
da, und er ist bereit, seine Werkzeuge bis zur entschei­
311
denden That zu treiben. Die verblendeten Menschen
glauben ihren Willen auszuführen; sie erkennen nicht,
daß sie das Spielzeug des Teufels sind, und daß er sie
zum Kampfe wider Gott anleitet. Er braucht nur einige
neue, bis dahin verborgene Minen in dem Herzen des
Menschen springen zu lassen, und — das Verbrechen
kommt zur Ausführung.
Der Tag war gut gewählt; am Geburtstage des
Herodes konnten die Macht, der Glanz und der Reichtum
des Königs in einer Weise entfaltet werden, daß der
Hochmut des Lebens seine Befriedigung fand. Die
Großen, die Obersten und die Vornehmsten von Galiläa
umgeben den König bei dieser Gelegenheit. (Mark. 6, 21.)
Die Tochter der Herodias tritt ein, tanzt und gefällt dem
Herodes und denen, die mit ihm zu Tische liegen. Mit
ihr tritt die Lust der Augen in den Saal und
bemächtigt sich des Königs. Er verspricht und schwört
ihr: „Was irgend du von mir bitten wirst, werde ich dir
geben bis zur Hälfte meines Reiches." (Mark. 6, 23.)
Von ihrer Mutter gedrängt, begiebt sich dieses leichtsinnige und gewissenlose junge Mädchen, das gewohnt ist,
seine eigensinnigen Launen und Wünsche erfüllt zu sehen,
mit Eile zu dem Könige zurück und sagt zu ihm: „Ich
will, daß du mir sofort auf einer Schüssel das Haupt
Johannes' des Täufers gebest." (Mark. 6, 25.)
Herodes wird sehr betrübt; aber was hat das zu
bedeuten? Er ist in den Netzen Satans gefangen. Zu
dem geheimen Wunsche seines Herzens kommt jetzt noch
der falsche Ehrenpunkt und die Schande, vor seinen Hofleuten wortbrüchig zu werden. „Der Hochmut umgiebt
ihn wie ein Halsgeschmeide." (Ps. 73, 6.) Der Teufel
312
läßt ihm keine Zeit zur Ueberlegung; er hat sich seines
Opfers vollständig bemächtigt, und so gelingt es ihm endlich,
das Zeugnis Gottes, welches sich ihm entgegenstellte, auszulöschen. Nachdem Satan seinen Zweck erreicht hat, überläßt er das Werkzeug sich selbst und seinem Elend.
Welchen Vorteil hat Herodes von seinem schändlichen
Verbrechen gehabt? Von jenem Augenblick an begleitet
ihn das Gedächtnis an das, was er gethan hat, auf
Schritt und Tritt. Er hört von Jesu reden und von
den Wundern, die durch Ihn vollbracht wurden; und er
sagt: „Es ist Johannes, den ich enthauptet habe; dieser
ist aus den Toten auferstanden." (Mark. 6, 16.) Welch
eine auffallende Sache! Dieser verhärtete Mensch glaubt,
gleich den Pharisäern, an die Auferstehung; aber eine
Lehre zu glauben giebt dem Gewissen weder Befriedigung
noch Ruhe, wird vielmehr zu einem Mittel, die Qual
noch zu erhöhen. „Er war verlegen." (Luk. 9, 7.) Das
Verlangen, sich von diesem unbestimmten Schrecken zu befreien, der sich seiner bei dem Gedanken bemächtigt hatte,
der getötete Johannes sei wieder auferstanden, läßt ihn
begehren, Jesum zu sehen, (Luk. 9, 9.) um vielleicht auch
Ihn zu töten. (Vergl. Luk. 13, 31.) Von Johannes dem
Täufer befreit, bietet Satan jetzt alles auf, sich auch
Christi zu entledigen. Und wenn auch damals der Augenblick noch nicht gekommen war, so sollte es ihm doch bald
scheinbar gelingen. Indem er in den Herzen der Menschen andere Triebfedern wirken läßt, andere Leidenschaften 
erregt, verführt er sie, den vom Himmel gekommenen Sohn
Gottes ans Fluchholz zu schlagen. Aber Gott sei gepriesen!
der Triumph Satans ist nur von kurzer Dauer. Er sieht sich
bitter getäuscht und muß erkennen, daß er nur ein Werk­
313
zeug ist, durch welches Gott Seine eignen Pläne zur
Ausführung bringt.
Indessen zieht alle diese Bosheit die göttliche Rache
nach sich. Der Augenblick ist nahe, wo der Herr das
Gericht über die Menschen ausüben wird; und bald wird
der Gott des Friedens den Satan unter unsre Füße zertreten. Alsdann werden auch die bedrängten und schwer
geprüften Heiligen Ruhe haben, und Christus wird in
ihnen verherrlicht und ungehindert bewundert werden, sowohl in einem Johannes dem Täufer, wie auch in allen
denen, welche geglaubt haben.
Was ist Gemeinschaft?
(Schluß.)
Der Mangel an Liebe zu Christo ist auch die Ursache des Mangels an wahrer Gemeinschaft der Gläubigen unter einander, die Ursache der Zersplitterungen und
Parteiungen unter ihnen. Die Klage des Herrn: „Aber
ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast," (Offbg. 2, 4.) zeigte den Anfang des
Verfalls der Kirche an. Die Herzen erkalteten gegen
Christum und darum auch gegen einander. Jeder Versuch,
die Gläubigen zu vereinigen, ist daher nur eitle, vergebliche Mühe, so lange es nicht gelingt, die Herzen der
Einzelnen für Christum zu erwärmen. Selbst wenn es
möglich wäre, alle Gläubigen auf der Erde zu gleichen
Anschauungen zu vereinigen, so würde dies noch keine den
Absichten des Herrn entsprechende Gemeinschaft und Einheit darstellen. Denn wenn Er nicht den einzigen, ausschließlichen Mittelpunkt bildet, so fehlt einer solchen Ge­
314
meinschaft daS göttliche Band. Die Glieder der Versammlung zu Ephesus waren noch unter einander verbunden ; äußerlich war keine Veränderung wahrzunehmen, und
dennoch erwartete der Herr von ihr, daß sie Buße thue
und bedenke, wovon sie gefallen sei. Eine solch äußere
Einheit kann selbst die römische Kirche noch aufweisen;
trotzdem ist sie nur eine gefallene Kirche, die dem Gericht
entgegengeht.
Nur die Liebe zu Christo kann die Herzen in göttlicher Weise mit einander verbinden; sie ist „das Band
der Vollkommenheit," (Kol. 3, 14.) weil sie heilig und
rein, und frei von allen unlautern und selbstsüchtigen Beweggründen ist. Sie allein kommt den Absichten und
Wünschen des geliebten Herrn entgegen, der wiederholt
gesagt hat: „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander
liebet, gleichwie ich euch geliebt habe .... Dies gebiete
ich euch, daß ihr einander liebet." (Joh. 15, 12. 17;
vergl. Kap. 13, 34. 35.) Darum wird auch die Liebe zu
Gott als der allein richtige Maßstab der Liebe zu den Seinigen bezeichnet: „Und jeder, der Den liebt, der geboren hat, liebt auch den, der aus Ihm geboren ist.
Hieran wissen wir, daß wir die Kinder Gottes lieben,
wenn wir Gott lieben und Seine Gebote halten."
(1. Joh. 5, 1. 2.) Freilich wird kein Christ den Vorwurf auf sich ruhen lassen wollen, daß er Gott und die
Seinigen nicht liebe, weil jeder weiß, daß er anders kein
Christ ist. Denn es ist unmöglich, daß ein wahrer
Christ ganz und gar ohne Liebe zu Gott und den Seinigen sein könnte. Aber die Liebe zu Gott beweist sich
in dem Halten Seiner Gebote. Wenn sich daher ein Gläubiger ohne einen schriftgemäßen Grund von den Kindern
315
Gottes trennt, so beweist er seine Liebe nicht. Er würde
sonst wenigstens mit denen gehen, die in den Geboten
Gottes zu wandeln suchen, und die Autorität der Heiligen Schrift als die einzige Grundlage der wahren
Gemeinschaft mit Gott und den Seinigen anerkennen.
Zwar meinen alle Benennungen unter den Gläubigen
auf dieser Grundlage zu stehen; denn alle berufen sich
auf das Wort Gottes, indem jede dasselbe nach ihrer
eignen Weise erklärt. Indes ist die Frage, ob diese Erklärungen dem Sinne des Heiligen Geistes entsprechen;
denn ohne Seine Leitung kann niemand das Wort verstehen und richtig auslegen. Würden alle Gläubigen die
Gegenwart des Heiligen Geistes anerkennen und sich Seiner
Leitung unterwerfen, so würden alle die Wahrheit gleicherweise erkennen und nicht wegen verschiedener Ansichten getrennt sein. Diese Leitung des Heiligen Geistes wird
aber nur dann vorhanden sein, wenn das Fleisch nicht
wirksam und der Geist ungetrübt ist, d. h. mit andern
Worten, wenn wir in Gemeinschaft mit Gott wandeln.
Dies zeigt uns aufs Neue, daß die Ursache der
unter den Gläubigen herrschenden Trennungen in dem
Mangel an praktischer Gemeinschaft mit Gott zu suchen
ist, und daß dieser wiederum seinen Grund in dem Mangel
an wahrer Liebe zu Christo hat. Wenn Gläubige einen
heiligen Wandel in der Kraft des Lebens geradezu
für unmöglich halten, so verzichten sie damit auf die
praktische Gemeinschaft mit Gott, und somit auch auf die 
wahre Gemeinschaft mit den Gläubigen. Sie begnügen
sich wissentlich oder unwissentlich mit einer falschen Stellung,
indem sie ihr Gewissen durch eine dieser Stellung angepaßte Erklärung des Wortes Gottes zu beruhigen suchen.
316
Es ist vergeblich, ihnen die Wahrheit vorzustellen, da sie
infolge ihres Zustandes weder zu überzeugen sind, noch
überzeugt werden wollen. Sie haben kein Herz für die
Wahrheit, weil sie kein ganzes Herz für Christum haben.
Der Herr sagt: „Wer meine Gebote hat und sie hält,
der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, der
wird von meinem Vater geliebt werden; und
ich werde ihn lieben und mich selbst i hm offenbar machen." (Joh. 14, 21.) Wir sehen in dieser Stelle,
wie sehr der Herr auf unsre Liebe zu Ihm rechnet, während
sie zugleich Seine eigne, unergründliche Liebe ins Licht
stellt. Der Vater hat uns geliebt, indem Er das Teuerste,
Seinen Sohn, für uns dahingab; und der Sohn hat
Seine Liebe gegen uns erwiesen, indem Er freiwillig für
uns starb; aber nicht genug damit, hört Er nicht auf,
uns immer wieder aufs Neue zu erklären, daß Er uns
unaussprechlich lieb habe, um auf diese Weise unsre
Gegenliebe zu erwecken. „Wer mich liebt, den wird
der Vater lieben, und ich werde ihn lieben." Welch ein 
Schmerz muß es für Ihn sein, (denn je größer die Liebe,
desto tiefer der Schmerz,) wenn wir, anstatt Sein Sehnen
zu befriedigen, gleichgültig gegen Ihn bleiben oder gar die
elenden, nichtigen Dinge dieser Welt Ihm vorziehen! Welch 
ein Beweis von Herzenshärtigkeit ist es zugleich unserseits!
Wenn wir sehen, wie wertvoll der schwächste Pulsschlag
für Christum in Seinen und des Vaters Augen ist,
sollte da nicht unser ganzes Herz nur noch für Ihn
schlagen? Sollten wir nicht alles aufbieten, um unter der
Leitung des Heiligen Geistes Ihm zu folgen auf dem in
Seinem teuren Worte uns vorgeschriebenen Pfade? Und
wer es thut, dem will Er sich offenbar machen; den will
317
Er immer tiefer hineinschauen lassen in die Tiefen Seiner
Liebe und der Herrlichkeit Seiner Person. Ein solcher
wird erfahren, was Gemeinschaft mit dem Vater und mit
dem Sohne ist; und gewiß wird ein solcher auch die wahre
Gemeinschaft mit den Gläubigen zu schätzen und von jeder
schriftwidrigen Gemeinschaft zu unterscheiden wissen.
„Und solche sind euer etliche gewesen; aber ihr
seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid
gerechtfertigt worden in dem Namen des Herrn Jesu
und durch den Geist unsers Gottes." (1. Kor. 6, 11.)
„Und solche sind euer etliche gewesen!" Solche —
nämlich Hurer, Götzendiener, Ehebrecher, Weichlinge,
Knabenschänder, Diebe, Habsüchtige, Trunkenbolde, Lästerer
und Räuber, wie der Apostel in den beiden vorhergehenden Versen sie aufgezählt hat, und zwar in einer Rangordnung, die dem Ohre des Weltmenschen gewiß verwunderlich und befremdend klingen muß, da er so geneigt
ist, allerlei Unterschiede zu machen. Habsucht z. B. oder,
wie er es lieber nennt, Geldliebe, erscheint seinem Auge
bei weitem nicht so verwerflich wie Hurerei oder Trunksucht und dergl. Der Apostel aber, oder vielmehr der Geist
Gottes durch ihn, stellt alle diese Sünden in eine Reihe
und bezeugt, daß auch die für uns scheinbar geringste
derselben das Reich Gottes nicht ererben läßt.
Und was für Leuten hält der Apostel diese Sündenreihe vor? Zunächst den Gliedern der Versammlung Gottes zu Korinth; doch werden wir wohl nicht fehl gehen,
lieber Leser, wenn auch wir beide uns unter den „etlichen"
318
und „solchen" verstehen. Will ja doch der teure Apostel
weder den Korinthern noch uns einen Vorwurf damit
machen oder unser Gewissen aufs neue belasten. Dies bezeugen uns deutlich die folgenden Verse: „Aber ihr seid
geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden," — die Korinther
sowohl, als auch du und ich, lieber Leser, wenn anders
wir zu Ihm, dem Hirten unsrer Seelen, unserm hochgelobten und geliebten Herrn und Heilande, bekehrt sind.
Nennt doch der „berufene Apostel Jesu Christi" dieselben
Korinther, deren Vorleben von so häßlichen Sünden befleckt war, gleich im Eingänge seines Briefes trotz alledem
„Geheiligte in Christo Jesu, berufene Heilige" ; (1. Kor.
1, 2.) und haben wir, die Miterlösten in Christo Jesu,
nicht das Vorrecht, diese herrlichen Worte auch auf uns
zu beziehen?
Zwei Gedanken nun sind es, die ich der obigen Stelle
des Wortes Gottes entnehmen möchte. Einmal, daß es
gut und heilsam ist, öfters dessen zu gedenken, in welchem
Zustande, in welcher Lage wir vor unsrer Wiedergeburt
waren; dann aber, daß wir auch völlig wissen und verstehen sollten, was jetzt unser herrliches Teil in Christo
ist, und daß wir nicht in scheinbarer Bescheidenheit und
fälschlich sogenannter Demut das kostbare und anbetungswürdige Werk unsers Herrn und Heilandes herabsetzen
und verkleinern sollten! Möge der Heilige Geist, der uns
ja in alle Wahrheit einführen soll, auch bei dieser kurzen
Betrachtung unsre Gedanken nnd Herzen erleuchten!
Es ist gut und heilsam, öfters unsers alten Zustandes vor unsrer Errettung zu gedenken und uns daran'
zu erinnern, wer wir damals waren: Feinde Gottes,
Gottlose, (Röm. 5, 6.) Unreine, die gerechterweise dem
319
Gerichte Gottes verfallen waren. Wohl finden — Gottes
reiche Erbarmung und Gnade seien dafür gepriesen! — die
trostreichen Worte des Propheten Jeremias: „und ihrer
Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr
gedenken", (Kap. 31, 34.) nach dem Zeugnis des Heiligen
Geistes auch auf uns Anwendung; (Hebr. 10, 15.) wohl
ist kein Erinnern an die Sünden mehr vorhanden. Aber
dieses „Nie mehr Gedenken" ist Sache unsers gnädigen
Gottes, unsers Vaters in Christo Jesu. Es würde uns
wahrlich auch wenig helfen, wenn wir uns der Sünden
nicht mehr erinnern wollten, während Gott ihrer noch
stets gedächte. Es ist auch kein Zeichen eines vollkommen
gemachten Gewissens und kein völliges Erfassen der Versöhnung durch das kostbare Blut Jesu, wenn Kinder Gottes noch mit Furcht oder doch nur ungern ihres früheren
Zustandes gedenken; wenn sie bei der Erinnerung an diese
oder jene Sünde, welche sie einst in der Knechtschaft der
Welt und des Satan gefesselt hielt, noch von Angst und
Schrecken befallen werden. Im Gegenteil, nur innige Danksagung und demütige Freude können solcher Erinnerung
entspringen, die ja stets mit dem Gedanken untrennbar
verknüpft sein wird, daß das Blut des Lammes uns völlig
rein gewaschen und für immer alles das ausgetilgt hat,
was uns von dem heiligen, gerechten Gott trennen mußte.
Je mehr mir vergeben und nachgelassen ist, je drückender
und unerträglicher die Schuld war, desto größer wird auch
meine Freude, desto inniger und herzlicher meine Danksagung sein. Wohl kann und wird mit dieser Freude und
Danksagung tiefe Beschämung und aufrichtiger Schmerz
über die Vergangenheit gepaart gehen; aber das ist etwas
ganz anderes als Furcht und Schrecken. Für immer auf
320
dem Felsen des Heils stehend und geborgen gegen alle Angriffe Satans und der Welt, angenehm gemacht in dem
Geliebten, in den Stand gesetzt, mich meinem Gott und
Vater allezeit mit Freimütigkeit zu nahen, gereinigt vom
bösen Gewissen, (Hebr. 10, 22.) also wird die Wertschätzung
von GotteS Erbarmen, das Verständnis des vollen Wertes
dessen, was unser Heiland für uns am Kreuze vollbracht
hat, nur noch vermehrt und gefördert werden durch die
Erinnerung an das, was ich einst war, durch das Gedächtnis meiner Sünden, die mir jetzt im Lichte des göttlichen Wortes und Geistes nur noch roter und entsetzlicher
erscheinen. Aber mein Gewissen ist nicht mehr mit denselben beladen, sie können mir keine Unruhe, keine Angst
mehr verursachen.
Daß dies die richtige Auffassung des wiedergebornen
und befreiten Christen ist, zeigt uns deutlich der Apostel
an sich selbst. Er hat es nie vergessen, wer und wie er
einst gewesen, und er schreibt nachdrücklich seinem Schüler
Timotheus und uns allen: „Ich danke Christo Jesu,
der ich zuvor ein Lästerer und Verfolger und Schmäher
war; aber mir ist Barmherzigkeit zu teil geworden .. . .
Das Wort ist gewiß und aller Annahme wert, daß Christus
Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, von
welchen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit zu teil geworden, auf daß an mir, dem ersten,
Jesus Christus die ganze Langmut erzeige, zum Vorbilde
für die, welche au Ihn glauben werden zum ewigen Leben."
(1. Tim. 1, 13. 15. 16.)
„Solche" sind wir gewesen; nun aber sind wir „geheiligt
und gerechtfertigt"! Das ist jetzt unser herrliches Teil nach
dem klaren und unbestreitbaren Worte Gottes. „Geheiligt
321
und gerechtfertigt", nicht umgekehrt, wie vielleicht mancher
Christ es erwarten möchte. Der Heilige Geist gebraucht
absichtlich diese Aufeinanderfolge, wie er ähnlich in 1. Kor.
1, 30 die Heiligkeit vor die Erlösung stellt. Und doch
wie viele sonst aufrichtige Seelen giebt es, die wohl bereit
sind, ihre Rechtfertigung und Erlösung als ein
Geschenk der freien Gnade Gottes anzunehmen, nicht aber
ihre Heiligung! An diese wollen sie selbst mit Hand
anlegen, diese wollen sie vollenden helfen. Wie viele bekennen
sich als Kinder Gottes, und lehnen doch die Bezeichnung 
„heilig" für ihre Person in scheinbarer Bescheidenheit und
Demut ab, gedenken als „arme Sünder" ins ewige Leben
einzugehen und hoffen, bis dahin mit Gottes Gnade einige
höhere Stufen der Heiligkeit erstiegen zu haben! Ach!
sie wähnen, ihre alte verderbte Natur verbessern und daS
Fleisch, dessen Gesinnung Feindschaft gegen Gott ist, heiligen zu können. Wie sehr mißverstehen solche Christen
den Begriff „heilig"; wie sehr täuschen sie sich in dem,
was sie in ihrer Person können und vermögen, und wie
weit sind sie noch von der völligen Wertschätzung des
Opfers Jesu entfernt! Und was ist ihr Teil hienieden?
Ein fortwährender Wechsel von Frieden und Unfrieden,
von Freude und Angst. Eine dauernde Sicherheit und
einen dankbaren Genuß der Schätze, welche ihr Heiland
ihnen erworben hat, kennen sie nicht. Sie wissen nicht,
daß der Gläubige geheiligt ist, d. h. daß er, gestorben
und auferweckt mit Christo, zu Gott gebracht und für
Gott und Seinen Dienst abgesondert ist von der Welt.
Sie wissen nicht, daß unser Herr und Heiland sich selbst
für uns geheiligt hat, und daß wir auf diesem Wege
Geheiligte geworden sind; (Joh. 17, 19.) sie wissen auch
322
nicht, daß Jesus außerhalb des Thores gelitten hat, auf
daß Er durch Sein eignes Blut das Volk heiligte.
(Hebr. 13, 12.) Sie suchen nicht die Heiligung und Heiligkeit in Jesu Christo, sondern eine eigene in ihrer
Person, die jene noch ergänzen und vollenden soll, eine
Heiligung des Fleisches oder des alten Menschen. Wer
eine solche Heiligung anstrebt, hat nie die köstliche Stelle
erfaßt: „Denn durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden."
(Hebr. 10, 14.) Wo unter dem Himmel gäbe es noch ein
Geschöpf, das daran denken könnte, der göttlichen Vollkommenheit dieses Opfers auch nur das Geringste hinzuzufügen? Und diese unübertreffliche Vollkommenheit hat
uns der Herr als freie Gnade und Gabe ganz umsonst
geschenkt; Er, in dem wir ja sind, der uns geworden ist
„Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und
Erlösung." (1. Kor. 1, 30.)
Der Gläubige, welchem der Heilige Geist dieses kostbare Geheimnis einmal und für immer erschlossen hat,
der wird nicht länger mit eigner, elender Heiligung sich
abmühen, die ihn ja doch keinen Schritt weiter bringen
und ihm bis zum Grabe niemals gelingen kann; der wird
aber freilich auch nicht leichtsinnig auf solche Gnade hin
vorangehen, sondern als ein Geheiligter die Sünde
meiden, als ein Abgesonderter getrennt von der
Welt und ihrer Lust wandeln. Er wird stets eingedenk
bleiben, um welch hohen Preis sein Heiland ihm alle diese
kostbaren Gnaden erworben, wie teuer Er ihn erkauft hat.
Er wird unter Wachen und Gebet bedacht sein, im Aufblicke zu seinem Herrn und Heiland nicht den süßen Genuß des Friedens zu verlieren, welchen das treue Wan­
323
deln vor Gottes Angesicht ihm stets gewährt. Ja, er
wird jede Sünde und jeden Gedanken an eine solche sofort mit Beugung des Herzens richten und stets sich daran
erinnern, daß er, „was den früheren Lebenswandel betrifft,
den alten Menschen abgelegt und den neuen Menschen
angezogen hat, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit." (Eph. 4,
22—24.) Auf diese Weise wird er die herrliche Stellung,
die er in Christo erlangt hat, verwirklichen und auch praktisch die Heiligkeit in der Furcht Gottes vollenden; er
wird nach dem Maße seiner geistlichen Erkenntnis, abgesondert von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes,
Gott wohlgefällig leben. (Vergl. 2. Kor. 7, 1.)

Jesus, der Anfänger und Vollender
des Glaubens.
(Hebr. 12, 2.)
Alle die Glaubenszeugen, von welchen in Hebr. 11
die Rede ist, dienen zu unsrer Ermunterung auf dem Pfade
des Glaubens; aber zwischen ihnen und Christo giebt es
einen großen Unterschied. Deshalb sondert der Apostel den
Herrn hier auch von allen andern aus. Wenn wir Abraham
betrachten, der sich durch Glauben in dem Lande der Verheißung aufhielt wie in einem fremden; oder Isaak, wie
er Jakob und Esau in Bezug auf zukünftige Dinge segnete; oder Jakob, wie er auf seinem Sterbebett Gott anbetete und über jeden seiner Söhne einen Segen aussprach, so sehen wir, wie sie alle vor uns den Weg des
Glaubens gingen und ihren Lauf vollendeten. In Jesu
324
aber erkennen wir einen Zeugen von unendlich höherer
Art. Außerdem giebt es in Ihm Macht und Gnade, um
uns während unsers Laufes hienieden aufrecht zu erhalten.
Wenn wir auf Jesum blicken, so erhalten wir nicht
nur einen Beweggrund für unsern Glaubenslauf, sondern
auch eine nie fehlende Quelle der Kraft. Wir sehen in
Jesu die Liebe, welche Ihn antrieb, diesen Platz für uns
einzunehmen, Ihn, der vor Seinen Schafen her geht,
nachdem Er sie ausgelassen hat. (Joh. 10, 4.) Denn wenn
es einen Wettlauf für uns zu lausen giebt, so müssen
wir einen Vorläufer haben. Und in Jesu haben wir den
Einen gefunden, der vor uns hergelaufen und der Anfänger und Vollender des Glaubens geworden ist, auf
welchen blickend wir Kraft für unsre Seelen empfangen.
Während Abraham und die übrigen Glaubensmünner, in
ihrem geringen Maße, ihre verschiedenen Plätze ausfüllten,
hat Christus den ganzen Lauf des Glaubens ausgefüllt.
ES giebt keine Stellung, in welche ich kommen, keine
Prüfung, die mir auferlegt werden könnte, oder Christus
ist durch sie hindurchgegangen und hat sie überwunden.
So besitze ich Einen, der sich gerade in dem Charakter
darstellt, welchen ich bedarf; und ich finde in Ihm Einen,
der weiß, welcherlei Gnade nötig ist, und der sie darreichen kann und wird. Denn Er hat überwunden, und
Er sagt zu mir: „Sei gutes Mutes, ich habe die Welt
überwunden;" — nicht: du wirst überwinden, sondern: ich
habe überwunden. So war es in der Geschichte des Blindgebornen, der aus der Synagoge geworfen wurde. (Vergl.
Joh. 9, 31 re.) Und warum? Weil Jesus vor ihm hinausgeworfen worden war. Und was lernen wir jetzt? Daß,
so heftig und ungestüm der Sturm auch sein mag, er
325
uns nur um so völliger auf Christum wirft, und daß das,
was anders eine empfindliche Prüfung für uns gewesen
wäre, uns nur um so inniger an Ihn kettet.
Alles was unser Auge von Christo ablenkt, ist ein
Hindernis für uns, „den vor uns liegenden Wettlauf mit
AuSharren zu laufen." Wenn Christus der Gegenstand 
unsers Herzens geworden ist, laßt uns dann jede Bürde
ablegen. Wenn ich einen Wettlauf zu lausen habe, so
wird ein Mantel, mag er auch noch so bequem sein und
noch so gut sitzen, mich nur hindern; und deshalb muß
ich ihn ablegen. Er ist eine Bürde und hindert mich am
Laufen. Blicke ich auf Jesum in dem mir aufgetragenen
Wettlauf, so muß ich den Mantel wegwerfen; anders
würde es auffallend erscheinen, wenn ich ein so nützliches Kleidungsstück wegwerfen wollte. Ja, mehr noch;
so ermutigend die Geschichte der alten treuen Zeugen in
Hebräer 11 auch sein mag, so muß dennoch unser Auge
nicht aus diese, sondern allein auf Jesum, den Wahrhaftigen und Treuen, gerichtet sein. Es giebt keine Prüfung
und keine Schwierigkeit, durch welche Er nicht vor mir
gegangen wäre und in der Er nicht alle Seine Quellen
in Gott dem Vater gefunden hätte. Er wird meinem
Herzen stets die nötige Gnade darreichen.
Das Leben Christi auf dieser Erde wurde durch zwei 
besondere Charakterzüge gekennzeichnet. Zunächst ging Er
in fortwährender Abhängigkeit von Seinem Vater voran,
wie Er selbst sagte: „Ich lebe des Vaters wegen" oder
„durch den Vater". Der neue Mensch ist immer ein abhängiger Mensch. In demselben Augenblick, da wir unsre
Abhängigkeit verlieren, geraten wir ins Fleisch. Wir leben
nicht durch unser eignes Leben, (denn wahrlich, unser ist
326
nichts als der Tod,) sondern wir leben durch Christum,
dadurch daß wir uns von Ihm nähren. Er wandelte,
in dem höchstmöglichen Sinne des Wortes, in Abhängigkeit von dem Vater, und „für die vor Ihm liegende Freude
erduldete Er das Kreuz, der Schande nicht achtend."
Dann aber waren auch die Zuneigungen Christi ungeteilt. Wir hören nie, daß Ihm ein neuer Gegenstand 
geoffenbart worden sei, um Ihn dadurch anzuspornen, auf
dem Wege der Treue zu beharren. Paulus und Stephanus,
diesen beiden treuen und hingebenden Zeugen, wurde die
Herrlichkeit geoffenbart, und dies befähigte sie zum Ausharren. Denn als die Himmel sich über Stephanus öffneten, erschien der Herr Ihm in Herrlichkeit, wie später
dem Saulus von Tarsus auf dem Wege nach Damaskus.
Aber als die Himmel sich über Jesu öffneten, wurde Ihm
kein Gegenstand vorgestellt; Er bildete im Gegenteil den
Gegenstand des Himmels: der Heilige Geist kam auf
Ihn hernieder, und die Stimme des Vaters erklärte:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe."
So wird der göttlichen Person unsers Herrn und
Heilandes allezeit Zeugnis gegeben. Der Apostel redet
hier von der Kostbarkeit Christi inmitten der niedrigen
Umstände, in welche Er herabgestiegen war; aber nie verliert Er Seine Herrlichkeit aus dem Auge. So auch finde
ich Jesum, wenn ich Ihn bei der Taufe des Johannes
betrachte, auf dem niedrigsten Punkte stehend (ausgenommen das Kreuz, aber dort trug Seine Erniedrigung einen
andern Charakter); und indem ich Ihn dort finde, finde
ich die ganze Fülle des göttlichen Mitgefühls Seines
Herzens.
327
Die Macht des Gebets.
Das Neue Testament enthält eine Fülle überzeugender Beweise von der Macht des Gebets. Fast alle großen
Ereignisse, die unS auf seinen geweihten Blättern mitgeteilt werden, stehen in Verbindung mit Gebet.
1. Die Taufe und Salbung unsers gepriesenen Herrn
und Heilandes geschahen in unmittelbarer Verbindung mit
Gebet: „Es geschah aber, als das ganze Volk getauft
wurde, und Jesus getauft war und betete, daß der
Himmel aufgethan wurde, und der Heilige Geist in leiblicher Gestalt, wie eine Taube, auf Ihn Herabstieg, und
eine Stimme aus dem Himmel geschah: Du bist mein
geliebter Sohn, an Dir habe ich Wohlgefallen gefunden."
(Luk. 3, 21. 22.) Welch ein Schauspiel! Der vollkommene, der göttliche und himmlische Mensch hienieden steht
vor uns in der völligsten Abhängigkeit, in der Stellung
eines Betenden; und dann öffnet sich der Himmel, der Geist
kommt hernieder, während der Vater Seiner Wonne an
dem soeben den Wassern des Jordans entstiegenen Sohne
lauten Ausdruck giebt, an Ihm, der im Begriff steht, als
ein abhängiger, nicht auf eigne Kraft vertrauender Mensch,
als ein Mann des Gebets den Pfad Seines öffentlichen Dienstes zu betreten! Wahrlich, das war ein
Schauspiel, in welches Engel Wohl hineinzuschauen begehren mochten.
2( Das glorreiche Ereignis der Verherrlichung Christi
auf dem Berge wird uns gleichfalls in Verbindung mit
Gebet erzählt: „Es geschah aber bei acht Tagen nach
diesen Worten, daß Er Petrus und Johannes und Jakobus
mit sich nahm und auf den Berg ging, um zu beten.
328
Und indem Er betete, ward die Gestalt Seines Angesichts anders, und Sein Gewand weiß, strahlend."
(Luk. 9, 28. 29.) Es wird nicht gesagt, daß Er ans
den Berg ging, „um dort umgestaltet zu werden";
nein, Er ging hinauf, „um zu beten". Er bestieg
jenen einsamen Berg, um Sein Herz im Gebet vor Seinem Gott und Vater auszuschütten. Und möge der Leser
es sorgfältig beachten: der einsame Berg des Gebets
wurde zu dem „heiligen Berge" der Verklärung, wo die
glorreiche Majestät des demütigen, betenden Menschensohnes entfaltet wurde, und wo „Er von Gott, dem
Vater, Ehre und Herrlichkeit empfing, als von der prachtvollen Herrlichkeit eine solche Stimme an Ihn erging:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe."" (2. Petr. 1, 17.)
3. Die Berufung der zwölf Apostel stand ebenfalls
in unmittelbarer Verbindung mit Gebet. „Und es geschah
in selbigen Tagen, daß Er auf den Berg hinausging, um
zu beten; und Er verharrte die Nacht im Gebet
zu Gott. Und als eS Tag ward, rief Er Seine Jünger zu sich, und erwählte aus ihnen zwölfe, die Er auch
Apostel nannte: Simon rc." (Luk. 6, 12. 13.) Die
Aussendung jener zwölf Boten, welche das Evangelium
des Reiches in den Städten und Dörfern des Landes
Israel verkündigen sollten, war eine Sache von großer
Wichtigkeit und feierlichem Ernst; und deshalb sehen wir
den Herrn, der, obwohl „Gott über alles, gepriesen in
Ewigkeit!" freiwillig den Platz eines abhängigen Menschen eingenommen hatte, eine ganze Nacht im Gebet zu
Gott zubringen. Sein Gebet stand ohne Zweifel in engster Beziehung zu der Berufung, Aussendung und dem
329
Dienst dieser zwölf Männer; denn Er that alles in unbedingter Abhängigkeit von Gott. Er dachte, redete und
handelte in der Atmosphäre des Gebets, wenn wir es so
nennen dürfen. Welch eine Unterweisung für uns! Er ist
unser großes Vorbild, unser vollkommenes Muster. In
diesem, wie in allem andern „hat Er uns ein Beispiel
gelassen, auf daß wir Seinen Fußstapfen nachfolgen sollen."
(1. Petri 2, 21.)
4. Nachdem durch den Fall des Jndas Jskariot in
dem Kreise der Zwölfe eine Lücke entstanden war, wurde
diese in Verbindung mit Gebet wieder ausgefüllt. „Und sie
stellten zwei dar: Joseph, genannt Barsabas, der zubenamt war Justus, und Matthias. Und sie beteten
und sprachen: Du, Herr, Herzenskündiger aller, zeige an
von diesen beiden den einen, den Du auserwählt hast."
(Apstgsch. 1, 23. 24.) Der, welcher ursprünglich die
Zwölfe berufen hatte, wußte alles; Er wußte, wie die 
Lücke entstanden war und wie sie wieder ausgefüllt
werden mußte. Wahre, aufrichtige Abhängigkeit von Ihm
in allem, im Kleinen und Großen, das ist unser wahrer
Platz. Nur dann, wenn wir diesen Platz einnehmen,
empfangen wir Weisheit und Kraft. Wir werden nie
fehlen, nie wankend werden, nie irren, nie ziellos umherwandern, nie zu kurz kommen und nie in Fallstricke geraten, wenn wir in der heiligen Stellung eines abhängigen Menschen verharren, der nicht sich selbst vertraut,
sondern sein ganzens Vertrauen auf Gott setzt.
5. Das Herniederkommen des Heiligen Geistes am
Tage der Pfingsten wird uns ebenfalls als in Verbindung
mit Gebet stehend berichtet. „Diese alle hielten einmütig an am Gebet mit den Weibern und mit
330
Maria, der Mutter Jesu, und mit Seinen Brüdern .. . .
Und als der Tag der Pfingsten erfüllt wurde, waren sie
alle an einem Orte beisammen." (Apstgsch. 1, 14; 2, 1.)
Tie Jünger befanden sich in der Stellung gemeinsamen
Wartens auf Gott, als der Heilige Geist in Kraft auf sie
herniederkam; und später steht die mächtige, überwältigende
Offenbarung Seiner Gegenwart wiederum unmittelbar in
Verbindung mit Gebet: „Und als sie gebetet hatten,
bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren; und
sie wurden alle mit dem Heiligen Geiste erfüllt und redeten
das Wort Gottes mit Freimütigkeit." (Apstgsch. 4, 31.)
6. Als Verfolgungen wider die Kirche Gottes zu 
wüten begannen, und der Feind seine Hand an eine der
Säulen der Versammlung zu Jerusalem gelegt hatte,
wandten sich die Jünger zu ihrem wohlbekannten, oft erprobten Zufluchtsorte: „Petrus nun wurde in dem Gefängnis verwahrt; aber von der Versammlung geschah ein anhaltendes Gebet für ihn zu Gott."
(Apstgsch. 12, 5.) Und was war die Folge? Genau das,
was immer die Folge sein wird, wenn der Glaube seine
Bedürfnisse vor dem Ohre des Allmächtigen kundwerden
läßt. „Und siehe, ein Engel des Herrn stand da, und
ein Licht leuchtete in dem Kerker; und er schlug Petrus
an die Seite, weckte ihn auf und sagte: Stehe schnell
auf! Und seine Ketten fielen ihm von den Händen ....
Als sie aber durch die erste und die zweite Wache gegangen waren, kamen sie an das eiserne Thor, das in
die Stadt führt, welches sich ihnen von selbst aufthat;
und sie traten hinaus und gingen eine Straße entlang,
und alsbald schied der Engel von ihm." Was sind eiserne
Ketten und eiserne Thore für Den, der die Welten ge­
331
schaffen hat? Nichts! Er hätte, in Antwort auf das Gebet
des Glaubens, ebenso gut in einem Augenblick den ganzen
Kerker des Herodes in Trümmer legen und Seinen Knecht
auf diese Weise herausführen können.
7. Schließlich wird uns auch die Sendung des Paulus
und Barnabas zu den Heiden in Verbindung mit Gebet 
vorgestellt: „Da fasteten und beteten sie; und als sie
ihnen die Hände aufgelegt hatten, entließen sie sie."
(Apstgsch. 13, 3.) Was war das Resultat? Als diese geehrten Knechte des Herrn wieder zu der Versammlung zurückkehrten, durch deren Gebete sie Gott und Seiner Gnade besohlen worden waren, „erzählten sie alles, was Gott mit
ihnen gethan, unddaßEr denNationen eineThür
des Glaubens aufgethan habe." (Kap. 14, 27.)
Somit haben wir dem Evangelium Lukas und der
Apostelgeschichte sieben treffende Beispiele von der Wichtigkeit und der gewaltigen Macht des Gebetes entlehnt.
Wir möchten jetzt noch eine Anzahl von Ermunterungen
und Ermahnungen anführen, die sämtlich darauf abzielen,
uns zu stetem Beharren in dieser ernsten und heiligen
Beschäftigung anzuspornen.
1. „Wiederum sage ich euch: daß, wenn zwei von
euch einstimmig sein werden auf der Erde über irgend
eine Sache, um welche sie auch bitten werden, diese ihnen
werden wird von meinem Vater, der in den Himmeln
ist." (Matth. 18, 19.) Welch eine Ermutigung liegt in
diesen Worten! Selbst zwei Jünger — die geringste Zahl,
welche sich zum Gebet für irgend eine Sache vereinigen
kann — werden empfangen, um was irgend sie im Glauben bitten werden. Staunenswerte Thatsache! Glauben
wir sie? Machen wir sie uns zu nutze?
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2. „Und alles, was irgend ihr im Gebet glaubend begehret, werdet ihr empfangen." (Matth. 21, 22.)
Hier werden wiederum unbegrenzte Hülfsquellen dem Gebete des Glaubens zur Verfügung gestellt. Das einfältige
Gebet des Glaubens kann uns „alles" erwirken. Glauben
wir dies? Machen wir es uns zu nutze?
3. „Und ich sage euch: Bittet, und eS wird euch
gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet
an, und es wird euch aufgethan werden. Denn jeder
Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem
Anklopfenden wird aufgethan werden." (Luk. 11, 9. 10.)
Welch eine weitgehende Ermunterung! Machen wir sie
uns zu nutze?
4. „Und was irgend ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater verherrlicht werde in dem Sohne. Wenn ihr etwas bitten
werdet in meinem Namen, so will ich es thun." (Joh. 14,
13.14.) „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Alles was
irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen,
wird Er euch geben. Bis jetzt habt ihr nichts gebeten in
meinem Namen. Bittet, und ihr werdet empfangen, auf
daß eure Freude völlig sei." (Joh. 16, 23. 24.) Könnten
wir noch mehr, noch Höheres wünschen? Der Glaube,
welcher von dem kostbaren Namen Jesu Gebrauch macht,
hat die Versicherung, alles zu empfangen, um was irgend
er bittet. O mein Leser, glauben wir daS? Machen
wir es uns zu nutze?
5. „Zu aller Zeit betend mit allem Gebet und Flehen
in dem Geiste, und eben hierzu wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen." (Eph. 6, 18.)
Der Mann, welcher „die ganze Waffenrüstung Gottes"
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angelegt hat, wird auch fähig sein, „für alle Heiligen"
zu beten. Ein solcher wird nicht so sehr mit sich selbst
als mit Andern beschäftigt sein. Er wird an das Werk
und an das Volk Gottes denken.
6. „Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset
durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen
vor Gott kundwerden; und der Friede Gottes, der allen
Verstand übersteigt, wird eure Herzen und eure Sinne
bewahren in Christo Jesu." (Phil. 4, 6. 7.) Hier wird
für die eignen Bedürfnisse und Schwierigkeiten die vollkommenste Vorsorge getroffen. Das Gebet des Glaubens
ist für alles und in allen Lagen die unfehlbare Hülfsquelle.
7. „Verharret im Gebet und wachet in demselben
mit Danksagung; und betet zugleich auch für uns, auf
daß Gott uns eine Thür des Wortes aufthue, um das
Geheimnis des Christus zu reden, um deswillen ich auch
gebunden bin." (Kol. 4, 2. 3.) „Uebrigens, Brüder, betet
für uns, daß das Wort des Herrn laufe und verherrlicht
werde, wie auch bei euch, und daß wir errettet werden
von den schlechten und bösen Menschen; denn der Glaube
ist nicht aller Teil." (2. Thess. 3, 1. 2.) In den beiden
letzten Stellen wird der Fortschritt des Evangeliums dem
Gläubigen in besonderer Weise als ein Gegenstand ernsten
Gebets und Flehens ans Herz gelegt. Ein jeder, auch der
Schwächste und mindest Begabte kann so ein gesegneter
Mitarbeiter in dem Werke des Herrn werden. Wie sehr
bedürfen jene, die gleichsam in der ersten Schlachtreihe
stehen, der Fürbitte ihrer Mitstreiter, damit sie aufrecht
erhalten bleiben und kämpfen ohne Ermatten und Ermüden!
Wir schließen diese Zeilen mit den kostbaren Worten,
welche Jakobus den Empfängern seines Briefes zuruft:
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„Wenn aber jemandem von Euch Weisheit mangelt, so
bitte er von Gott, der allen willig giebt und nichts vorwirst, und sie wird ihm gegeben werden. Er bitte aber
im Glauben, ohne zu zweifeln."
Der Befehlshaber eines amerikanischen Schiffes befand sich einst auf einer Reise tagelang mitten im dichtesten Nebel, so daß er endlich für die Sicherheit seines
Schiffes zu sorgen begann. Da ihn der undurchdringliche
Nebel verhinderte, irgend welche Messungen vorzunehmen
und Beobachtungen anzustellen, so wußte er schließlich gar
nicht mehr, wo er sich befand, ob das Schiff noch den
richtigen Kurs einhalte oder nicht. Aber er kannte den
Herrn, und zu diesem nahm er seine Zuflucht. Er ging
in seine Kajüte und betete. Während er zu Gott rief,
durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke: Solltest du dem Gott,
welchem du deine Seele mit völligem Vertrauen übergeben
hast, nicht auch dein Schiff anvertrauen können? Völlig
getröstet erhob er sich von seinen Knieen. Er übergab
alles den Vaterhänden Gottes und fühlte sich vollkommen
glücklich und ruhig. Nach einiger Zeit aber kniete er von
neuem nieder und flehte zum Herrn, Er möge ihm doch,
wenn es Ihm anders wohlgefiele, um zwölf Uhr Sonnenschein geben, damit er eine Beobachtung machen und sich
vergewissern könne, ob das Schiff sich noch in richtigem
Fahrwasser befinde.
Um elf Uhr stieg er, mit dem Quadranten *) unter
seinem Rock, aufs Deck. Die Schiffsmannschaft betrachtete
*) Ein Instrument, mittelst dessen der kundige Seemann bei
Sonnenschein die Lage seines Schisses bestimmen kann.
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ihn mit stiller Verwunderung, da der Nebel so undurchdringlich war wie je zuvor; ja, er war so dicht, daß er
unaufhörlich in feinen Tröpfchen herniederrieselte. Der
Kapitän ging wieder in feine Kajüte hinab und betete.
Etwa eine halbe Stunde später stieg er wieder nach oben.
Keine Veränderung; es war noch gerade so dunkel wie
zuvor. Er kehrte nochmals in seine Kajüte zurück und
betete; dann begab er sich zum dritten Male, mit dem
Quadranten in der Hand, auf das Deck. Es war jetzt
zehn Minuten vor zwölf; aber von einer Verminderung des
Nebels keine Spur! Allein unser Freund ließ sich nicht
irre machen; er blieb auf dem Verdeck stehen und wartete
auf den Herrn. Und siehe da! kurz vor zwölf Uhr schien
eine allmächtige, unsichtbare Hand den Nebel auseinander
zu reißen und aufzurollen. Die Sonne strahlte hell und
klar von dem blauen Gewölbe des Himmels herab. Da
stand der Mann des Gebets, mit dem Quadranten in
seiner Hand; aber er fühlte sich so von Ehrfurcht erfüllt,
so „erschrecklich" erschien ihm jener Ort, daß er kaum
imstande war, sich die Antwort auf sein Gebet zu nutze
zu machen. Mit zitternden Händen stellte er seine Beobachtungen an, und bald fand er zu seinem Troste, daß
alles gut stand. Doch kaum hatte er seine Arbeit beendigt,
als der Nebel sich wieder wie ein riesiger Vorhang zuzuziehen begann. Wenige Augenblicke später war die Sonne
verschwunden, und der Nebelregen rieselte fein und dicht
herab wie vorher.
„Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glauben
würdest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes
sehen?" (Joh. 11, 40.)
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Bruchstücke.
Die Gemeinschaft mit Gott sollte unsern Herzen teurer
sein als alles; und gerade in demselben Verhältnis wie
wir diese Gemeinschaft schätzen, werden wir mit Gebet und
Flehen gegen alles wachen, was uns derselben berauben
könnte. Gemeinschaft mit Gott zu haben, während eine ungerichtete Sünde auf dem Gewissen liegt, ist ein Ding der
Unmöglichkeit. Um mit Gott wandeln zu können, muß unser
Gewissen rein sein, darf unser Herz uns nicht verurteilen.
Die Gnade begegnet dem Bedürftigen gerade da, wo
er ist und wie er ist. Es ist ihre Freude, für solche zu
sorgen, die „unfähig" sind, sich selbst zu helfen.
Nichts fügt der Sache Christi oder den Seelen Seines Volkes mehr Schaden zu als eine Verbindung mit
Leuten von gemischten Grundsätzen. Es ist viel gefährlicher, mit solchen zu thun zu haben als mit offnen, anerkannten Feinden. Satan weiß das sehr wohl; und daher
sein stetes Bemühen, die Gläubigen mit Menschen in Berührung und Verbindung zu bringen, die halb auf der
Seite Christi, halb auf der Seite der Welt stehen.
Als „Kriegsleute Jesu Christi" sind wir berufen, zu
kämpfen; als „Priester" haben wir das Vorrecht, anzubeten; als „Leviten" aber stehen wir unter der Verantwortlichkeit, zu dienen, und unser Dienst besteht darin,
das Gegenbild der Stiftshütte durch diese Wüste zu tragen;
und dieses Gegenbild ist Christus. Christum darzustellen
in Wort und Wandel, das ist der uns verordnete Dienst.
Dazu sind wir berufen, dazu sind wir abgesondert.

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