Botschafter des Heils in Christo 1892 Jahresband | |
Inhalts-Verzeichnis 1892 | Seite |
Die Seligpreisungen | 1, 49, 74, 93, 124, 169, 177, 204 |
Der Einfluß der Erwartung Christi. | 13 |
„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein." | 17 |
Gedanken. | 27, 83, 138, 196 |
Asa oder: Wen suchst du? | 29 |
„Siehe, wie gut und wie lieblich ist es ac." (Gedicht) | 56 |
Da bin ich in ihrer Mitte." | 57 |
Dreierlei Arten von Gericht | 65 |
Eine Glaubensprobe | 71 |
Schwierigkeiten eines Neubekehrten | 85 |
Der eine Leib" und „die Einheit des Geistes.". | 104 |
Die Fülle Gottes und ein leeres Gefäß | 107 |
Der Weg des Glaubens in einer bösen Zeit | 113, 153, 169, 197 |
Ein schöner Wahlspruch | 134 |
Die Felsenkluft (Gedicht) | 140 |
Christus, wandelnd inmitten der sieben Versammlungen | 141 |
„Er denkt an mich." | 168 |
Der Mensch ohne Gott | 187 |
Die beiden Religionen | 193 |
Der Säemann | 216, 242, 268, 309 |
Jesus allein. | 222 |
Gott in allen Dingen | 225 |
„Die Salbung von dem Heiligen." | 234, 253 |
Nichts gleich Ihm. | 250 |
Der müde Pilger (Gedicht) | 252 |
Ein Wort über den Dienst | 276 |
Rettungsjubel | 279 |
Ergebung (Gedicht) | 280 |
Die Lehre des Christus | 281 |
Segenskanäle | 329 |
Steige eilend hernieder!" (Gedicht). | 336 |
Die
Seligpreisungen. ( Matth. S, 1—12.)
Da unsre natürlichen Gedanken über Segen und Segnung, gleich den irdischen Erwartungen der Juden, in völligem Gegensatz stehen zu der Belehrung des Herrn über diesen Gegenstand, so kann es für unsre Seelen sicher nur von Nutzen sein, gleichsam in Seiner Gegenwart die wahren Grundsätze des Glückes zu prüfen und näher zu betrachten. Sicher werden unsre Herzen nach einer vollkommneren Segnung verlangen, welche gleichbedeutend ist mit vollkommenem Glück, d. h. mit dem Glück des Himmels, nicht mit dem ungewissen Glück oder vielmehr der vorübergehenden, flüchtigen Erregung dieser Erde.
Gewohnheitsgemäß teilen wir alle mehr oder weniger die allgemein herrschenden menschlichen Begriffe über das, was ein glückliches Leben hienieden ausmacht; da wir aber die Belehrungen unsers großen Lehrmeisters vor uns haben, tun wir wohl, zu Seinen Füßen unsern Platz einzunehmen und von Ihm zu lernen, auf welchem Wege wir zu einem Leben der Heiligkeit und des Glückes hienieden und unvermischter Segnung droben gelangen.
Die Menschen im allgemeinen würden sagen: „Glückselig sind die Reichen, die sich mit aller Art von Bequemlichkeit umgeben können und sich keinen Wunsch zu versagen brauchen; glückselig sind die Fröhlichen, die Geistreichen, die Unabhängigen, die nichts wissen von Hunger und Durst!" Aber der Herr, der aus dem Himmel herabkam, und den Charakter kannte, welcher für das Reich passend ist, sagt: „Glückselig sind die Armen, die Trauernden, die Sanftmütigen, die Hungernden und Dürstenden Das heißt das allgemeine menschliche Urteil geradezu ins Gegenteil verkehren und den liebsten Gedanken des menschlichen Herzens widersprechen. Doch welch eine unaussprechliche
Gnade ist es- für alle Klassen der menschlichen Gesellschaft,
dass. das Glück nicht von unsern Umständen
abhängt, noch von der Frage, wie viel oder wie wenig
wir von den Gütern dieser Welt besitzen, sondern einzig
und allein von dem Zustande des Herzens und Geistes,
oder, mit einem Wort, von dem Charakter, einem
Charakter, der demjenigen Christi (wenn wir im Blick auf
den Herrn überhaupt von einem „Charakter" reden dürfen)
gleich gestaltet ist! Denn die Seligpreisungen schildern
wesentlich den Charakter des hochgelobten Herrn selbst.
Wer war so arm im Geiste, so sanftmütig und demütig
wie Er? Wer war so gehorsam und abhängig als Mensch
wie Christus? Wer so mit Frieden erfüllt und so ununterbrochen
in Gemeinschaft mit dem Vater im Himmel? Und
Er hat uns ein Beispiel hinterlassen, dass wir Seinen
Fußstapfen nachfolgen sollen.
Doch bevor wir von den verschiedenen Zügen jenes
wunderbaren Charakters (welcher der unsrige sein sollte)
reden, müssen wir uns an einige Ereignisse in dem öffentlichen
Dienste unsres Herrn erinnern, die zu dieser vollständigen
und förmlichen Ankündigung des Reiches und
der Offenbarung seiner Grundsätze führten. Und wenn
wir dann den Charakter des Herrn und Seine Belehrung,
Seine Wunder und Seine Wege in Gnade und Liebe,.
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betrachten, möge Er uns dann durch Seinen Heiligen
Geist leiten, unsern Seelen Seine mannigfaltigen Herrlichkeiten
offenbaren und unsern Charakter bilden, damit wir,
so lange wir hienieden sind, die himmlischen Grundsätze
Seines Reiches darstellen und befolgen! Möchten wir
uns bei der Betrachtung dieser Seligpreisungen, der verschiedenen
Züge des Charakters des Treuen in Israel, in
ihrem Lichte prüfen und richten, damit wir ein getreues
Abbild von Ihm seien in dieser selbstsüchtigen, eigen-
liebigen Welt! Das ist offenbar unser Platz und unser
Vorrecht während der Abwesenheit unsers Herrn.
Indes möchte eingewandt werden: Stellen nicht die
Jünger, an welche der Herr sich hier wendet, den treuen
Ueberrest in Israel dar? Gewiß; die Bergpredigt richtete
sich an die Jünger, aber sie war für ganz Israel bestimmt,
und sie entfaltet die Grundsätze des Reiches in Verbindung
mit diesem Volke und im Gegensatz zu den Vorstellungen,
welche die Juden sich hinsichtlich dieses Reiches
gebildet hatten. Der Charakter und das Verhalten derer,
welche für das Reich passend sind, sowie die Bedingungen,
um in dasselbe eingehen zu können, werden ebenfalls durch
den Propheten und König angekündigt. Aber ach! infolge
des Unglaubens des Volkes und der Verwerfung seines
Königs ist die Errichtung des irdischen Königreiches aufgeschoben
und die Kirche, deren Charakter himmlisch ist, ein-
gesührt worden; und nun sind die Christen die Träger des
Zeugnisses Gottes und die Zeugen Christi in dieser Welt.
Das ist die Sendung des Christen — gesegnet, aber
auch verantwortlich. „Gleichwie mein Vater mich gesandt
hat," sagt der Herr, „sende ich auch euch." Hier hören
wir aus dem Munde des Herrn selbst, daß unsre Sen-
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dung in diese Welt auf denselben Grundsätzen beruht
und denselben Charakter trägt wie Seine eigene. Und zu
diesem Zwecke offenbarte Er Seinen Jüngern — nicht
nur Seinen Aposteln als solchen — die große Wahrheit,
daß sie kraft Seines vollbrachten Werkes in eine Verbindung
mit Ihm gekommen waren wie nie zuvor; denn gleichzeitig
mit jenen Worten sagt Er zum ersten Male: „Ich
fahre auf zu meinem Vater und euerm Vater und zu
meinem Gott und euerm Gott." Und in der vollen
Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden und des Friedens
mit Gott und erfüllt mit dem Heiligen Geiste, sollten sie
jetzt als die Träger Seiner Botschaft ausgehen und stets
durch Seinen Geist charakterisiert sein.
Wenden wir uns jetzt zu den Umständen, welche den
Herrn anleiteten, auf den Berg zu steigen und zu der
Volksmenge zu reden.
Mehr als lieblich auf den Bergen Israels (vergl.
Jes. 52, 7) waren die Füße Dessen, der als der Bote Jehovas
mit solcher Heilung und solchem Segen zu Seinem
Volke kam. Aber wunderbare, segensreiche Wahrheit!
Er selbst war Jehova. Der Geist Gottes findet Seine
Freude daran, Ihn im Matthäus-Evangelium als Jehova-
Jesus, als Emmanuel: Gott mit uns, vor unsre
Augen zu stellen. O Geheimnis der Geheimnisse! —
Emmanuel, Gott geoffenbart im Fleische; und zwar nicht
nur als König der Herrlichkeit, auf einem Throne im
Himmel sitzend, sondern als ein Kindlein, geboren von
einer Jungfrau und in einer Krippe liegend — und doch
der Sohn Davids, der Geliebte Gottes! Er litt und
starb als Menschensohn; aber ein unendlicher Wert wurde
Seinem Werke verliehen durch die Herrlichkeit Seiner Per
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son als Emmanuel, Gott mit uns. Welch ein Ruheplatz
für eine bekümmerte, geängstigte Seele — für dich, mein
Leser, ja, für alle, die an Ihn glauben!
Kein Mensch dies Wunder fassen kann,
Kein Engel kann's verstehen;
Der Glaube schaut's und betet an,
Bewundert, was geschehen.
Aus Absichten, die mit dem Charakter unsers Evangeliums
in Uebereinstimmung stehen, wird die ganze Geschichte
unsers Herrn bis zum Beginn Seines Dienstes nach
der Gefangennahme Johannes des Täufers mit Stillschweigen
übergangen. Dann tritt Er vor uns als der
Erfüller der Prophezeiungen Jesajas, als ein großes Licht,
das da scheint in dem Lande der Finsternis und des
Todesschattens. „Land Zabulon und Land Nephthalim,
gegen den See hin, jenseit des Jordans, Galiläa der
Nationen: das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes
Licht gesehen, und denen, die im Lande und Schatten
des Todes saßen, Licht ist ihnen aufgegangen/' (Matth.
4, 15. 16; Jes. 9, 1. 2.)
Das ganze Land, selbst bis jenseit des Jordans, bis
zu den alten Grenzen Israels hin, geriet durch die mächtigen
Thaten des Herrn in Bewegung. Diese Thaten
waren die getreuen Zeugen von der Thatsache, daß Er
der Messias Seines Volkes war; und die Stämme Israels
wurden somit gleichsam zu dem Banner ihres Messias
berufen. Der Unglaube hatte jetzt keine Entschuldigung
mehr. Christus war nicht nur das Licht, das inmitten
des Todesschattens leuchtete, sondern Er war auch die
Kraft Gottes, die sich in Heilung und Segnung offenbarte.
Er hatte den Starken gebunden und beraubte ihn
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NUN seines Hausrats. Die Bedürfnisse und das Elend
des Menschen, im Blick auf Seele und Leib, waren die
großen Gegenstände Seiner Sendung. Er war gegenwärtig,
um ihre Ungerechtigkeit zu vergeben, ihre Krankheiten
zu heilen, ihr Leben vom Verderben zu erlösen und
sie zu krönen mit Güte und Barmherzigkeit. (Vergl.
Ps. 103.) So lesen wir denn: „Und sein Ruf ging aus
in das ganze Syrien; und sie brachten zu ihm alle Leidenden,
die mit mancherlei Krankheiten und Qualen behaftet
waren, und Besessene und Mondsüchtige und Gichtbrüchige;
und er heilte sie. Und es folgte ihm eine große
Volksmenge von Galiläa und Dekapolis und Jerusalem
und Judäa und von jenseit des Jordans." (V. 24. 25.)
Als so die Aufmerksamkeit des ganzen Landes erregt
war und große Mengen Ihm folgten, in dem Verlangen,
Seine gnadenreichen Worte zu hören, begann Er den Charakter
des Reiches der Himmel und derer, die in dasselbe eingehen
würden, zu entfalten; und diese Rede des Herrn, die
sogenannte Bergpredigt, beginnt mit den Seligpreisungen.
1. „Glückselig dieArmen im Geiste, dennihrer
ist das Reich der Himmel." (Matth. 5, 3.)
Laß uns, geliebter Leser, diese Worte mit Ernst und
im Lichte des Heiligtums erwägen! Wie überaus wichtig
ist es, die Bedeutung der eignen Worte des Herrn Jesu zu
verstehen und in den Geist Seiner Belehrung einzudringen!
Der Zustand der Seele und der Segen derselben sind nicht
von einander zu trennen; der eine ist abhängig von dem
andern. Es ist heilsam und nötig, dies zu lernen. Auch
müssen wir uns daran erinnern, daß nicht große Gelehrsamkeit
oder viel Gelegenheit und Muße zum Lernen — so
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schätzenswert beides ist — die Mittel sind, um Jesum
kennen zu lernen, oder Sein Wort zu verstehen und Seine
Herrlichkeiten zu erkennen; nein, das geschieht vielmehr
durch die Erleuchtung und Belehrung des Heiligen Geistes,
wie der Herr selbst sagt: „Er wird mich verherrlichen;
denn von dem Meinen wird er empfangen und euch verkündigen."
(Joh. 16, 14.)
Die erste Seligpreisung liegt so zu sagen allen andern
zu Grunde. Sie beschreibt nicht nur einen einzelnen
Charakterzug, sondern sie sollte alle die übrigen Seligpreisungen,
ja, alle, die Jesu angehören, kennzeichnen.
Sicherlich kann für eine Seele, die es mit Gott zu thun
hat, nichts notwendiger sein als Armut des Geistes. Nicht
Armut in den äußern Umständen, oder Armut im Reden
und Handeln, sondern Armut im Geiste, im Herzen, in
den Gefühlen, in dem innern Menschen, und alles das
vor dem lebendigen Gott. Wie oft mögen wir, im Blick
auf jemanden, der uns Unrecht gethan hatte, gesagt oder
doch wenigstens gedacht haben: „Ich vergebe ihm gern,
und ich will wieder gegen ihn sein wie früher; aber vergessen
kann ich die Sache deshalb doch noch nicht." Das
heißt nicht „arm im Geiste" sein; es scheint äußerlich so,
ist es aber nicht wirklich. Eine solche Redeweise entspringt
derselben Quelle wie der Geist dieser Welt, welcher sagt:
„Ich will die Sache mit ihm ausfechten; so etwas lasse
ich mir nicht gefallen!" Wie verschieden ist das von dem
Zustande des Mannes, der hier durch den Herrn beschrieben
wird, der nicht nur „arm" ist in seinem äußern Verhalten,
sondern auch innerlich, im Geiste. Das äußere
Verhalten sollte stets der wahre Ausdruck des innern Zustandes
sein; und, möchten wir es nie vergessen, „die
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Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes
und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht verachten."
(Ps. 51, 17.) Das war allezeit der Geist, welcher in
göttlicher Vollkommenheit den demütigen, abhängigen Sohn
des Menschen beseelte. Aber die Gnade vermag auch den
stolzen Geist des Menschen zu Boden zu werfen und ihn
selbst, demütig und gebrochen, vor Gott in den Staub
zu beugen; und das ist die Grundlage eines wahren
christlichen Charakters und der Boden, auf welchem für
die Seele die reichsten Segnungen wachsen. Allerdings
kann es sein, ja, es ist leider nur zu oft so, daß ein
Gläubiger eines Tages seinen rechten Platz vergißt und
dem alten Geiste des natürlichen Menschen sür eine Zeit
hervorzutreten erlaubt; aber der Herr weiß ihn wieder
niederzubeugen und auf den richtigen Boden zurückzuführen.
Nichts ist trauriger, als wenn jemand, der diesen Boden
einmal erkannt und eingenommen hat, ihn wieder verläßt,
sei es auch nur für einen Augenblick. Ein solcher verliert
dann die Gnade aus dem Auge, die in Christo so
herrlich ans Licht trat und welche Gott von jeher so
wohlgefällig war.
Ich wiederhole, mein Leser, laß uns ein wenig über
die geheimnisvollen Tiefen dieser Dinge nachsinnen! Kennst
du sie in der tiefen Erfahrung deiner eignen Seele?
Stehst du auf jenem Boden? Wenn alles, was von uns
ist, verschwunden ist, wenn wir nichts sind, selbst in
unserm Denken und Fühlen durchaus nichts, dann kommt
alles von Gott in uns hinein — von Gott in Christo
Jesu; und wir sind befriedigt. Ja, Gott sei ewig gepriesen
! das ist der Zustand, das ist die Segnung. Das
Kleid, der Ring, die Schuhe wären nicht genug sür den
s
verlornen Sohn gewesen; nichts als das gemästete Kalb
tonnte den Hungernden befriedigen, nachdem er feine ganze
Habe vergeudet hatte. Als er bei den Trübern angelangt
war und selbst diese ihm von niemandem gegeben wurden,
da gedachte er an das Haus seines Vaters, an die Stätte,
wo allein das gemästete Kalb zu finden war. So muß
«S stets sein. Als Noomi „leer" in das Land Israel
Zurückkehrte, da entdeckte sie, daß gerade die Gerstenernte
begonnen hatte. (Ruth 1.) Als Abraham vor Gott auf sein
Angesicht fiel, da flössen Ströme der Gnade aus dem Meere
der göttlichen Liebe ihm zu. „Ich werde, ich werde", so
heißt es wieder und wieder auf feiten Gottes. Gnade
und nichts als Gnade umgiebt Abraham. — „Abraham
soll dein Name sein; denn zum Vater einer Menge Nationen
habe ich dich gemacht. Und ich werde dich sehr,
sehr fruchtbar machen, und ich werde dich zu Nationen
machen . . . Und ich werde meinen Bund errichten zwischen
mir und dir und deinem Samen nach dir . . . Und
ich werde dir und deinem Samen nach dir das Land
deiner Fremdlingschaft geben, das ganze Land Kanaan,
Zum ewigen Besitztum, und ich werde ihnen zum Gott
sein." (1. Mose 17, 1—8.)
Aehnlich war es mit dem Aussätzigen. (3. Mose 14.)
Sobald die böse Energie des Fleisches aufhörte zu wirken,
wurde er für rein erklärt. Der Priester konnte zu dem
unreinen Orte, wo der Aussätzige sich aufhielt, hinausgehen
und ihn in das Lager führen, in der vollen Segnung
des Todes und der Auferstehung (vorbildlich betrachtet);
und dann, am achten Tage, dem Tage der Auferstehung,
trat die Fülle des Segens ein: er durfte in sein Zelt
gehen. So lange wir etwas von uns selbst aufrecht zu
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erhalten suchen, so lange wir im Blick auf irgend eine
Lieblingsmeinung oder einen Lieblings-Gegenstand einen
ungebrochenen Geist nähren, widerstehen wir dem Willen
Gottes und schließen Seine Gnade aus. Sobald wir aber
am Ende unsers eignen Ichs angelangt und uns unsers
völligen Nichts bewußt geworden sind und nun nichts
anderes als Christum und Seine Ehre aufrecht zu erhalten
wünschen, dann thun sich die Schleusen auf, und
die Gnade fließt in Strömen.
Manche haben gemeint, daß buchstäbliche Armut, in
ihrem gewöhnlichen Sinne, in den Gedanken des Herrn
mit den Segnungen des Reiches verbunden sei, und haben
deshalb mit einem Male alle ihre Habe dahingegeben und
sind um des Reiches der Himmel willen arm geworden.
Anstatt über ihre Einkünfte als die Verwalter des Herrn
zu beschicken und sie zu benutzen, jenachdem Er sie dazu
berufen würde, haben sie andere damit betraut und selbst
den Platz der Abhängigkeit eingenommen. Das erstere
ist sicher ein viel leichterer Weg als das letztere; aber
was ist das richtige? Ein Besitztum zu verwalten für
Christum und Seinen Dienst in dieser Welt und es zu
benutzen als Sein Verwalter nach Seinen Gedanken, ist
ein christlicher Dienst, der viel Warten auf den Herrn,
sowie eine große Freiheit der Seele in Seiner Gegenwart
erfordert. Ein ängstliches Gewissen wird in steter Knechtschaft
liegen.
Der Gedanke, in dieser Weise arm zu werden um
des Reiches der Himmel willen, gründet sich auf Luk. 6,
wo es heißt: „Glückselig ihr Armen, denn euer ist das
Reich Gottes." Die Worte „im Geiste" sind hier ausgelassen.
Allein in dieser Stelle findet sich durchaus kein
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Grund für einen solchen Gedanken. Er ist nicht die
Frucht des Glaubens, sondern des Aberglaubens und
trägt den Keim des Mönchtums in sich. Es handelt sich
um den innern Menschen, nicht um den äußern. Ein
Armer hinsichtlich der Güter dieser Welt trägt vielleicht
einen stolzen, unbändigen Geist in sich, während ein Reicher
wahrhaft demütig sein kann. Andrerseits glauben
wir gewiß, daß der Herr viel öfter das Elend und die
Not des Menschen als Mittel benutzt, um ihn zu sich zu
Ziehen, als seinen Wohlstand; aber das ist des Herrn
Weise zu handeln und eine ganz andere Sache. Für einen
Verwalter ist es am Platze, die Gedanken seines Herrn zu
beachten und auszuführen, nicht aber seinen eigenen nachzuhängen.
Der Unterschied zwischen Matthäus und Markus
bezüglich ihrer Darstellungsweise der Seligpreisungen gründet
sich auf die charakteristische und göttlich geordnete
Verschiedenheit der beiden Evangelien.
Matthäus teilt uns die Bergpredigt mehr in abstrakter
Weise mit, indem er jede Segnung für die und die
Klasse vorstellt: „Glückselig die Armen im Geiste." In
Lukas ist es eine persönliche Ansprache: „Glückselig ihr
Armen." Der Grund dafür liegt auf der Hand. Im
ersten Falle ist es der Prophet, „größer als Moses", der
die Grundsätze des Reiches der Himmel aufstellt im
Gegensatz zu allen jüdischen Gedanken, Gefühlen und Er
wartungen ; im zweiten ist es der Herr, der die um
Ihn versammelten Jünger tröstet, indem Er sie selbst
anredet als so für Ihn abgesondert. Es war eine Zeit
der Drangsal, denn der Mensch wollte Ihn nicht und
verwarf Ihn.
Indem wir noch einmal zu unserm Texte zurück
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kehren, möchten wir nur noch bemerken, daß der Herr
hier also das Reich der Himmel als jenen „Armen im
Geiste" gehörend bezeichnet. Sie sind die Erben des
Reiches. Die Reichtümer des Königs und die Herrlichkeiten
Seines Reiches sind herabgekommen, um den „Armen
im Geiste" zu gehören. Wir mögen deshalb wohl
ausrufen: Wer möchte nicht arm im Geiste sein ? Wer
möchte nicht von sich selbst ausgeleert vor dem Herrn
stehen? Aber ach! die Gefahr ist so groß, schon mit
andern Dingen beschäftigt und erfüllt zu sein, wenn die
Einladung an uns herantritt. Häuser, Aecker, Ochsen,
die Familie, die Welt und, was das Schlimmste ist, das
eigne Ich, die Beschäftigung mit uns selbst in tausenderlei
Weise — alle diese Dinge umstricken so leicht unsre
Herzen und lenken unsre Blicke von Christo ab. Aber
den Armen im Geiste, denen, die mit sich selbst zu Ende
gekommen sind, aber durch den Glauben sich an Christum
und an Sein Kreuz klammern; denen, die ihrem Verstände
Schweigen geboten und die bestechenden Formen einer
äußerlichen Religiosität ausgegeben haben, und nun sagen
können: Ich besitze nichts mehr als Christum; alles was
ich einst so hoch schätzte und zu behalten wünschte, habe
ich aufgegeben; nichts ist mir geblieben als Christus allein
— ja, diesen gehören die ganzen Reichtümer und Segnungen
Seines Reiches; ja, mehr noch, ihnen gehört
Christus, jetzt und in alle Ewigkeit.
(Fortsetzung folgt.)
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Der Einfluß der Erwartung Christi.
Es giebt zwei Dinge, welche die Freude eines Christen
ausmachen und seine Stärke auf dem Wege durch diese
Welt sind; erstens: die praktische Gemeinschaft mit Gott,
dem Vater, und mit Seinem Sohne Jesu Christo, und
zweitens: die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi. Diese
beiden Dinge können ohne ernstlichen Schaden für unsre
Seelen nicht von einander getrennt werden. Wenn wir
nicht nach der Ankunft Jesu ausschauen, so vermag uns
nichts in gleicher Weise von dem gegenwärtigen bösen
Zeitlauf abzusondern; Christus ist dann nicht in Wahrheit
der Gegenstand, der vor unsrer Seele steht, und wir sind
nicht fähig, die Gedanken und Pläne Gottes bezüglich
dieser Welt zu verstehen. Und wenn andrerseits diese
Hoffnung vorhanden ist ohne praktische Gemeinschaft mit
Gott, so fehlt uns die nötige Kraft, da unser Herz müde
und matt wird, indem es sich zu viel mit dem Bösen
beschäftigt, das uns umringt. Denn wir können nicht
wirklich nach der Wiederkunft des Sohnes Gottes aus
den Himmeln ausschauen, ohne zu gleicher Zeit zu sehen,
wie die Welt Ihn verworfen hat und wie sie stets in
ihrer Gottlosigkeit fortschreitet, wie ihre weisen Männer
keine Weisheit haben, und wie sie dem Gericht entgegenreift,
da die Grundsätze des Bösen alle Bande lösen
und alle Schranken durchbrechen. Indem aber das Auge
dieses sieht, wird die Seele niedergebeugt und das Herz
mutlos. Wenn indes der Christ durch die Gnade in praktischer
Gemeinschaft mit Gott lebt, so ist sein Herz standhaft
und ruhig und glücklich vor Gott, weil in Ihm eine
Quelle des Segens ist, die durch keine Umstände angetastet
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oder verändert werden kann. Wohl vernimmt man die
traurigen Berichte, wohl sieht man das Elend und den
Jammer um sich her, aber das Herz ist voll Vertrauen
auf den Herrn gerichtet, und das erhebt den Gläubigen
über die Umstände.
Geliebte Brüder! wir alle haben nötig, hieran erinnert
zu werden; denn wir alle sind in Gefahr, in der
Erwartung unsers Herrn müde zu werden oder den gesegneten
Genuß der Gemeinschaft mit dem Vater und dem
Sohne zu verlieren. Und doch bedürfen wir, wie wir
gesehen haben und es auch täglich erfahren, sowohl dieser
Hoffnung als auch dieser Gemeinschaft, um standhaft mit
Gott zu wandeln. Ich glaube nicht, daß ein Christ gut
stehen kann, wenn er nicht den Sohn Gottes aus den
Himmeln erwartet. Ein Christ, der in dieser lebendigen
Erwartung steht, beurteilt die Dinge um ihn her ganz
anders wie ein Gläubiger, der diese Erwartung nicht teilt;
er sieht alles mit ganz andern Augen an. Er denkt nicht
daran, diese Welt, die Christum verworfen hat, verbessern
zu wollen. Er erwartet den Herrn selbst aus den Himmeln,
damit Er ihn mit der ganzen Versammlung Gottes
zu sich nehme; wie Er gesagt hat: „Ich komme wieder
und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin,
auch ihr seiet." Wo ich meine Freude finde, da sollt
auch ihr sie finden, ich mit euch, und ihr mit mir. (Joh.
14, 3.) — Ja, geliebter Leser, wir werden allezeit bei
dem Herrn sein!
Doch noch etwas anderes ist mit der Erwartung des
Sohnes Gottes aus den Himmeln verbunden. Ich habe
die Person, die ich liebe, noch nicht bei mir; und während
ich auf Ihn warte, gehe ich durch die Welt, ermüdet und
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betrübt durch den Geist und Charakter alles dessen, was
ich rund um mich her sehe. Je mehr ich in Gemeinschaft
mit Gott bin, desto mehr werde ich den Geist dieser Welt
erkennen und mich über all die Ungerechtigkeit betrüben,
die ich täglich erblicke. Allein ich werde nicht mutlos,
sondern Gott erhält meine Seele aufrecht durch den Genuß
der Gemeinschaft mit Ihm, und mein Auge blickt vorwärts
auf die herrliche Zukunft, die vor mir liegt. Darum ruft
auch der Apostel in 2. Thess. 1 den bedrängten Gläubigen
zu: „euch, die ihr bedrängt werdet, Ruhe mit uns bei
der Offenbarung des Herrn Jesu vom Himmel". Ich genieße
jetzt Ruhe für meine Seele in der Erwartung des
Herrn; denn ich weiß, daß Er bei Seiner Ankunft alle
Dinge nach Seinem Willen ordnen wird. Und diese
Ankunft, welche über die Welt Bedrängnis bringen
wird, führt die Heiligen, in die vollkommene und ewige
Ruhe ein.
Sollten wir deshalb müde und matt in unsern Seelen
sein? O nein, wir sollten uns durch den Dienst und durch
den Kampf nicht ermüden lassen, sondern vielmehr jeden
Tag „Ueberwinder" sein. Zwar ist Kämpfen nicht Ruhen.
Aber wenn wir mit Gott wandeln, so werden wir nicht
so viel an den Kampf denken, sondern uns in Gott erfreuen.
Wir werden sicherlich, wenn wir einmal in der
Herrlichkeit sind, alles besser kennen und verstehen wie
heute; unsre Seele wird fähiger sein, Gott zu genießen.
Allein es ist dieselbe Art von Freude, die wir heute genießen;
wir werden keine andere Freude schmecken, wenn
der Herr kommt, um in Seinen Heiligen verherrlicht zu
Werden, obwohl sie ohne Zweifel dann völliger sein wird.
Und wenn diese Freude in Gott jetzt in Kraft meine
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Seele erfüllt, so verliert die Welt ihren Reiz, uni»
die Liebe zu denen, welche in der Welt sind, kehrt m
mein Herz ein; denn obgleich ich durch den Kampf ermüdet
bin, fühle ich doch, daß Menschen in der Welt
sind, welche der Liebe bedürfen, die ich genieße, und ich
wünsche, daß sie dieselbe auch kennen lernen möchten. Wenn
die Liebe Gottes mein Herz erfüllt, so geht es aus zu
denen, welche ein Bedürfnis für diese Liebe haben, zu den
Gläubigen und zu den Sündern, und zwar in Uebereinstimmung
mit ihren Bedürfnissen; denn wenn ich die Macht:
dieser Liebe in meinem Herzen fühle, so begehre ich anderen
zu dienen, und die Kraft dieser Liebe macht mich geschickt,,
mich mit Freuden all der Mühe und Arbeit dieses Dienstes
zu unterziehen. Ich bin innig mit Christo verbunden,,
und das treibt mich an zu dienen und stärkt mich in denr
Leiden für Ihn; zugleich drückt diese Verbindung mit dem
letzten Adam ihren Stempel auf alles, was von bemerkten
Adam ist.
Wenn aber diese Liebe mich zum Dienst antreibt, so
ist der Kampf unausbleiblich. In 2. Kor. 1 hören wir
von Trost inmitten der Bedrängnis; in 2. Thess. 1 von-
der Ruhe, die unser Teil sein wird, wenn Jesus kommt..
Ihr werdet verfolgt und bedrängt, schreibt Paulus an die
Thessalonicher, „auf daß ihr würdig geachtet werdet des
Reiches Gottes, um dessentwillen ihr auch leidet"; während
er den Korinthern zuruft, daß der Vater der Erbarmungen,
und der Gott alles Trostes uns tröstet in all unsrer
Drangsal. Wenn wir um Christi willen bedrängt werden,
so kommt der Trost Gottes in unsre Seele. Welch eine-
reiche Quelle des Segens tauschen wir so ein für das
geringe Leiden, das unser Teil ist! Gott offenbart sich.
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meiner Seele; Seine Freude erfüllt mich. Gott hat Wohlgefallen
an mir, und ich an Ihm. Er macht sich eins
mit denen, die für Ihn leiden.
Wenn also die Erwartung Christi und Seine Liebe
zu uns mich antreibt, andern zu dienen, damit auch sie
an denselben Segnungen teilhaben möchten, die ich genieße,
und wenn auf diesem Wege Bedrängnis und Verfolgung
mich treffen, welch reiche und stärkende Tröstungen reicht
der Herr dann meiner Seele dar! „Denn gleichwie die
Leiden des Christus gegen uns überschwenglich sind, also
ist auch durch den Christus unser Trost überschwenglich."
(2. Kor. 1, 5.) Möge der Herr unsre Seelen allezeit mit
dem Gefühl Seiner Gegenwart erfüllen und unsre Herzen
in der beständigen Erwartung Seiner Wiederkunft erhalten !
„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt
zu sein."
Die volle, gesegnete Tragweite der obigen Worte: „Es
ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein," mag von dem, der
sie zuerst aussprach, nicht ganz verstanden worden sein;
aber diejenigen, welche sie hörten, werden sie Wohl nicht
so bald wieder vergessen. Und in der That, wenn sie
verstanden werden in Verbindung mit dem Werke Christi
und einem gegenwärtigen Heil, so sind sie höchst bezeichnend
für die Segnung der glaubenden Seele und
für den Frieden, den wir mit Gott haben durch unsern
Herrn Jesum Christum.
An einem Sonntag Abend, nach der Verkündigung
des Evangeliums, unterhielt sich der Schreiber dieser
Zeilen, im Verein mit mehreren andern Gläubigen, noch
18
einen Augenblick mit einigen Zuhörern, die im Versammlungslokale
zurückgeblieben waren. Unter den letzteren
befanden sich auch zwei Knaben. Der eine derselben war
uns schon seit längerer Zeit bekannt als ein glücklicher,
entschiedener Jünger Jesu, so jung er auch noch sein
mochte; den anderen aber hatten wir noch nie gesehen.
Wie wir hörten, war er von seinem Schulkameraden,
jenem gläubigen Knaben, mitgebracht worden; und da er
zum ersten Male einer derartigen Versammlung beigewohnt
hatte, so meinten wir, nicht viel Verständnis bezüglich des
Gehörten bei ihm voraussetzen zu dürfen. Einer von uns
fragte ihn deshalb freundlich: „Nun, mein Junge, bist
Du durch die Predigt heute Abend über das Heil Deiner
Seele beunruhigt worden?"
Der Knabe blickte den Frager einen Augenblick ernst
an und sagte dann in bestimmtem - Tone: „Es ist nicht
mehr nötig, beunruhigt zu sein."
Da wir auf eine solche Antwort durchaus nicht vorbereitet
waren, standen wir eine Weile sprachlos da, indem
wir uns im Stillen wegen unsers Unglaubens verurteilt
fühlten. Das was der Knabe sagte, war gerade
das, was wir an jenem Abend als die Wahrheit Gottes
verkündigt hatten; und doch, als wir hier jemanden vor
uns sahen, der die göttliche Wahrheit in Einfalt des Herzens
ausgenommen hatte, waren wir im höchsten Grade
erstaunt und verwundert. Ach, unsre kleingläubigen Herzen
sind oft so wenig auf das vorbereitet, was eigentlich stets die
Folge der Predigt des Evangeliums sein sollte. Denn was
könnte wahrer sein als die Antwort jenes Knaben? Und
warum sollte der überführte Sünder die frohe Botschaft
von der Liebe Gottes nicht sofort itn Glauben annehmen?
19
Im weiteren Verlauf unsrer Unterhaltung mit dem
Knaben fragten wir ihn, auf was sich seine Ueberzeugung,
daß er keine Ursache mehr habe beunruhigt zu sein, denn
gründe. Er schien es etwas merkwürdig zu finden, daß
wir überhaupt eine solche Frage an ihn richteten, erzählte
unS dann aber mit einfachen Worten, wie er sich heute Abend
als einen fündigen, verlornen Knaben erkannt und wie er
dann Jesum im Glauben ergriffen habe. Er erinnerte
uns an mehrere Bibelstellen, die in den Vorträgen angeführt
worden waren, und bekannte freimütig, daß Christus
für ihn am Kreuze gestorben sei und alle seine Sünden
in Seinem kostbaren Blute abgewaschen habe. Nichts hätte
einfacher, klarer und richtiger sein können als das Bekenntnis,
welches der glückliche Knabe ablegte. Seine Erkenntnis
war selbstverständlich äußerst gering, aber er hatte einfältig
an Jesum als seinen Heiland und Erretter geglaubt,
und er wußte jetzt, daß er errettet war, und daß
es keinen Grund mehr für ihn geben konnte, irgendwie
beunruhigt zu sein. Wir schieden von einander mit glücklichen,
dankerfüllten Herzen.
Es ist jedoch nicht mein Zweck, die Geschichte jenes
Knaben weiter zu verfolgen; ich wünschte durch die Erzählung
obigen Vorfalls nur darauf hinzuweisen, wie überaus
wichtig es ist, einfältig zu sein bezüglich alles dessen,
was die Wahrheit Gottes, sowie unsern Glauben und
praktischen Wandel betrifft. Wenn wir, anstatt einfältig
und kindlich zu glauben, unserm Verstände erlauben, seine
Schlüsse zu ziehen; wenn wir, anstatt die Wahrheit Gottes
aufzunehmen, so wie sie uns in Seinem kostbaren Worte
mitgeteilt ist, über menschliche Lehren und Meinungen
nachgrübeln; wenn wir endlich mit unsern eignen Ge
20
fühlen beschäftigt sind, anstatt mit der Liebe und Güte
unsers gepriesenen Herrn, — dann, ja, dann fahre hin
Entschiedenheit, Friede, Ruhe und Glück!
Wenn man so oft von solchen, die da kommen, um
das Evangelium zu hören, ja, selbst von den Lippen
ernster, aufrichtiger Seelen die entmutigenden Worte
hört: „Ich hoffe zu glauben," oder: „ich wünsche zu
glauben," oder: „ich thue, was ich kann," und dergl., dann
ist es in Wahrheit ermunternd und erfrischend, auch einmal
eine so klare, entschiedene Sprache zu hören, wie jener
Knabe sie führte: „Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt
zu sein."
Aber ist dies denn wirklich so? fragt vielleicht der
eine oder andre meiner Leser, der schon seit langer Zeit
über den Zustand seiner Seele beunruhigt war. Sicher
und gewiß ist es so, lautet meine Antwort. Ist Jesus
nicht gestorben? Hat Er nicht das Werk vollbracht, das
nötig war zu unserm Heil? Hat Er nicht selbst, ehe Er
Sein Haupt neigte und Seinen Geist den Händen des
Vaters übergab, ausgerufen: „Es ist vollbracht!"? War
nicht in jenem Augenblick das Werk, welches Gott verherrlicht
hat und jede glaubende Seele errettet, vollendet?
„Ja" und wiederum „Ja" antworten wir auf alle diese
Fragen. Die Worte: „Es ist vollbracht!" umfassen alles,
was von Gott gefordert wurde und für den bedürftigen
Sünder vonnöten war; und in demselben Augenblick, da
der schuldigste Sünder an das Evangelium glaubt, tritt
er ein in die ganze Fülle und Segnung des göttlichen
Heiles. Nicht als ob jeder Gläubige diese Fülle und
Segnung immer in ihrem ganzen Umfange genösse; der
Unglaube hindert ihn leider oft daran. Aber die Wahr-
21
cheit ist es, und sie ist da für einen jeden, der da glaubt.
Wenn ein Gläubiger in einfältigem Glauben handelt, so
kann er das kostbare Buch Gottes zur Hand nehmen und
hie ganze reiche Liste von Segnungen darin aufspüren
welche in Christo Jesu sein Teil sind, und zwar sein Teil
ohne daß irgend eine Möglichkeit vorläge, sie jemals wieder
zu verlieren; denn das Werk, auf welches sie sich
gründen, kann sich in seinem Werte niemals verändern.
And indem er dies thut, kann er in einsichtsvollem Glauben
und mit dankbarem Herzen ausrufen: „Wahrlich, es
ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein!"
Wenn eine von ihren Sünden überführte Seele sich
vor Gott in den Staub beugt und von Grund ihres Herzens
ruft: „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!" was wird
der Herr dann sagens Wird Er antworten: „Ich habe
kein Erbarmen für dich"? Nimmermehr! Das würde eine
Verleugnung Seiner selbst und der ganzen göttlichen Wahrheit
sein. Nein, in demselben Augenblick, da ein Sünder in
Aufrichtigkeit so ruft, hört Gott, und dem Sünder wird
Gnade und Erbarmen zu teil gemäß der Güte Gottes
und kraft des Wertes des Opfers Jesu Christi. Es
handelt sich dann nicht länger um die Gedanken und Gefühle
des Sünders, so wichtig diese an ihrem Platze auch
sein mögen, sondern alles wird jetzt gemessen nach dem
Werte und der Tragweite des Erlösungswerkes; und
indem der bußfertige, glaubende Sünder in dem Namen
und in dem Werte Christi Gott naht, empfängt er alles,
was Christo gebührt.
Diese herrliche Wahrheit wird uns im 9. und 10.
Kapitel des Hebräerbriefes in klarster Weise vor Augen
gestellt. In der ersten Hälfte deS 9. Kapitels weist der
22
Apostel unter anderm auf die Resultate des Merkes Christe
hin, die, wenn anders verstanden, das Herz für immer
von aller Sorge und Unruhe betreffs der Zukunft befreien
müssen.
Zunächst spielt er auf den zerrissenen Vorhang an,
und zwar im Gegensatz zu dem Zustand der Dinge unter
dem Gesetz, als der Weg ins Allerheiligste noch nicht
geoffenbart war. Nachdem der Vorhang zerrissen ist, liegt
der Weg ins Heiligtum offen vor uns, jedes Hindernis
ist entfernt; dieselbe Hand, welche das fleckenlose Lamm
im Gericht schlug, zerriß den Vorhang in Stücke. Wir
lesen in Matth. 27: „Jesus aber schrie wiederum mit
lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe, der
Vorhang des Tempels zerriß in zwei Stücke, von oben
bis unten." Diese Thatsache ist von unermeßlicher Wichtigkeit,
da sie jede Ursache zum Zweifel oder zur Furcht
hinwegräumt und dem Gläubigen ein vollkommnes Vertrauen
in der Gegenwart Gottes giebt. War es nicht
Gottes eigne Hand, die den Vorhang von oben bis unten
zerriß? Und warum geschah dies? Weil das große
Werk, das die Sünde hinwegthut, Gott verherrlicht und
jedem Bedürfnis des verlornen Sünders begegnet, vollendet
war. Und nun, mein lieber Leser, beachte den unendlichen
Segen dieses Resultates des Opfers Christi: Der Gläubige
— jeder Gläubige — hat Zugang zu Gott; er
darf da hinzunahen, wo Er im Lichte ist. Könnte die
Segnung der Seele noch vollkommener sem? Unmöglich!
In dem durchdringenden Lichte jenes Thrones, in den
glänzenden Strahlen jener Gegenwart stehen zu können,,
ohne daß jemals der beängstigende Gedanke die Seele
durchkreuzt, daß dieses Glück eines Tages unterbrochene
23
werden könne, — das ist Ruhe, vollkommene Ruhe. Dort,
In jenem Lichte, ist der Wohnplatz des Gläubigen, das
Vaterhaus, die Heimat der Braut, des Weibes des Lammes,
und zwar für alle Ewigkeit. Welch eine Gnade!
welch ein Glück! welch eine Sicherheit! Ja, welch eine
Herrliche Folge jenes wunderbaren Werkes auf Golgatha,
ber Vergießung jenes kostbaren Blutes, das da reinigt von
-aller Sünde! Ehre und Anbetung sei unserm hochgelobten
und geliebten Heilande jetzt und immerdar!
Doch das kostbare Blut Jesu hat nicht allein die
Thore der Herrlichkeit weit vor uns geöffnet und uns
-einen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes gebahnt, sondern
es macht auch den Gläubigen völlig passend, dort zu
weilen; es begegnet in vollkommenster Weise allen seinen
Bedürfnissen. Das Opfer Christi macht, im Gegensatz
zu den Opfern des alten Bundes, den Gläubigen vollkommen,
was sein Gewissen betrifft; er hat „kein Gewissen
mehr von Sünden". Im zehnten Kapitel finden
wir den ins Einzelne gehenden Beweis von diesem kostbaren
Resultate des Werkes Christi. Indem wir die
-ewige Wirksamkeit des Blutes Jesu kennen, können wir
in das Heiligtum eintreten, ohne irgendwie befürchten zu
müssen, daß die Frage der Sünde dort jemals erhoben werden
könnte; diese ernste Frage wurde einst auf dem Kreuze
für immer zum Abschluß gebracht. „Denn durch ein
Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die
geheiligt werden." Das Gewissen trägt gleichsam den
Widerschein des Opfers. Ein vollkommenes Opfer muß
ein vollkommenes Gewissen geben, gerade so wie die unvoll-
kommnen Opfer unter dem Gesetz niemals ein vollkomm-
ues Gewissen geben konnten. Das leitet uns zu dem
24
lieblichen, ja, unaussprechlich lieblichen Gedanken, dast
wir in dem Lichte sind ohne einenFlecken von
Sünde, rein und tadellos. Nicht nur sind alle
meine Sünden vergeben, sondern auch mein Gewissen ist
für immer zur Ruhe gebracht durch die reinigende Kraft
des Blutes Jesu Christi, meines Herrn und Heilandes.
Der Wert einer guten Sache ist in hohem Maße bedingt
durch ihre Beständigkeit. Manche unsrer schönsten
Freuden hienieden werden durch den Gedanken getrübt,
daß wir sie vielleicht morgen schon einbüßen können. Die
aufbrechende Knospe kann geknickt werden oder verdorren,
bevor sie sich in ihrer vollen Schönheit entfaltet. Aber
der Glaube wird niemals über getäuschte Hoffnungen zu
klagen haben; jede Knospe der Verheißung wird zu ihrer
vollen Entfaltung kommen und in ihrer Herrlichkeit unb
Schönheit glänzen für immer und ewig. Christus ist
schon ins Heiligtum eingegangen, nachdem Er eine ewige
Erlösung für uns erfunden hatte, und damit wir die
Verheißung eines ewigen Erbteils empfingen. Alles,
was wir jetzt im Glauben besitzen, ist ewig; der Name
des Herrn sei dafür gepriesen! Jenes kostbare Blut kann
nie seinen Wert und seine Kraft verlieren; das Werk ist
vollkommen und für immer vollbracht; unser Hohepriester
ist im Himmel kraft einer ewigen Erlösung, und ein
ewiges Erbteil ist uns gesichert. Es ist nicht, wie
manche es nennen möchten, eine bedingte Erlösung,
d. h. bedingt durch unsre Standhaftigkeit und Treue.
Sicherlich sollten wir allezeit treu sein, allezeit feststehen
im Herrn, und es ist unsre Sünde und Schande, wenn
wir es nicht thun; allein, dem Herrn sei Dank! unsre
Erlösung, unser Erbe, unsre Heimat droben ist nicht ab
25
hängig von unsrer Treue, sondern von dem ewigen Werte
und der ewigen Wirksamkeit des Blutes Jesu Christi,
des Sohnes Gottes. Dieses Blut ist vergossen und auf
den Gnadenstuhl gesprengt worden; dieses Blut hat allen
Forderungen Gottes entsprochen; dieses Blut ist der Not
und dem Elend des gefallenen Menschen begegnet, ja, es
bleibt, ein für allemal vergossen, ewig wirksam.
Und nun, mein lieber Leser, kannst du „Amen"
sagen auf diese kostbaren Wahrheiten? Wenn es der Fall
ist, so bist du errettet, und deine Antwort mag dann
wohl lauten:
„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein."
Bekümmerte Seelen, die durch die Verkündigung eines
vollen, gesunden Evangeliums bekehrt werden, finden gewöhnlich
sofort Frieden, und verlassen nicht selten das Versammlungslokal
oder den, der ihnen die frohe Botschaft verkündigt
hat, in der vollen Gewißheit und triumphierenden
Freude des Heils. Und weshalb nicht? Warum sollte
man das für etwas Merkwürdiges oder Auffallendes halten?
Ist nicht Jesus für den vornehmsten der Sünder
gestorben? Und wenn für den vornehmsten, dann doch
sicherlich auch für den untergeordneten. Darum, mein
lieber Freund, der du bis heute hin vielleicht noch ängstlich
gezögert hast, dir das Heil anzueignen, welches dir
in Christo so frei und bedingungslos angeboten wird,
zögere nicht länger! Glaube mit kindlichem Herzen und
einfältigem Sinn!
Doch vielleicht fragst du: Was soll ich glauben?
Meine Antwort ist einfach; sie lautet: Glaube dem Zeugnis
Gottes, das Er gezeugt hat über Seinen Sohn. „Wenn
wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis
Gottes ist größer . . . Und dies ist daS Zeugnis: daß
26
Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben
ist in Seinem Sohne. Wer den Sohn hat, hat das
Leben . . . Dies habe ich euch geschrieben, auf daß ihr
wisset, daß ihr ewiges Leben habt, die ihr
glaubet an den Namen des Sohnes Gottes."
(1. Joh. 5, 9—13.) Ja, das Werk ist vollendet, wie
wir gesehen haben, für ewig vollbracht. Wer da glaubt,
der hat. Von Natur sind wir Kinder des Zornes, durch
den Glauben sind wir Kinder Gottes. So lautet das
Zeugnis, so lauten die unveränderlichen Aussprüche des
lebendigen Gottes.
Aber vielleicht fallen diese Zeilen einem gleichgültigen,
sorglosen Leser in die Hände, der sich noch niemals ernstlich
mit diesen Dingen beschäftigt hat. Ein solcher möge
bedenken, daß jeder Tag ihn einen Schritt näher bringt
zum Ziele, näher zur Ewigkeit, näher zu jenem Augenblick,
wo alles in dem untrüglichen Lichte deS Richterstuhls
Christi geoffenbart werden wird. Die Zeit fliegt dahin;
noch wenige Stunden oder Tage vielleicht trennen uns
von der Ankunft unsers geliebten Herrn, wo dann für
alle, die so oft eingeladen worden sind, aber nicht hören
noch folgen wollten, die Thür der Gnade verschlossen
werden wird. „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges
Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt, wird
das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes
bleibt auf ihm." Auch dieses Wort bleibt ewig
bestehen; es ist ebensosehr die Wahrheit Gottes wie jene
herrlichen Verheißungen, von denen wir soeben gesprochen
haben. Die Gedanken und Meinungen der Menschen vermögen
nichts daran zu ändern. Himmel und Erde werden
vergehen und mit ihnen alle die eitlen Gedanken und
27
Pläne der Menschen; aber nicht ein Jota, nicht ein Strichlein
wird von diesem Worte fallen. Darum, mein Leser,
entfliehe dem Netze des Vogelstellers, den Schlingen
Satans; zerreiße das falsche, gleißende Gewebe, das er
um dich gewoben hat, und übergieb dich mit deinem
ganzen Herzen dem Herrn, der für dich litt und starb;
dem Jesus, der für alle, die an Ihn glauben, einen geöffneten
Himmel, ein gereinigtes, vollkommnes Gewissen
und eine ewige Erlösung bereitet hat. Der Vorhang ist
zerrissen, die Thür der Gnade, die Pforte der Herrlichkeit
ist weit geöffnet. Tritt ein, und du bist für ewig
geborgen, für ewig in Sicherheit!
Gedanken.
Nichts stellte den wirklichen Zustand des menschlichen
Herzens jemals so ans Licht wie das Kommen Christi in
diese Welt. Das wahrhaftige Licht schien inmitten der
Finsternis.
Wir find so geneigt, uns nur mit dem zu beschäftigen,
was Christus für uns gethan hat, während wir
das, was Er für Gott ist, mehr oder weniger
außer acht lassen. So sind unsere eigenliebigen, selbstsüchtigen
Herzen. Möchten wir uns doch stets daran
erinnern, daß es in unserm anbetungswürdigen Herrn
etwas mehr giebt als die Vergebung unsrer Sünden und
die Errettung unsrer Seele. Was stellen z. B. das
Brandopfer, das Speisopfer und das Trankopfer vor?
Wir erblicken darin Christum als den lieblichen Wohlgeruch,
als die Speise Gottes und als die Freude und Wonne
28
Seines Herzens. Wahrlich, es ist der Mühe wert, ein
wenig darüber nachznsinnen und nicht immer nur an das
zu denken, was es in dem Werke Christi für uns
Kostbares und Scgenbringendes giebt.
Was uns auf unserm Wege so not thut, ist der
Charakter eines kleinen Kindes. Was weiß ich aus mir
selbst? Nichts; aber ich glaube und bin gewiß, daß
ich das ewige Leben besitze, weil Gott es mir gesagt
hat. „Dies ist die Verheißung, welche Er uns verheißen
hat: das ewige Leben." (1. Joh. 2, 25.)
Alle, die da glauben, besitzen dieses Leben. Er, dessen
Urteil allein Wert hat, sagt es; Er, der allein ein Recht
hat zu reden, versichert es mir, und ich danke Ihm, daß Er
fähig ist, solch wunderbare Worte, solch große Dinge
betreffs meiner auszusprechen. Was so manchen Christen
fehlt, ist die Einfalt eines Kindes, um gerade das zu
glauben, was Gott sagt; und darum wandeln sie auch
nicht, wie sie sollten, nicht wie Kinder des Vaters. Wie
könnten sie auch also wandeln, wenn sie nicht einmal
glauben, daß sie Kinder sind?
Welch eine Kraft und Freude liegt darin, nichts zu
sein, nichts zu haben, nichts zu kennen als einen verherrlichten
Christus droben im Himmel, und hienieden um
nichts anderes besorgt zu sein als um die Verherrlichung
Seines kostbaren Namens! Und das ist das gesegnete
Teil des Christen.
Asa
-7 oder: ' '
Wen fuchst du ?
(2. Chron. 14—16.) -- -
Der Anfang und das Ende der Geschichte des Königs
Asa stehen in schroffem Gegensatz zu einander; und es ist
wohl nicht bedeutungslos, wenn wir hier, wie bei der Geschichte
der Könige Salomo, Josaphat, Ussija u. and.,
lesen: „Die Geschichte Asas, die erste und die letzte."
(2. Chron. 16, 11.) Die erste zeigt uns Asa als einen
treuen und gottesfürchtigen Gläubigen, der sich durch den
Herrn leiten ließ und darum Erfolg hatte auf allen seinen
Wegen; die letzte zeigt uns ihn als einen Verblendeten,
der sich den Ermahnungen des Herrn widersetzte und sogar
zum Widersacher des Volkes Gottes wurde. Jener herrliche
Anfang und dieses traurige Ende des Königs Asa
machen seine ganze Geschichte für uns ernst und lehrreich;
um so ernster und lehrreicher, wenn wir uns die Ursache
vergegenwärtigen, durch welche die traurige Veränderung
bewirkt wurde. Der Herr wolle deshalb die Betrachtung
dieser Geschichte, die Er zu unsrer Belehrung aufbewahrt
hat, an dem Schreiber und dem Leser dieser Zeilen segnen!
Der Anfang der Regierung Asas war eine Zeit der
Ruhe, und er benutzte dieselbe in der besten Weise. Zunächst
stellt ihm der Heilige Geist das schöne Zeugnis
aus, daß er vor den Augen Jehovas wandelte. „Und
30
Asa that, was gut und recht war in den Augen
Jehovas, seines Gottes." (Kap. 14, 2.) Das ist immer
das Kennzeichen von Treue und Aufrichtigkeit. Man
wandelt im Gehorsam gegen die Gebote Gottes und sucht,
frei von Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, nur die
Ehre und Verherrlichung Gottes. Das erste Werk Asas
bestand daher darin, das Land von alledem zu reinigen,
was in den Augen des Herrn mißfällig war, indem er die
fremden Altäre, die Höhen und die zu Ehren der Götzen »
errichteten Bildsäulen und Ascherim beseitigte. Alsdann
forderte er Juda auf, „daß sie Jehova, den Gott ihrer
Väter, suchen und das Gesetz und das Gebot thun sollten."
(Vers 4.) Er hatte den wichtigen Grundsatz erfaßt,
nach welchem man Gott nicht dienen kann, ohne mit der
Welt und ihren Götzen gebrochen zu haben. Er hatte
verstanden, daß man nicht Gott und dem Mammon
dienen kann. (Jos. 24, 19—23; Luk. 16, 13.) Er offenbarte
darin ein ungeteiltes Herz für den Herrn zur Beschämung
für manche Gläubige unsrer Tage, welche es
mit dem Herrn und der Welt halten wollen, ohne daran
zu denken, daß „die Freundschaft der Welt Feindschaft
wider Gott ist", und daß man, um „Festfeier" zu halten,
den alten Sauerteig ausgefegt haben muß. (Jak. 4, 4;
1. Kor. 5, 7. 8.)
Nichts ist mißfälliger in den Augen des Herrn als
ein geteiltes Herz. Er sagt: „Wer Vater oder Mutter
mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer
Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht
würdig." (Matth. 10, 37.) Asa und sein Volk beseitigten
die Götzen und suchten Jehova; sie entschieden sich für
Ihn, um Ihm den ersten Platz in ihren Herzen und
31
Häusern einzuräumen. Sie wichen vom Bösen und
wandten sich zum Herrn und zu Seinem Worte. Sie
hatten verstanden, daß dies die erste notwendige Sache
war, von der aller Segen und alles Gelingen abhing.
„Denn wir haben Jehova, unsern Gott, gesucht; wir haben
Ihn gesucht, und Er hat uns Ruhe geschafft ringsum."
(Vers 7.) Sie hatten nicht den Segen, sondern die
Person Jehovas gesucht — ein sicheres Kennzeichen eines
echten, gesunden Glaubens und eines wahrhaft ergebenen
Herzens. Den Herrn zu suchen ist das Bedürfnis einer
Seele, die, unbefriedigt durch die Nichtigkeiten der Welt,
nur in dem Herrn ihre volle Befriedigung findet — ein
Bedürfnis, welches Maria Magdalena nicht ruhen ließ,
bis sie den Gegenstand ihres Herzens gefunden hatte.
(Joh. 20, 11 — 16.)
Erst nachdem Asa so in sein wahres Verhältnis zum
Herrn eingetreten war, begann er sein Werk und benutzte
die Zeit der Ruhe, um die Städte Judas zu bauen und
zu befestigen. (VerS 7.) Alles dieses ist schön und belehrend
für uns. Auch unsre Aufgabe ist es, so viel an
uns liegt, mitzuwirken an dem Werke des Herrn, die
Seelen zu erbauen, zu stärken und zu befestigen. Und
dies umsomehr, als der Herr auch uns eine Zeit der
Ruhe gegeben hat. Geliebte Brüder! benutzen wir sie
wirklich zu diesem Zwecke? Oder veranlaßt uns die
Ruhe nach außen, uns umsomehr den Bequemlichkeiten
und Genüssen der Welt hinzugeben? Wie ernst und
wichtig ist diese Frage! Leider giebt es Gläubige, die
nur wenig an das Werk des Herrn denken; die für sich
und die Welt leben und die Arbeit andern überlassen.
Aber sie erleiden einen großen Verlust, der, wenn auch
32
nicht hier, so doch an jenem Tage offenbar werden wird.
Alsdann wird der Herr ans Licht stellen, „was ein jeder
mit dem ihm anvertrauten Pfunde erhandelt hat". (Luk.
19, 15.) Der Apostel ruft allen Gläubigen, nicht bloß
einigen, zu: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest,
unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des
Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist
im Herrn." (1. Kor. 15, 58.)
Andrerseits ist es nötig uns daran zu erinnern, daß
unser Laufen und Arbeiten wenig Wert hat, wenn nicht
unser Verhältnis zum Herrn geordnet ist, wie es bei Asa
der Fall war. Wenn der Herr nicht den ersten Platz in
unsern Herzen hat, so werden wir entweder bald müde
werden im Werke, oder wir laufen Gefahr, durch falsche
Beweggründe geleitet zu werden und etwas aufzubauen,
was wieder abgebrochen werden wird. Alles Gelingen hängt
davon ab, daß der Herr mit uns ist; aber Er kann nicht
mit uns sein, es sei denn daß wir mit Ihm sind. Früher
oder später kommt für jeden eine Zeit der Prüfung, „und
welcherlei das Werk eines jeden ist, wird das Feuer bewähren.
Wenn das Werk jemandes bleiben wird, so
wird er Lohn empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen
wird, so wird er Schaden leiden." (1. Kor.
3, 13—15.)
Diese Zeit der Prüfung kam auch für Asa. Es
sollte sich zeigen, ob er wirklich nur den Herrn gesucht hatte,
und ob sein Vertrauen auf Ihn, sowie die Arbeit, welche
er in der Zeit der Ruhe ausgeführt hatte, echt war. Ein
mächtiger Feind zog gegen ihn heran mit einem Heere
von tausend mal tausend Mann und dreihundert Wagen.
(Vers 9.) Asa befand sich in einer schwierigen Lage.
33 —
Wohl hatte auch er ein Heer, das Schild und Lanze
trug und aus durchweg geübten Streitern und tapfern
Helden bestand (Vers 8); aber die Uebermacht war auf
feiten des Feindes, ja, dieser war Israel an Zahl doppelt
überlegen. In der That, eine ernste Prüfung für Asa!
Aber sie zeigte, daß sein Glaube echt war; sein Blick
war auf Jehova gerichtet und nicht aus das Sichtbare.
Er war sich seiner Lage völlig bewußt, aber er übersah
sie mit einer Ruhe, die nur dem lebendigen Glauben an
den Herrn eigen ist. Da war keine Ueberstürzung, auch
keine Selbsttäuschung oder Selbstüberhebung. Er kannte
seine eigne Schwachheit, sowie die Ueberlegenheit des
Feindes; aber er kannte auch Den, den er in den
Tagen der Ruhe gesucht hatte. Zu Ihm nahm er seine
Zuflucht am Tage des Kampfes. „Und Asa rief zu
Jehova, seinem Gott." (Vers 11.) Das Bewußtsein, welches
der Glaube von der Kraft Gottes hat, geht immer
gepaart mit einem tiefen Gefühl der eignen Schwachheit.
„Meine Kraft," sagt der Herr, „wird in Schwachheit
vollbracht." (2. Kor. 12, 9.) Asa hatte die Wahrheit
der Worte verstanden: „Ein König wird nicht gerettet
durch die Größe seines Heeres; ein Held wird nicht befreit
durch die Größe der Kraft. Ein Trug ist das
Roß zur Rettung, und durch die Größe seiner Stärke
läßt es nicht entrinnen. Siehe, das Auge Jehovas ist
gerichtet auf die, so ihn fürchten, auf die, welche
auf Seine Güte harren." (Psalm 33, 16 —18.)
„Und Asa rief zu Jehova, feinem Gott." Welch
ein schöner Ausdruck von dem innigen Verhältnis, das
zwischen ihm und Gott bestand! Es erinnert uns an
einen Ausspruch des Apostels Paulus in seinem Briefe
34
an die Philipper: „Mein Gott aber wird alle eure Notdurft
erfüllen nach Seinem Reichtum." (Kap. 4, 19.) Asa
blickte mit völligem Vertrauen auf Ihn und sprach: „Jehova!
um zu helfen ist bei dir kein Unterschied zwischen
dem Mächtigen und dem Kraftlosen. Hilf uns, Jehova,
unser Gott! denn wir stützen uns auf dich." Für ihn
hing die Entscheidung in diesem Kampfe nur von Jehova
ab; der Mächtige wie der Kraftlose waren in demselben
gleich Null. Doch Asa geht noch weiter und macht den
ganzen Kampf zu einer Sache Jehovas, indem er sagt:
„Und in deinem Namen sind wir gekommen wider
diese Menge. Du bist Jehova, unser Gott; laß den
Menschen nichts wider dich vermögen." Konnte es anders
sein, als daß Gott auf diesen Glauben antwortete und die
Sache in Seine Hand nahm? Wir lesen deshalb auch
schon im nächsten Verse: „Und Jehova schlug die Ku-
schiter vor Asa und vor Juda." (Vers 12.) Welch ein schönes
Zeugnis des Glaubens und welch ein vollständiger Sieg!
„Und es fielen so viele von den Kuschitern, daß sie sich
nicht wieder erholen konnten; denn sie wurden zerschmettert
vor Jehova und vor Seinem Heere." (Vers 13.)
Asa und sein Volk hatten Jehova gesucht und sich auf
Ihn gestützt, und Er bekannte sich zu ihnen als Seinem
Volke und Seinem Heere.
Welch eine wichtige Belehrung enthält dieses für
uns! Hätte wohl Asa so vertrauensvoll Gott als seinem
Gott nahen, und im Namen des ganzen Volkes zu
Ihm als „unserm Gott" beten können, wenn sie sich
nicht zuvor gereinigt und die Götzen aus ihrer Mitte weggethan
hätten? Und würde wohl anders Jehova sich zu
ihnen bekannt haben als Seinem Heere? Liegt hierin
35
nicht eine ernste Mahnung für die Gläubigen unsrer Tage,
an die Worte des Apostels zu gedenken, in welchen er
uns, unter Hinweisung auf unsre hohen Vorrechte, auffordert,
uns von dem Bösen abznsondern? „Denn ihr
seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt
hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und
ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein."
Darum gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht
der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich
werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater
sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein,
spricht der Herr, der Allmächtige." (2. Kor. 6, 11—18.)
Denken wir daran, daß die Prüfung nicht ausbleibt, unter
welcher Form sie auch für den Einzelnen kommen mag.
Täuschen wir uns nicht und lassen wir uns durch die
Tage augenblicklicher Ruhe nicht in falsche Sicherheit einwiegen.
Möchte vielmehr ein feder von uns von Herzen
den Herrn suchen, eine innige Gemeinschaft mit Ihm Pflegen
und in unablässigem Gebet und Flehen Seines Werkes
und all Seiner Heiligen gedenken! Wahrlich, man
kann nur mit großer Besorgnis an viele Gläubige denken,
die sorglos und leichtfertig wandeln, sich der Weltlichkeit
hingeben und nicht achten auf die Ermahnungen des
Herrn. Ach! solche vergessen ganz und gar, daß ihre Gebete
und ihre Gottesdienste wertlos sind, so lange sie in
Verbindung mit dem Bösen bleiben. Der Herr will, daß
die Deinigen „heilige Hände" aufheben; auch will
Er geheiligt werden in denen, die Ihm nahen. (1. Tim.
2, 8; 3. Mose 1V, 3.)
Der fernere Verlauf der Geschichte Asas zeigt uns,
wie nötig es ist, zu wachen und zu beten, und wie sehr
36
wir bedürfen, ermahnt und ermuntert zu werden. Wir
sind hienieden stets in Gefahr, zu straucheln und zu fallen,
und gerade dann am meisten, wenn wir einen Sieg davongetragen
haben. Der Feind schlummert nie und sucht
jede Gelegenheit zu benutzen, uns zum Fall zu bringen.
Aber andrerseits ist auch der Herr beschäftigt und kommt
uns in Seiner Treue zu Hülfe. Er sah jene Gefahr
auch für Seinen Knecht voraus und sandte deshalb Seinen
Propheten zu ihm, um ihn an die Grundsätze zu erinnern,
nach welchen allein Er mit ihm und dem Volke
fein konnte. „Und auf Asarja, den Sohn Odeds, kam
der Geist Gottes. Und er ging hinaus, Asa -entgegen,
und sprach zu ihm: Höret mich, Asa und ganz Juda und
Benjamin! Jehova ist mit euch, wenn ihr mit Ihm
seid. Und wenn ihr Ihn suchet, wird Er sich von
euch finden lassen; wenn ihr Ihn aber verlasset, wird Er euch
verlassen." (Kap. 15, 1. 2.) Beachten wir den Nachdruck,
den der Prophet auf die Worte legt: „wenn ihr mit
Ihm seid", und „wenn ihr Ihn suchet". Das waren die
Grundsätze, welche er Asa und seinem Volke einzuprägen suchte.
Denn gerade durch das Aufgeben derselben ist Asa gefallen,
wie wir später sehen werden. Möchten sie daher tief in
unsre Herzen eindringen! Der erste jener beiden Grundsätze
setzt voraus, daß unser Wandel in Uebereinstimmung
mit der Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe des Herrn ist,
gemäß den Worten des Apostels: „Uebrigens, Brüder, alles
was wahr, alles was würdig, alles was gerecht, alles was
rein, alles was lieblich ist, alles was wohllautet, wenn es
irgend eine Tugend und wenn es irgend ein Lob giebt, dieses
erwäget .... und der Gott des Friedens wird mit
euch sein." (Phil. 4, 8. 9.) Der zweite erinnert uns
37
daran, daß wir dem Herrn stets den ersten Platz einräumen
und nichts thun sollten ohne Ihn.
Asa und sein Volk waren auf gutem Wege bis dahin;
sie hatten sich vom Bösen gereinigt, Jehova gesucht
und infolge dessen auch Seine Hülfe reichlich erfahren.
Aber um auf diesem Wege zu bleiben, war es nötig
für sie, Jehova immer wieder zu suchen, ihre Herzen und
Gedanken stets von neuem zu Ihm hin zu richten, und
nicht zu erlauben, daß sich etwas zwischen sie und Ihn
drängte. Wir bedürfen einer täglichen, ja stündlichen „Erneuerung",
und sind nur zu geneigt, dieselbe zu unterlassen.
Immer wieder sollten wir uns die Frage vorlegen:
„Wen suchst du?" Auf was sind in diesem Augenblick
deine Gedanken, Wünsche und Pläne gerichtet? Das ist
die Erneuerung, von welcher der Apostel spricht, wenn er
sagt: „Werdet verwandelt durch die Erneuerung euers
Sinnes." (Röm. 12, 2.) Weit entfernt von einer Verbesserung
des Fleisches, oder einer Erneuerung des alten
Menschen, ist es vielmehr der „neue Mensch", der also
„erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bilde Dessen,
der ihn erschaffen hat". (Kol. 3, 10.) Wenn wir diese
beständige Erneuerung unsers Sinnes, diese Selbstbeurteilung
unterlassen, und in der Wachsamkeit über die Neigungen
unsrer Herzen müde werden, so kommen wir unvermeidlich
von dem richtigen Wege ab, auch wenn wir
schon längere Zeit auf demselben gewandelt und die herrlichsten
Erfahrungen gemacht haben.
Wie ermunternd waren daher die Worte des Propheten
für Asa und sein Volk! „Ihr aber, seid stark und
lasset eure Hände nicht erschlaffen! Denn es giebt Lohn
für euer Thun." (Vers 7.) Wie groß ist die Treue, wie
38
gnädig die Fürsorge des Herrn! Er kennt unsre Gefahren
und unsre Schwachheit, und läßt es deshalb nie an Ermahnungen
und Aufmunterungen fehlen. Möchten wir
nur allezeit auf dieselben achten und sie nicht in den Wind
schlagen! Asa hörte sie mit einem offnen Ohr und einem
demütigen, willigen Herzen, und infolge dessen ging er
mit neuem Mut und Eifer voran. „Und als Asa diese
Worte und die Weissagung Odeds, des Propheten, hörte,
faßte er Mut; und er schaffte die Greuel weg aus dem
ganzen Lande Juda und Benjamin und aus den Städten,
die er vom Gebirge Ephraim eingenommen hatte, und er
erneuerte den Altar Jehovas, der vor der Halle Jehovas
war." (Pers 8.) Asa machte Fortschritte, wie es stets
der Fall sein wird, wenn das Herz eines Gläubigen in
der rechten Stellung ist; er dehnte seine Thätigkeit hinsichtlich
der Reinigung über alles aus, was der Herr
seiner Herrschaft unterwarf. Das ist die gesegnete Frucht
eines demütigen Herzens, welches sich den Ermahnungen
des Herrn unterwirft. Und in demselben Maße wie Asa
segensreich in seinem Werke voranging, wurde es überall
offenbar, daß der Herr mit ihm war. Infolge dessen
hatte das Volk Vertrauen zu ihm, und selbst aus Israel
liefen sie in Menge zu ihm über. (Vers 9.) Er ging
„von Kraft zu Kraft", da sein Sinnen allein auf die
Verherrlichung des Herrn und die Stärkung des Volkes
Gottes gerichtet war. Nicht nur vollzog er eine gründliche
Reinigung in dem ganzen Lande seiner Herrschaft,
sondern er versammelte auch das Volk zu Jerusalem, um
gemeinschaftlich mit ihm Jehova zu opfern und Ihn zu
suchen „mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen
Seele". (Vers 9 — 12.) Weit davon entfernt, die Folgen
39
des glänzenden Sieges über die Knschiter zu seiner eignen
Verherrlichung oder zu seinem eignen Vorteil auszubeuten,
brachte er Jehova seinen Dank und seine Huldigung dar.
Auf seine Veranlassung opferte das Volk „Jehova an selbigem
Tage von der Beute, die sie eingebracht hatten,
siebenhundert Rinder und siebentausend Schafe". Das
ganze Fest war dem Preise des Herrn gewidmet und
endigte mit einer entschiedenen Hingebung des ganzen
Volkes an Jehova. „Und sie schwuren Jehova mit lauter
Stimme und mit Jauchzen und mit Trompeten und mit
Posaunen. Und ganz Juda freute sich des Eides; denn
sie schwuren mit ihrem ganzen Herzen, und sie suchten
Ihn mit ihrem ganzen Willen; und Er ließ sich von
ihnen finden." (Vers 14. 15.)
Welch ein liebliches Gemälde! Ja, welch ein glänzendes
Zeugnis war dieses Fest von der persönlichen
Treue Asas, von seinem Eifer und seiner Hingebung an
den Herrn, und von der Demut seines Herzens! Und wie
gesegnet war der Einfluß, den seine Entschiedenheit auf
das ganze Volk ausübte! Er hatte sich die Worte des
Propheten zu Herzen genommen, und darum gab der Herr
ihm Gnade und ließ es ihm gelingen. Es erfüllte sich
an ihm, was geschrieben steht: „Aber auf diesen will ich
blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes
ist, und der da zittert vor meinem Worte." (Jes. 66, 2.)
Und wie es damals war, so ist es heute noch. Die göttlichen
Grundsätze verändern sich niemals. Es zeugt stets
von wahrer Demut des Herzens, wenn sich jemand dem
Worte der Ermahnung unterwirft; und dem Demütigen
giebt Gott Gnade, und dem Aufrichtigen läßt
Er es gelingen.
40
Doch Asa blieb hierbei nicht stehen. Seine Treue
gegen den Herrn offenbarte sich nicht nur nach außen hin,
sondern auch gegen sein eignes Haus. Aus seiner eignen
Familie beseitigte er schonungslos die Götzen, und trat
ohne Rücksicht gegen seine eigne Mutter auf, weil diese
der Aschera ein Götzenbild gemacht hatte. (Vers 16.) Er
ließ sich durch nichts beeinflußen, weder durch Familienbande,
noch durch irgend welchen irdischen Gewinn oder Vorteil.
Es erinnert uns dies lebhaft an die Söhne Levis, welche
in ihrer Treue gegen den Herrn nicht nach Vater noch
Mutter fragten, zur Zeit als Israel das goldene Kalb
gemacht hatte. „Und Mose stellte sich auf im Thore des
Lagers und sprach: Her zu mir, wer für Jehova ist!
Und es versammelten sich zu ihm alle Söhne Levis. Und
er sprach zu ihnen: Also spricht Jehova, der Gott Israels:
Thut ein jeder sein Schwert an seine Hüfte, gehet hin
und wieder von Thor zu Thor im Lager, und erschlaget
ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Freund und
ein jeder seinen Nachbar. Und die Söhne Levis thaten
nach dem Worte Moses." (2. Mose 32, 26—28.) Sicherlich
kann eine solche Treue nur da gefunden werden, wo ein
ungeteiltes Herz für den Herrn ist. Wie oft kommt es vor,
daß Gläubige trotz aller Hindernisse ganz entschieden finden
Herrn vorangehen, und doch plötzlich Halt machen,
wenn ihre Treue in der eignen Familie auf die Probe
gestellt wird. Es zeigt sich dann, daß ihr Herz nicht
ungeteilt für den Herrn ist, und daß Weib, Eltern
oder Kinder mehr Wert für sie haben als der Herr; ihre
Treue besteht die Probe nicht. Die Söhne Levis bestanden
die Probe, und wir sehen deshalb auch, wie der Herr
bei der Erteilung des Segens ihre Treue anerkennt: „Und
41
von Levi sprach er: Deine Thummim und deine Urim
sind für deinen Frommen, den du versucht hast zu Massa,
mit dem du hadertest bei dem ÄZasser von Meriba; der von
seinem Vater und von seiner Mutter sprach: Ich sehe ihn
nicht, und der seine Brüder nicht kannte, und von seinen
Söhnen nichts wußte; denn sie haben dein Wort' beobachtet,
und deinen Bund bewahrten sie." (5. Mose 33, 8. 9.)
So wird auch der Augenblick kommen, wo der Herr die
Treue eines jeden ans Licht stellen und wo es sich zeigen
wird, daß es wahrlich der Mühe wert war, in allen
Proben entschieden auf der Seite des Herrn gestanden
zu haben.
Was Asa betrifft, so bestand seine Treue ebenfalls
die Probe in jeder Beziehung. Der Heilige Geist bezeugt
von ihm: „Doch das Herz Asas war ungeteilt alle seine
Tage," und sügt sodann noch einen weiteren schönen Zug
hinzu: „Und er brachte die geheiligten Dinge seines Vaters
und seine geheiligten Dinge in das Haus Gottes: Silber
und Gold und Geräte." (Vers 18.) Asa hielt sein Gewissen
rein von alledem, was dem Herrn gehörte; er verwandte
nichts davon zu seinem eignen Vorteil, sondern
brachte es an den dafür bestimmten Platz, in das Haus
Gottes. Mochten es nun Dinge sein, die er oder sein
Vater freiwillig dem Herrn gelobt hatten, oder solche, die
nach dem Gesetz an den Leviten und Fremdling, die Waise
und Witwe abzugeben waren — es waren „heilige" Dinge,
die dem Herrn gehörten, leider aber vielfach Ihm vorenthalten
wurden. Asa konnte daher als ein treuer
Israelit sagen: „Ich habe das Heilige aus dem
Hause weggeschafft .... Ich habe nicht davon
gegessen in meiner Trauer, und habe nicht davon wegge
42
schafft als ein Unreiner, und habe nicht davon gegeben
für einen Toten; ich habe der Stimme Jehovas, meines
Gottes, gehorcht, ich habe gethan nach allem, was du mir
geboten hast." (5. Mose 26, 12—14.) Offenbar hatte
sein Vater diese Pflicht gegen Jehova versäumt und das
Heilige zurückbehalten; aber er holte das Versäumte nach.
Welch ein schöner Zug der Treue! Können auch wir sagen,
daß wir das Heilige aus dem Hause weggeschafft haben?
Hat der Herr uns nichts gegeben, um eS für Arme oder
für Sein Werk zu benutzen? Hat Er uns das, was Er
uns anvertraut hat, nur zu dem Zwecke gegeben, um es
für uns selbst zu verwenden? Sollten wir kärglicher sein
als die Gläubigen des Alten Bundes? Sollten wir deshalb
weniger „an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmen"
(Röm. 12, 13), weil wir nicht unter dem Gesetz stehen,
nach welchem jeder verpflichtet war, den Zehnten zu geben?
Möchten wir nicht vergessen, daß wir betreffs des Wohlthuns
und Mitteilens eine umso höhere Verantwortlichkeit
haben, als unsre Vorrechte höher sind als diejenigen
Israels.
In der That steht Asa bis hierhin als ein leuchtendes
Vorbild da für alle Gläubigen; und wie schön wäre
es, wenn seine Geschichte hier ihren Abschluß fände! Wie
gern möchte man hier Halt machen um seinetwillen, und
das Uebrige seiner Geschichte — seine letzte Geschichte
— mit dem Mantel ewiger Vergessenheit zudecken! Aber
der Heilige Geist ist weiser als wir und hat es für gut
befunden, uns auch mit seiner letzten Geschichte bekannt
zu machen, zur feierlichen Warnung der Gläubigen aller
Zeiten, damit „wer zu stehen sich dünkt, zusehe, daß er
nicht falle". (1. Kor. 10, 12.) Sie zeigt uns, daß selbst
43
der treueste Gläubige ein trauriges Ende nehmen kann,
wenn er nicht in steter Wachsamkeit beharrt. Wie sollten
wir stets an die Worte des Herrn denken: „Wachet und
betet, auf daß ihr nicht in Versuchung hineinkommet;" oder
an die Ermahnung des Apostels: „Bewirket eure eigne
Seligkeit mit Furcht und Zittern." (Matth. 26, 41;
Phil. 2, 12.)
Nicht ohne Grund hatte der Prophet den König
einst zur Wachsamkeit ermahnt. Ach! zu jener Zeit hatte
Asa die Ermahnung zu Herzen genommen; aber nach und
nach war es anders geworden, er hatte sich im Laufe der
Zeit einer falschen Sicherheit hingegeben. Ganz besonders
scheint die' lange Ruhepause, welche nach dem herrlichen
Siege über die Kuschiter eintrat, verhängnisvoll für ihn
geworden zu sein; denn „es war kein Krieg bis zum
fünfunddreißigsten Jahre der Regierung Asas". (Vers 19.)
Die Zeit der Ruhe im Anfang seiner Regierung hatte er
in gesegneter Weise benutzt, und war daher zur Zeit der
Prüfung in Gemeinschaft mit dem Herrn gefunden worden
und hatte die Prüfling herrlich bestanden. Jetzt
aber, nach Verlauf von- zwanzig Jahren, kam eine neue
Prüfung, und diese zeigte leider, daß er diese Gemeinschaft
verloren hatte. Eine große Veränderung zum Schlimmeren
war bei ihm eingetreten, so daß er jetzt geradezu
das Gegenteil von dem zeigte, was er bei der ersten Prüfung
geoffenbart hatte, trotzdem diese verhältnismäßig weit
schwerer war als die neue. Von einem Zufluchtnehmen
zu Jehova, seinem Gott, hören wir jetzt nichts. Asa
handelt einfach nach seinem Gutdünken. Es kommt ihm
nicht im entferntesten in den Sinn, den Herrn zu suchen,
wie dies früher seine Gewohnheit gewesen war. Er nimmt
Ä- - 44 -
seine Zuflucht zu einem Menschen, und noch dazu zu einem
Heiden, dem Könige von Syrien. Und um diesen für
seine Zwecke zu gewinnen, greift er zu Mitteln, welche
den tiefgesunkenen Zustand seines Herzens in der traurigsten
Weise bloßstellen. „Da brachte Asa Silber und
Gold heraus aus den Schätzen des Hauses Jehovas und
des Hauses des Königs; und er sandte zu Ben-Hadad,.
dem König von Syrien, der zu Damaskus wohnte, und
sprach: Ein Bund ist zwischen mir und dir und
zwischen meinem Vater und deinem Vater. Siehe, ich
sende dir Silber und Gold; gehe hin, brich deinen Bund
mit Baesa, dem König von Israel, daß er von mir abziehe."
(Kap. 16, 1—3.) Das Heilige, das er einst in
seiner Treue dem Herrn gewidmet hatte, nimmt er jetzt
zurück, um es zu einer unheiligen Verbindung mit einem
Ungläubigen zu benutzen. Er besiegelt damit öffentlich,
was in seinem Herzen schon länger zur Thatsache geworden
war: seinen Bruch mit dem Herrn. „Ein Bund ist
zwischen mir und dir"; welch einen Gegensatz bilden diese
Worte zu seiner einstmaligen Hingebung, als er mit seinem
Volke einen Bund einging, „Jehova, den Gott ihrer
Väter, zu suchen mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer
ganzen Seele"! Alle Ehrfurcht vor dem Heiligen, das dem
Herrn gehörte, ist verschwunden; er nimmt es als ein „Unreiner"
und giebt es für einen „Toten". Wie rief
war er gefallen!
Geliebter Leser! müssen wir nicht mit Furcht und
Zittern an uns selbst denken, wenn wir sehen, wohin ein
Gläubiger kommen kann? und zwar ein Gläubiger, der einst
ein so gesegnetes Werkzeug in der Hand des Herrn gewesen
war; der eine solch entschiedene Treue gegen Ihn gezeigt
45
und einen solch unermüdlichen Eifer für Seine Sache an
den Tag gelegt hatte? Und bedenken wir wohl: Asa ist
nicht gefallen, weil etwa seine Treue nicht aufrichtig, oder
sein Eifer erheuchelt gewesen wäre, sondern einfach deshalb,
weil er nicht über sich selbst gewacht hat und darum allmählich
groß in seinen eignen Augen geworden ist. Das
beweist uns der weitere Verlauf seiner Geschichte; und
das ist auch die verborgene Klippe, an welcher schon so
viele gescheitert sind; die gefährliche Schlinge, die der
Feind so geschickt zu legen weiß, und die uns allen beständig
droht. Keiner denke, daß seine Treue und sein
Eifer, oder überhaupt sein guter Zustand ihn schütze vor
falscher Sicherheit oder Verblendung. Unser einziger Schutz
ist der Herr. Suchen wir Ihn nicht Tag für Tag,
Stunde für Stunde, so giebt es keine Sicherheit für uns.
Wir bedürfen Ihn auf Schritt und Tritt; und jemehr
wir unsre Schwachheit kennen und fühlen, desto lebendiger
wird das Bedürfnis nach Ihm und Seiner Hülfe sein.
Wir werden kein Vertrauen auf Fleisch haben (Phil. 3, 3),
sondern mißtrauisch sein gegen uns selbst.
, Es ist stets ein sicheres Kennzeichen von Verblendung,
wenn jemand das Wort der Ermahnung nicht mehr annimmt.
Trotzdem Hanani, der Seher, dem König sein
trauriges Verhalten klar vor Augen stellt, nimmt dieser
nichts an. Auch die Erinnerung an seine segensreiche
Vergangenheit, an die herrlichen Erfahrungen, die er in
einer weit größeren Prüfung gemacht hatte, bleiben ohne
Wirkung. „Waren nicht," fragt der Prophet, „die Kuschi-
ler und die Libyer eine zahlreiche Heeresmacht, mit Wagen
und Reitern in großer Menge? Aber weil du dich auf
Jehova stütztest, gab Er sie in deine Hand." (Vers 8.)
46
Wahrlich, die Erinnerung an jene wunderbare Erhörung
seines Flehens hätte Asa zu ernstem Nachdenken aufwecken
sollen; und eS bedurfte in der That keiner großen Einsicht,
um den Gegensatz zwischen seinem damaligen und
seinem jetzigen Verhalten zu erkennen. Aber da war keine
Einsicht; denn anders würde er umgewandt sein und sich
reumütig und mit tiefem Schmerz zu den Füßen des
Herrn niedergeworfen haben; und dies umso eher, als der
Seher ihn unter die alles durchdringenden und erforschenden
Augen Jehovas stellte und ihn an die Bereitwilligkeit
Gottes erinnerte, denen zu helfen, die mit ganzem Herzen
Ihm anhängen. „Denn Jehovas Augen durchlaufen die
ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren
Herz ungeteilt auf Ihn gerichtet ist." (Vers 9.) Aber
weder das Vorhalten klarer und offenbarer Thatsachen,
noch die Erinnerung an die Allwissenheit und Gnade des
Herrn — nichts machte Eindruck auf den König. Er
hatte kein Auge mehr für seinen Zustand, kein Gefühl,
keinen Schmerz, keine Reue. Welch ein trauriger Zustand,
umso beklagenswerter nach einer so schönen Vergangenheit!
Ach! wie völlig verblendet der Hochmut das Herz;
wie macht er es so hart und gefühllos! Das Gewissen ist
abgestumpft, das Herz wie mit einem eisernen Panzer
umgeben, an welchem jedes ermahnende und warnende
Wort wirkungslos abprallt.
Doch mehr noch als das; ein hochmütiges, von sich
selbst eingenommenes Herz ist nicht nur taub gegen jede
Ermahnung, sondern es lehnt sich auch auf gegen den, der
im Namen des Herrn zu ihm redet. Asa wurde zornig,
brauchte Gewalt gegen den Seher und „legte ihn in den
Stock". (Vers 10.) Er befand sich jetzt in offenbarem
47
Widerstand gegen den Knecht des Herrn, weil dieser ihm
treu und aufrichtig die Wahrheit gesagt hatte. Ach! er
wollte sie nicht hören, wollte nicht umkehren, noch sich
beugen. Wohin war er gekommen! Würde er wohl in
den Tagen, da er den Herrn mit ganzem Herzen suchte,
daran gedacht haben, daß er jemals in solcher Weise gegen
einen Knecht des Herrn auftreten könnte, und dies aus
dem einzigen Grunde, weil dieser ihm die Wahrheit gesagt
hatte? Giebt es wohl noch einen Unterschied zwischen seinem
Verhalten und demjenigen des Herodes, der den
Johannes ins Gefängnis werfen ließ, weil er ihm die
Wahrheit gesagt hatte? (Matth. 14,.3. 4.) „Und Asa
ward ärgerlich über den Seher und legte ihn in den
Stock; denn er war dieserhalb gegen ihn erzürnt." Anstatt
sich zu demütigen, ließ er der Bitterkeit seines Herzens
Raum, und suchte sich schließlich zu rächen an dem, der
doch nur ein Werkzeug in der Hand des Herrn war. Und
nicht genug damit; er wandte sich auch gegen etliche von
dem Volke und that ihnen Gewalt an. (Vers 10.) Es
wird uns nicht gesagt, aus welcher Ursache er dies that;
vielleicht waren es solche, die ebenfalls mit seinem Verhalten
nicht einverstanden waren. Wie dem aber auch fei,
wir sehen, daß er diejenigen gewaltthätig verfolgte, mit
denen er einst gemeinschaftlich den Herrn gesucht und Ihm
die Opfer des Dankes dargebracht hatte.
Wie anbetungswürdig ist allem diesem gegenüber die
geduldige Gnade Gottes! Das Ende der Geschichte Asas
zeigt uns, daß der Herr ihn trotz allem noch nicht aufgegeben
hatte. War sein Gewissen nicht mehr durch das
Wort zu erreichen, so versuchte Gott es mit ihm auf dem
Wege ernster Züchtigungen. Er ließ ihn „überaus krank"
48
werden. (Vers 12.) Ja, unendlich, göttlich groß ist die
Liebe, Geduld und Langmut des Herrn! Er versucht es
auf alle Weise, den Verirrten zurecht zu bringen; gelingt
es Ihm nicht durch Sein Wort, so versucht Er es durch
Seine Wege. Aber wie verhärtet mußte das Herz Asas
sein; selbst diese ernsten Züchtigungen fruchteten nichts.
Wir lesen: „Aber auch in seiner Krankheit suchte er nicht
Jehova, sondern die Aerzte." (Vers 12.) Mit
diesen Worten schließt seine Geschichte. Er ist nicht mehr
zur Einsicht gekommen. Welch ein trauriges Ende für
einen Gläubigen, dessen Lauf einen so herrlichen Anfang
genommen, der ein so schönes Zeugnis abgelegt, einen solch
glänzenden Sieg durch den Glauben davöngetragen, und
solch mächtige Beweise von der Güte und Treue des
Herrn erfahren hatte!
Geliebter Leser! wir haben die Geschichte Asas mit
einander betrachtet. Sie ist, ich wiederhole es, zu unsrer Belehrung
und Warnung ausgezeichnet und aufbewahrt worden.
Möchten wir aus ihr lernen, was der Herr uns lehren
will! Hüten wir uns vor dem ersten Schritt, der zu jenem
schrecklichen Zustande der Verblendung führt! Laß uns
acht haben auf die Regungen unsers Herzens, daß es dem
Feinde nicht gelinge, uns stolz und hochmütig zu machen.
Hochmut kommt vor dem Fall! Nichts ist schlimmer, als
von sich selbst eingenommen zu sein, von sich selbst
etwas zu halten, und nichts liegt uns näher als das.
Doch die Gnade des Herrn ist genug, um uns auch in
einer Zeit äußerer Ruhe demütig und wachsam zu erhalten.
Aber wir werden auch nur dann bewahrt bleiben, wenn
wir Ihn suchen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele.
Möchten wir deshalb einfältig sein und klein in unsern
49
eignen Augen! Dann werden wir das Wort der Ermahnung
ertragen, wenn es an uns herantritt; ja, wir werden
es zu Herzen nehmen, wir werden uns gern warnen
lassen, und der Herr wird mit uns sein und sich mächtig
an uns erweisen.
Die Seligpreisungen.
(Matth, ö, 1—12.)
(Fortsetzung.)
2. „Glückselig die Trauernden, denn sie
werden getröstet werden!"
In den verschiedenen Seligpreisungen werden uns in
höchst anziehender Weise die mannigfaltigen CharakteMge
der Gnade vor Augen gestellt. Ja, sie sind nicht nur anziehend,
sondern auch belehrend, und sie sollten dazu dienen,
unsern Charakter nach diesem himmlischen Muster zu bilden.
Die zweite Seligpreisung ist von der ersten durchaus verschieden,
obwohl sich beide Eigenschaften in einer und derselben
Person vorfinden mögen. Die Form, in welcher sich
das göttliche Leben bei der zweiten Klasse kundgiebt, trägt
einen breiteren und mehr thätigen Charakter als bei der
ersten. Arm im Geiste zu sein ist mehr ein Zustand zwischen
der Seele und Gott allein. Aber ein „Trauernder" zu sein
in dem Sinne unsers Textes heißt: tief und innig bewegt
zu sein durch den Zustand — vor allem den sittlichen
und geistlichen Zustand — derer, die uns umgeben.
Es erfüllt z. B. ein treues Herz mit heiligem Schmerz,
wenn es die Weltlichkeit wahrer Christen sieht, oder die
Selbsttäuschung bloßer Bekenner, oder die gottlosen Wege
solcher, die vielleicht in unsrer nächsten Nachbarschaft woh-
50
neu, ohne daß wir sie erreichen oder zum Stillstehen und-
Nachdenken bewegen können. Dieser Schmerz wird begleitet
von einem tiefen Gefühl unsrer Unfähigkeit, wahre
Zeugen Gottes zu sein auf einem solchen Schauplatz der
Sünde und des Elends. Indes darf jener heilige Schmerz,
der so heilsam ist und zu vielem Gebet und zu steter
Abhängigkeit von Gott Anleitung giebt, nicht verwechselt
werden mit dem klagenden, unglücklichen, unzufriedenen
oder gar murrenden Geiste, den man bei manchen Gläubigen
antrifft und auf welchen man vielleicht die Seligpreisung
des Herrn in Anwendung bringen möchte. Nein;
solche Gläubige gehen selten oder nie in die Kümmernisse
andrer ein, noch trauern sie über die Unehre, die Gott und
Seiner Wahrheit in dieser Welt angethan wird. Sie sind
viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem eignen
Gemütszustand und mit den Dingen, die sie persönlich
betreffen.
Wir könnten und sollten — wenn wir anders arm
im Geiste und wahrhaft Trauernde sind — stets glücklich
sein in der göttlichen Gegenwart, wo alles Friede und
Freude ist, und doch zu gleicher Zeit auf unserm Wege
durch diese Welt Gemeinschaft haben mit dem tiefen Mitgefühl
Dessen, der „ein Mann der Schmerzen" war. Und
je mehr wir Ihn kennen lernen, desto tiefer werden wir
fühlen, was Ihm gebührt, und desto schmerzlicher wird es
uns bewegen, wenn wir sehen, wie so viele sich gegen Seine
Autorität auflehnen und Seine Güte nur dazu benutzen,
ihren Stolz zu entfalten und ihre eigne Ehre zu suchen.
Der Herr läßt es in Seiner wunderbaren Gnade immer
noch über sich ergehen, verachtet und verworfen zu sein;
und wie gleichsam ein schmerzlicher Zug Seinen Pfad und
51
Seine Aussprüche in dieser Welt kennzeichnete, so sollte
sich auch bei den Gläubigen derselbe Geist finden, während
die Welt bleibt, wie sie ist. Der Herr wartet geduldig
auf das Kommen Seines Reiches in Macht und Herrlichkeit,
und dann wird Sein Wille geschehen wie im Himmel
so auch auf Erden. Jetzt besitzen wir das Reich in einem
Geheimnis. (Matth. 13.) Dann wird es in völliger
Offenbarung da sein. Jetzt herrschen die Dämonen,
obwohl Gott über allem steht; dann wird Christus mit
Seinen Heiligen herrschen. Wenn wir zu irgend einer
Stunde, bei Tage oder bei Nacht, den Schleier wegziehen
könnten, der die Welt vor unsern Augen verbirgt — was
würden wir sehen? Von der Hütte der Armut bis zum
Palaste des Reichtums nichts als eine weite, weite Scene
menschlichen Schmerzes und menschlicher Not. Das stimmt
das Herz des Christen, so heiter und fröhlich es auch in
der Gegenwart des Herrn sein mag, trübe und traurig,
umsomehr als es die schreckliche Quelle kennt, aus welcher
dieses allgemeine Elend entspringt.
Der Herr gebe uns, »mehr und mehr in Seinem
Geiste den Zustand der Dinge um uns her zu erkennen!
Nur dann, ich wiederhole es, wenn das Herz in Gemeinschaft
ist mit Ihm, dem verworfenen Herrn, wenn wir
ein wahres Gefühl haben von dem moralischen Zustande
der Kirche und der Welt, nur dann wird jene Trauer sich
bei uns vorfinden, von welcher der Herr redet. Wir können
dann nicht anders als trauern über die schrecklichen
Folgen der Sünde und des Abfalls, die uns auf Schritt
und Tritt begegnen. Wir wandeln inmitten von Ruinen.
Trümmer von allerlei Art umringen uns auf allen Seiten.
Getäuschte Hoffnungen, unerwartete Mißgeschicke, samt
52
einer zahllosen Menge kleinerer geheimer Sorgen und
Kümmernisse charakterisieren das Land, welches wir als
Fremdlinge und Pilgrime durchschreiten, so daß wir, gleich
den gefangenen Israeliten „an den Wassern von Babylon",
uns auch wohl hinsetzen und weinen mögen, obwohl wir
nicht genötigt sind, unsre Harfen an die Weiden zu hängen.
Nein, wir haben das Vorrecht, uns täglich der gesegneten
Hoffnung der Wiederkunft unsers Herrn zu erfreuen,
und dann werden wir völlig und für immer
getröstet werden.
Wie mancher treibt sorglos auf dem Strome der Zeit
dahin, nur träumend von Glück und Fortkommen in dieser
Welt, bis plötzlich ein Sturm sich erhebt und alles mit
einem Schlage sich verändert! Oder der Tod tritt ein —
der Bote kommt, an den man so wenig gedacht, den man
so fern gehalten hat; das Haupt der Familie wird plötzlich
hinweggerafft, und alles ist in Verwirrung und Unordnung;
man hört nichts anderes mehr als das Wehklagen
der Witwe und der Waisen. Aber, möchte gefragt werden,
gehören diese Dinge in den Bereich des Mitgefühls
des Christen? Sicher und gewiß; es kann nicht anders
sein, so lange wir menschliche Herzen haben. Sie stehen
in Verbindung mit der seufzenden Schöpfung und 'veranlassen
uns zu rufen: „Komm, Herr Jesu!" Wurde nicht
das Herz des Herrn durch den Anblick der um ihren
Bruder trauernden Schwestern zu Bethanien tief gerührt?
War Er nicht innerlich bewegt, als er am Thore von
Nain jenem Leichenzuge begegnete? Und wenn es bei dem
Herrn so war, sollte es dann bei uns anders sein? Etwas
von dem, was wir täglich um uns her geschehen sehen,
muß vor dem Geiste des Herrn gestanden haben, als Er
53
den reichen Weltling und sein schreckliches Ende beschrieb.
„Du Thor! in dieser Nacht wird man deine Seele von
dir fordern; was du aber bereitet hast, für wen wird es
sein?" (Luk. 12, 20.)
Merkwürdigerweise trifft gerade, während ich diese
Zeilen niederschreibe, eine Trauerbotschaft ein: ein reicher
Mann, mir wohlbekannt seit vielen Jahren, ist plötzlich
gestorben. Der Eindruck, den die Nachricht hervorruft, ist
für den Augenblick überwältigend. Die Gedanken eilen jene
vielen Jahre zurück; die verschiedenen Male, daß ich Gelegenheit
hatte, mit dem Verstorbenen ein Wort über den
Herrn und über sein Seelenheil zu reden, kehren in meine
Erinnerung zurück. Oft hatte er die Wichtigkeit der Sache
anerkannt und" versprochen, mehr daran zu denken. Doch
wer ist in einem solchen Augenblick zufrieden mit seiner
Treue? „Hast du auch deutlich genug, oft genug, ernst
genug gesprochen?" so fragt das Gewissen, und vielleicht
muß man sich anklagen. Aber alles ist jetzt vorüber; der
Vorhang ist gefallen, und wir vermögen nicht die finstere
Linie, welche die beiden Zustände tzes Seins trennt, zu
überschreiten. Dennoch mögen wir tief aufseufzen über
die traurigen Folgen der Sünde, wie der Herr selbst es
that am Grabe des Lazarus, obwohl dort keine Ungewißheit
bezüglich der kostbaren, unsterblichen Seele des Entschlafenen
bestand. Ein jeder Gläubige kennt etwas von
dem Werte der Seele und des ewigen Heiles, und wer
wollte nicht trauern, wenn beide verloren sind?
Nichts ist mehr geeignet, das Herz mit aufrichtigem
Schmerz zu erfüllen als die unermeßliche Zahl bloßer
Bekenner. Und sicher, auf denen, welche den Namen
Christi tragen und Ihm nachzufolgen bekennen, ruht eine
54
schwerere Verantwortlichkeit als auf dem unwissenden,
leichtfertigen Weltkinde. Die beiden Klassen werden nach
einem verschiedenen Maßstabe gerichtet werden. Viele
thörichte Jungfrauen sind heutiges Tages mit den klugen
vermengt, und ihr Mangel an Oel scheint nicht eher entdeckt
zu werden, bis es zu spät ist einzukaufen. Die verschlossene
Thür und die erloschenen Lampen lassen sie in
hoffnungsloser Finsternis und Verzweiflung. Ach! das
wird das Teil vieler, vieler sein, die heute eine hohe Stellung
in der bekennenden Kirche einnehmen. Aber wie
schwierig ist es, gerade diese Klasse zu erreichen, wie
schwierig, mit ihnen zu reden, wie schwierig, zu wissen,
wie es um sie steht! Alle haben Lampen, aber nicht alle
haben Oel. Die letzteren täuschen sich selbst und kommen
vielleicht nie zur Einsicht, bis sie, zu ihrer schrecklichen
Ueberraschung, ihre Augen in der Qual aufschlagen. Das
geistliche Auge erkennt allerdings heute schon, daß solche,
während sie viel Wert auf Aeußerlichkeiten legen, Christo
und dem, was Ihm gebührt, wenig Wert beimeffen.
Wiederum sucht das Herz, indem es diesen Zustand
der Dinge sieht und weiß, daß es nichts daran ändern,
sondern nur durch eine entschiedene Trennung ein Zeugnis
gegen ihn ablegen kann, Erleichterung in Seufzern und
Bitten vor dem Herrn; ja, es bleibt nichts anderes übrig,
als mit dem Herrn inmitten einer solchen Scene zu
trauern. Und waS noch ein ernstlicheres Seufzen Hervorzurusen
vermag, ist der Umstand, daß man so viele sieht,
die dem Herrn wirklich angehören, die sich aber weigern,
sich von der Welt abzusondern, sei es in ihrem natürlichen
oder religiösen Charakter. Der Pfad eines wahrhaft
Trauernden ist daher ein einsamer Pfad; seine einzigen
Freunde stehen, gleich ihm, außerhalb der Welt.
Sie trauern mit einander. „Ja, wir weinten, indem wir
Zions gedachten." Und was anders als der zeichensuchende
Unglaube Seines Volkes preßte dem „Manne
der Schmerzen" jenen tiefen Seufzer aus? „Und in Seinem
Geiste tief seufzend, spricht Er: Was begehrt dieses
55
Geschlecht em Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Wenn
diesem Geschlecht ein Zeichen gegeben werden wird!"
(Mark. 8, 12.) Es ist heute noch genau so. Alles was
auf die Sinne einwirkt, wird geglaubt; ihm läuft man
nach, während der hochgelobte, außerhalb des Lagers
stehende Herr heute ebenso wenig Anziehungskraft für die
zeichensuchende Menge besitzt wie damals. Allerdings
läßt man Christum und Sein Kreuz nicht ganz fahren,
das würde nicht volkstümlich sein; aber man sammelt die
Herrlichkeit der Welt um Seinen Namen, und Tausende
rufen: „Hosanna dem Sohne Davids!" Sobald man
aber das Kreuz in seinem wahren Charakter vorstellt,
mit der Schmach und Verwerfung, die jedem wahren Gläubigen
zu teil wird, dann heißt es: „Hinweg mit Ihm!"
Der Trauernde muß sich in die Stille zurückziehen
und seinen Schmerz dem Herrn klagen. Er muß fernstehen
all jenem traurigen Gemisch von Kirche und Welt,
obgleich er sehr Wohl weiß, daß man ihn, indem er so
handelt, des Mangels an brüderlicher Liebe, der Engherzigkeit
rc. beschuldigen wird. Aber der Herr weiß, was sein
Herz bewegt, Er kennt seinen Schmerz; und wahrlich, er
wird getröstet werden! Die Zeit kommt, wo er in
die Freude seines Herrn eingehen und die Frucht seines
Zeugnisses alle Ewigkeit hindurch genießen wird. „Glückselig
die Trauernden, denn sie werden getröstet werden!"
Jede Thräne, die vergossen worden, jeder Seufzer, der zu
Gott emporgestiegen ist in Gemeinschaft mit einem« verworfenen
Christus — sie werden alle von Ihm aufbewahrt
als Denkzeichen Seiner in uns wirkenden Gnade, und sie
werden sicherlich in ewiger Erinnerung bleiben.
Gott gebe uns, geliebter Leser, eine immer tiefere
und wahrere Erkenntnis von Jesu, nicht nur als unsers
Herrn und Heilandes, sondern auch als des Mannes der
Schmerzen, der allezeit umherging Gutes thuend und Liebe
erweisend, obwohl Er stets das tiefe Gefühl des Verworfenseins
in Seinem zärtlich liebenden Herzen mit sich
umhertrug! Möchten wir fähig sein, mit unserm ganzen
56
Herzen in das Mitgefühl unsers gepriesenen Herrn bezüglich
der uns umgebenden Scene der Sünde und des
Schmerzes einzutreten, bis Er kommt, um sie mit Freude
und Glückseligkeit zu erfüllen! — Amen, komm, Herr Jesu!
(Fortsetzung folgt.)
„Zichc, wie gut und wie lieblich ist es, wenu Sender
einträchtig bei einander wohnen!" ,
(Ps. ISS, I.) ---
Wie lieblich, wenn Jesus die Deinigen findet
Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint;
Wenn innige Liebe die Herzen verbindet,
Und Thränen der Freude das Auge nur weint!
Ihr Danken und Loben
Steigt jubelnd nach oben,
Zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt,
Mit Vatsrgefühlen der Seinen gedenkt.
Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden
Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl;
Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden,
Mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl!
Sie rühmen und preisen
In lieblichen Weisen . ,
Den Gott, der so Großes an ihnen gethan,
Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah'n.
Wie lieblich, wenn Brüder gemeinschaftlich treten
Bor Gott, ihren Vater, im Namen des Herrn!
Zum Throne der Gnade hin dringet ihr Beten,
Noch ehe sie rufen, hört Er ja so gern!
Ihr Seufzen und Flehen, '
Es findet Verstehen, '
Ihr Bitten Erhörung, ob morgen, ob heut', - -
Bei Dem, der Len Winden und Wogen gebeut.
„Da bin ich in ihrer Mitte."
(Matth. 18, 20.)
Die Verheißungen des Herrn sind gewiß und wahrhaftig.
Wir dürfen zu unserm großen Troste in allen
Lagen und zu allen Zeiten fest auf sie rechnen. Sein
Wort: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur
Vollendung des Zeitalters", bleibt immer wahr; ebenso
das Wort: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich in ihrer Mitte." (Matth. 28, 20;
18, 20.) Obgleich der Herr zu Seinem Vater zurückgekehrt
und deshalb unsern leiblichen Augen verborgen ist,
so sieht Ihn doch das Auge des Glaubens. Wie Er der
Beschützer und Helfer der Seinen war während Seines
Wandelns auf der Erde, so ist Er es auch noch heute.
Er hat gesagt: „Ich werde euch nicht als Waisen lassen,
ich komme zu euch. Noch ein Kleines, und die Welt
sieht mich nicht mehr; ihr aber sehet mich: weil ich lebe,
werdet auch ihr leben." (Joh. 14, 18. 19.) Der Herr
kannte die ganze Schwachheit und Unwissenheit Seiner
Jünger und wußte auch, welchen Gefahren sie in dieser
Welt ausgesetzt waren; aber Er war bei ihnen, und das
genügte vollkommen für sie. In der Wüste, auf stürmischer
See, inmitten der Leidenden und Kranken, ja, selbst
angesichts des Todes hatten sie Gelegenheit, Seine Macht
und Liebe kennen zu lernen; zu sehen, daß Er Der war, der
58
einst zu Mose sagte: „Ich bin, der ich bin." (2. Mose
3, 14.) „Seid gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch
nicht!" — „Ich bin der gute Hirte." — „Ich bin die
Auferstehung und das Leben." — „Ich bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben" — alle diese Seine eignen
Aussprüche sagen uns,' wer und was Er zu allen Zeiten
für die Seinigen ist. Er genügt vollkommen für alle
Bedürfnisse und Verhältnisse. Er bleibt stets derselbe und
erfüllt allezeit Sein Wort: „Ich bin bei euch alle Tage."
Wir leben in der Zeit, welche der Apostel als die
„letzten Tage" bezeichnet, die Tage der „schweren Zeiten".
(2. Tim. 3, 1.) Und alle aufrichtigen Christen fühlen
tiefen Schmerz über den stetig zunehmenden Verfall. Aber
zu ihrem großen Troste gilt auch für sie während dieser
bösen Tage das Wort des Herrn: „Ich bin bei euch."
Und Seine Gegenwart genügt jetzt ebenso vollkommen
für sie, wie sie einst für die schwachen Jünger genügte.
Sicherlich sind die Schwierigkeiten größer als je, aber
nicht größer als Er. Dem Feinde gelingt vieles, aber
nichts wider Ihn. Er ist und bleibt der Felsen,
den des Hades Pforten nicht zu überwältigen vermögen.
(Matth. 16, 18.) Im Blick auf den Verfall, die Untreue
der Christen und die große Verunehrung des Herrn
seitens derselben sollten wir daher tiefen Schmerz fühlen,
uns demütigen und trauern — aber nicht verzagen; denn
dazu haben wir keinen Grund. Den Herrn kann nichts
hindern, Sein Werk auszuführen und Seine Ratschlüsse
zu erfüllen, weder unsre eigne große Schwachheit und
unsre Unfähigkeit, das Verderben aufzuhalten, noch daS
Verderben selbst. Er ist bei uns, wenngleich unser leibliches
Auge Ihn nicht sieht; und Er erwartet, daß wir
59
an Seine Gegenwart glauben und unser Auge unverrückt
auf Ihn gerichtet halten. Er sagt nicht: „Seid gutes
Mutes, denn ihr seid mit allem Nötigen ausgerüstet";
sondern: „Seid gutes Mutes, ich bin bei euch; ich
habe die Welt überwunden." Er müßte aufhören, „der
Herr" zu sein, aufhören, der „Ich bin, der ich bin"
zu sein, wenn wir Grund haben sollten, zu verzagen.
Er hält Sein Wort, nicht um unsers Glaubens willen,
sondern weil Er die Wahrheit ist; und darum sollen
wir Ihm glauben. Und je kühner wir Ihm vertrauen,
desto mehr ehren wir Ihn, und desto mehr kann Er sich
verherrlichen.
Dasselbe gilt in Bezug auf unser Zusammenkommen.
Der Unglaube sagt: „Die Grundfesten sind erschüttert,
die Versammlung Gottes ist aufgelöst, da ist kein Halt
mehr." Er bedient sich dieser Ausreden, um seine eignen
Wege der Untreue zu rechtfertigen. Aber die Grundfesten
der Versammlung Gottes stehen heute noch ebenso fest
wie im Anfang. Der Herr ist noch immer in der Mitte,
wo zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen;
und die Beschlüsse einer solchen Versammlung haben heute
noch dieselbe Autorität wie im Anfang. Auch besteht
zwischen allen solchen Versammlungen, wo irgend sie auf
der Erde im Namen Jesu zusammenkommen mögen, eine
göttliche Einheit, da alle denselben Mittelpunkt haben.
Der Herr ist in ihrer Mitte, weil sie auf dem einzigen
von Gott anerkannten Boden der Wahrheit stehen, erhaben
über allen menschlichen Einrichtungen und Systemen;
denn sie sind versammelt im Namen Jesu. Der Herr
ist in ihrer Mitte, und darum sind sie gesegnet, wie schwach
und unscheinbar auch ihr äußeres Ansehen in den Augen der
60
Welt sein mag. Der Herr ist in ihrer Mitte, und darum
kann ihnen in der That nichts mehr gebracht werden,
was sie nicht schon besäßen. Sie sind um Ihn versammelt,
verkündigen Seinen Tod, bringen Ihm ihre Anbetung
dar, werden von Ihm selbst bedient, erfreuen sich
Seiner Anerkennung, wie schwach auch ihrerseits alles sein
mag. Die Thatsache, daß der Herr in ihrer Mitte ist,
giebt ihrem Zusammensein die göttliche Weihe; erzeugt in
aller Herzen eine göttliche Uebereinstimmung und gegenseitige
Unterwerfung;' sichert sie gegen die Angriffe des
Feindes und die Einflüsse einer bösen Welt. Kurz, die
Gegenwart des Herrn genügt vollkommen für alle Bedürfnisse
der Versammlung, selbst für die schwersten Zeiten,
so lange sie diese Gegenwart im Auge behält und durch
den Glauben verwirklicht.
Ohne Zweifel sind die Zeiten schwer und die Gefahren
groß, und der Herr erlaubt, daß Satan die Herde sichtet.
Irrlehren von allerlei Art, eine stetige Abnahme der Gottesfurcht
und eine dementsprechende Zunahme des Eigenwillens
und der Weltlichkeit unter den Gläubigen drohen das letzte
Zeugnis der Wahrheit zu vernichten. Aber alles dieses hebt
die Verheißung des Herrn nicht auf, in der Mitte derer zu
sein, die in Seinem Namen versammelt sind. Wie finster
auch die Nacht um uns her ist, so kann sie doch nicht
finsterer sein als diejenige, in welcher der Herr überliefert
wurde. Die Feindschaft der Welt, die Gewalt der Finsternis,
der Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus,
der Zustand der Jünger — alles das stand vor den
Augen des Herrn; aber nichts hinderte Ihn, mit Seinen
Jüngern als Seinen teuer Erkauften zu Tische zu liegen
und ihnen zu sagen, was Er für sie thun wollte. Und
61
jetzt ist Er mit uns zu Tische als Der, der das Werk
vollbracht hat; und wir können im Frieden und mit Dank
und Anbetung um Ihn versammelt sein, wie groß auch
das Verderben um uns her ist. Trotz der „schweren
Zeiten" bleibt uns das Vorrecht, im Namen Jesu zusammen
zu kommen und Seine Gegenwart zu genießen.
Und diese Zusammenkünfte sind die köstlichsten Stunden,
welche uns der Herr hienieden bereitet: Stunden der Ruhe,
der Erquickung, des Trostes und der Freude, vom Herrn
bestimmt, unser Ausgangspunkt zu sein, um immer wieder
mit erneuter Kraft in. die Arbeit und den Kampf eiuzu-
treten. Denn nie entläßt der Herr die Seinen ungesegnet
oder ungestärkt aus Seiner Gegenwart. Er konnte die
Volksmenge nicht entlassen, bevor Er sie gesättigt hatte,
damit sie nicht „auf dem Wege verschmachte"; wie könnte
Er Seine teuer Erkauften leer ausgehen lassen? Wenn
wir leer ausgehen, so liegt sicher nicht die Schuld am
Herrn, sondern an uns selbst.
Diese Erwägungen führen uns zu der für unsre Tage
so wichtigen Frage: Ist jede Versammlung von Gläubigen,
die außerhalb der Parteien auf dem Boden der Wahrheit
zu stehen bekennt, eine Versammlung im Namen Jesu?
Das erste und wichtigste Kennzeichen einer Versammlung
im Namen Jesu besteht darin, daß sie alles fern hält,
was sich nicht mit diesem heiligen Namen verbinden läßt.
Wie könnte der Herr das Böse durch Seine Gegenwart gutheißen?
Würde wohl ein irdischer König dulden, daß
man in seinem Namen Handlungen beginge, die seinem
Willen und seiner Würde zuwider liefen? Das Böse
mit dem Namen Jesu verbinden zu wollen, wäre ein
schrecklicher Mißbrauch dieses heiligen Namens, ja, das
62
Böse in seiner schlimmsten Form. Aber ach! gerade dieses
Mißbrauchs hat sich die bekennende Kirche schuldig
gemacht, und er ist es, gegen den wir, als eine beständige
Gefahr, stets auf der Hut sein müssen.
Doch dem Herrn sei Dank, daß trotz dieser ernsten
Gefahr daS Vorrecht des Zusammenkommens im Namen
Jesu, sowie die damit verbundene Verheißung des Herrn
für die Gläubigen nicht aufgehoben ist! Denn der feste
Grund Gottes steht; aber er hat dieses Siegel: „Jeder,
der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der
Ungerechtigkeit!" (2. Tim. 2, 19.) Hier begegnen wir
demselben Grundsatz, den wir eben besprochen haben: eine
Versammlung von Gläubigen kann nur dann eine Versammlung
im Namen Jesu genannt werden, wenn sie absteht
von dem Bösen in jeder Form, d. h. also zunächst,
wenn sie in Uebereinstimmung bleibt mit der Lehre Christi
und Seiner Apostel. Also war es mit den ersten Christen:
„Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in
der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den
Gebeten." (Apostgsch. 2, 42.) Unsre ernste Aufgabe und
heilige Pflicht besteht darin, trotz dem Verfall fest zu halten
an dem, „was wir von Anfang gehört haben". „Wenn
in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet
auch ihr in dem Sohne und in dem Vater bleiben."
„Jeder, der weitergeht und nicht bleibt in der Lehre
des Christus, hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt,
dieser hat sowohl den Vater als auch den Sohn. Wenn
jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so
nehmet ihn nicht ins Haus auf und grüßet ihn nicht.
Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken."
(1. Joh. 2, 24; 2. Joh. 9—11.) Diese Stellen zeigen
63
die Verantwortlichkeit der Versammlung betreffs Ueber-
wachung der Lehre.
Zweitens hat eine Versammlung im Namen Jesu
sich rein zu halten von allem Bösen in sittlicher Beziehung,
so weit sie als Versammlung dasür verantwortlich
ist. „Wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein
Hurer ist, oder ein Habsüchtiger, oder Götzendiener, oder
Lästerer, oder Trunkenbold, oder Räuber, mit einem solchen
selbst nicht zu essen." (1. Kor. 5, 11.)
Der Herr erwartet nicht von einer Versammlung,
daß sie den Sauerteig des Bösen aus der bekennenden
Kirche ausfege, wohl aber, daß sie sich selbst fern davon
halte. Nur unter dieser Bedingung kann sie auf die
Erfüllung Seiner Verheißung rechnen, daß Er in ihrer
Mitte sein will. Er kann Seiner Verheißung nicht untreu
werden, aber auch nicht die Heiligkeit Seines Namens
aufgeben.
Wenn nun aber eine Versammlung als solche ihre
Stellung wahrnimmt und ihren Charakter behauptet, wie
steht es dann mit dem Einzelnen? Ist er um deswillen
vor aller Gefahr geborgen? Keineswegs. Der Genuß der
aus dem Zusammenkommen im Namen Jesu entspringenden
Segnungen hängt für den Einzelnen von dessen persönlichem
Zustande und Verhalten ab. Für einen jeden gilt die
Frage: Gehe ich im Namen Jesu dahin, wo Er in
der Mitte der Seinen ist? Kann ich mit Freimütigkeit
an Seinem Tische erscheinen? Habe ich in Seinem
Lichte alles verurteilt und gerichtet, was nicht in Seine
heilige Gegenwart paßt und was jene Freimütigkeit stören
muß? Diese ernste Selbstprüfung erwartet der Herr
von allen denen, die in Seinem Namen zusammenkommen.
64
Der Apostel sagt: „Ein Mensch aber prüfe sich selbst, und
also esse er von dem Brote und trinke von dem Kelche."
Und er fügt mit feierlichem Ernste hinzu: „Denn wer
unwürdiglich ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich selbst
Gericht." (1. Kor. 11, 28. 29.)
Geliebter Leser, wie ernst ist das! Die Stunde der
größten Segnungen wird zum Anlaß der ernstesten Gerichte
für dich, wenn du diese Selbstprüfung vernachlässigst.
Darfst du es wagen, mit einem gleichgültigen
Herzen in die Gegenwart des Herrn zu kommen? Er,
der Herzen und Nieren prüft, dessen Augen sind wie eine
Feuerflamme, und vor dem alles bloß und aufgedeckt ist
(Ps. 7, 9; Offbg. 1, 14; Hebr. 4, 13) — Er sieht
auch die Gleichgültigkeit, die Bitterkeit, den Neid, den
Hochmut, die Eitelkeit, kurz alles das, was dein Herz
verunreinigt; Er weiß, ob diese Dinge bei dir vorhanden
sind oder nicht. Er weiß, wie du zu Seinem Tische
kommst; ob du jene Selbstprüfung übst oder versäumst.
Du kannst Ihn nimmermehr täuschen, und Er kann die
Sünde bei den Seinen nicht dulden, wie groß auch Seine
Geduld und Langmut sein mag. In dieser Beziehung
gilt vor Ihm kein Ansehen der Person (1. Petr. 1, 17);
Er richtet die Sünde bei den Seinigen ebenso sicher wie
bei der Welt, nur mit dem Unterschiede, daß jene nicht
mit dieser verurteilt werden. (1. Kor. 11, 32.) Es ist
sehr zu befürchten, daß viele diese Sache nicht ernst genug
nehmen. Sie mögen sich vielleicht vor groben Sünden hüten,
während sie es versäumen, die Unaufrichtigkeiten und Unlauterkeiten
ihrer Herzen im Lichte der Heiligkeit Gottes
zu richten. Niemand betrüge sich selbst! Es genügt nicht,
da seinen Platz einzunehmen, wo der Herr in der Mitte ist
65
die überaus wichtige Frage ist, wie wir da sind. Möchten
wir deshalb niemals dahin gehen, ohne zuvor alles
gerichtet zu haben, was das Licht der Gegenwart des
Herrn nicht ertragen kann! Ja, möchten wir ein tägliches,
stündliches Selbstgericht an uns üben und die mahnende
oder strafende Stimme des Heiligen Geistes in uns nicht
überhören! Die Folge davon wird sein, daß wir mit
glücklichem Herzen den Herrn selbst genießen werden, so
oft wir in Seinem Namen zusammenkommen. Wir werden
Ihn schauen mit unserm Glaubensauge; Er wird unsern
Herzen immer kostbarer werden, und unser Wandel wird
zu Seiner Verherrlichung gereichen.
Dreierlei Arten von Gericht.
Wir begegnen in der Schrift drei Arten von Gericht,
deren Verständnis für den Christen höchst wichtig ist,
nämlich dem Selbstgericht, dem Gericht von feiten der
Versammlung und dem Gericht von feiten Gottes.
1. Das Selbstgericht ist die ernste Pflicht eines
jeden wahren Christen. Es ist unmöglich, Fortschritte zu
machen, wenn die Gewohnheit, sich selbst zu richten, nicht
beharrlich ausgeübt wird. Wir sind in das Licht Gottes
gebracht, so daß wir fähig gemacht sind, die Dinge zu
betrachten, wie Gott sie betrachtet, sie zu beurteilen, wie Er
sie beurteilt; ja, wir kennen Seine Gedanken über alles,
was um uns hervorgeht. Wir sind berufen, in diesem
Lichte uns selbst zu richten. So lange wir in der
Finsternis der Natur wandelten, konnten wir uns weder
ein richtiges Urteil über uns selbst noch über irgend etwas
anderes bilden. Nachdem wir aber in das Licht gebracht
66
find, wie Gott im Lichte ist, und Seinen Geist und Sein
Wort haben, besitzen wir sowohl die Einsicht als auch
die Macht, alles zu beurteilen und zu unterscheiden, sowie
ferner die Wurzeln und Grundsätze des Bösen in unsern
eigenen Herzen zu richten, damit sie im praktischen Leben
nicht zum Vorschein kommen.
Der Boden, aus welchem wir dieses Gericht ausüben,
ist der, daß Gott uns nichts mehr zurechnen will,
weil Er bereits alle unsre Sünde und Schuld Jesu zugerechnet
hat auf dem Kreuze. Als solche, die mit Gott
versöhnt sind, die in Gnaden stehen und für welche es
keine Verdammnis mehr giebt noch geben kann, richten
wir uns selbst. Betrachteten wir dieses Gericht von einem
gesetzlichen Standpunkt aus, so würden wir sicher in einen
finstern, niedrigen, knechtischen Seelenzustand geraten. Aber
nein, wir führen das nötige und heilsame Werk des
Selbstgerichts als solche aus, die in unumwölkter Gnade
stehen und die reine Atmosphäre der Liebe einatmen. Der
gefördertste Gläubige hat eine Menge von Dingen in sich,
welche die größte Wachsamkeit erfordern. Da sind Lüste,
Leidenschaften, natürliche Neigungen, die gezügelt und in
Unterwürfigkeit gehalten werden müssen. „Die Glieder,
welche auf der Erde sind," müssen getötet werden. Die
unausgesetzte Ausübung einer strengen Censur über die
Natur in allen ihren Wirkungen ist erforderlich. Und
alles das — mögen wir es wohl beachten und uns tief
einprägen! — ist auf die große Thatsache gegründet, daß
„jetzt keine Verdammnis mehr ist für die, welche in Christo
Jesu sind". Verlieren wir diese Thatsache aus dem Auge,
so kann das Werk des Selbstgerichts unmöglich fort-
schreiten. Nur in dem Bewußtsein, daß unsre alte Natur
67
und alles, was zu ihr gehört, in dem Kreuze Christi
gerichtet worden ist, sind wir sähig, die Wurzeln des
Bösen Tag für Tag in unsern Herzen zu richten. Wir
richten uns als solche, welche Leben und Gerechtigkeit in
einem auserstandenen Heilande empfangen haben.
2. Wo und wann nun tritt das Gericht non
feiten der Versammlung ein? Wir glauben, daß
dieses Gericht in allen Fällen notwendig wird, in welchen
das Selbstgericht vernachlässigt worden ist. Dies
wird uns sehr deutlich in Matth. 18, 15—17 vorgestellt.
Wenn in einem Bruder, der gesündigt hat, der Geist des
Selbstgerichts vorhanden ist, so wird er bereit sein, auf
Andere Zn hören und sein Unrecht einzugestehen. Wenn
aber dieser Geist mangelt, so wird sich statt einer Selbstverurteilung
Selbstrechtfertigung zeigen, und dann ist die
Versammlung berufen, in die Sache einzutreten; beharrt
nun der Betreffende, trotz der Ermahnungen seitens der
Versammlung, bei seiner Halsstarrigkeit und Selbstrechtfertigung,
so ist er wie ein Heide und ein Zöllner zu
behandeln.
Aehnliches finden wir in 1. Kor. 5. Würde jener
„Böse" die anfänglichen Wirkungen, die ersten Keime des
Bösen in seinem Herzen gerichtet, seine Lüste gezügelt und
seine Glieder getötet haben, so würde die Versammlung
nicht beunruhigt worden sein; da er aber dem in seiner
Natur vorhandenen Bösen erlaubte, sich in seinem Verhalten
zu zeigen, wurde die Versammlung darein verwickelt
und war vor Gott verantwortlich, in der Sache zu
handeln. Die Versammlung wird in keiner Weise durch
das Böse in meiner Natur berührt, so lange ich diesem
Bösen nicht erlaube, sich thätig zu erweisen, oder wenn
68
es beim Beginn seiner Thätigkeit aufrichtig und treu gerichtet,
bekannt und hinweggethan wird. Nur dann wenn
dem Bösen gestattet wird, in Thätigkeit zu treten,
wenn ihm erlaubt wird, sich zu zeigen, ist die Versammlung,
sowohl von Gottes wegen, als auch um der
Aufrechterhaltung der Wahrheit und Heiligkeit willen, verpflichtet
zu handeln.
Wie sorgfältig sollten wir daher stets das Selbstgericht
auSüben, damit das Gericht von feiten der Versammlung
nicht erforderlich werden möge! Es ist wahrlich
tief beklagenswert, wenn wir uns in unserm täglichen
Leben so betragen, daß wir unsern Brüdern damit zu
schaffen machen. Wie vielmehr sollten wir, soweit es an
uns liegt, bemüht sein, das geistliche Wohl und das
Glück, das Gedeihen und das Wachstum, sowohl der
Versammlung, mit welcher wir örtlich verbunden sind, als
auch der ganzen Kirche Gottes zu fördern! „Keiner von
uns lebt sich selbst." Und es ist eine höchst ernste und
wichtige Erwägung, daß ich in diesem Augenblick den
Gliedern des Leibes Christi, obwohl sie mir vielleicht persönlich
ganz unbekannt sind, entweder förderlich oder
hinderlich bin. Dies, obwohl ein Stein des Anstoßes für
die menschliche Vernunft, ist nur eine einfache Schlußfolgerung
aus jener großen Wahrheit von der Einheit
des Leibes Christi hienieden. „Da ist ein Leib und ein
Geist." Und wiederum: „Gott hat den Leib zusammengefügt
..., auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei, *)
*) Es ist ein großer, obgleich sehr gewöhnlicher Fehler, von
einem „Zerreißen des Leibes Christi" zu reden. Dieser Leib ist
unzertrennlich. Seine Einheit wird unfehlbar aufrecht erhalten
durch Gott selbst. Er hat so gewirkt und es so vorgesehen, daß
69
sondern die Glieder dieselbe Sorge für einander haben
möchten. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so
freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib
Christi und Glieder insonderheit." (1. Kor. 12, 24—27.)
Wir wollen jedoch die Wahrheit von der Einheit
des Leibes Christi hier nicht weiter verfolgen; wir haben
nur darauf hingewiesen in Verbindung mit dem Gegenstände,
der uns beschäftigt, und um dem christlichen Leser
die Notwendigkeit des Selbstgerichts ans Herz zu legen.
Die Einheit des Leibes Christi ist entweder eine bloß
menschliche Theorie oder eine göttliche Wirklichkeit. Wir
glauben das letztere, und deshalb sagen wir, daß der
Wandel des Einzelnen Einfluß auf den ganzen Leib ausübt.
Das eine bedingt das andere. Wir können unmöglich
einen unabhängigen Platz einnehmen; denn wenn
wir mit dem Haupte verbunden sind, so sind wir es auch
mit den Gliedern; und diese Verbindung bildet die Grundlage
einer Verantwortlichkeit, die wir nicht von uns abschütteln
können. Die Vernunft mag ausrufen: „Wie kann
so etwas möglich sein?" u. s. w. Der Glaube erwidert:
„Gott hat es gesagt", und das genügt allen, die da
„versiegelt haben, daß Gott wahrhaftig ist". (Joh. 3, 33.)
in demselben keine Spaltung sei. Wenn man inmitten all der
Unruhe und Verwirrung in der bekennenden Kirche das nicht
wüßte, so würde man verzweifeln müssen. Aber, Gott sei Dank!
der Leib ist einer, vereinigt durch den einen inwohnenden
Geist mit seinem auferstandenen und verherrlichten Haupte im
Himmel. Er kann nimmer zerrissen oder zerteilt werden. Die
vereinigten Machte der Erde und der Hölle können die Einheit
des Leibes Christi nicht zerstören. Der Herr gebe uns Gnade,
diese große Grundwahrheit stets festzuhalten und danach zu handeln l
70
3. Zum Schluß noch ein Wort bezüglich des Gerichts
von feiten Gottes und des Platzes, den
dasselbe einnimmt. Wir haben gesehen, daß da, wo das
Selbstgericht nicht ausgeübt wird, die Versammlung in
die Sache hineingezogen wird. Wenn aber die Versammlung
das Gericht versäumt, was muß dann geschehen?
Gott muß eintreten. Ernster Gedanke! „Es ist furchtbar,
in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen."
(Hebr. 10, 31.) „Die Zeit ist gekommen, daß das Gericht
anfange bei dem Hause Gottes." (1. Petr. 4, 17.)
Betrachten wir die Geschichte Achans in Josua 7. Was
bedeutet der große Haufe Steine im Thale Achor? Was
für eine Inschrift trägt er? Welche Unterweisung giebt
er uns? Er lehrt uns in der feierlichsten Weise, daß
„der Herr Sein Volk richten wird", wenn es versäumt,
sich selbst zu richten. Hätte Achan die in seinem Herzen
aufsteigenden habsüchtigen Gedanken gerichtet, so würde
die ganze Gemeinde nicht in die Sache hineingezogen worden
sein; und wenn in der Gemeinde Kraft gewesen wäre,
das Böse zu entdecken und zu richten, so hätte Gott nicht
nötig gehabt, die Gemeinde zu richten. Da aber weder
ein Selbstgericht bei Achan, noch auch ein Gericht von
feiten der Gemeinde vorhanden war, so mußte das Gericht
Gottes notwendigerweise eintreten. Gott kann das Böse
vergeben, Er kann es auslöschen, aber Er kann es nicht
gutheißen und durch Seine Gegenwart bestätigen. Wenn
deshalb die Ruinen von Jericho die Gegenwart Gottes im
Sieg verkündigten, so redete der Haufe Steine im Thale
Achor von Seiner Gegenwart im Gericht.
Dieselbe ernste Unterweisung wird uns zu teil, wenn
wir uns zum Neuen Testament wenden. Denken wir an
71
Anamas und Sapphira in Apostelgeschichte 5. Begegnen
wir da nicht einem ernsten Gericht im Hause Gottes?
Und ferner, reden die vielen Schwachen, Kranken und Entschlafenen,
die der Apostel in 1. Korinth. 11 erwähnt,
nicht laut und deutlich von jener feierlichen Wahrheit,
daß „das Gericht bei dem Hause Gottes anfangen muß" ?
Sicherlich! „Deshalb sind viele unter euch schwach und
krank und ein gut Teil entschlafen. Aber wenn wir
uns selbst beurteilten, so würden wir nicht
gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden, so werden
wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der
Welt verurteilt werden." Laß uns das beachten, geliebter
Leser! Welch ein unermeßlicher Unterschied besteht zwischen
Gottes gegenwärtigem Gericht über Sein Haus und Seinem
zukünftigen Gericht über die Welt! Der Vater züchtigt
Seine Kinder, damit sie Seiner Heiligkeit teilhaftig
und nicht mit der Welt verurteilt werden. Wir können
das herrliche Wort: „keine Verdammnis" ebenso bestimmt
in den Regierungswegen Gottes lesen wie in der aposto
lischen Belehrung von Röm. 8. In der letzteren erwartet
man es zu finden; aber daß es auch in den ersteren zu
lesen ist, zeigt auf eine höchst treffende Weise den Boden,
welchen die Gläubigen in einem auferstandenen Christus
einnehmen. Was „die Welt" betrifft, so geht sie dem
gerechten, schonungslosen Gericht Gottes entgegen. Er hat
„einen Tag gesetzt, an welchem Er den Erdkreis richten
wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den Er bestimmt
hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem Er
Ihn auferweckt hat aus den Toten." (Apstgesch. 17, 31.)
72
Eine Glaubensprobe.
Johannes N. gehörte einem Verein an, der die Unterstützung
seiner Mitglieder in Krankheitsfällen und dergl.
zum Zweck hatte. Eine geraume Zeit hindurch hielt er
dies für ganz richtig; er betrachtete es als eine verständige
Vorsorge für sein Weib und seine Familie, wenn er einmal
krank werden oder gar sterben sollte.
Nach und nach begann er jedoch ein wenig beunruhigt
zu werden über seine Stellung zu dem Verein.
Das Wort in 2. Kor. 6, 14: „Seid nicht in einem
ungleichen Joche mit Ungläubigen", trat mit Macht an
sein Gewissen heran. Ueberdies wurde die Ueberzeugung
immer mehr in ihm rege, daß es besser sei, auf den lebendigen
Gott zu vertrauen als auf das Vermögen eines
Vereins. Endlich, nach vielem Ueberlegen und ernstem
Flehen zum Herrn um Seine Leitung, meldete er seinen
Austritt an. Er fühlte, daß er nicht länger mit gutem
Gewissen Mitglied jenes Vereins bleiben konnte.
Johannes wurde selbstverständlich von seinen Freunden
und Bekannten wegen seines unklugen Schrittes heftig
getadelt. Selbst viele Kinder Gottes halten es ja sür
ganz richtig, einem derartigen Verein anzugehören. Aber
Johannes fühlte, daß er, koste es was es wolle, dem
Worte Gottes gehorchen müsse. Mochten andere thun, was
sie wollten — e r mußte mit Gott wandeln; und er hatte
Recht. Wohl mußte er sich manche scharfe Bemerkung
wegen seines Verhaltens gefallen lassen. Einige sagten:
„Es ist alles gut und wohl, so lange er imstande ist zu
arbeiten; aber laßt einmal eine längere Krankheit kommen--
dann wird man sehen, was aus seinem Glauben wird."
73
Nun, es gefiel Gott, unsern Freund krank werden
zu lassen. Längere Zeit mußte er zu Bett liegen und
war völlig unfähig zu arbeiten. Sein kleiner Geldvorrat
war bald aufgezehrt. So kam der Samstag-Abend, und
weder Geld noch Brot war im Hause.
Das war ein versuchungsreicher Augenblick. Der
Frau unsers Johannes ging es besonders nahe, ihre Kinder
darben zu sehen, und so ging sie gegen Abend in den
nächsten Laden, wo sie bekannt war, um einiges aus
Kredit zu holen. Als sie mit voller Schürze heimkehrte^
fragte sie ihr Mann, wo sie gewesen sei. Sie erzählte
ihm, was sie gethan hatte. Er sah sie einen Augenblick
schweigend an und sagte dann: „Es thut mir leid, meine
Liebe, Dich betrüben zu müssen; aber ich darf keine Schulden
machen. Das Wort Gottes sagt: „Seid niemandem
irgend etwas schuldig!" Bringe deshalb die Sachen zu
Herrn M. zurück und danke ihm für seine Freundlichkeit
und sein Vertrauen. Sage ihm aber zugleich, daß ich
keine Schulden machen könne." Nach einer Weile fügte
er hinzu: „Sage ihm auch, daß wir nochmals
wegen der Sachen schicken würden."
Ungefähr eine Stunde später kam jemand, um Johannes
zu besuchen. Der Besucher wußte nichts von den
schwierigen Umständen, in welchen sich unser Freund befand,
sondern hatte nur von seiner Treue gegen das Wort
Gottes gehört. Ehe er das Haus verließ, überreichte er
dem Kranken 10 Mark. Nun war Johannes imstande,
nochmals wegen der Sachen zu schicken, wie er gesagt
hatte; und zwar brauchte er sie jetzt nicht auf Kredit zu
holen, sondern konnte sie bezahlen mit dem, was Gott
ihm gesandt hatte.
U
Wie wichtig und wie schön ist der einfältige Gehorsam
gegen Gottes Wort in allen Dingen! Dasselbe
Wort, welches sagt: „Seid nicht in einem ungleichen Joche
mit Ungläubigen", sagt auch: „Seid niemandem irgend
etwas schuldig." Johannes gehorchte beiden Vorschriften.
Er überlegte nicht, noch machte er den Versuch, das Wort
seinen Meinungen anzupassen, wie es leider so mancher
Gläubige gethan hat und noch thut; nein, er gehorchte
einfach, und Gott segnete ihn, wie Er es stets thut und
thun wird. „Wer meine Gebote hat und sie hält, der
ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem
Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und
mich selbst ihm offenbar machen. . . . Wenn jemand mich
liebt, so wird er mein Wort halten; und mein Vater
wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und
Wohnung bei ihm machen." (Joh. 14, 21. 23.)
Die Seligpreisungen.
(Matth. 5, 1—12.)
(Fortsetzung.)
3. „Glückselig die Sanftmütigen, denn
sie werden das Land ererben!"
Bei der Betrachtung dieser dritten Seligpreisung finden
wir unS in glücklicher Gemeinschaft mit dem Gesegneten,
der „sanftmütig und von Herzen demütig" war. Es giebt
in dieser dritten Klasse offenbar einen Fortschritt in der
Segnung der Seele. Der Erbe der Herrlichkeit hat in
der Schule Christi gelernt (und lernt es immerfort), den
Beschwerden und Mühsalen des Lebens hienieden zu begegnen,
so wie Christus ihnen begegnet ist. Dies ist ohne
— 75 —
Zweifel eine überaus wichtige und notwendige Unterweisung.
Laßt uns darauf achten, sie gründlich zu lernen.
In unsrer ersten Lektion wurde uns der wahre
Zustand einer jeden Seele gezeigt, die Gott wirklich kennt
und dem Charakter Christi gleichgestaltet ist — „arm im
Geiste". Da dieser Zustand aus der Erkenntnis der
Seele über das, was sie in der göttlichen Gegenwart ist,
hervorgeht, so ist es hauptsächlich eine Frage zwischen
der Seele und Gott. Alles ist darum Segen und Glück.
Indem wir aber dann unsern Wandel in der Welt beginnen
und uns der Erfüllung der mannigfaltigen Pflichten
dieses Lebens widmen, treten uns so viele Ursachen zur
Beunruhigung und Besorgnis in den Weg, daß wir im
Geiste seufzen. Das ist unsre zweite Lektion und
eine Sache der täglichen Erfahrung. Der große, in der
dritten Klasse hervortretende Fortschritt scheint folgender
zu sein: Die Seele ist so in der Gnade gewachsen, daß
der Jünger Christi, anstatt einen zweifelnden, grübelnden
und eigenwilligen Geist zu offenbaren, sein Haupt in
Demut unter den Willen des Vaters beugt und von Jesu
lernt, sanftmütig und von Herzen demütig zu sein; denn
schließlich handelt es sich in den Umständen unsers Lebens
doch um die Frage, ob wir unserm eignen Willen folgen
oder uns dem Willen Gottes unterwerfen wollen.
Der von Herzen Demütige erkennt immer deutlicher,
daß trotz allem, was ihn umgiebt, Gott die Ratschlüsse
Seines Willens zur Ausführung bringt und alle Dinge
zum Wohle derer mitwirken läßt, die Ihn lieben und
nach Seinem Vorsatz berufen sind. Diese völligere Erkenntnis
Gottes und Seiner Wege ruft Demütigung und
Beugung hervor. Obgleich im Geiste seufzend, und
76
trauernd über die Bosheit des Menschen, über die Verwerfung
Christi seitens derer, die wir lieben, sowie über
die vielen Fehler derer, welche Seinen Namen tragen, ist
der Mann des Glaubens ruhig und demütig. Er wandelt
mit Gott inmitten von dem allen und stellt Ihm alles
anheim. In dem leisesten Flüstern des Feindes wie in
seinem lautesten Wüten vernimmt er die Stimme seines
Vaters; in dem geringsten Unrecht, das ihm geschieht,
wie in der schlimmsten Beschimpfung und Vergewaltigung,
die ihm angethan wird, sieht er Seine Hand. Er beneidet
nicht die Welt um ihre Reichtümer, noch die Bösen
um ihre Wohlfahrt. Alle seine Quellen sind in dem
lebendigen Gott; und er kann sich zu Ihm wenden, in
Ihm ruhen, in Ihm sich erfreuen und mit Ihm wandeln,
erhaben über den Kämpfen und Unruhen dieser Erde.
Indes dürfen wir versichert sein, daß dieser Zustand des
Segens nur von denen genossen wird, die Gott so kennen,
und die da glauben, daß Er die verborgenen Ratschlüsse Seiner
Liebe ausführt trotz des überhandnehmenden Bösen und
der gottlosen Pläne des Menschen. Eines Vaters Stimme,
eines Vaters Hand, eines Vaters Wille und eines Vaters
Vorsatz können nicht anders als eine sanftmütige und
demütige Gesinnung Hervorrufen und erhalten.
Wollen wir jedoch die Sanftmut, von der wir reden,
in unbedingter Vollkommenheit sehen, so müssen wir auf
Ihn unsern Blick richten, der einen tieferen Schmerz hie-
nieden und eine innigere Gemeinschaft droben kannte, als
irgend einer der Deinigen jemals kennen kann. Während
Er mit dem Volke redete und ihre Fragen beantwortete,
hatte Er ein vollkommnes Bewußtsein von dem wahren
Zustande Seines Volkes, sowie von Seiner eignen Ver
77
werfung als der Messias, der König der Juden. Welch
ein Schmerz muß Sein Herz erfüllt haben! Aber auch
welch eine Ruhe und Erquickung sand Er stets in dem
Schoße Seines Vaters!
In Matth. 11, 20—30 begegnen wir dem Ausdruck
und der vollkommnen Verbindung dieser beiden Dinge in
Jesu: Seinem Seufzen im Geiste über das Ihn umringende
Böse und Seiner gänzlichen Unterwerfung unter
des Vaters Willen, verbunden mit Lob und Danksagung.
Kaum ist das „Wehe, wehe!" über Seine Lippen gekommen,
so blickt Er auf gen Himmel und sagt: „Ich preise
Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde." Bei
dem wachsenden, immer mehr sich vertiefenden Gefühl von
dem Unglauben des Volkes, das Er liebte, und von ihrer
blinden Verwerfung Seiner selbst als des Emmanuel
(Gott mit uns) in ihrer Mitte, unterwirft Er sich sanftmütig
dem unumschränkten Willen Seines Vaters und
erblickt in demselben nur Vollkommenheit für jenen Augenblick,
sowie die Herrlichkeit, die ihm hernach folgen sollte.
„Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der
Erde, daß Du dies vor Weisen und Verständigen verborgen
hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja,
Vater, denn also war es wohlgefällig vor Dir." So
wie es damals war, so ist es seitdem stets gewesen, und
so ist es heute noch. Beachten wir, geliebter Leser, was
wir hier vor uns sehen: es ist Jesus als der vollkommen
abhängige und gehorsame Mensch, sowie die Gnadenwege
des Vaters mit den Sanftmütigen und Demütigen. Er
schützt die Person Seines geliebten Sohnes vor der unheiligen
Betrachtung des Unglaubens und verbirgt Seine
Herrlichkeit vor dem Stolze des Menschen. „Niemand
78
erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand
den Vater, als nur der Sohn und wem irgend der Sohn
Ihn offenbaren will." Alle, die im stolzen Vertrauen
auf ihren Verstand es gewagt haben, in die tiefen Geheimnisse
Seiner Person einzudringen, haben nur ihre
eigne Blindheit und Thorheit geoffenbart und sich den
Fallstricken des Feindes ausgesetzt. Aber dem von Herzen
Demütigen, dem anbetenden Herzen, wird der volle Segen
der Erkenntnis Jesu und Seiner Wege mitgeteilt. „Er
leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen
Seinen Weg. . . Die Sanftmütigen werden
das Land besitzen, und werden sich ergötzen an Fülle von
Wohlfahrt." (Ps. 28 u. 37.) Diese Stellen beziehen sich
ohne Zweifel auf die Erde im tausendjährigen Reiche,
wenn der gottesfürchtige Ueberreft sie besitzen wird in Verbindung
mit Christo als ihrem König der Herrlichkeit.
Es heißt nicht, daß sie den Himmel besitzen werden, sondern
die Erde. Der Ort ihrer Prüfung und ihrer Kümmernisse
wird dereinst zum Schauplatz ihrer Ruhe, ihrer
Herrlichkeit und Segnung werden. Der Christ wird dies
in einer höhern Weise besitzen, als eins mit Christo, seinem
Herrn, der dann die Armen mit Brot sättigen wird;
und gleich den Jüngern vor alters werden die himmlischen
Heiligen vielleicht das Vorrecht besitzen, es auszuteilen.
Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. Es
mag von Nutzen sein für den Diener Christi wie für jeden
Christen (vor allem für den geprüften und in seinen
Hoffnungen getäuschten), noch ein wenig genauer die Natur
der Entmutigungen zu betrachten, welche unsern hochgelobten
Herrn und Meister veranlaßten, sich zu Seinem
Vater als Seiner einzigen Hülfsquelle zu wenden.
Er war zu den Seinigen gekommen; aber die Sei-
nigen nahmen Ihn nicht auf. Das Volk, das Er liebte
und zu erlösen gekommen war, hatte kein Herz für Ihn.
Wenn Johannes der Täufer mit einer Trauerbotschaft
kam, so weigerten sie sich, zu wehklagen; wenn Jesus eine
Freudenbotschaft brachte, weigerten sie sich, sich zu freuen.
Sie wollten Ihn unter keiner Bedingung annehmen. Das
ist das Geheimnis des verhältnismäßig geringen Erfolges
des Evangeliums in allen Jahrhunderten. Das natürliche
Herz zieht den Genuß der gegenwärtigen Dinge einem
verworfenen Christus und einem Himmel vor, den man
sich weit entfernt denkt. Die ernstesten und feierlichsten
Warnungen des Johannes und die liebevollsten, gnädigsten
Einladungen Jesu wurden gleich unbeachtet gelassen von
jenem Geschlecht. Wahrlich, das war genug, um das Herz
des göttlichen Predigers zu brechen. Wenn das Anziehende
der Gnade, die eindringlichen Bitten und Aufforderungen
der Liebe, die Drohungen der Gerechtigkeit, die Vorstellung
der Qualen der Hölle und der Herrlichkeiten des Himmels
nicht imstande sind, die Gleichgültigen zum Nachdenken zu
bringen und die Sorglosen aufzuschrecken; und wenn das
Herz des Predigers des Evangeliums infolge der scheinbaren
Nutzlosigkeit seiner Arbeit und der Herzenshärtigkeit
seiner Zuhörer zu brechen droht — was bleibt ihm dann
übrig? Er kann sich in die Gegenwart Gottes zurückziehen
und in Gemeinschaft mit Ihm seine Lektion, sowohl
im Blick auf den Dienst als auch auf die Unterwürfigkeit,
vollkommner lernen, als er es bisher vermocht hat. Dort
ist der einzige Zufluchtsort und Ruheplatz für den in seinen
Hoffnungen getäuschten Arbeiter.
Laßt uns jetzt sehen, wie der Herr handelte. Er
80
kannte den Zustand des Volkes vollkommen; Er wußte,
daß es die Güte Gottes, wie sie sich in Seiner Person
und in Seinem Dienste offenbarte, von sich gestoßen hatte.
Was blieb nun übrig? Das unvermeidliche Ergebnis eines
solchen Unglaubens mußte das Gericht sein. Deshalb lesen
wir denn auch: „Dann fing Er an die Städte zu schelten,
in welchen Seine meisten Wunderwerke geschehen waren,
weil sie nicht Buße gethan hatten. Wehe dir, Chorazin l
wehe dir, Bethsaida! . . . Und du, Kapernaum, die du-
bis zum Himmel erhöht worden bist, bis zum Hades wirst
du hinabgestoßen werden. Denn wenn in Sodom die
Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind,
sie wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich
sage euch: dem Sodomer Lande wird es erträglicher ergehen
am Tage des Gerichts als dir." Wie ernst ist das!
Ein schrecklicheres und schonungsloseres Gericht wird diesen
hochbegünstigten Städten im Lande Israel angekündigt als
selbst dem gottlosen Sodom, dessen Sünden zum Himmel
schrieen. Wie laut redet das zu den hochbegünstigten Hörern
des Evangeliums in unsern Tagen! Kein Gericht
wird so schwer, so schonungslos sein wie dasjenige, welches
in Bälde über die abtrünnige Christenheit hereinbrechen
wird. Je höher der Platz des Vorrechtes, desto tiefer muß
der Fall derer sein, die jenes Vorrecht unbenutzt lassen,
die nur den Namen Christi tragen ohne Leben und Wirklichkeit.
Und giebt es solcher Hörer heute nicht eine große,
große Menge, weit größer noch als in den Tagen von
Chorazin, Bethsaida und Kapernaum? Ach! eine Antwort
auf diese Frage ist unnötig; viel eher müßten wir fragen:
Wo sind die wirklichen, treuen Zeugen für die Herrlichkeit
der Person des Herrn und für die Autorität Seines
81
Wortes? Der Gedanke daran ist überwältigend. Was
bleibt uns zu thun übrig? Was that der Herr? Er
wandte sich zu Seinem Vater.
„Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise
Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde!" Mit
einem Wort, anstatt sich über die Behandlung zu beklagen,
die Ihm von andern zu teil wurde, und sich selbst zu
rechtfertigen, beugte Er sich sanftmütig vor dem unumschränkten
Willen Seines Vaters und übergab sich Seinen
Händen, als des Herrn des Himmels und der Erde, des
weisen Beschickers aller Dinge. Und was war das Resultat?
Genau das, was es stets sein muß — Er empfing die
Segnung; nicht nur eine Verheißung, sondern den Besitz:
„Alles ist mir übergeben von meinem Vater." Und das
gab zugleich, durch die Gnade, Gelegenheit zu einer völligeren
Offenbarung Gottes und zu einer reicheren Segnung
für das menschliche Geschlecht: „Kommet her zu mir,
alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch
Ruhe geben." Wie schön und kostbar ist dies als ein
Beispiel für uns I Und es ist stets der Weg der Segnung
sowohl für uns als auch für andere. Als Jesus als
Mensch verachtet und als Messias verworfen wurde, trat
Er nicht, wie wir sagen würden, für Seine Rechte auf,
sondern unterwarf sich sanftmütig allem und blickte empor
zu Seinem Vater als dem Herrn des Himmels und der
Erde. Er konnte alles Seinen Händen überlassen und
auf Seinen Willen warten. Inzwischen strömte der
Segen, gleich einer Woge des Lebens, ans dem Ozean
der göttlichen Liebe hervor und überflutete weit die engen
Grenzen des Judentums.
Die Heiden werden hier eingeführt. Der Vater
82
wird geoffenbart als die Quelle alles Segens. „Kommet
her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und
ich werde euch Ruhe geben." Ob Heiden oder Juden —
seid ihr mühselig und beladen? „Kommet her zu
mir!" Nichts als reine, unvermischte Gnade wird jetzt
geoffenbart. Keine besondere Eigenschaft wird gefordert,
nur daß man mühselig und beladen ist. Kommet, gerade
so wie ihr seid, kommet jetzt, in dem gegenwärtigen
Augenblick — „ich werde euch Ruhe geben"! Unser hochgelobter
Herr sagt hier nicht, auf welchem Wege und
durch welches Mittel Er uns Ruhe geben will; wir
müssen Ihm vertrauen, und die Ruhe wird uns zu teil
werden. Er kann nicht mehr dem Menschen vertrauen,
der Mensch muß Ihm vertrauen. Es giebt jetzt keinen
andern Weg mehr, um Segen, Ruhe, Heil und Frieden
zu erlangen. Nur die eine Frage bleibt: Ist Er wert,
daß man Ihm vertraut — unweigerlich, rückhaltlos vertraut?
Das ist alles. Vertraue Ihm, mein Leser! „Glückselig
alle, die auf Ihn trauen!" (Ps. 2, 12.)
Aber kann dieser volle, freie Strom der Gnade nicht
leicht zu Sorglosigkeit im Wandel Anlaß geben? Der
Mensch möchte vielleicht so denken. Aber nein; hören
wir, was der Herr weiter sagt: „Nehmet auf euch mein
Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und
von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für
eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist
leicht." Der Unterschied zwischen diesem und dem vorhergehenden
Verse ist sehr bestimmt, und schon oft ist darauf
hingewiesen worden. Im 28. Verse heißt es: „Kommet
her zu mir... , und ich werde euch Ruhe geben"; im
29. Verse aber lesen wir: „Nehmet auf euch mein Joch
83
und lernet von mir, und ihr werdet Ruhe finden
für eure Seelen." In dem ersten Falle handelt es sich
um die reine, unvermischte, bedingungslose Gnade für den
Sünder, in dem zweiten um das Joch Christi für den
Gläubigen. Der Grund, weshalb so wenige gelernt haben,
den Schwierigkeiten und Mühsalen dieses Lebens so zu
begegnen, wie Er ihnen begegnete, ist der, daß sie nicht
unter Seinem Joche sind und nicht von Ihm lernen.
Sie denken an sich selbst, an ihr eignes Ansehen rc.: wie
oft sie mißverstanden, wie verkehrt ihr Reden und Handeln
ausgelegt, wie falsch sie angeklagt und wie ungerecht oder
wie unfreundlich sie behandelt worden sind. Sie haben
noch nicht gelernt, daß ihr eigner Ruf, ihr eignes Ansehen
das letzte ist, woran sie denken sollten; daß vielmehr
ihre einzige Sorge darauf gerichtet sein sollte, den Charakter
Christi darzustellen. Wer mit einem andern unter demselben
Joch einhergeht, muß dicht neben ihm und Schritt
für Schritt mit ihm wandeln. Allerdings mag der Starke
den Schwachen mit durchziehen, wenn die Wagenräder in
dem Sande der Wüste zu versinken drohen; aber die
beiden müssen zusammengehen. Der Herr gebe uns, auf
diese Weise die Wahrheit unsrer dritten Seligpreisung zu
lernen: „Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden
das Land ererben!"
(Fortsetzung folgt.)
Gedanken.
Wenn einmal das ganze Werk, dessen Ausführung
Christus unternommen hat, vollendet sein wird, und die
Seinigen bei Ihm weilen werden in verherrlichten Leibern,
gleichgestaltet dem Leibe Seiner Herrlichkeit, dann wird
84
es voll und ganz ans Licht treten, daß alle Quellen
Gottes in Ihm sind, und die ewige Fülle des Lebens,
welches bei dem Vater war, wird dann geoffenbart sein.
Dieses Leben ist indes schon auf dieser Erde geoffenbart
worden. In der ganzen Geschichte Christi als Mensch
hienieden erblicken wir die Entfaltung dieses Lebens. Er
war der einzig Heilige, Unbefleckte und Makellose; in Ihm
gab es nur göttliche, geistliche Reinheit.
Wir besitzen das Leben Christi; aber wie leicht vergessen
wir, daß infolge dieses Besitzes alles, was jenem
Leben entgegen ist, ins Gericht kommen muß! Versetzen
wir uns einmal im Geiste unter die Gläubigen in Jerusalem,
wie sie sich kurz nach dem Herniederkommen des
Heiligen Geistes offenbarten; und fragen wir uns dann:
Nehmen auch wir jene Nasiräer-Stellung ein wie sie, abgesondert
von allem, was mit der Welt in Verbindung
steht? „Denn alles was in der Welt ist, ... ist nicht
von dem Vater." Brennen unsre Herzen in derselben
Liebe wie die ihrigen? Können wir von uns und andern
Gläubigen sagen, daß wir Christum darstellen, daß wir
gleichsam Ihm leben? Wenn jemand einst den Apostel
Paulus besucht hätte, würde er nicht von ihm weggegangen
sein mit dem Gefühl: Ich habe Christum gesehen
in einem Seiner Jünger? Würde er nicht etwas Neues,
etwas Köstliches von Christo genossen haben? Und sind
wir nicht auch schon von dem einen oder andern bettlägerigen
Gläubigen weggegangen mit dem Wunsche in
unserm Herzen: O wenn ich doch mehr diesem Bruder
oder dieser Schwester ähnlich wäre! — Der Herr gebe,
daß sich in uns und in jedem Gliede Seines Leibes dieses
Sein Leben mehr offenbare!
Schwierigkeiten eines Neubekehrten.
Bor längerer Zeit wurde der Schreiber dieser Zeilen
gebeten, einen jungen Mann zu besuchen, der an einer
ernsten Herzkrankheit litt. Er war Unteroffizier in einem
Dragoner-Regiment und befand sich schon seit zehn Wochen
im Lazareth. Ms ich ihn besuchte, fühlte er sich ein
wenig besser; er war auf und konnte mit mir in den
Kasernenhof hinuntergehen. Während wir hier plaudernd
auf und ab wandelten, bemerkte ich bald, daß der Kranke
sich in einem sehr unglücklichen Gemütszustand befand.
Er war seit fünf Jahren Soldat und hatte ohne Zweifel,
gleich den meisten seiner Kameraden, ein leichtfertiges
Leben geführt. Die Kasernenluft ist bekanntlich nicht
gerade förderlich für Sittsamkeit und Frömmigkeit. Es
gehört ein nicht geringes Maß von Gnade und sittlicher
Kraft dazu, um den verderblichen Einflüssen einer Umgebung,
wie die Kaserne sie meistens bietet, zu widerstehen.
Ich war deshalb nicht überrascht durch das, was
mein neuer Freund mir von seinem bisherigen Leben erzählte,
dankte aber Gott, daß ein Pfeil aus Seinem
Köcher das Gewissen des jungen Mannes erreicht hatte,
und daß die Pflugschar der Ueberführung ihr notwendiges
Werk that und tiefe Furchen in den harten Boden grub,
um ihn zur Aufnahme des unverweslichen Samens des
Evangeliums vorzubereiten. Es ist eine gute und heil-
86
fame Sache, wenn das Gewissen im Lichte der Heiligkeit
Gottes tief geübt wird. Diejenigen, welche durch heftige
Stürme hindurch den sichern Hafen des Evangeliums erreichen,
erweisen sich nachher gewöhnlich als die treuesten,
standhaftesten Christen. Es wäre allerdings verkehrt,
eine Regel aufstellen zu wollen; allein ein gründliches
Werk des Heiligen Geistes in dem Gewissen eines Sünders
kann nicht leicht überschätzt werden.
Ein solches Werk ging, wie ich immer mehr überzeugt
wurde, in der Seele des jungen Unteroffiziers vor; und
da der einzige Balsam für ein verwundetes Herz, einen
zerschlagenen Geist und ein überführtes Gewissen das
kostbare Blut Jesu ist, so zögerte ich nicht, ihn auf dieses
einzige, aber göttliche und vollgültige Heilmittel hinzuweisen.
Ich bemühte mich besonders, ihm eine Wahrheit
einAUprägen, die meiner eignen Seele viele Jahre vorher
Frieden gegeben hatte, nämlich diese: „Es ist ein für
uns vollbrachtes, nicht aber ein in uns vorgehendes
Werk, das uns errettet." Es unterlag keinem Zweifel,
daß in der Seele des jungen Mannes ein wirkliches Werk
des Geistes Gottes begonnen hatte, und das Ergebnis
desselben war ein tiefes Gefühl von der auf ihm lastenden
Sündenschuld. So ist es immer. Der Heilige Geist regt
die Frage der Sünde in dem Gewissen an; und ist diese
Frage einmal in göttlicher Weise angeregt, so kann sie
auch nur in göttlicher Weise, durch die Anwendung des
Wertes und der ewigen Wirksamkeit des Versöhnungswerkes
Christi gelöst werden. Es ist völlig wertlos zu rufen:
„Friede, Friedel" wenn kein Friede da ist. Der Wert
jenes kostbaren Versöhnungswerkes, das für immer die
Sünden des Gläubigen hinweggethan, die Forderungen
87
Gottes vollkommen befriedigt und Seine Gerechtigkeit erwiesen
hat in der Rechtfertigung eines jeden Sünders,
der einfältig an Jesum glaubt, — dieser Wert muß durch
die Macht des Heiligen Geistes der beunruhigten, geängstigten
Seele nahe gebracht werden.
Im Laufe der Unterhaltung stellte es sich heraus,
daß der Kranke sich mit allem Möglichen beschäftigte, nur
nicht mit diesem vollkommnen Werke des Sohnes Gottes.
So suchte er z. B. Trost und Ruhe in seinen religiösen
Uebungen zu finden; er las viel im Worte Gottes und
betete häufig. Ich sagte ihm, daß beides ganz recht und
an seinem Platze schätzenswert sei, daß es aber als Grundlage
des Friedens für einen schuldigen Sünder keinen
Wert habe, wie er selbst es ja auch erfahre. Ich suchte
ihm zu zeigen, wie ganz und gar unmöglich es ist, glücklich
zu werden oder Frieden zu finden, so lange man
gerade von dem Gegenstände wegblickt, auf welchen Gott
Sein Auge gerichtet hält. „Gott blickt auf Christum",
sagte ich unter anderm; „Sie blicken auf Ihre Werke.
Gott sagt: „Wenn ich das Blut sehe, so werde ich
an euch vorübergehen" (2. Mose 12, 13); d. h. Gott
ist befriedigt mit dem, was Er für Sie gethan hat;
Sie suchen Befriedigung in dem, was Sie für Ihn
thun zu können meinen. Das ist ein großer Unterschied,
nicht wahr? Während Gott stets ein vollbrachtes
Werk vor Seinen Blicken hat, steht vor Ihren Augen
unaufhörlich ein unvollendetes Werk. Deshalb sind Sie
auch unglücklich und beschwert. Es kann nicht anders
sein. Wenn ein Werk gethan werden muß, und ich
suche es zu thun, aber alle meine Bemühungen sind erfolglos
— wie könnte ich dann glücklich und zufrieden
88
sein? Je länger ich mich abmühe, um so unglücklicher
muß ich werden. Wenn ich aber entdecke, daß dieses
Werk bereits durch einen Andern für mich gethan
ist, und zwar durch Jesum Christum, den Herrn vom
Himmel selbst, so bin ich glücklich, und mein Herz ruht
in Frieden."
In dieser Weise sprach ich noch längere Zeit mit
meinem jungen Freunde. Er schien die Wahrheit meiner
Worte zu erfassen und Trost aus ihnen zu schöpfen. Ich
hatte das Gefühl, als ob ein Strahl göttlichen Lichtes in
seine Seele gefallen wäre. Meine Zeit war inzwischen
abgelaufen, und wir trennten uns. Er begleitete mich
noch bis ans Thor, und während er mir warm die
Hand drückte, dankte er mir wiederholt herzlich für meinen
Besuch und versprach, am folgenden Abend einer Versammlung
zur Verkündigung des Evangeliums beizuwohnen.
Er hielt sein Versprechen.
Nicht lange nach dem oben Erzählten mußte ich für
einige Wochen verreisen. Als ich heimkehrte, hörte ich,
daß Unteroffizier D. wieder sehr krank sei, und zwar
nicht nur körperlich krank, sondern auch in seiner Seele
unglücklicher als je. Dies betrübte mich tief, und sobald
es mir möglich war, begab ich mich von neuem in das
Lazareth. Der erste Blick, den ich auf den Kranken warf,
überzeugte mich von der Wahrheit des Gehörten. Mein
armer Freund sah in der That sehr leidend und sehr unglücklich
aus. Nach einigen kurzen Fragen betreffs seines
körperlichen Befindens sagte ich:
„Wie kommt es doch, mein lieber D., daß Sie
wieder so unglücklich sind? Was ist geschehen? Als wir
neulich am Kasernenthore Abschied von einander nahmen,
89
schienen Sie doch so glücklich zu sein. Was hat diese
Veränderung hervorgerufen?"
„Ach!" erwiderte er, während Thränen in seine
Augen traten, „ach, ich fürchte, daß ich nicht den rechten
Glauben habe. Ich fürchte, daß ich überhaupt nicht bekehrt
bin. Ich bin sehr, sehr unglücklich!"
Diese Worte zeigten mir, wie es um den Kranken
stand, und ich sagte: „Hören Sie einmal aufmerksam zu,
Freund D.. Vor etwa 6 Wochen besuchte ich Sie zum
ersten Male und fand Sie mit Ihren Werken beschäftigt
und infolge dessen elend und unglücklich. Heute besuche ich
Sie wieder und finde Sie mit Ihrem Glauben beschäftigt,
und das Resultat ist dasselbe: Sie sind unglücklich.
Wie kommt das? Einfach weil Sie, indem
Sie Ihren Glauben betrachten, Ihr Auge von Christo abwenden,
gerade so wie damals, als Sie sich mit Ihren
Werken beschäftigten. Der Glaube betrachtet nie sich selbst,
um zu erforschen, ob er auch rechter Art sei, sondern er
schaut auf Christum hin, völlig überzeugt, daß Christus der
rechte Gegenstand ist. Ferner möchte ich Sie daran erinnern,
daß der Grund meines Friedens nicht der ist, daß ich
vor etwa zwanzig Jahren bekehrt worden bin, sondern daß
Christus vor mehr als 1800 Jahren meine Sünden auf
dem Kreuze getragen hat und nun ohne dieselben im
Himmel ist. Ich glaube allerdings, daß ich damals bekehrt
wurde — ich glaube, daß eine wirkliche Veränderung
mit mir vorgegangen ist, und daß der Geist Gottes ein
gründliches Werk in mir gewirkt hat. Aber wenn das
auch so ist, ja, wenn alle Gläubigen auf der Erde und
alle Engel im Himmel sich bezüglich meiner Bekehrung
für durchaus befriedigt erklären würden, so könnte das
90
doch nicht den Grund meines Friedens bilden. Was mir
Frieden giebt, ist die Wahrheit, daß Gott betreffs meiner
Sünden befriedigt worden ist durch das vollendete Werk
Christi. Sie können in dieser Hinsicht nicht zu einfältig
sein. Der wahre Grund Ihres Friedens liegt nicht in der
Ueberzeugung, daß Sie wahrhaft bekehrt sind, noch in dem
Besitz des rechten Glaubens oder der rechten Gefühle,
sondern einfach in der Thatsache, daß Jesus für Sie
gestorben und wieder auferstanden ist. Allerdings darf
das Werk des Geistes bei der Bekehrung niemals von
dem Werke des Sohnes in der Versöhnung getrennt werden;
aber man darf die beiden auch nicht mit einander
verwechseln. Tausende thun dies leider, und geraten deshalb
gleich Ihnen, mein lieber D., in Finsternis und
Verwirrung."
Ich hatte einige Apfelsinen für den Kranken rnitge-
bracht, und indem ich eine derselben aus der Tasche zog,
fuhr ich fort: „Sehen Sie diese Apfelsine?" Er nickte
bejahend. „Gut", sagte ich, „wenn ich Ihnen dieselbe nun
gebe, ist es dann Ihre Hand oder die Apfelsine, die
Ihren Durst stillt und Sie erfrischt?"
„Selbstverständlich die Apfelsine", erwiderte er.
„Ohne Frage", bestätigte ich; „ein kleines Kind
kann das verstehen. Nicht die Hand, welche die Apfelsine
nimmt, sondern die Apfelsine selbst thut Ihnen gut.
Nicht die Art und Weise, wie Sie sie nehmen, erquickt
Sie, sondern die Frucht selbst. Die Hand mag schwach
sein und zittern; aber das macht nichts aus. Allerdings
bedürfen Sie der Hand, um die Apfelsine zu ergreifen
und zum Munde zu führen; aber Sie dürfen nicht die
Hand mit der Apfelsine verwechseln. Genau so ist es
91
mit dem Glauben und mit dem Gegenstände, den der
Glaube ergreift. Ihr Glaube kann schwach oder stark
sein; aber ob schwach oder stark, nicht der Glaube ist
es, der Ihren Bedürfnissen begegnet, sondern der Gegenstand,
welchen er ergreift, d. i. Christus."
Der junge Soldat sah mich einen Augenblick starr
an; dann aber ergriff er meine Hand und rief mit Wärme:
„O jetzt verstehe ich es; jetzt ist mir alles klar! Ich
habe meinen Blick von Christo weggewendet, und darum
bin ich in Finsternis und Verwirrung hineingeraten. —
O Herr, befähige mich, mein Auge unverrückt auf Dich
gerichtet zu halten!"
„Amen," sagte ich; „wenn Sie unglücklich zu sein
wünschen, so blicken Sie in sich hinein; wenn Sie
abgezogen und zerstreut werden wollen, so blicken sie um
sich her; wollen Sie aber glücklich sein, so schauen Sie
nach oben."
Wir unterhielten uns noch einige Zeit, dann mußte
ich gehen. Mehrere Tage später begegnete ich meinem
jungen Freunde unerwartet auf der Straße; er war wieder
viel wohler, und sein Antlitz strahlte von Glück und
Freude. Er schien ein ganz andrer Mensch geworden zu
sein. Der Arzt hatte erklärt, daß er für den fernern
Dienst im Heere untauglich sei, und nun wartete er auf
seine Entlassung. Nachdem ich ihm meine Freude darüber
ausgedrückt hatte, ihn so wohl zu sehen, fragte ich ihn,
ob er denn nun ganz klar in seinem Innern und völlig
glücklich sei.
„Ja", erwiderte er, „ich fühle mich jetzt ganz frei und
glücklich, und ich bin entschlossen, von nun an das blutbefleckte
Banner des Kreuzes weit und breit hin zu tragen."
92
Diese Worte wurden mit großem Enthusiasmus gesprochen.
Ich bezweifelte nicht im geringsten die Aufrichtigkeit
meines jungen Freundes, fürchtete aber, daß er
in Gefahr stehe, in eine neue Schlinge des Feindes zu
fallen, und sagte deshalb zu ihm: „Nehmen Sie sich in
acht, mein lieber D.! Vor zwei Monaten, als ich Sie
kennen lernte, waren Sie mit Ihren Werken beschäftigt;
sechs Wochen später, gelegentlich meines zweiten Besuches,
fand ich Sie unglücklich, weil Sie Ihren Glauben betrachteten;
heute finde ich Sie mit Ihrem Dienste beschäftigt,
und ich fürchte sehr, daß Ihr Auge dadurch
wieder von Christo abgelenkt werden wird, gerade so wie
früher durch Ihren Glauben und Ihre Werke. Nicht daß
ich einen Wertunterschied zwischen Glauben und Dienst
machen will; aber ich schätze Christum höher als alles.
Ich habe schon viele junge Gläubige kennen gelernt, die
in diese Schlinge gefallen und mehr mit ihrem Dienst
als mit Christo beschäftigt waren. Sie hatten ihrem
Werke erlaubt, zwischen ihre Herzen und Christum zu
treten, und waren dadurch in einen Zustand der Dürre
und Niedergeschlagenheit geraten. Ich rate Ihnen deshalb:
Halten Sie Ihr Auge auf den Herrn gerichtet, klammern
Sie sich an Christum, bleiben Sie in Ihm, und dann
werden Sie sicher auch in dem rechten Dienst erfunden
werden. Nur dann, wenn wir im Weinstock bleiben,
bringen wir Frucht. Der Herr sagt: „Wenn jemanden
dürstet, so komme er zu mir!" Zu welchem Zweck?
Um für andere aus der nie versiegenden Quelle zu schöpfen?
Nein, sondern um selbst „zu trinken". Und
was wird das Resultat sein? „Aus seinem Leibe werden
Ströme lebendigen Wassers fließen." Das ist die gött
93
liche Ordnung. Ein wahrer Dienst und ein wirksames
Zeugnis fließen aus der Gemeinschaft mit dem Herrn
hervor. Wenn Sie Ihren Dienst zu Ihrem Gegenstände
machen, so werden Sie zu schänden werden; haben
Sie aber Christum als Ihren alles beherrschenden Gegenstand,
so werden Sie glücklich und frisch erhalten bleiben,
und Ihr Dienst wird von der rechten Art sein."
Das Vorstehende ist der wesentliche Inhalt meiner
drei Unterredungen mit Unteroffizier D., so weit sie mir
noch im Gedächtnis sind. Ich habe sie niedergeschrieben
in dem Gedanken, daß die Schwierigkeiten und Schlingen,
welche sich auf dem Pfade eines Neubekehrteu fanden,
auch auf dem Pfade andrer nicht ausbleiben werden;
und solchen zu helfen ist mein Wunsch. Möge der Herr
in Seiner Güte diese Zeilen dazu dienen lassen, um den
Leser in Seiner ewigen Wahrheit zu befestigen, damit
Sein herrlicher Name allein gepriesen werde!
Die Seligpreisungen.
(Matth, b, 1—12.)
(Fortsetzung.)
4. „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit
hungern und dürsten, denn sie werden
gesättigt werden."
Die vollkommne Art und Weise, in welcher die Liebe
des Vaters den mancherlei geistlichen Gefühlen und Zuständen
der Kinder entspricht, ist äußerst interessant und
belehrend. Den Armen im Geiste werden die Schätze des
Reiches verheißen — „ihrer ist das Reich der Himmel".
94
Göttlicher Trost ist, zu seiner Zeit, das sichere Teil der
Trauernden — „sie werden getröstet werden", und zwar
wie der Prophet sagt: „Wie einen, den seine Mutter
tröstet, also werde ich euch trösten; und in Jerusalem
sollt ihr getröstet werden." (Jes. 66, 13.) Der zukünftige
Besitz des Landes Israel wird denen als Lohn in Aussicht
gestellt, die sich in dem Lande ihrer Fremdlingschaft
demütig unter den Willen Gottes beugen und alle ihre
Angelegenheiten und Interessen Seinen Händen überlassen
— „sie werden das Land ererben". Der vierten Klasse
endlich, denen, die nach der Gerechtigkeit hungern und
dürsten, wird eine volle Befriedigung ihrer Seele verheißen
— „sie werden gesättigt werden".
Das ist Gnade und steht in Uebereinstimmung mit den
Gnadenwegen des Herrn von Anfang an. Seine Antwort
entspricht dem gefühlten Bedürfnis der Seele. Er
erweckt den Wunsch, um ihn dann befriedigen zu können.
Wenn das Herz nach dem Guten begehrt, so dürfen wir
versichert sein, daß Gottes Gnade wirksam ist. Denn weil
es in dem natürlichen Herzen nichts geistlich Gutes giebt,
so muß der erste (wie jeder nachfolgende) gute Wunsch von
Gott kommen. „Ich will mich aufmachen und zu meinem
Vater gehen" — dieser Entschluß war die Wirkung der
Gnade auf das Herz des verlornen Sohnes; und er war
in jenem Augenblick ebenso sicher wie nachher, als er in
den Armen seines Vaters lag, obwohl er es nicht wußte.
So ist ein guter Wunsch stets die Frucht der Gnade und,
in gewissem Sinne, bereits der Besitz des Gewünschten.
Er ist gleichsam das Unterpfand des Erbes.
In dieser Thatsache liegt ein großer Trost und eine
reiche Ermunterung für diejenigen, welche ernstlich den
95
Herrn suchen, wie sie sagen, die aber furchtsam sind und
daran zweifeln, ob sie Ihn bereits gefunden haben. Alle
solche täuschen sich, denn gerade das Gegenteil ist der
Fall: Christus hat sie gesucht und gefunden, und Er
erweckt in dem Herzen das Gefühl, daß es nimmer durch
irgend etwas anderes befriedigt werden kann als durch Ihn
selbst. Die Welt, ihre Reichtümer, ihre Freuden und gesellschaftlichen
Vergnügungen sind alle zu klein, um das
Herz auszufüllen. Selbst ein Salomo machte die Entdeckung,
daß alles unter der Sonne zu klein war, um
sein Herz zu befriedigen. Zu gleicher Zeit wurde er dahin
geleitet, uns in seinem erhabenen Liede zu zeigen, wie
das Herz einer armen, umherirrenden Magd von Freude
überströmt, wenn sie den Messias findet oder vielmehr
von Ihm gefunden wird. „Deine Liebe," sagt sie, „ist
besser als Wein", besser für mich als alle gesellschaftlichen
Freuden der Erde. Das muß das Werk Seiner Gnade
sein. Kein wahres, aufrichtiges Verlangen nach dem
Christus Gottes kann, wie wir wissen, aus unserm verderbten
Herzen hervorkommen; und sicherlich pflanzen
Welt und Satan es auch nicht hinein. Woher muß es
dann kommen? Nur von der Gnade Gottes. Gott bewirkt
dieses Verlangen, und Er begehrt auch, die sehnlichen
Wünsche und Erwartungen, die Er erweckt hat, zu stillen.
Aber Er möchte uns dahin bringen, mit dem Psalmisten
ausrufen zu können: „Nur auf Gott vertraue still meine
Seele! denn von Ihm kommt meine Erwartung. Nur
Er ist mein Fels und meine Rettung, meine hohe Feste;
ich werde nicht wanken. Auf Gott ruht mein Heil und
meine Herrlichkeit; der Fels meiner Stärke, meine Zuflucht
ist in Gott." (Ps. 62, 5 —7.) Es ist das Wörtchen
96
„nur" in diesem Psalme, das unsre Herzen so von Grund
aus prüft und erforscht. Der Herr gebe uns, in Seiner
Gegenwart darüber zu sinnen!
Wir schließen also aus diesen Betrachtungen — und
Betrachtungen sind es, denn sehr wenig wird in den
Seligpreisungen von Vergebung, Errettung oder Versöhnung
gesagt —, daß jedes Verlangen des Herzens nach
Christo für immer gestillt werden wird. So weit ist dies
auch jetzt schon wahr; möchte deshalb der Herr in diesen
letzten Tagen ein tiefes, ernstes, sehnliches Verlangen
nach Ihm selbst erwecken! — Wenden wir uns jetzt zu
einer eingehenderen Betrachtung der vierten Seligpreisung.
Da wir alle mit der Bedeutung und Kraft des von
dem Herrn gebrauchten Bildes wohl bekannt sind, so
können wir auch leicht seine geistliche Anwendung verstehen.
Nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten bedeutet offenbar
ein ernstes Verlangen der erneuerten Seele, den Willen
Gottes in dieser Welt zu thun; und dieses Verlangen
wird nur noch vermehrt, wenn man findet, daß die Welt
allem dem, was in den Augen Gottes recht und gut ist,
feindlich gegenübersteht. Diese Entdeckung verstärkt das
Gefühl des Hungerns und Dürstens. Die Wirkung dieses
Trachtens nach der Aufrechterhaltung dessen, was dem
Willen Gottes entspricht, ist ein großer Segen für die
Seele. „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern
und dürsten!" Aber obwohl diese Glückseligkeit der
sichere Lohn der Gerechtigkeit ist, so wird der gerechte Pfad
doch stets große Prüfungen und mannigfaltige Schwierigkeiten
mit sich bringen. Der Grundsatz, nach welchem die
Welt handelt, ist nicht das, was recht ist vor Gott, sondern
das, was bequem, nützlich oder angenehm für das eigene
97
Ich ist. Was Gott über diese oder jene Sache denkt,
danach wird nicht gefragt; und wollte jemand diese
Frage erheben, so würde er als ungeeignet für die praktischen
Wirklichkeiten dieses Lebens betrachtet werden.
Indes ist diese Lockerheit der Grundsätze nicht nur
auf die eigentliche Welt beschränkt; wir begegnen ihr auch
in der bekennenden Kirche. Wie viele Dinge werden hier
eingeführt und in praktische Ausübung gebracht, (und
zwar mit dem größtmöglichen Scheine göttlicher Autorität)
die in dem Worte Gottes keine Spur von Begründung
haben! Wer daher die Autorität und die Herrlichkeit
Gottes aufrecht zu erhalten, oder, mit andern Worten,
in den Pfaden der Gerechtigkeit zu wandeln sucht, sei es
in der Welt oder in der Kirche, muß sich bei jedem
Schritt auf Prüfungen und Schwierigkeiten gefaßt machen.
Die Gnade muß trauern, wenn der Wille des Menschen
den Platz der Gerechtigkeit Gottes einnimmt. Auch
wird die Sanftmut des göttlichen Lebens in Ausübung
kommen, indem sie nach oben schaut und alles
Gott anheimstellt.
Doch was andere auch thun mögen, der Grundsatz
des Mannes Gottes muß immer der sein: Ist das, was
ich thue, recht? Steht es in Uebereinstimmung mit dem
geoffenbarten Willen Gottes? Nicht nur: Ist es praktisch?
oder: bietet es eine Gewähr, daß der beabsichtigte
Zweck erreicht wird? sondern einfach: ist es recht? „Denn
gerecht ist Jehova, Gerechtigkeiten liebt Er. Sein Angesicht
schaut den Aufrichtigen an." (Ps. 11, 7.) Wir geben
zu, daß Gerechtigkeit einen besonderen Platz bei dem
Israeliten hatte, der unter dem Gesetz stand und darauf
achten mußte, daß alles nach dem Buchstaben des Gesetzes
98
geschah; aber sicherlich haben wir im Neuen Testament
sowohl tiefere wie höhere Grundsätze als im Alten —
sie treten zwar nicht so sehr in der Bergpredigt, als vielmehr
nach dem Tode und der Auferstehung des Herrn
ans Licht — und es wird auch eine weitergehende Gerechtigkeit
erwartet, gerade weil wir uns selbst für gestorben
und auferstanden mit Ihm halten sollen und nicht
unter Gesetz, sondern unter Gnade stehen. Der Apostel
sagt daher in Röm. 6: „Stellet euch selbst Gott dar
als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu
Werkzeugen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird
nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz,
sondern unter Gnade."
Als ein Prüfstein des wahren Charakters alles dessen,
was wir thun und lassen, ist jene kurze und einfache
Frage: Ist es recht? unschätzbar. Nicht als ob wir für-
alles, was wir thun oder uns erlauben, eine besondere
Schriftstelle zu erwarten hätten; aber wir dürfen und
sollten stets ernsthaft fragen: Steht es in Uebereinstimmung
mit dem geoffenbarten Willen Gottes? Sind
wir sicher, daß es Seinen Beifall findet? Wenn nicht,
welchen Wert hat es dann? Es ist schlechter als nutzlos;
es ist verkehrt. Es mag eine allgemeine, religiöse Gewohnheit
sein oder ein anerkannter Grundsatz in den Angelegenheiten
dieses Lebens; aber wenn Gott es nicht
gutheißt, so ist es besser, es aufzugeben. Nach der Gerechtigkeit
hungern und dürsten ist das ernste Begehren,
das zu thun und aufrecht zu erhalten, was in den Augen
Gottes recht ist, obwohl es uns dem Widerspruch und
der Feindschaft der Welt und sogar der weltlich gesinnten
Christen aussetzen mag.
99
Aber, möchte vielleicht jemand fragen, muß nicht
Dieses Trachten, in Uebereinstimmung mit einer Regel
oder einem gegebenen Maßstab zu wandeln, zu einem gesetzlichen
Geiste führen? Durchaus nicht; im Gegenteil
finden wir, daß das Wort Gottes „das vollkommne
Gesetz der Freiheit" (Jak. 1) für das göttliche Leben ist,
welches wir als Christen besitzen. Doch dies führt uns
zu der Wurzel dieses wichtigen Gegenstandes, über welchen
wir wohl thun noch eine Weile unter Gebet nachzusinnen.
Wir werden hier das Geheimnis der wirklichen, heiligen
Freiheit entdecken.
Dem Leben Christi, welches das unsrige geworden
ist und in dem wir wandeln, kann niemals Sein Wort
mißfallen, noch kann es sich mit diesem Worte in Widerspruch
befinden. Die neue Natur findet ihre Freude an
den Worten oder Geboten Christi; sie sind für dieselbe
nur Seine Ermächtigung, um das zu thun, was das
göttliche Leben zu thun wünscht. Nehmen wir ein Beispiel.
Ein junger Christ, durch die reinsten Beweggründe geleitet,
verlangt sehnlich darnach, einer Gebetsversammlung
beiwohnen zu können; es ist dies offenbar ein richtiger,
den Gedanken Christi entsprechender Wunsch — mit einem
Wort: Gerechtigkeit. Nun aber ist diesem jungen Manne
der Weg versperrt, sein Verlangen zu stillen; er befindet
sich in einer abhängigen Stellung und kann nicht, wie
er will. Er wartet ruhig auf Gott. Nach einiger Zeit
wird ihm gesagt, er solle in die Gebetsversammlung gehen.
Das ist es, was sein Herz begehrt; er gehorcht mit
Freuden; es ist das „Gesetz der Freiheit". Die Neigungen
seines neuen Lebens und das Wort Christi stehen mit
einander in Uebereinstimmung, sind eins.
100
Doch nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein junger
Christ befindet sich in einem weltförmigen Zustand. Er
wird gebeten, eine Gebetsversammlung zu besuchen, aber
er hat keine Neigung dazu. Der Wille seiner fleischlichen
Gesinnung steht im Gegensatz zu dem Willen Christi.
Die Gebote des Herrn sind ihm nicht erfreulich, sondern
unangenehm und beschwerlich; sie sind für ihn nicht ein
Gesetz der Freiheit, sondern der Knechtschaft, und er ist
sehr unglücklich. So kommt es, daß der Gehorsam und
ein Wandeln in Gerechtigkeit vollkommne Freiheit, heilige
Freude und göttliche Kraft für das Leben Christi in der
Seele bedeuten. Allerdings ist der Heilige Geist die Kraft
dieses Lebens; allein wir können die Macht des Geistes
nicht von der Autorität des Wortes trennen. Die Wünsche
des neuen Lebens, die Autorität des Wortes und die
Macht des Geistes gehen Hand in Hand mit einander.
Der erste Brief des Johannes, besonders das zweite
Kapitel, ist eine göttliche Auslegung dieses großen praktischen
Grundsatzes des Christentums. „Wer irgend Sein
Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes
vollendet. Hieran wissen wir, daß wir in Ihm sind.
Wer da sagt, daß er in Ihm bleibe, ist schuldig, selbst
auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat." Die
Worte Christi waren der Ausdruck Seines Lebens, als
Er hienieden war; und dieses selbe Leben ist unser Leben
— wunderbare, kostbare, gesegnete Wahrheit! Und es
wird unser Leben sein für immerdar, die Grundlage
unsrer seligen Gemeinschaft und göttlichen Vertraulichkeit
mit Christo alle die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch.
„Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart
wird, dann werdet auch ihr mit Ihm geoffenbart werden in
101
Herrlichkeit." (Kol. 3, 4.) Aber bis dahin, geliebter Leser,
laß uns Seinem Worte erlauben, uns so zu leiten und
zu führen, daß wir wandeln, wie Er gewandelt hat!
Bevor wir unsre Betrachtung über die vierte Seligpreisung
schließen, mag es gut sein, noch einen kurzen
Blick auf Psalm 16 und 17 zu werfen. Wir begegnen
dort denselben Wahrheiten — Leben und Gerechtigkeit —
nur in unmittelbarer Verbindung mit Christo und dem
gottesfürchtigen Ueberrest in Israel. In Psalm 16 haben
wir den Pfad des Lebens mit Gott, und zwar durch
diese Welt, durch den Tod, bis hinauf zu der Fülle von
Freuden in Seiner Gegenwart. „Du wirst mir kundthun
den Weg des Lebens; Fülle von Freuden ist vor
Deinem Angesicht, Lieblichkeiten in Deiner Rechten immerdar."
In Psalm 17 haben wir den Pfad der Gerechtigkeit
in völliger Abhängigkeit von Gott. Unbedingte
Treue und Aufrichtigkeit in Herz und Leben, Goit und
Menschen gegenüber, kennzeichnete den Weg Jesu durch
diese Welt. „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" so lautete
Sein Ruf; und das sollte auch des Christen Wahlspruch
sein: „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" Der einzige,
alles beherrschende Gegenstand und Zweck Jesu war, den
Gedanken Seines Vaters zu entsprechen, den Willen
Seines Vaters zu thun und für uns einen Pfad zu bezeichnen,
damit wir in Seinen Fußstapfen wandeln könnten.
Und hier ist es, wo das Herz geprüft wird, und
wo es sich zeigt, welchen Wert das Wort Gottes für uns
hat. „Du hast mein Herz geprüft, hast mich deS Nachts
durchforscht; Du hast mich geläutert — nichts fandest
Du; mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund.
Was das Thun des Menschen anlangt, so habe ich mich
102
durch das Wort Deiner Lippen bewahrt vor den Wegen
des Gewalttätigen." (V. 3. 4.) Unbedingt wahr konnte
dies nur von Christo sein; von uns ist es nur insoweit
wahr, als wir das Leben Christi leben. Nichtsdestoweniger
sollten wir fähig sein, uns bezüglich des Vorsatzes
unsrer Herzen auf Gott selbst berufen zu können.
Der Herr befähige uns durch Seine Gnade, vor Ihm
zu wandeln mit geprüften Herzen, mit Ausharren und
Beständigkeit, trotz des Widerstandes und der Feindschaft,
die wir vielleicht zu erfahren haben! Hungern und dürsten
wir nach der Gerechtigkeit, nach der Erfüllung des ganzen
Willens Gottes in Christo Jesu, sowie nach einer praktischen
Gleichförmigkeit mit dem gesegneten Pfade des
Sohnes des Menschen in dieser Welt — und sicher, wir
werden gesättigt werden. Jener schöne 17. Psalm beginnt
mit dem Rufe: „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" und endet
mit den erhabenen Worten: „Ich, ich werde Dein Angesicht
schauen in Gerechtigkeit, werde gesättigt werden, wenn ich
erwache, mit Deinem Bilde." Herrliches Ende! Wird es
das deinige sein, mein Leser? Stehe einen Augenblick
still und prüfe dich! Hast du Glauben an Christum?
Ist Sein Leben dein Leben? Sind Seine Wege in dieser
Welt deine Wonne? — Welch eine kostbare, gesegnete
Hoffnung, von dem langen Todesschlafe zu erwachen,
aus dem Staube des Grabes aufzustehen und in der
strahlenden Schönheit und himmlischen Herrlichkeit des
Herrn Jesu zu erscheinen! Was ließe sich mit dieser
Hoffnung vergleichen? Wahrlich, es ist eine Aussicht,
die unsrer aufmerksamsten Betrachtung würdig ist.
Während ich diese Zeilen niederschreibe, ist einer
meiner nächsten Nachbarn aus der Zeit in die Ewigkeit
103
hinübergegangen. Er war ein Mann dieser Welt und
ein reicher Mann; sein Vermögen wird auf Millionen
geschätzt. Aber wenn er auch alle diese Millionen hätte
mitnehmen können, würden sie ihn in den Stand setzen,
auch nur einen Zollbreit Boden in dem herrlichen Paradiese
Gottes oder einen einzigen Tropfen kalten Wassers
in dem schrecklichen Bereich der Hölle damit zu erkaufen?
Wie mancher stürzt aus dem Schoße eines bequemen,
luxuriösen Lebens hinab in die Tiefen ewigen Elends und
ewiger Qual! Nichts kann die Segnungen des Himmels
erkaufen, nichts die Seele von der Sünde und ihren
schrecklichen Folgen erlösen, als nur das kostbare Blut
Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Das ist der einzig
gültige Paß, der den Sünder durch die finstern Pforten
des Todes hindurchführt, sein einzig rechtmäßiger Besitztitel
auf die herrlichen Wohnungen in dem Vaterhause
droben. Gebete, Bußübungen, Werke der Nächstenliebe,
verbunden mit einer eifrigen und strengen Beobachtung
religiöser Vorschriften und Satzungen, mögen in diesem
Leben für bare Münze durchgehen; aber ohne Christum
und Sein reinigendes Blut sind sie wertlos und müssen
an den Thoren des Himmels als falsches Geld zurückgewissen
werden. Das Werk, welches allein die Seele zu
erretten vermag, ist ein vollendetes Werk.
„Es ist vollbracht!" das große Werk, das schwere;
Gott ist gerecht — Ihm ward nun Seine Ehre
Durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat:
„Es ist vollbracht!^
Es ist vollbracht, was Gottes Liebe wollte,
Was für den Sünder, den verlornen, sollte
Zur Rettung und zum ew'gen Heile sein;
Das ist vollbracht.
104
„Es ist vollbracht!" durchtönt's die Ewigkeiten
Zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
Sie danken Gott, sie beten Jesum an,
Daß Er's vollbracht.
Ja, mein Leser, sei versichert, daß das große, schwere
Werk der Errettung des Sünders für ewig vollbracht ist.
Sei ferner versichert, daß keinerlei gute Werke annehmlich
sind vor Gott, sie seien denn die Frucht einer lebendigen
Verbindung und Gemeinschaft mit Christo selbst. Der
von Natur wilde Zweig muß in den wahren Oelbanm
eingepfropft und der Fettigkeit seiner Wurzeln teilhaftig
werden, bevor er imstande ist, Frucht zu tragen zur Verherrlichung
Gottes, des Vaters. Glaube deshalb, wenn
du bis heute noch ferngeblieben bist, an den hochgelobten
Herrn; vertraue Seinem kostbaren Blute, als vermögend,
alle deine Sünden abzuwaschen; vertraue Seinem heiligen
Worte, ohne zu zweifeln, und warte mit Ausharren auf
Seine Rückkehr, bei welcher Er noch weit mehr und
weit Besseres für dich thun wird, als du jemals erbeten
nder erdacht shast; „denn ihr alle seid Söhne Gottes
durch den Glauben an Jesum Christum". (Gal. 3, 26.)
(Fortsetzung folgt.)
Der „eine Leib" und „die Einheit
des Geistes".
Ein jedes Kind Gottes ist ein Glied des „einen
Leibes", der durch den „einen Geist" gebildet ist. Der
Leib kann nicht gebrochen oder zerteilt werden, denn er
ist gebildet durch göttliche Macht. Aber in der Offenbarung
des einen Leibes und des einen Geistes ist in
105
trauriger Weise gefehlt worden; daher die gegenwärtige
Verwirrung in der Christenheit.
Wir sind angewiesen, praktischer Weise die Gliedschaft
des „einen Leibes" darzustellen, und die Thätigkeit
des „einen Geistes" leitet dahin; aber es wird uns
nirgendwo gesagt, daß wir die Einheit des Leibes
bewahren sollen, sondern „die Einheit des Geistes". Der
Heilige Geist ist die Kraft für alles, was Gott gemäß
ist; und Er ordnet durch das Wort alle Dinge, sowohl
im Blick auf unsern praktischen Wandel, als auch hinsichtlich
unsers gemeinsamen Handelns als Versammlung.
Wenn der Herr zu Seinen Versammlungen spricht,
so fordert Er uns auf, zu hören „was der Geist sagt";
und da es nur einen Geist giebt und Er in der Versammlung
auf der Erde wohnt, so fordert Er einen jeden
Einzelnen auf, zu hören, was der Geist zu jeder Versammlung
sagt. „Wer ein Ohr hat, höre, was der
Geist den Versammlungen sagt." (Offbg. 2. 3.) Wenn
nun jedes Glied des „einen Leibes" hörte, was der Geist
den Versammlungen sagt, und darnach handelte, so würde
die Einheit des Geistes bewahrt werden. Aber nicht alle
hören, und manche wünschen vielleicht nicht einmal zu
hören, was der Geist sagt. Ist es nun nicht klar, daß
diejenigen, welche hören, handeln müssen in Treue
gegen den Herrn und, so schmerzlich es sein mag, sich
trennen müssen von denen, welche nicht hören oder nicht
hören wollen? Denn es ist uns geboten, die Einheit
des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens.
Auf welche andre Weise könnte sie bewahrt werden?
Nehmen wir den Fall an, daß in irgend einem Teile
der Welt unter denen, die auf dem Boden der Versamm
106
lung Gottes versammelt sind, etwas Böses zum Vorschein
käme. Was haben die Treuen zu thun? Vielleicht zeigt
sich das Böse an einem Orte, der Hunderte von Meilen
entfernt ist; aber können wir gleichgültig gegen dasselbe
sein? Unmöglich, wenn wir anders glauben, daß
„ein Geist" in der Kirche oder Versammlung wohnt.
Würden jene Treuen nicht sogleich den Herrn zu ihrer
Zuflucht machen und sich zu „dem Worte Seiner Gnade"
wenden? Leitet nicht der Heilige Geist alle aufrichtigen
Herzen in dieser Weise? Nun, der Herr ruft uns zu:
„Höret, was der Geist sagt." Sicher, sie würden bald
herausfinden, daß der Geist das Böse offenbar macht und
es straft als unheilig, als der Wahrheit zuwider
und als ungeziemend für Den, der sich den Heiligen und
den Wahrhaftigen nennt. Alle, welche nur auf Menschen
blicken, müssen auf einen verkehrten Weg kommen; nur
diejenigen können den Sinn des Herrn erfassen, die auf
Ihn warten und den Heiligen Geist ehren.
Ferner muß die Einheit des Geistes erstens der
Heiligkeit oder der Absonderung von dem Bösen gemäß
sein; denn Er ist ein Heiliger Geist. Zweitens muß
sie der Wahrheit entsprechen (und wir wissen, wer gesagt
hat: „Dein Wort ist Wahrheit"); denn der Geist ist
die Wahrheit, und Er leitet in alle Wahrheit.
Drittens muß der Pfad des Geistes sicherlich die Ehre
und Herrlichkeit „des Sohnes" im Auge haben; denn Jesus
hat gesagt: „Er wird mich verherrlichen." Viertens vermehren
diejenigen, welche sich der Wirksamkeit des „einen
Geistes" irgendwie oder aus irgend einem Grunde widersetzen,
in ernster Weise den Herrn, betrüben den Heiligen
Geist, mit dem sie versiegelt sind, schaden ihren eignen
107
Seelen, führen vielleicht andere irre, verderben das Zeugnis
Gottes und fallen unter Sein Urteil.
Möchten darum alle die geliebten Kinder Gottes
hören, „was der Geist sagt", und auf Den blicken, der
uns vor dem Straucheln und Fallen zu bewahren vermag!
Die Fülle Gottes und ein leeres Gefäß.
Die Fülle Gottes wartet stets auf ein leeres Gefäß.
Das ist eine praktische Wahrheit, die leicht ausgesprochen
ist, aber nicht so leicht erfaßt und in ihrer
Tragweite verwirklicht wird. Das ganze Buch Gottes,
sowie Seine Wege mit dem Menschen erläutern diese
Wahrheit. Sie gilt sowohl von dem Sünder, wenn er
zum ersten Male seine Zuflucht zu Christo nimmt, als
auch von dem Gläubigen während seiner ganzen Laufbahn,
von ihrem Ausgangspunkt bis zu ihrem Ziele.
Was zunächst den Sünder betrifft, so ist es nichts
anderes als die Fülle Gottes, die in erlösender Liebe
und vergebender Gnade auf ein leeres Gefäß wartet, um
es füllen zu können. Was not thut, ist, den Sünder
dahin zu bringen, daß er den Platz eines leeren Gefäßes
einnimmt. Ist er einmal dort, so ist die Frage seiner
Errettung bald geordnet. Aber ach! welche Mühen, welche
Kümpfe, wie viele fruchtlose Anstrengungen, wie viele Gelübde
und Vorsätze kostet es in Hunderten und tausenden
von Fällen, ehe der Sünder wirklich dahin kommt, sich selbst
aufzugebcn und sich als ein leeres Gefäß mit dem Heile
Gottes füllen zu lassen. Wie schwer hält es, das arme,
gesetzliche Herz von seiner Gesetzlichkeit zu befreien, den
Selbstgerechten von seinem eitlen Wahne zu überzeugen!
108
Das Herz will etwas von dem eignen Ich haben, um
sich darauf stützen und daran anklammern zu können.
Viele verbringen Jahre mit allerlei gesetzlichen Anstrengungen,
ehe sie dahin kommen, sich in ihrer ganzen
Ohnmacht, in ihrem Nichts und ihrer Leere zu erkennen
und sich als verlorene Sünder zu Jesu zu wenden. Wenn
sie einmal diesen Punkt erreicht haben, dann allerdings
wundern sie sich darüber, wie es möglich war, so lange
in Blindheit und Thorheit voranzugehen und den einfachen
Heilsweg Gottes nicht zu erkennen. Aber so ist
es; so lange der Mensch noch meint, sich selbst helfen
zu können, ist alles dunkel und schwierig um ihn her;
er sieht keinen Ausweg. Sobald er aber ausruft: „Ich
elender Mensch! wer wird mich erlösen?" wird die Antwort
nicht lange ausbleiben: „Ich danke Gott durch
Jesum Christum, unsern Herrn."
Man wird auch immer finden, daß, je tiefer ein
Sünder sein Verderben erkennt, je leerer und ohnmächtiger
er sich fühlt, desto gegründeter sein Friede sein wird.
Wenn nicht das eigne Wirken in seiner ganzen Verwerflichkeit
erkannt worden ist, werden sicher Zweifel und Befürchtungen,
Zeiten der Finsternis und des Dunkels nicht
ausbleiben. Je mehr ich aber mein Nichts und meine
Leere erkenne, desto mehr werde ich die Fülle Christi genießen.
So lange ich voll von Selbstvertrauen bin, so
lange ich mich auf meine Sittlichkeit, Religiosität und
Gerechtigkeit stütze, habe ich keinen Platz für Christum.
Alle diese Dinge müssen über Bord geworfen werden, ehe
ich Christum voll und ganz schätze und annehme. Es kann
nicht teilweise Christus und teilweise das eigne Ich sein;
entweder das eine oder das andere.
Verstehst du dies, mein Leser? Bist du als ein von
sich selbst ausgeleerter, nichtswürdiger Sünder zu Jesu
gekommen, um in Seiner Fülle, in Seiner Allgenugsamkeit
deine Befriedigung und in Ihm allein die unerschütterliche
Ruhe deines Herzens und Gewissens zu finden? Bist du
wirklich völlig befriedigt mit Christo? Ist Er genug für
109
dein Herz, genug für dein Gewissen? Ruhest du ganz
in Christo? Ist es Christus allein, oder Christus und
irgend etwas anderes? Verbirgst du in einem geheimen
Winkel deines Herzens noch einen Rest von Gesetzlichkeit,
von Selbstvertrauen oder von Selbstgerechtigkeit? Wenn
es so ist, so kannst du keinen wahren Frieden genießen.
Denn Christus ist unser Friede. Wahrer Friede ist
nicht ein bloßes Gefühl. Er wird in einer göttlichen,
lebendigen Person, in Christo selbst gefunden, der durch
das Blut Seines Kreuzes Frieden gemacht hat und nun
unser Friede geworden ist in der Gegenwart Gottes.
Dieser Friede kann nimmermehr gestört werden, da Er,
der unser Friede ist, stets derselbe bleibt, „gestern und
heute und in Ewigkeit". Wäre er ein bloßes Gefühl,
so würde er sich so veränderlich erweisen wie das Quecksilber
in einem .Barometer. Beschäftige ich mich mit
meinen Gefühlen, so bin ich nicht von mir selbst ausgeleert,
und infolge dessen kann ich nicht den Frieden und
die Freude kennen, die das Teil dessen sind, der allein
mit Christo beschäftigt ist; denn die Fülle Gottes wartet
stets auf ein leeres Gefäß.
Und so wie es mit dem Sünder ist, so steht es
auch mit dem Christen. Wir haben oft eine gar geringe
Vorstellung davon, wie sehr wir mit dem eignen Ich und
mit der Welt erfüllt sind. Wie Jakob vor alters, so
ringen auch wir oft bis aufs Aeußerste und halten fest an
unserm Vertrauen auf das Fleisch, bis endlich die Quelle
unsrer Kraft versiegt und der Boden unsers Vertrauens
unter unsern Füßen wankt.
Es giebt kein größeres Hindernis für den Genuß
eines beständigen Friedens und der Gemeinschaft mit Gott
als Selbstvertrauen. Gott kann nicht das Haus mit
der Kreatur teilen. Jakob wurde das Gelenk seiner Hüfte
angerührt, damit er lerne, sich allein auf Gott zu stützen.
Der hinkende Jakob fand seine sichern Hilfsquellen in dem
Gott, der uns nur von der Natur ausleert, um uns mit
sich selbst füllen zu können. Er weiß, daß in demselben
110
Maße, wie wir mit Selbstvertrauen oder mit Vertrauen
auf die Kreatur erfüllt sind, wir der tiefen Segnung
verlustig gehen, mit Seiner Fülle erfüllt zu sein. Deshalb
leert Er uns in Seiner großen Gnade und Huld aus,
damit wir lernen, mit kindlichem Vertrauen uns an Ihn
zu klammern. Das ist der einzige Ort der Kraft, des
Sieges und der Ruhe.
„Ich war nie wahrhaft glücklich," hat einmal jemand
gesagt, „bis ich aufhörte zu wünschen, groß zu sein."
Das ist ein schönes, aber auch ein ernstes Wort. Wenn
wir aufhören zu wünschen, etwas zu sein, und damit
zufrieden sind, nichts zu sein, dann werden wir erfahren,
was wahre Größe, wahre Erhabenheit, wahres Glück und
wahrer Friede sind. DaS rastlose Begehren des Herzens,
etwas zu sein und etwas zu gelten, zerstört die Ruhe
der Seele von Grund aus. Der Stolz und Ehrgeiz des
natürlichen Menschen mag dies eine armselige, verächtliche
Anschauung nennen; allein wenn wir unsern Platz in den
Bänken der Schule Christi eingenommen haben, wenn
wir anfangen, von Ihm zu lernen, der sanftmütig und
von Herzen demütig war, so sehen wir die Dinge mit
ganz andern Augen an. „Wer sich selbst erniedrigt,
wird erhöht werden." Hin ab st eigen ist der Weg, um
erhöht zu werden. Das ist die Lehre Christi, die einst
von Seinen Lippen floß und in Seinem Leben hienieden
ihre praktische Darstellung fand. „Und als Jesus ein
Kindlein herzugerufen hatte, stellte Er eS in ihre Mitte
und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret
und werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht
in das Reich der Himmel eingeheu. Darum, wer irgend
sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kindlein, dieser ist
der Größte im Reiche der Himmel." (Matth. 18, 2 — 4.)
Das ist, wie gesagt, die Lehre Christi, die Lehre des
Himmels. Wie verschieden ist sie von aledem, was uns
auf diesem Schauplatz der Selbstsucht und der Selbsterhebung
umgiebt!
In Johannes dem Täufer entdeckt das geistliche
111
Auge das schöne Beispiel eines Mannes, der in hohem
Maße von sich selbst ausgeleert war. Als die Juden
von Jerusalem Priester und Leviten zu ihm sandten mit
der Frage: „Wer bist du? was sagst du von dir selbst?"
antwortete er: „Ich bin eine Stimme". Wahrlich, ernährn
den ihm gebührenden Platz ein. „Eine Stimme"
hat nicht viel Ursache sich zu rühmen. Er sagte nicht:
„Ich bin ein Rufender in der Wüste". Nein, er war
nur „die Stimme" eines solchen. Er verlangte nicht
danach, mehr zu sein. Er kannte, wie es scheint, keinen
Ehrgeiz. Er war von sich selbst ausgeleert. Und was
war das Resultat? Er fand seinen einzigen, alles andere
verdrängenden Gegenstand in Christo. „Des folgenden
Tages stand wiederum Johannes und zwei von seinen
Jüngern, und hinblickend auf Jesum, der da wandelte,
spricht er: Siehe, das Lamm Gottes!" Was war alles
dieses anders als die Fülle Gottes, die da auf ein leeres
Gefäß wartete? Johannes war nichts, Christus war
alles; und wir dürfen versichert sein, daß kein unzufriedenes
Wort über seine Lippen kam, als seine Jünger
ihn verließen und Jesu nachfolgten. In einem Herzen,
das von sich selbst ausgeleert ist, giebt es keinen Neid.
Wer gelernt hat, seinen wahren Platz einzunehmen, ist
nicht empfindlich oder eifersüchtig. Hätte Johannes seine
eignen Interessen gesucht, so würde er wohl in Klagen
ausgebrochen sein, als seine Jünger ihn verließen. Aber,
mein Leser, wenn jemand seinen völlig befriedigenden
Gegenstand in „dem Lamme Gottes" gefunden hat, so
liegt ihm nicht viel daran, einige Jünger zu verlieren,
wenn sie nur Jesu nachfolgen.
Im 3. Kapitel des Evangeliums Johannes finden
wir ein weiteres schönes Beispiel von der Selbstlosigkeit
des Täufers. „Und sie kamen zu Johannes und sprachen
zu ihm: Rabbi, der jenseit des Jordan bei dir war, dem
du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen
zu Ihm." Diese Mitteilung war in der That geeignet,
den Neid und die Eifersucht des armen menschlichen
112
Herzens wachzurufen. Aber hören wir die Antwort, die
wahrhaft edle Antwort des Johannes: „Ein Mensch kann
nichts empfangen, es sei ihm denn aus dem Himmel
gegeben... Er muß wachsen, ich aber abnehmen. Der
von oben kommt, ist über allen; der von der
Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde. Der
vom Himmel kommt, ist über allen." Wahrlich,
ein kostbares Zeugnis! Ein Zeugnis von seinem eignen
völligen Nichts und von der Fülle, Herrlichkeit und unvergleichlichen
Vortrefflichkeit Christi! Eine Stimme war
nichts; Christus war erhaben über allen.
O gebe uns der Herr ein Herz, das von sich selbst
ausgeleert und befreit ist von aller Sucht nach eigner Ehre
und eignem Ruhm! Möchten wir mehr los sein von dem
Ich mit allen seinen verächtlichen Windungen und Drehungen!
Dann könnte der Herr uns mehr gebrauchen,
uns mehr anerkennen und segnen. Lauschen wir auf Sein
Zeugnis über Johannes, über den, der selbst von sich
sagte, daß er nichts als eine Stimme sei: „Wahrlich, ich
sage euch, unter den von Weibern Geborenen ist kein
Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer." (Matth.
11, 11.) Wie viel besser ist es, so etwas aus dem Munde
des Meisters zu hören, als aus dem Munde des Knechtes!
Johannes sagte: „Ich bin eine Stimme." Christus sagte,
er sei der größte der Propheten. Simon, der Magier,
„sagte von sich selbst, daß er etwas Großes sei". Das
ist die Weise der Welt, die Weise des Menschen. Johannes
der Täufer, der größte Prophet, gab sich selbst für nichts
aus und sagte, daß Christus „über allen" sei. Welch
ein Gegensatz!
Möchten wir daher klein und demütig sein, geliebter
christlicher Leser, ausgeleert von uns selbst, damit wir
beständig mit Christo gefüllt seien! Das giebt wahre
Ruhe, ist wahre Segnung. Möchte die Sprache unsrer
Herzen und der Ausdruck unsers Lebens stets sein:
Siehe, das Lamm Gottes!"
Der Weg des Glaubens in einer bösen Zeit.
Ein Wort der Warnung und Ermunterung.
„Ihr, was ihr von Anfang gehört habt, bleibe
in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang
gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohne und
in dem Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.)
Gott hat gesprochen;
wir besitzen Sein Wort und
sind berufen, das Zeugnis Gottes in einfältigem Glauben
aufzunehmen. Ueber die Dinge Gottes zu klügeln und
zu philosophieren, ist nicht Glaube, sondern Unglaube.
Der Glaube kennt keine andere geschriebene Autorität als
das Wort Gottes, und er ruht mit vollem Vertrauen,
ohne zu zweifeln, auf dem, was Gott sagt.
Die Schriften sind völlig und für alles genügend.
Sie vermögen den Menschen Gottes zu jedem guten
Werke geschickt zu machen; und indem der Heilige Geist
in dem Gläubigen wohnt und wirkt, ist dieser fähig, durch
all die Verwirrung des Christentums hindurch seinen Weg
in Frieden zu pilgern.
Die endgültige und entscheidende Autorität des geschriebenen
Wortes für jeden Abschnitt der Geschichte der
Kirche hienieden wird wieder und wieder in den Schriften
der Apostel betont. Paulus legt in seinem letzten inspirierten
Briefe, den er angesichts seines nahen Märtyrer
114
todes schrieb, seinem Kinde Timotheus mit eindringlichen
Worten die Autorität und Allgenugsamkeit „aller Schrift"
ans Herz. Petrus spricht, wenn er die verhängnisvolle
Wirksamkeit des Bösen in der bekennenden Kirche verfolgt,
von dem Beginn des Gerichts am Hause Gottes und
fordert uns auf, vor „falschen Lehrern" auf der Hut zu
sein und zu „gedenken der von den heiligen Propheten
zuvor gesprochenen Worte und des Gebotes des Herrn
und Heilandes durch die Apostel". Judas, der die Geschichte
der bekennenden Kirche bis zu ihrem Abfall hin
verfolgt, ermahnt uns ebenfalls, „für den einmal den
Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen"; während
Johannes es als ein Kennzeichen der Treuen hinstellt,
daß sie Sein „Wort" bewahren und Seinen „Namen"
nicht verleugnen. (Offbg. 3.)
Ohne das Wort Gottes kann es keinen Glauben
geben, und „ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen".
Die verschiedenen Zustände der Kirche auf
der Erde sind in den Heiligen Schriften zum voraus
dargeftellt worden; der Heilige Geist hat Vorsorge für sie
getroffen, und Er bleibt bei uns und ist in nns. Wir
besitzen daher eine unfehlbare Leitung und Kraft bis zu
dem Augenblick, da der „gebietende Zuruf" bei der Ankunft
des Herrn ertönen wird und wir zu Ihm ausgenommen
werden, um für allezeit bei Ihm zu sein.
Absonderung vom Bösen.
In der ganzen Heiligen Schrift wird das Volk Gottes
aufgefordert, von dem Bösen abzustehen und zur Ehre
Gottes zu leben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil
es Sein Volk ist. Vor alters hieß es: „Deinem Hause
115
geziemt Heiligkeit, Jehova, auf Länge der Tage"; und
sehr oft lesen wir: „und du sollst das Böse hinwegschaffen
aus deiner Mitte". Im Neuen Testament heißt es: „Seid
heilig"; „seid Nachahmer Gottes als geliebte Kinder";
„jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von
der Ungerechtigkeit" u. s. w., — weil Unser Verhältnis zu
Gott keinen niedrigeren Wandel zuläßt. Wir finden, daß
selbst die Heiden wegen ihrer sündigen Wege zuweilen
ernstlich gestraft wurden, da sie aus den sichtbaren Dingen
etwas von dem unsichtbaren Gott, der sie erschaffen, hätten
erkennen sollen. Als jedoch unser Herr und Heiland auf
diese Erde kam, der Gott war, geoffenbart im Fleische,
und der den Vater kundmachte, hören wir Ihn sagen,
„daß von jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen
reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden
am Tage des Gerichts." Und der Tod des Sohnes
Gottes auf dem Fluchholze als unser Sündenträger offenbarte
nicht nur die Gnade und Gerechtigkeit Gottes, sondern
auch Seine unbegrenzte Heiligkeit, Seinen Haß gegen
die Sünde und Sein schonungsloses Gericht derselben,
indem Er Seinen eignen Sohn verließ, der doch vollkommen
würdig war, geliebt zu werden, und der auch
unendlich von Ihm geliebt wurde. Seitdem wird von
uns, als den teuren Kindern Gottes, ein Leben und ein
Wandel erwartet, die dem Vater und dem Sohne, mit
denen wir durch die Gnade in ewige Beziehungen gebracht
find, entsprechen. Keinerlei Böses kann daher gestattet
werden. Dennoch zeigen uns die späteren Schriften der
Apostel, wie wenige in der Wahrheit blieben. Die Apostel
sahen voraus, daß eine Zeit kommen würde, in welcher
man „die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern . . . die
116
Ohren von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln
sich hinwenden" würde (2. Tim. 4); und ferner, daß um
der Bekenner des Christentums willen „der Weg der
Wahrheit verlästert werden" würde. (2. Petr. 2.) Wir
dürfen nie vergeßen, daß Er, der inmitten der Versammlung
ist, alles sieht — denn „Seine Augen sind wie eine
Feuerflamme", und daß eS Ihm zugleich zusteht, alles
Böse zu richten — denn „Seine Füße sind gleich glänzendem
Kupfer, als glühten sie im Ofen". Seine Worte:
„Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht
gerichtet", sind für viele ein Trost gewesen; andrerseits
aber heißt es auch: „Wenn wir gerichtet werden, so
werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit
der Welt verurteilt werden". (Vergl. 1. Kor. 11.) Etwas
Böses in einer anderen, milderen Form darstellen heißt
sicherlich nicht, es richten; und ein wahres Selbstgericht
geht weit tiefer als das.
Nichts ist wohl klarer in der Heiligen Schrift ausgesprochen,
als daß Gott von Seinem Volke Heiligkeit
erwartet, sowohl persönliche Heiligkeit als auch Heiligkeit
(oder Absonderung von dem Bösen) in der Versammlung.
WaS die erstere Seite der Heiligkeit betrifft, so sind wir
berufen, uns von jeder Art des Bösen fern zu halten,
es zu hassen, zu wandeln als Kinder Gottes, als Glieder
des Leibes Christi und als solche, in denen der Heilige
Geist wohnt. Wir sind durch die Gnade in diese kostbaren
Beziehungen gebracht, und es ist offenbar, daß das
Bewußtsein dieser Beziehungen uns Pflichten auferlegt.
Was die Versammlung anlangt, so lesen wir, daß
„wir mitaufgebaut werden zu einer Behausung Gottes
im Geiste". Deshalb heißt es auch: „Thut den Bösen
117
von euch selbst hinaus"; „feget den alten Sauerteig aus-
auf daß ihr eine neue Masse sein möget" u. s. w. In
Josuas Zeiten wollte Gott nicht auf feiten Seines Volkes
stehen, um ihm den Sieg über seine Feinde zu geben,
sondern Er erlaubte den Feinden, Israel zu besiegen.
Und warum? Weil ein Mann in der Gemeinde gesündigt
und das Volk es unterlassen hatte, diese Sünde zu
richten und sich von ihr zu reinigen. (Jos. 7.)
Als jedoch die Versammlung aus der Erde, durch
Untreue gegen den Herrn, einem großen Hause gleich
wurde, in welchem Gefäße zur Unehre mit solchen zur
Ehre vermischt waren, so daß das Böse nicht mehr hinausgethan
werden konnte, ermahnte der Geist Gottes
die Treuen, sich persönlich von dem Bösen zu reinigen,
indem sie sich von den Gefäßen zur Unehre
trennten. Dies ist in einer Zeit des Verfalls so völlig
nach den Gedanken des Herrn, daß dem Gläubigen, der
in dieser Weise seine Treue gegen den Herrn beweist,
große Ermunterung zu teil wird. „Wenn sich nun jemand
von diesen (d. h. von den Gefäßen zur Unehre)
reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt,
nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereitet."
(2. Tim. 2, 21.) So tief gefallen, so verderbt und verunreinigt
die bekennende Kirche auch sein mag, wir finden
hier die klarste Anweisung, uns von dem Bösen abzusondern,
und zwar verbunden mit der kostbaren Versicherung des
Wohlgefallens Gottes, so daß wir uns wohl in dem
Herrn, unserm Gott, stärken und ermuntern können.
Daß es daher höchst thöricht und verkehrt ist, von einer
Einheit unter den Kindern Gottes zu reden ohne Absonderung
von dem Bösen, braucht kaum noch gesagt zu wer
118
den. Selbst eine Frau wurde von einem Apostel gewarnt,
einen Lehrer, der nicht die Lehre Christi brächte, nicht in
ihr Haus aufzunehmen, ja, ihn nicht einmal zu grüßen,
da sie sich dadurch seiner bösen Werke teilhaftig machen
würde. (2. Joh. 9—11.)
Neben diesen göttlichen Belehrungen über den in Rede
stehenden Gegenstand unterscheidet die Schrift auch zwischen
sittlich Bösem und Bösem betreffs der Lehre;
und damit wir von dem letzteren nicht gering denken oder
gar es oberflächlich behandeln möchten, wird es sehr oft im
Worte Gottes in der bestimmtesten und schonungslosesten
Weise behandelt. Das natürliche Gewissen schreckt vielleicht
vor sittlich Bösem zurück, aber um etwas BöseS
betreffs der Lehre erkennen und zurückweisen zu können,
müssen wir geistlich sein; denn solches Böse richtet sich stets
in der einen oder andern Form gegen den Herrn Jesum,
der „die Wahrheit" ist. Allerdings erlaubt die Schrift
nicht, daß irgend ein Flecken von moralischer Sünde
geduldet werde, weil „der Heilige und der Wahrhaftige"
in unsrer Mitte ist. Der Betrug des Anamas und der
Sapphira war eine Sünde zum Tode. Der Hurer in
Korinth mußte „hinausgethan" werden; und der Apostel,
der sich im Geiste mit der Handlung der Versammlung
einsmachte, überlieferte „einen solchen dem Satan zum
Verderben des Fleisches, auf daß der Geist errettet werde
am Tage des Herrn Jesu". Die Gläubigen durften keine
Gemeinschaft machen mit einem Manne, der Bruder genannt
wurde und in sittlicher Hinsicht in der Sünde wandelte.
(1. Kor. 5.)
Wenn indes Böses in der Lehre uns entgegentritt,
so ist es oft so mit Wahrheit vermischt, tritt so anmaßend
119
auf und wird so gelobt oder von angesehenen Männern
so warm empfohlen und verteidigt, daß es einer Seele
bedarf, die in Abhängigkeit von dem Herrn und unter
der Leitung Seines Geistes Sein Wort erforscht, um das
Böse zu entdecken und zu richten. Böse Lehre wird nicht
entdeckt durch die Kräfte unsrer Vernunft (welche die
falsche Lehre stets auf ihrer Seite hat), sondern nur auf
dem Wege, den wir eben bezeichnet haben; und obwohl
der verderbliche Charakter der bösen Lehre im ersten Augenblick
vielleicht nicht in seiner ganzen Tragweite entdeckt
werden mag, so weist eine gottesfürchtige Seele sie doch
zurück, weil sie nicht ist, „wie geschrieben steht" —
„nicht nach Christo". (Kol. 2, 8.)
In den Tagen der Apostel wurden diejenigen, welche
an ungesunder Lehre festhielten, in der entschiedensten
Weise behandelt. Bei einer Gelegenheit entdeckte Paulus,
daß zwei Lehrer etwas „sagten", was wider die Wahrheit
war. Manchen mochte es vielleicht als eine geringfügige
Sache erscheinen, daß jene „sagten, die Auferstehung sei
schon geschehen"; aber nach.dem Urteil des Apostels war
es durchaus nicht geringfügig, denn er wußte, daß „ihr
Wort um sich fressen würde wie ein Krebs". So unrein
und verderblich war jene böse Lehre, daß wir lesen:
„Die von der Wahrheit abgeirrt sind, indem sie sagen,
(beachten wir, daß der Apostel sich mit dem beschäftigt,
was sie sagten,) daß die Auferstehung schon geschehen sei,
und den Glauben etlicher umkehren". (2. Tim. 2, 15—18.)
In dem ersten Briefe an Timotheus sagt uns der Apostel,
daß Hymenäus und Alexander „ein gutes Gewissen
von sich gestoßen und so, was den Glauben betrifft,
Schiffbruch gelitten hätten," und fügt dann hinzu: „die
120
ich dem Satan überliefert habe, auf daß sie durch Zucht
unterwiesen würden, nicht zu lästern". Wir sehen also,
daß Paulus sie als Lästerer beurteilte. (1. Tim. 1, 19. 20.)
Wenn ferner gewisse Lehrer die kostbare Lehre von
der Rechtfertigung aus Glauben untergruben, indem sie
ihr die Beschneidung hinzufügten, ruft der Apostel in heiliger
Entrüstung: „Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten,
die euch aufwiegeln"! oder an einer andern Stelle:
„ES sind etliche, die euch verwirren und das Evangelium
des Christus verkehren wollen. Aber wenn auch wir oder
ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium
verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium
verkündigt haben, der sei verflucht!" (Gal. 1, 7. 8; 5, 12.)
Einen weiteren Beweis dafür, wie eifersüchtig „die
Wahrheit" in der Zeit der Apostel bewacht wurde, finden
wir in Gal. 2, 11—21. Als die Lehre von der Rechtfertigung
„aus Glauben ohne Gesetzeswerke" durch keine
geringere Persönlichkeit, als der Apostel Petrus war, in Gefahr
gebracht wurde, erzählt uns die Schrift, daß Paulus
ihm ins Angesicht widerstand,, weil er dem Urteil verfallen
war; und Petrus nahm ohne Zweifel den Tadel an und
bereute seine That. Beachten wir, daß diese That des
Petrus darin bestand, daß er sich weigerte, mit den Gläubigen
aus den Nationen zu essen, indem er so den Unterschied
zwischen Juden und Heiden wieder einführte, nachdem
das Kreuz beide als gleich schuldig erwiesen hatte,
und die Zwischenwand der Umzäunung wieder aufbaute,
die doch durch den Tod Christi abgebrochen worden war;
und diese That untergrub die Wahrheit des Evangeliums.
Wir sehen daraus, wie leicht es möglich ist, daß wir,
obwohl wir gesund in der Lehre sind, sie doch durch
121
unsre Thaten untergraben können. Andrerseits ist es
schön zu sehen, wie Petrus nachher Paulus andern empfiehlt
als „unsern geliebten Bruder Paulus", und wie er die
Schriften des Apostels mit „den übrigen Schriften" auf
gleichen Boden stellt. (2. Petr. 3, 15. 16.) Ein solcher
Beweis der christlichen Liebe redet laut zu uns und giebt
uns eine beherzigenswerte Unterweisung.
Der vorliegende Gegenstand gewinnt an ernster Bedeutung,
wenn wir in der Schrift den vielen Warnungen
vor böser Lehre begegnen und die schrecklichen Wirkungen
derselben sehen, wie sie der Heilige Geist durch Paulus,
Petrus, Johannes und Judas hat aufzeichnen lassen;
wenn wir ferner der ernsten Kämpfe gedenken, durch welche
die Apostel gingen, weil sie sich Christo gegenüber für
schuldig hielten, „den guten Kampf des Glaubens zu
kämpfen", oder wie Judas sagt, „für den einmal den
Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen". Es ist
offenbar, mit welcher Entschiedenheit Paulus handelte,
damit die Wahrheit des Evangeliums bei uns verbliebe,
welch großen Kampf er hatte, wie besorgt er war
angesichts seines Märtyrertodes, daß Timotheus die
Wahrheit, die er gehört hatte, treuen Männern anvertrauen
möchte, die auch fähig wären, andere zu lehren.
Mit welch einem Ernst befahl er ferner die Gläubigen
„Gott und dem Worte Seiner Gnade", da er
wußte, daß nach seinem Abschiede verderbliche Wölfe zu
ihnen hereinkommen würden, die der Herde nicht schonen
würden; ja, aus ihrer eignen Mitte würden, wie er sagt,
Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die
Jünger abzuziehen hinter sich her. (Gal. 2, 5; 2. Tim.
2, 2; Apstgsch. 20, 29. 30.) Petrus warnt uns vor
— 122 —
„falschen Lehrern" unter uns, deren bösen Wegen viele
nachfolgen würden, um welcher willen der Weg der Wahrheit
verlästert werden würde. (2. Petr. 2, 1. 2.) Johannes
mahnt uns, auf unsrer Hut zu sein vor den „vielen
falschen Propheten", indem der Geist des Antichrists schon
in der Welt sei; unter andern Kennzeichen nennt er besonders
dieses: daß die treuen Knechte Gottes den wahren
Christus vor ihren Augen haben und den Worten
des Apostels unterworfen sein würden. (1. Joh. 4, 1 — 6.)
Auch finden wir in der Offenbarung, daß der Herr die
Versammlung in Pergamus beschuldigt, einige in ihrer
Mitte zu haben, welche an Lehren festhielten, die Ihm
verhaßt waren. (Offbg. 2, 15.) Judas bezeichnet drei
Richtungen der falschen Lehre, aus welchen die Grundsätze,
die den Abfall herbeiführen, gewoben sind. Zunächst hören
wir von dem „Wege Kains", d. h. einem Nahen zu Gott
ohne Blut; dann von dem „Irrtum Balaams", der den
Lohn der Ungerechtigkeit liebte, anstatt Gott durch eine
völlige Unterwürfigkeit unter Ihn zu ehren und Sein
Volk zu lieben; und drittens von dem „Widerspruch Ko-
rahs", oder dem Ausrichten eines falschen Priestertums.
Es ist offenbar, daß diese verschiedenen Arten von böser
Lehre auch heute noch allerwärts wirksam sind und in
dem Gericht Gottes über die bekennende Kirche enden
werden. Es ist thatsächlich unmöglich, die Briefe der
Apostel sorgfältig und in Abhängigkeit von dem Geiste
Gottes zu lesen, ohne jenen einen großen Gegenstand zu
bemerken, der vor der Seele der Treuen jener ersten
Tage der Christenheit stand, nämlich: um jeden Preis
„die Wahrheit" aufrecht zu erhalten, in ihr zu wandeln
und für sie zu kämpfen.
123
So verhaßt dem Herrn, der in der Mitte der zu
Seinem Namen hin Versammelten weilt, unsittliche
Dinge sein mögen, so könnte doch auch nichts entschiedener
sein als die Art und Weise, wie böse Lehre in dem
frühesten Abschnitt der Geschichte der Kirche behandelt
und gerichtet wurde. Wie könnte es auch anders sein,
wenn wir daran gedenken, daß wir „mitaufgebaut werden
zu einer Behausung Gottes im Geiste"? Haben
wir ein wahres Gefühl davon, was die Versammlung
Gottes ist, daß Er, „der Heilige und Wahrhaftige", in
der Mitte ist, wenn wir in Seinem Namen versammelt
sind; daß wir geheiligt sind durch den Willen des Vaters,
durch das Werk des Geistes und durch das Blut Jesu
zum Gehorsam Jesu Christi, ja, praktisch geheiligt durch die
Wahrheit — dann werden wir auch in etwa ein Gefühl
davon haben, was sich dem Herrn gegenüber geziemt und
was wir Ihm schuldig sind. Auch ist es gut, uns stets
daran zu erinnern, daß wir sowohl bezüglich der Lehre als
auch hinsichtlich des praktischen Wandels die ernste
Warnung vernehmen: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert
den ganzen Teig." (Gal. 5, 9; 1. Kor. 5, 6.) Je
mehr wir die Briefe erforschen, desto mehr werden wir
unsre göttliche Verpflichtung erkennen, die „gesunde Lehre"
aufrecht zu erhalten. Der Herr gebe uns allen in diesen
„schweren Zeiten" Treue und Entschiedenheit, um bei der
Wahrheit zu beharren und nicht um eines Haares Breite
nach rechts oder links von ihr abzuweichen! Hüten wir
uns, daß wir nicht durch die Irrtümer, die auch in unsern
Tagen in so mancherlei Formen austreten, mit fortgerissen
werden und aus unsrer eignen Festigkeit fallen! (Vergl.
2. Petr. 3, 17.)
— 124 —
Die Seligpreisungen. (Matthä 5, 1—12.)
1 (Fortsetzung.)
„Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen
wird Barmherzigkeit widerfahren."
Wir kommen jetzt zu dem, wie wir es nennen möchten,
zweiten Abschnitt der Seligpreisungen. Diese sind
offenbar in vier und drei eingeteilt — eine Einteilung,
die in der Schrift nicht ungewöhnlich ist. Die ersten vier
tragen den Charakter der Gerechtigkeit, d. h. sie kennzeichnen
sich durch das, was wir Gott schuldig sind, was
Ihm gebührt; während die letzten drei durch Gnade charakterisiert
sind, oder durch die verschiedenen Arten 8er Thätigkeit
der Gnade anderen gegenüber. Die Einteilung in
diese beiden Klassen ist sehr schön und belehrend. Sie
ist ohne Zweifel göttlich und deshalb unsrer eingehenden
Betrachtung würdig. Wenn der Sünder zum ersten Male
aufwacht und, in die Gegenwart Gottes gebracht, seinen
wahren Zustand erblickt und die Eitelkeit alles dessen,
waS der Mensch ist, kennen lernt, so ist ein Zusammenbrechen
und eine tiefe Demütigung seinerseits unausbleiblich.
Er stellt sich auf die Seite Gottes, rechtfertigt Gott
und verurteilt sich. Die Buße ist aufrichtig; er ist zufrieden
damit, nichts zu sein. So sehen wir denn, daß
die erste Segnung Armut des Geistes ist, und daß sie
die Seele in die andern Segnungen einführt. Doch wenden
wir uns jetzt zu der ersten der letzten drei Seligpreisungen.
„Glückselig die Barmherzigen!" In dem ganzen
reichen Schatze unsrer Sprache giebt es kein Wort, das
einen lieblicheren Klang hätte als das Wort „Barm
125
Herzigkeit"; und kein anderes vermöchte den Charakter
Gottes in einer vollständigeren Weise vor unsre Seelen
hinzustellen als dieses. Es führt uns zu unsrer tiefsten
Freude und reichsten Segnung: zu dem Verweilen bei
dem Charakter Gottes, zu dem Sinnen über das, was
Er ist. Er ist „der Vater der Erbarmungen". Barmherzigkeit
ist nicht nur eine Hülfsquelle Gottes, aus
welcher Er schöpft; nein, Gott ist die Quelle der Barmherzigkeit,
„der Vater der Erbarmungen". Er ist der
Born, aus welchem alle die Bächlein der Güte und Freundlichkeit,
des Mitgefühls und der erbarmenden Liebe entspringen,
die in zeitlicher wie geistlicher Beziehung diese
Welt des Elends durchströmen. Und diese Güte und
Barmherzigkeit des Herrn ist, gepriesen sei Sein Name!
von Ewigkeit her und währt bis in Ewigkeit; sie ist
ohne Anfang, ohne Ende. Sie war, ehe die Zeit begann,
und sie wird fortdauern, wenn die Zeit nicht mehr ist.
„Die Güte Jehovas ist von Ewigkeit zu Ewigkeit über
die, welche Ihn fürchten." (Ps. 103, 17.) In der
Zwischenzeit aber, zwischen der Vergangenheit und Zukunft,
fließt die Güte und Barmherzigkeit Gottes durch diese
Welt der Sünde wie ein mächtiger Strom dahin und verbindet
gleichsam die Ufer des Ozeans der Ewigkeit. Seine
Barmherzigkeit kennt keine Unterbrechung; sie bildet die
Grundlage Seiner Thätigkeit, ja, Seines Seins in dieser
Welt. Denn „Seiner Erbarmungen sind viele" — „Seine
Erbarmungen sind nicht zu Ende", und „Seine Güte währet
ewiglich." (Ps. 119, 156; Klage!. 3,22; Ps. 106, 1.) Wer
könnte den Segen und die Kostbarkeit einer solchen Wahrheit
aussprechen auf einem Schauplatz der Sünde und
des Schmerzes, wie diese Welt ist! Ja, wenn nicht der
126
Strom Seiner Erbarmungen sich unaufhörlich ergösse, so
würde diese Welt nur jenem Orte gleichen, wo alle Barmherzigkeit
für immer ein Ende hat und Er ewiglich keine
Gunst mehr erzeigt. Ist einmal das Ohr der Barmherzigkeit
verschlossen und der Arm der Barmherzigkeit abgewandt,
so bleibt nichts anderes übrig als wilde, bittere
Verzweiflung. Jetzt aber hat Gott Seine Wonne daran,
barmherzig zu sein, und Er will sich an Güte und
Barmherzigkeit erfreuen.
„Denn Er sagt zu Mose: Ich werde (oder „ich will")
begnadigen, wen ich begnadige, und mich erbarmen, wessen
ich mich erbarme." (Röm. 9, 15.) Gott allein kann
sagen: „Ich werde" oder „ich will";" Er allein hat
ein Recht, so zu reden. Kein Geschöpf kann sagen: „ich
will", nur Gott; aber Seine „ich will" bedeuten Gnade
und Barmherzigkeit und sind alle unser in Christo Jesu
für immer und ewig. Satan mag dies abzuleugnen
suchen, und das arme menschliche Herz es bezweifeln;
aber das Wort des Herrn steht fest und unerschütterlich,
es kann nicht gebrochen werden. „Die Gütigkeiten
Jehovas will ich besingen ewiglich", sagt der Psalmist,
„denn ich sagte: Auf ewig wird die Güte gebaut
werden." (Ps. 89, 1. 2.)
Aber, möchte jemand fragen, ist diese Güte, diese
reiche, zärtliche, ewige Barmherzigkeit Gottes frei und
umsonst da für alle, die nach ihr verlangen, für alle, die
um Erbarmen zu Gott rufen? Sicher und gewiß! Ist
niemand von denen, die heute von dieser Barmherzigkeit
hören, ausgeschlossen? Nein; nur diejenigen, welche
sich selbst ausschließen. Die Thür der Gnade steht
weit offen, das Ohr der Barmherzigkeit wartet auf den
127
Ruf nach Erbarmen, und schneller, weit schneller als der
elektrische Funke läuft, ist die Antwort des Himmels auf
den Notschrei des Sünders da. Nehmen wir ein wohlbekanntes
Beispiel und erinnern wir uns dabei daran, daß
Jesus derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit.
Als der arme, blinde Bettler (Luk. 18) die Kunde
vernahm, „daß Jesus, der Nazaräer, vorübergehe, rief er
und sprach: Jesu, Sohn Davids, erbarme Dich meiner!"
Wie lautete die Antwort des Herrn? Hätte Er sagen
ckönnen: Ich habe kein Erbarmen für dich? Unmöglich!
Das würde mit einer Verleugnung des Charakters Gottes
und der ganzen Wahrheit der Bibel gleichbedeutend gewesen
sein. Die reiche Fülle des göttlichen Erbarmens
war das Teil des Bettlers von dem Augenblick an, da
er der Not seines Herzens Ausdruck gab. Die glaubenslose
Volksmenge mochte den blinden Mann tadeln und
ihn zum Schweigen zu bringen suchen, nicht aber Jesus.
Sobald der Ruf um Erbarmen Sein Ohr erreichte, blieb
Er stehen; auch der ganze große Zug blieb stehen, ja,
wenn es notwendig gewesen wäre, würden die Sphären
des Weltalls still gestellt worden sein. Alles muß diesem
Dienst der Barmherzigkeit Raum machen. „Jesus aber
stand still und hieß ihn zu sich führen. Als er aber sich
näherte, fragte Er ihn und sprach: Was willst du, daß
ich dir thun soll? Er aber sprach: Herr, daß ich sehend
werde! Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! dein
Glaube hat dich geheilt." Wahrlich, das ist Barmherzigkeit,
voll und frei; und diese Barmherzigkeit ist da für
alle, keiner ist ausgeschlossen; „denn jeder, der irgend
den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden."
Und diese Dinge sind geschrieben, mein Leser, auf
128
daß du glauben möchtest. Derselbe Schrei wird auch heute
noch dieselbe Segnung herbeiführen.
Zugleich kannst du, wenn du ein Gläubiger bist,
hier lernen, wie du Barmherzigkeit üben sollst. Gieb
deine Almosen den Armen nicht so, wie du einem Hunde
einen Knochen hinwirfst. Mit welch einer Gnade wendet
sich der Herr zu dem armen Manne! Er thut so, als
wenn Er sein Diener wäre. „Was willst du, daß ich
dir thun soll?" Weit davon entfernt, einen Platz sichtlicher
Ueberlegenheit einzunehmen und in dem Armen das
Gefühl zu wecken, daß er weit unter Ihm, weit von Ihm
entfernt stehe, läßt Er ihn vielmehr wissen und fühlen,,
daß Er in Gnade und Liebe sich mit ihm beschäftigte,
und fesselt so das Herz des Hülflosen ganz und gar an
Seine gesegnete Person. Der Christ soll nicht nur barmherzig,
sehr barmherzig und allezeit barmherzig sein, sondern
Er muß auch lernen, nach der Weise seines Herrn
und Meisters Barmherzigkeit zu üben. Die Weise der
Welt ist, als „Gönner" der Armen aufzutreten und als
„Wohlthäter" zu gelten; und viele opfern große Summen
für diesen Zweck. Ganz anders aber ist es mit denen,
auf welche der Herr Seine Hand legt und sie Glückselige
nennt. „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird
Barmherzigkeit widerfahren."
Möchten wir deshalb aus der obigen Erzählung
nicht nur die Freiheit der göttlichen Gnade kennen lernen,
sondern auch die Art und Weise, wie sie sich offenbart.
Wer zu Gott ruft um Gnade und Erbarmen — mag er
auch körperlich, sittlich und geistlich arm und blind, ja,
das schwächste und verkommenste Glied der menschlichen
Gesellschaft sein — wird eine unmittelbare Antwort von
129
Dem empfangen, der „reich an Barmherzigkeit" ist. Gott
hat noch niemals auf den Notschrei eines demütigen,
zerschlagenen Herzens geantwortet: „Ich habe kein Erbarmen
für dich"; und Er kann und wird es nie thun.
Einem jeden, der seine Not fühlt und zu Gott ausblickt
um Hülfe und Rettung, ist das Erbarmen Gottes gewiß.
Es giebt nichts in dem Herzen oder in den Umständen
eines Sünders, das den reichen Ausfluß des göttlichen
Gnadenguelles hindern könnte, wenn der Sünder sich nur
in Demut und Abhängigkeit von Jesu zu Seinen Füßen
niederwirft. Andrerseits aber giebt es auch keine Möglichkeit
der Errettung, außer durch die Barmherzigkeit Gottes
in Christo Jesu, Seinem hochgelobten Sohne.
Nachdem wir so in allgemeiner Weise von der Natur
der Barmherzigkeit gesprochen haben, wird es gut sein,
ihren wahren Charakter noch etwas näher zu bezeichnen
und bei der Frage zu verweilen, wie sie von allen denen,
welche Erbarmen seitens des Herrn gefunden haben,
geübt werden sollte.
Inwiefern, könnte da zunächst gefragt werden, unterscheidet
sich Barmherzigkeit von Gnade? Offenbar bedeuten
die beiden Worte nicht dasselbe, obwohl sie sich bezüglich
ihres Sinnes sehr nahe kommen mögen. Sie werden
in der Schrift sorgfältig unterschieden, und wir werden
diesen Unterschied am besten aus dem Gebrauch erkennen,
den der Geist Gottes von ihnen macht.
Beide Worte bezeichnen hervorstechende Charakterzüge
Gottes, wie wir dies sehen, wenn Gott Seinen Charakter
vor Mose enthüllt: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig
und gnädig." (2. Mose 34, 6.) Er ist barmherzig, um
zu vergeben, und gnädig, um in jeder Zeit der Not zu
130
helfen. Auch durch die apostolischen Schreiber wird der
Unterschied der beiden Worte in ganz bestimmter Weise
sestgehalten. Wenn sie sich in ihren Briefen an eine
Versammlung wenden, so wünschen sie dieser „Gnade und
Friede"; wenn sie aber an einzelne Gläubige schreiben,
so sagen sie: „Gnade, Barmherzigkeit und Friede".
Der Grund Zu diesem bedeutungsvollen Wechsel kennzeichnet
nicht nur den wesentlichen Unterschied, der zwischen
den beiden Worten besteht, sondern offenbart auch die
besondere Stellung der Kirche oder Versammlung. Sie
wird betrachtet als auferweckt mit Christo und an denselben
Platz des Vorrechts, der Segnung und der Annahme
versetzt wie Er. Daher wird nie das Wort „Barmherzigkeit"
gebraucht, wenn sie in diesem Verhältnis angeredet
wird. Unser hochgelobter Herr war, obwohl Er
als der demütige Sohn des Menschen durch diese Welt
wandelte, niemals ein Gegenstand der Barmherzigkeit
und konnte es nicht sein; aber „Gottes Gnade war auf
Ihm", und die reichsten Gaben des Himmels umringten
den Pfad des Vollkommnen. Die Kirche wird jetzt als
eins mit Ihm betrachtet. „Denn gleichwie der Leib einer
ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber,
obgleich viele, ein Leib sind: also auch der Christus."
(1. Kor. 12, 12.) Die Schlußworte dieses Verses
sind wahrhaft beachtenswert: „also auch der Christus".
Sie zeigen die vollkommne Einheit Christi und der Kirche.
Aber weshalb sagt der Apostel nicht: „also auch die Versammlung"
? Er spricht doch von her Versammlung und
nicht von Christo! Warum verletzt er alle gewöhnlichen
Sprachregeln und sagt: „also auch der Christus"? Weil
der ganze Leib, Haupt und Glieder, hier als „ein Leib"
131
betrachtet werden, an denselben Platz des Vorrechts und
der Segnung versetzt. Wahrlich, das sollte dem Herzen
ewige, vollkommne Ruhe geben und alle Fragen bezüglich
des himmlischen Charakters und der himmlischen Beziehungen
der Kirche beantworten. Der Herr gebe, daß
es so sei bei dem Schreiber und dem Leser dieser Zeilen!
Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. —
Einzelne Christen werden andrerseits als Menschen betrachtet,
die noch in diesem Leibe und daher mit Schwachheiten
umgeben sind, die durch Uebungen und Kämpfe
gehen und beständig der Barmherzigkeit (selbstverständlich
auch der Gnade) bedürfen. Der Apostel wünscht daher
dem Timotheus: „Gnade, Barmherzigkeit und Friede";
und wenn er an die Hebräer schreibt, so sagt er: „Laßt
uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten Zu dem Throne
der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und
Gnade finden zur rechtzeitigen Hülfe."
Der Ausdruck „Gnade" enthält offenbar den Gedanken
an eine freie Gabe, eine Gunstbezeugung
— ohne eine Verpflichtung auf feiten Gottes, ohne einen
Anspruch auf unsrer Seite, oder mit andern Worten: ohne
die Frage des Zustandes des also Begünstigten zu erheben.
Man könnte es die Befriedigung der Liebe nennen.
(S. Joh. 3, 16; 2. Kor. 8, 9; in letzter Stelle haben
wir die Gnade in ihrer göttlichen Fülle.) Barmherzigkeit
aber kennzeichnet den Empfänger stets als einen,
der Unrecht gethan hat. „Barmherzig sein" heißt bereit
sein, ein Unrecht zu übersehen oder Zu vergeben, verbunden
mit dem Bewußtsein, daß derjenige, welchem die Barmherzigkeit
widerfährt, eigentlich eine entgegengesetzte Behandlung
verdient. Man nennt dies unter den Menschen
132
eine zum Vergeben geneigte Gesinnung, eine friedliebende
Veranlagung des Charakters. Die Christen sollten jedoch
Barmherzigkeit üben aus dem höheren Beweggründe, daß
ihnen selbst seitens des Herrn Barmherzigkeit zu teil geworden
ist; und indem sie daran denken, noch völliger
Barmherzigkeit zu erlangen, sind sie „barmherzig" gegen
ihre Mitmenschen.
Indes möchte gefragt werden: Worin besteht denn
der Lohn, der hier den Barmherzigen verheißen wird —
„ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren" ? Wir bedürfen
doch im Himmel keiner Barmherzigkeit mehr. Sicherlich
nicht. Nichtsdestoweniger ist die Verheißung zukünftig,
mögen wir sie nun buchstäblich auf die Juden, oder
moralisch auf die Christen anwenden. Onesiphorus war
ohne Zweifel ein Christ, und Paulus fleht für ihn, „daß
er von feiten des Herrn Erbarmen finde an jenem Tage",
d. h. zur Zeit der zukünftigen Belohnungen. Das Herz
des Apostels war so voll von Dankbarkeit für die besondere
Freundlichkeit und Liebe, die Onesiphorus ihm bewiesen
hatte, indem er sein Leben aufs Spiel setzte, um
Paulus aufzusuchen und ihm im Gefängnis zu dienen,
daß er für ihn um eine Belohnung bat, die einen Widerschein
seines edlen Liebesdienstes bilden und diesen für
immer in Erinnerung halten würde. Das ist, wie wir
nicht bezweifeln, die Weise des Himmels, besonders aber
während der Dauer des tausendjährigen Reiches. Jeder
Liebesdienst, von einem Becher kalten Wassers an und
aufwärts, wird an jenem Tage nicht nur belohnt werden,
sondern die Belohnung wird den Dienst kennzeichnen, und
dieser wird auf solche Weise in ewiger Erinnerung bleiben.
Dies geht klar aus vielen Stellen der Schrift hervor;
133
Wir möchten nur eine besonders schöne hier anführen:
„Und die Nationen sind zornig gewesen, und Dein Zorn
ist gekommen und die Zeit der Toten, um gerichtet zu
werden, unddenLohnzu gebenDeinenKnechten,
den Propheten, und den Heiligen und denen,
die Deinen Namen fürchten, den Kleinen und
den Großen." (Offbg. 11, 18.) Der Kleinen wie
der Großen wird an jenem Tage gedacht werden. Welch
eine Gnade! Welch ein Tag wird es sein! Möchten
wir stets daran denken bei all unserm Dienst, den wir
heute unserm geliebten Herrn erweisen können!
Doch mancher wird sagen: Was kann ich Großes
für den Herrn thun? Wenn ich nur dort sein werde,
so will ich gern auf jeden Lohn verzichten. — Allen, die
so reden, möchte ich zurufen: Halt! sehet zu, daß ihr
euch nicht auf einen verkehrten Boden begebet! Viele
reden nur so, um ihre geistliche Trägheit und ihre Welt-
förmigkeit zu entschuldigen. Was will der Herr uns in
diesen Seligpreisungen lehren? Jedenfalls das Eine,
daß sich jeder Charakterzug, der hier „glückselig" gepriesen
wird, in jeder Seele findet, die aus Gott geboren ist,
wenn auch nicht überall in gleicher Stärke. Wir sehen
Armut des Geistes in dem einen Gläubigen und hervorragende
Thätigkeit in dem andern. Aber die Trauernden
werden getröstet werden, die Sanftmütigen werden das
Land ererben, und den Barmherzigen wirb Barmherzigkeit
widerfahren.
Möge der Herr uns alle dahin leiten, mehr und
mehr in dieser himmlischen, göttlichen Gnade der Barmherzigkeit
überströmend zu sein! In der Ausübung der
Barmherzigkeit gegen andere werden wir immer von neuem
134
die Lieblichkeit des Erbarmens Gottes gegen unsre eigne
Seele schmecken. Ein gnädiges Auge, ein mitfühlendes
Herz und eine offene Hand tragen ihre göttliche Belohnung
mit sich. Wer verabscheut nicht den Charakter jenes
Knechtes, dem von seinem Herrn zehntausend Talente erlassen
wurden, der aber seinen Mitknecht um hundert
Denare willen ins Gefängnis werfen ließ? Und andrerseits,
wer bewundert nicht die Barmherzigkeit, die sich in
jenem Samariter kundgab, der dem unter die Räuber Gefallenen
so bereitwillig die Nächstenpflicht erwies? Das
ist die Barmherzigkeit des Evangeliums, wenn wir es so
nennen dürfen, die stets darauf aus ist, den verlornen
Sünder zu erretten. Aber vergessen wir auch jene Art
von Barmherzigkeit nicht, die sich in Worten, Blicken und
Thaten kundgiebt. Barmherzigkeit — das ist die große,
wichtige Sache, die dem menschlichen Geschlecht not thut;
Sünder, Gläubige, alle bedürfen sie! Gott selbst ist
ihre Quelle in Christo Jesu. Möchten wir Kanäle
sein, durch welche sie sich ungehindert ergießen kann, zum
leiblichen und geistlichen Wohle unsrer Mitmenschen!
(Fortsetzung folgt.)
Ein schöner Wahlspruch.
„Daher, meine geliebten Brüder, seidfest, unbeweglich,
allezeit überströmend in dem Werke
des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich
ist im Herrn." (1. Kor. 15, 58.)
Diese Worte bilden einen außergewöhnlich schönen
Wahlspruch für den christlichen Arbeiter — und jeder
Christ sollte ein Arbeiter sein. Wir finden darin eine un
135
bewegliche Festigkeit verbunden mit unermüdlicher Thätigkeit.
Diese Verbindung ist schön und überaus wichtig.
Manche von uns haften so ängstlich und engherzig an
gewissen Grundsätzen, daß sie sich fast fürchten, an irgend
welcher weitherzigen, christlichen Thätigkeit teilzunehmen.
Andere wieder haben alle ihre Gedanken so sehr auf den
Dienst gerichtet, daß sie, um den gewünschten Zweck zu
erreichen und große Erfolge zu sehen, nicht zögern, die
Grenzlinie der Wahrheit und gesunder Grundsätze zu überschreiten.
Nun, unser Wahlspruch enthält ein göttliches Gegenmittel
für beide Uebel. Er errichtet eine solide Grundlage,
auf welcher wir mit festem Vorsatz des Herzens und unerschütterlicher
Entschiedenheit stehen können. Wir dürfen
nicht um eines Haares Breite von dem schmalen Pfade
der göttlichen Wahrheit abweichen, wenn wir auch durch
die scheinbar überzeugendsten menschlichen Beweisgründe
dazu versucht werden. „Gehorchen ist besser als Opfer,
Aufmerken besser als das Fett der Widder." (1. Sam.
15, 22.) Schöne und zugleich ernste Worte! Möchten
sie sich tief in das Herz eines jeden Arbeiters eingraben!
Sie sind von besonderem Werte in unsern Tagen, wo so
viel Eigenwille herrscht in der Art des Wirkens, eine so
starke Neigung, zu thun, was gut ist in unsern eignen
Augen, und wo die unumschränkte Autorität des Wortes
Gottes so vielfach außer acht gelassen wird.
Es ist wahrhaft betrübend zu sehen, mit welcher
Entschiedenheit das Wort Gottes selbst von solchen beiseite
geschoben wird, die ihrem Bekenntnis nach es für
das Wort Gottes halten. Wir reden jetzt nicht von der
Frechheit des offenbaren Unglaubens, sondern von der
136
herzlosen Gleichgültigkeit so vieler rechtgläubiger (wie man
sie nennt) Bekenner. Tausende, nein, Millionen bekennen
zu glauben, daß die Bibel Gottes Wort sei, denken aber
trotzdem nicht im entferntesten daran, sich seiner Autorität
bedingungslos zu unterwerfen. Der menschliche Wille
herrscht, die menschliche Vernunft regiert. Die wichtigen
Fragen sind: Was ist schicklich? wie errege ich am
wenigsten Anstoß in dieser Welt? wie richte ich meinen
Weg am bequemsten ein? Die ernsten, heiligen Grundsätze
der göttlichen Wahrheit bleiben unbeachtet; sie verwehen
wie dürre Herbstblätter vor dem Sturme volkstümlicher
Ansichten und Meinungen.
Wie wertvoll und wichtig ist daher angesichts dieser
Erscheinungen der erste Teil unsers Wahlspruchs: „Daher,
meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich!"
Das Wörtchen „Daher" führt die Seele zurück zu der
festen Grundlage, welche der Apostel in dem vorhergehenden
Teil des Kapitels gelegt hat, indem er eine der erhabensten
und kostbarsten Wahrheiten entwickelt, die des
Christen Herz beschäftigen kann — eine Wahrheit, welche
die Seele über die finstern Nebel der alten Schöpfung
erhebt und auf den unerschütterlichen Felsen der Auferstehung
stellt. Auf diesem Felsen sollen wir fest und unbeweglich
stehen. Es ist nicht ein Festhalten an eignen Meinungen,
an irgend einer Lieblingslehre oder an dem einen oder
andern Lehrsystem, zu dem wir ermahnt werden, sondern
ein festes Ergreifen und treues Bekennen der Wahrheit
Gottes, deren ewiger Mittelpunkt Christus ist. Es gab
solche in Korinth, die da sagten, es gebe keine Auferstehung
der Toten. Es gab solche — und es hat deren immer
gegeben, und giebt es auch heute noch —, die nicht
137
blieben in der Lehre unsers Herrn und Heilandes Jesu
Christi, sondern mancherlei und fremde Dinge lehrten; und
diesen gegenüber ermahnt der Apostel die Gläubigen, fest
und unbeweglich zu sein.
Allein es giebt für den christlichen Arbeiter noch
etwas mehr zu thun, als fest auf dem Boden der Wahrheit
zu stehen. Er hat auch thätig zu sein in Liebe und
Gnade. Dies führt uns zu dem zweiten Teile unsers
Gegenstandes: „allezeit überströmend in dem Werke
des Herrn". Wenn einerseits der Boden der göttlichen
Wahrheit nie verlassen werden darf, so muß andrerseits
auch das Werk des Herrn sorgfältig, mit allem Fleiß
und mit aller Ausdauer getrieben werden. Manche find,
wie bereits bemerkt, so ängstlich besorgt, etwas Verkehrtes
zu thun, daß sie gar nichts thun; andere wieder, aus
Furcht, nichts zu thun, sind so eifrig darauf aus, zu
arbeiten und zu wirken, daß sie in allerlei verkehrte Dinge
hineingeraten. Unser Wahlspruch korrigiert beide. Er
lehrt uns, unsre Angesichter hart wie einen Kieselstein zu
machen, wenn eS sich um die Aufrechthaltung der Wahrheit
handelt; und er leitet uns andrerseits an, in wahrer
Weitherzigkeit auszugehen und alle unsre Kräfte und
Fähigkeiten in den Dienst des Herrn zu stellen.
Beachten wir ferner den Ausdruck: „Werk des
Herrn". Wir dürfen nicht denken, daß alles das, was von
bekennenden Christen auf dem Gebiet der Missionsthätigkeit
w. geschieht, Anspruch auf den Titel „Werk des
Herrn" machen kann. Ach! eS giebt eine Menge Dinge,
die als ein Dienst für den Herrn unternommen werden,
mit denen aber ein geistlicher Christ unmöglich den heiligen
Namen Christi verbinden könnte. Wir möchten hier nicht
138
in Einzelheiten eingehen; was wir wünschen, ist, daß die
Gewissen der Gläubigen geübt werden möchten bezüglich
des Werkes, an welchem sie teilnehmen. Wenn jemals,
so ist es in unsern Tagen geboten, die Autorität Christi
auch bezüglich alles dessen anzuerkennen, woran wir im
Wege des Dienstes oder Werkes unsre Hand legen. Er
erlaubt uns, gepriesen sei Sein Name! Ihn mit den gewöhnlichsten
Dingen und Beschäftigungen des täglichen
Lebens in Verbindung zu bringen. Wir dürfen, ja, wir
sollen sogar essen und trinken in Seinem heiligen Namen
und zu Seiner Ehre. Der Bereich des Dienstes ist
wahrlich weit genug; er wird nur begrenzt durch jenes
ernste Wort: „Werk des Herrn". Der christliche Arbeiter
sollte von allem seine Hand zurückziehen, was nicht
im Namen des Herrn geschehen kann, oder mit andern
Worten, von alledem, was nicht mit Seiner Heiligkeit
und Wahrheit in Uebereinstimmung ist. Er sollte sich,
ehe er einen Dienst beginnt, stets in Aufrichtigkeit die
Frage vorlegen: Kann dies wirklich das „Werk des Herrn"
genannt werden? aber im Bejahungsfälle sollte er auch
das, was seine Hand zu thun findet, thun mit aller Kraft
und aller Treue, wissend, daß seine „Mühe nicht vergeblich
ist im Herrn". Köstliche, ermunternde Verheißung!
Möchte sie uns antreiben, die Zeit auszukaufen und keine
Gelegenheit unbenutzt vorübergehen zu lassen! Der Herr
ist nahe!
Gedanken.
Alles, was der Herr Jesus hienieden that, hatte,
wenn wir es so nennen dürfen, einen himmlischen Geschmack,
und das gerade ist es, was die Welt nicht er
139
tragen kann. Sie haßte Ihn; und je treuer wir als
Jünger sind, und je mehr unser Leben und Thun himmlisch
ist, desto mehr wird sie uns hassen.
Das Volk Gottes sollte stets warten mit dem Gürtel
und derLampe, den schönen beständigen Symbolen ihrer
Berufung, bis der Herr erscheint; d. h. ihre Seele sollte
gleichsam aufgeschürzt sein zu heiliger Absonderung von
den gegenwärtigen Dingen, und ihr Herz erhellt durch
die sehnsuchtsvolle Erwartung der zukünftigen.
Wir sind oft unruhig und besorgt. Was ist die
Ursache, die wahre Quelle davon? Wir wünschen irgendwo
zu sein, wo Gott uns nicht haben will, oder irgend etwas
zu sein, wozu Er uns nicht bestimmt hat.
Als Petrus eS am besten meinte und mit feinem
Herrn in Gefängnis und Tod gehen wollte, mußte er
entdecken, welch ein böses Herz er hatte; und als er das
Schlimmste that und seinen Herrn verleugnete, erfuhr er,
welch ein gütiges, liebevolles Herz in Christo war.
Christus starb nicht nur „sür unsre Sünden,
nach den Schriften", sondern Er wurde auch „für uns zur
Sünde gemacht". Diese letztere Wahrheit wird von vielen
Gläubigen nicht verstanden; daher ist ihr Friede schwankend,
ihre Freude veränderlich. Ein unerschütterlicher Friede
und eine ungestörte Freude können erst dann von uns
genossen werden, wenn wir verstanden haben, daß alle
unsre Uebertretungen vergeben und unsre Sünde gerichtet ist,
und wenn in unserm Geiste „kein Trug" ist. (Ps. 32, 1. 2.)
140
Es giebt in der Geschichte eines jeden Menschen
einen entscheidenden Wendepunkt, wo es sich zeigen wird,
auf welchem Boden er steht, welche Beweggründe ihn
leiten und was für ein Ziel er verfolgt.
Unsre Sünden können nie wieder in die Gegenwart
Gottes kommen, da ja Christus, der sie alle getragen
und hinweggethan hat, an ihrer Statt dort ist.
Die Felsenkluft.
„Ich werde dich in die Felsenkluft stellen und meine Hand
über dich decken." — (2. Mose 34, 22.)
In der Felsenkluft geborgen,
Sicher vor des Sturms Gebraus,
Still und froh und ohne Sorgen
Ruh' ich nun in Jesu aus.
In der Felsenkluft ist Frieden,
Trotz der Flut, die mich umgiebt;
Mitten in der wilden Brandung
Bleibt die Ruhe ungetrübt.
Lang, ja, lang hab' ich geirret
Auf dem weiten, düstern Meer;
Wollt' auch wo mein Schifflein ankern,
Ach, der Strand war öd' und leer.
Aber nun hab' ich gefunden
Einen Hafen sichrer Ruh',
In der Kluft des ew'gen Felsen,
Der mich deckt so selig zu.
In der Felsenkluft geborgen,
Sicher vor des Sturms Gebraus,
Still und froh und ohne Sorgen
Ruh' ich nun auf ewig aus.
(Glaubenslieder.)
Christus, wandelnd inmitten der sieben
Versammlungen. '
Die Sendschreiben an die sieben Versammlungen in
Kleinasien (Offbg. 2. 3) geben uns bekanntlich ein Bild
von der bekennenden Kirche auf der Erde. Christus wird
dort gesehen als wandelnd inmitten der sieben Versammlungen.
Diese Thatsache beweist, daß in dem praktischen
Verhältnis zwischen Christo und der Kirche eine
große Veränderung eingetreten ist. Es ist nicht mehr
das ursprüngliche, so zu sagen natürliche oder normale
Verhältnis zwischen Bräutigam und Braut, Haupt und
Gliedern. Wohl ist die Kirche *) noch Sein Haus, aber
Er hat nicht mehr den ersten Platz in demselben; vielmehr
wird Sein Recht über dieses Haus in Frage gestellt.
Er wandelt durch dasselbe in einer Weise, wie Er einst
im Tempel umherwandelte. Dieser war auch Sein
Haus, auf welches Er allein ein Recht hatte; trotzdem
aber wagten die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Nettesten,
Ihm dieses Recht streitig zu machen. (Mark. 11,
27. 28.) „Er kam in das Seinige, und die Seinigen
nahmen Ihn nicht an." (Joh. 1, 11.)
*) in ihrem Zustand der Verantwortlichkeit.
Dasselbe traurige Verhältnis haben wir jetzt in der
bekennenden Kirche vor uns; aber nur dann, wenn wir
verstehen, was dieses Verhältnis zwischen Christo und
— 142 —
der Kirche nach den Ratschlüssen Gottes ist,
können wir den tiefen Fall der letzteren ermessen, sowie
die große Veränderung verstehen, die in der Stellung
Christi ihr gegenüber eingetreten ist. Anstatt in ihrer
Mitte zu sein zu dem einzigen Zweck, sie zu segnen und
sich ihrer Zuneigungen zu erfreuen, wandelt Er durch sie
hindurch in einem richterlichen Charakter. Er hat nötig.
Seine Rechte über sie geltend zu machen, und stellt sich
zunächst als Der dar, „der die sieben Sterne in Seiner
Rechten hält". (Offbg. 2, 1.)
Bekennen wir Christen zu sein, so sagen wir damit,
daß wir ein Eigentum Christi sind, und daß niemand außer
Ihm ein Recht an uns hat. Dies gilt von der ganzen
Kirche wie von jedem einzelnen Christen. Unser Leben,
unsre Herzen, unsre ganzen Zuneigungen gehören Ihm
allein. Ihm gebührt der erste Platz in unserm Privat-
und Gemeinschaftsleben, in unsern Familien und Versammlungen.
Er wandelt inmitten der Versammlungen,
kommt zu einem jeden von uns, zu dem Schreiber und
Leser dieser Zeilen; Er durchschaut die verborgensten
Winkel unsrer Herzen und Häuser. Er kann von jedem
Einzelnen sagen: „Ich kenne deine Werke".
Und nun, geliebter Leser, was sieht Er bei dir und
mir? Können wir mit dem Apostel sagen: „Das Leben ist
für mich Christus" ? (Phil. 1, 21.) Es handelt sich nicht
zunächst um die Frage: „Was sieht Er in der Kirche?"
oder: „was sieht Er bei diesem und jenem?" sondern: „was
sieht Er bei dir und mir?" Betreffs der Kirche in ihrer
Allgemeinheit hat Er bereits gesagt: „Ich habe wider dich,
daß du deine erste Liebe verlassen hast." (Offbg. 2, 4.)
Er hat keinen Platz mehr in ihren Zuneigungen, und
143
jede Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren ist verloren,
ach! für immer verloren. Aber du und ich bekennen
wahre Christen zu sein; wir haben uns von
dem Bösen in der Kirche getrennt, um auf der Seite des
Herrn zu stehen. Geben w i r dem Herrn, was Ihm von
Rechtswegen gehört, unser Herz und unsre Zuneigungen?
Oder suchst du dich mit dem Gedanken zu trösten, daß,
wenn auch vieles zu wünschen übrig bleibe, doch noch
manches Gute bei dir sei? Dann wisse, daß das ein
schlechter Trost ist, der nicht standhält vor Dem, der da
wandelt inmitten der sieben goldnen Leuchter. Sicherlich
fand Er in der Versammlung zu Ephesus viel Gutes —
wohl mehr als in irgend einer christlichen Versammlung
unsrer Tage — Eifer, Thätigkeit, Absonderung vom
Bösen u. s. w.; und Er erkannte es bereitwilligst an.
Aber vermochte das alles den Mangel eines ganzen Herzens
für Christum zu ersetzen? Wir kennen die Antwort des
Herrn: „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und thue
Buße und thue die ersten Werke". Alle ihre guten
Werke, ihr Eifer, ihre Thätigkeit rc. reichten nicht an die
ersten Werke, weil sie nicht aus der allein wahren Quelle
hervorgingen — aus einem Herzen für Christum. Der
Herr verlangt unser Herz, und Er hat ein Recht daran,
denn Er hat einen teuren Preis für uns bezahlt; Er hat
uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben. Kann
Er zufrieden sein mit einem noch so guten Wandel ohne
Herz für Ihn? Sicherlich nicht; heute ebensowenig wie
damals.
Auch ist es nutzlos, unsern Mangel an Liebe für
Christum nur oberflächlich zu bekennen. Das Einzige,
was Ihm gefallen kann in unsern Tagen eines ver
144
weltlichten Christentums, ist ein zerschlagenes Herz.
Ein solches Herz geziemt uns im Blick aus uns selbst
und den kalten, herzlosen Zustand der Christen im Allgemeinen;
und wenn wir ein wirkliches Verständnis von
jenem Mangel und diesem Zustand haben, so werden wir
nicht anders können als uns in den Staub beugen und
um Gnade und Erbarmen zu Ihm rufen.
Es ist bemerkenswert, die verschiedenen Charaktere
zu sehen, unter welchen Christus sich jeder einzelnen Versammlung
vorstellt. Er richtet sich dabei ganz nach dem
Zustand, in welchem Er jede findet. So tritt Er zum
Beispiel nicht vor die Versammlung in Smyrna mit dem
scharfen, zweischneidigen Schwerte, noch vor diejenige in
Philadelphia mit Augen wie eine Feuerflamme und Füßen
gleich glänzendem Kupfer. Er hat in Smyrna nicht nötig
zu schlagen, denn sie lag bereits im Staube; Er hat nur
Worte des Trostes und der Gnade für sie. Ihr Zustand
war in Uebereinstimmung mit Ihm; sie ging denselben
Weg und machte dieselben Erfahrungen, wie Er sie hienieden
in Seiner Verwerfung gemacht hatte — ein Beweis
von der Aechtheit ihres Christentums. Verfolgt,
geschmäht und verworfen wie Er, konnte Er ihren Blick
auf sich selbst lenken als Den, der auf diesem Pfade
eins mit ihr war; der für sie im Tode gewesen war,
nun aber als Ueberwinder desselben lebte in die Zeitalter
der Zeitalter. Er tröstet sie und richtet sie auf mit
ähnlichen Worten, wie Er Seinen geliebten Jünger
Johannes aufgerichtet hatte. (Vergl. Kap. 1, 17. 18 mit
2, 8.) „Fürchte dich nicht!" ruft Er beiden zu. Würde
Er wohl so zu ihr geredet haben, wenn sie in den Wegen
der Welt gewandelt und sich den Genüssen und Be
145
quemlichkeiten derselben hingegeben hätte? „Ich kenne
deine Trübsal und deine Armut... und die Lästerung
von denen, die da sagen, sie seien Juden,' und sind es nicht,
sondern eine Synagoge des Satans. Fürchte nichts von
dem, was du leiden wirst." Die Welt, die religiöse wie
die heidnische, war gegen sie; der Herr aber war sür sie.
So ist eS immer, wenn die Christen ihren wahren Platz
einnehmen. Der Herr richtet die Niedergebeugten
auf und giebt den Demütigen Gnade. (Ps. 146, 8;
1. Petr. 5, 5.)
Ganz umgekehrt stand es in Pergamus; dort war
die Welt für die Christen, und der Herr gegen sie.
Wie verschieden war der Zustand dieser beiden Versammlungen,
sowie das Verhalten des Herrn ihnen gegenüber!
Denselben Unterschieden begegnen wir heute, wenn auch
vielleicht nicht in der gleichen Stärke. Während die einen
wegen ihrer Hingebung für Christum und ihres Festhaltens
an der Wahrheit von der Welt verspottet und verfolgt
werden, sind die andern von ihr geachtet und geehrt, oder
nehmen gar einen hervorragenden Platz in ihr ein, wie
einst Lot in den Thoren Sodoms. Wie schmerzlich für
den Herrn, Gläubige Hand in Hand mit der Welt
gehen zu sehen! Sie stehen in unmittelbarem Widerspruch
mit Ihm und mit allen denen, die ihrer Treue
wegen zu leiden haben und die Schmach Christi hienieden
nagen.
Der Apostel Paulus und die Gläubigen zu Korinth
standen ihrem Bekenntnis nach auf einem und demselben
Boden, aber welch ein großer Unterschied machte sich in
ihrem praktischen Verhalten bemerkbar! „Denn mich
dünkt", sagt der Apostel, „daß Gott uns, die Apostel,
146
als die Letzten dargestellt hat, wie zum Tode bestimmt;
denn wir sind der Welt ein Schauspiel geworden, sowohl
Engeln als Menschen. Wir sind Narren um Christi
willen, ihr aber seid klug in Christo ; wir schwach, ihr
aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet. Bis auf die
jetzige Stunde leiden wir sowohl Hunger als Durst, und
sind nackt, und werden mit Fäusten geschlagen, und haben
keine bestimmte Wohnung, und mühen uns ab, mit unsern
eignen Händen arbeitend. Geschmäht, segnen wir; verfolgt,
dulden wir; gelästert, bitten wir; als Auskehricht der
Welt sind wir geworden, ein Auswurf aller bis jetzt."
(1. Kor. 4, 9—13.) Müssen wir, angesichts einer solchen
Treue, uns nicht tief schämen?
Der Herr wandelt inmitten der Versammlungen auch
in unsern Tagen, und, geliebter Leser, Er beobachtet auch
dich und mich. Kann es uns gleichgültig sein, ob Er
Worte des Trostes und der Ermunterung an uns richtet,
oder ernste und durchbohrende Worte des Tadels? Wandeln
wir auf dem Pfade, wo Er das erstere thun kann?
Befinden wir uns unter den Armen im Geiste, den
Trauernden und den nach der Gerechtigkeit Hungernden
und Dürstenden u. s. w. ? Oder sind wir zufrieden mit
einem weltlichen Christentum? zufrieden, ein bequemes
Leben zu führen und unsre eignen Pläne zu verfolgen,
unbekümmert um die Ehre und Verherrlichung des Herrn?
Ach, wenn es so bei dir steht, mein Leser, dann wisse,
daß du das Wort Gottes nicht für, sondern gegen
dich hast! Du magst dein Gewissen zu beschwichtigen
suchen, magst deine Verhältnisse, deine gesellschaftliche
Stellung, oder was es sonst sei, zur Entschuldigung anführen;
aber das Wort Gottes ist gegen dich. Wie un
147
tadelhaft auch dein äußerer Wandel sein, und wie regelmäßig
du selbst den Versammlungen beiwohnen magst,
das Wort Gottes verurteilt deine Gesinnung, den Boden,
auf dem du stehst. Dein Herz, dein Leben, die Quelle
deiner Freuden ist in der Welt, und nicht in Christo.
„Ich weiß, wo du wohnst, wo der Thron des Satans
ist." Man beachte wohl, daß der Herr hier nicht sagt:
„Ich kenne deine Werke", sondern: „Ich weiß, wo du
wohnst" — nicht im Himmel, in der glückseligen Gemeinschaft
mit Jesu, sondern in der Welt, da wo Satan
Fürst ist. Die Welt ist für dich nicht mehr eine Wüste,
sondern ein Ruhort, eine Heimat. Deine ganze Stellung
steht im Widerspruch mit deinem christlichen Bekenntnis. Und
darum verurteilt dich das Wort: „Wisset ihr nicht, daß
die Freundschaft der Welt Feindschaft wider Gott ist?
Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich
als Feind Gottes dar." (Jak. 4, 4.) Was haben die
zu erwarten, die auf der Erde wohnen? Die Stunde
der Versuchung. (Offbg. 3,10.) Du sagst vielleicht: „Als
Christ werde ich davor bewahrt bleiben". Ganz recht.
Aber du stehst in den Reihen derer, die jene Stunde zu
erwarten haben. Wenn der Apostel sagt: „Dieser Dinge
wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams",
dann fügt er hinzu: „So seid nun nicht
ihre Mit gen offen." (Eph. 5, 6. 7.) Vielleicht sagst
du: „Ich habe keine Gemeinschaft mit der Welt". Aber
die Frage ist: „Hast du die Welt in deinem Herzen oder
Christum? Wandelst du in einer irdischen oder
in einer himmlischen Gesinnung?" Beides kann nicht
zusammengehen. Gott und die Welt, Christus und Satan,
Geist und Fleisch stehen im schroffsten Gegensatz zu ein
148
ander; zwischen beiden zieht das Wort Gottes eine scharfe
Grenzlinie. Dieses Wort „ist schärfer als jedes zweischneidige
Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele
und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes,
und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des
Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern
alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen, mit dem
wir es zu thun haben." (Hebr. 4, 12. 13.)
Erinnern wir uns jedoch daran, daß das Schwert
nicht gegen die Gläubigen in Smyrna gerichtet war, wider
jene Armen und von der Welt Unterdrückten, aber Reichen
in Christo und Mitgenossen Seiner Leiden. Welch ein
Vorrecht, in den Reihen dieser Treuen gefunden zu werden!
die Billigung des Herrn betreffs unsers Verhalten zu
haben! ein Mitgenosse Seiner Leiden zu sein! Ihn als
das „verborgene Manna" zu genießen inmitten der Trübsale
dieser armen Erde, und Ihm auf Seinem einsamen
Pfade der Verwerfung zu folgen! Die Welt mit allen
ihren Schätzen und Herrlichkeiten vermag daS Glück einer
solchen verborgenen Gemeinschaft mit Ihm nicht zu ersetzen
— einer Gemeinschaft, die im Himmel ihre ungestörte
Fortsetzung finden, und deren inniges Verhältnis
kein Dritter kennen wird. Es ist eine persönliche
Sache, sowohl hier auf der Erde, als auch später in der
Herrlichkeit, und hängt ab von unsrer persönlichen Treue.
„Dem, der überwindet, dem werde ich von dem verborgenen
Manna geben; und ich werde ihm einen weißen
Stein geben, und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben,
welchen niemand kennt, als wer Ihn empfängt."
(Offbg. 2, 17.)
Denselben schönen Zug einer praktischen Ueberein-
149
stimmung mit dem Herrn finden wir bei der Versammlung
in Philadelphia. Darum erscheint Christus auch hier
nicht in Seinem Charakter als Richter, sondern alles zeugt
von Seinem innigen Verhältnis zu dieser geliebten Versammlung.
Seine persönliche Erscheinung und Seine
Worte dienen nur zu ihrer Ermunterung und Freude.
Er erkennt die Gläubigen an, trotzdem sie eine kleine
Kraft haben; und indem Er dies thut als „der Heilige
und der Wahrhaftige", bezeugt Er dadurch umsomehr
ihren guten Zustand. Würde Er dies gethan haben,
wenn sie nicht von dem sie umringenden Bösen, von Irrtum
und Lüge abgesondert gewesen wären? Wie hätte
Er, der Heilige und Wahrhaftige, mit solchen Dingen in
Gemeinschaft sein können? Aber Er wendet das scharfe,
zweischneidige Schwert gegen sie ebensowenig an wie gegen
Smyrna, sondern bezeugt ihnen, daß sie Sein Wort bewahrt,
Seinen Namen nicht verleugnet und das Wort
Seines Ausharrens bewahrt hätten. Dieses Zeugnis war
der schlagendste Beweis von ihrer Absonderung vom Bösen.
Denn wie könnte man das Wort bewahren, und gleichzeitig
in Verbindung sein mit Irrtum und Lüge? Oder
wie könnte man den Namen Jesu wertschätzen, und gleichzeitig
in Dingen leben, die mit diesem heiligen Namen
im Widerspruch stehen?
Wie erfrischend ist es, eine solche Versammlung zu
betrachten, die ihre Absonderung bewahrte, während in
den übrigen Versammlungen sich so viele traurige Dinge
offenbarten! Sicherlich erkannte der Herr all das Gute
an, das sich in diesen vorfand, aber wie viel Betrübendes
war damit verbunden! Ephesus hatte die „erste Liebe"
verlassen. Pergamus hatte die Welt zu ihrem Wohnplatz
— ISO —
erwählt und duldete falsche Lehrer in ihrer Mitte»
Thyatira ging noch weiter und duldete das Weib Jesabel,
welches Sittenlosigkeit und offenbaren Götzendienst einführte.
In Sardes zeigte sich ein totes Formen-Christentum;
und in Laodicäa endlich Lauheit, verbunden mit
religiöser Anmaßung. Diese Anmaßung erscheint um so
häßlicher, als der Herr nicht das Geringste in Laodicäa
anzuerkennen findet.
Diese Versammlungen geben uns in ihrer Gesamtheit
ein Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Christenheit.
Die große Masse derselben kennt Christum nicht, obwohl
sie Seinen Namen trägt. Während ein Teil in Aberglauben
und Abgötterei versunken ist, giebt sich ein andrer
dem offenbaren Unglauben hin und leugnet Christum und
Sein Wort. Eine dritte Klaffe verwirft wiederum die
beiden ersten, bekennt den Glauben an Christum und Sein
Wort, ist dabei aber dem Leben aus Gott völlig fremd.
Obgleich sie die äußern Formen des Christentums entschieden
aufrecht hält, fern bleibt von groben Lastern und
Ausschweifungen, vielmehr auf einen sittlichen Lebenswandel
dringt, kann der Herr trotzdem nicht das geringste Anerkennenswerte
bei ihr entdecken. Ihr Zustand zeugt nur
von Eigengerechtigkeit und stolzer Anmaßung, ohne irgendwelches
Interesse für Christum. Und während der Herr
den beiden ersten Klassen Sein Kommen zum Gericht
ankündigt, giebt Er Seinem Widerwillen gegen die letztere
Ausdruck durch die Worte: „Ich werde dich auSspeien
aus meinem Munde." (Offbg. 2, 23; 3, 3. 16.)
Wie wohlthuend berührt es daher das Herz, inmitten
dieses traurigen Zustandes der Dinge ein Häuflein zn
sehen, das dem Herzen des Herrn, des Heiligen und
151
Wahrhaftigen, entspricht! Sie haben nach Seinem
eignen Urteil Sein Wort bewahrt und Seinen
Namen nicht verleugnet; sie wandeln auf dem schmalen
Pfade, den Er ihnen in Seinem Worte vorgezeichnet, und
auf welchem Er selbst hienieden gewandelt hat — dem
Pfade der Absonderung vom Bösen. Sie haben sich
fern gehalten von dem, was sich nicht mit Seinem heiligen
Namen verbinden läßt. Ferner bezeugt ihnen der Herr,
daß sie das Wort Seines Ausharrens bewahrt haben,
wodurch Er sie wiederum eins mit sich macht. Welch
eine Ermutigung für dieses kleine, schwache Häuflein, sich
eins mit Ihm, dem Heiligen und Wahrhaftigen, zu wissen,
und zwar auf Grund des Zeugnisses des Herrn selbst!
zu wissen, daß der von ihnen eingehaltene Weg der von
dem Herrn anerkannte ist! Dieses Bewußtsein ist überaus
tröstlich für sie, verleiht ihnen Kraft und Entschiedenheit,
und läßt sie mit Freuden auf alle Anerkennung seitens
der Welt verzichten.
Die bekennende Kirche hat die Anerkennung der
letzteren gesucht und gefunden, dafür aber diejenige des
Herrn eingebüßt. Er ist wider sie, Er steht ihr gegenüber
mit dem scharfen, zweischneidigen Schwerte, mit
Augen wie eine Feuerflamme und Füßen gleich glänzendem
Kupfer, als Der, der Nieren und Herzen erforscht. Und
der Augenblick naht mit schnellen Schritten heran, wo
Er ihr vergelten wird nach ihren Werken. Zuvor aber
wird Er die wahren Gläubigen, den treuen Ueberrest,
aus ihrer Mitte wegnehmen. Bis dahin ermuntert Er
diesen mit den herrlichen Worten: „Ich komme bald;
halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone
nehme!" Er zeigt ihm im Voraus, was seiner wartet:
152
„Wer überwindet, den will ich zu einer Säule machen
im Tempel meines Gottes, und er wird nicht mehr
hinausgehen; und ich will auf ihn schreiben den Namen
meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes,
des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herniederkommt
von meinem Gott, und meinen neuen Namen."
(Offbg. 3, 7—12.) Sie, die schwach und arm in sich
selbst, hienieden gleich Ihm für nichts geachtet wurden,
will Er zu Säulen machen in dem Tempel Seines
Gottes. *) Sie, die hier eins mit Ihm waren in Seiner
Verwerfung, sollen auch eins mit Ihm sein in Seiner
Herrlichkeit. Sie haben Sein Wort bewahrt, Seinen
Namen nicht verleugnet und teilgenommen an Seinem
Ausharren; sie sollen auch den Namen Seines Gottes,
der Stadt Seines Gottes, und Seinen neuen Namen
tragen.
*) Sie sind schon hier, ohne daß die stolze, sichere Welt es
ahnt, die geheimnisvollen Stützen zur Ausrechthaltung der bestehenden
Ordnung, der Damm gegen den drohenden Umsturz.
Ihretwegen sind die Gerichte bis jetzt noch zurückgehalten worden.
(2. Thess. 2, 7.) ..............
Geliebter Leser! kannst du, in dem glücklichen Bewußtsein
der Anerkennung seitens des Herrn, auf diejenige
der Welt verzichten? Ist dir die erstere genug,
um ihretwegen alles hienieden aufzugeben und dem geliebten
Herrn auf Seinem schmalen Pfade zu folgen? Bist
du bereit, die ganze Welt gegen dich zu haben, aber
den Herrn für dich? oder wünschest du das Umgekehrte?
Ja, sind wir alle bereit, Ihm das zu geben, was Ihm
von Rechtswegen gehört — unser Herz?
Das sind Fragen, die das Herz bis auf den tiefsten
153
Grund erforschen. Laßt uns ihnen nicht ausweichen,
sondern sie erwägen angesichts Dessen, der inmitten der
sieben goldnen Leuchter wandelt, und der da sagt: „Siehe,
ich komme bald und mein Lohn mit mir, um einem jeden
zu vergelten, wie sein Werk sein wird" ! (Offbg. 22, 12.)
Der Weg des Glaubens in einer
bösen Zeit.
Ein Wort der Warnung und Ermunterung.
II.
Absonderung vom Bösen nicht genug.
Im Alten Testament wurde das Volk Gottes ermahnt,
„vom Uebelthun abzulassen" und „Gutes thun zu
lernen"; im Neuen Testament heißt es: „Verabscheuet
das Böse, haltet fest am Guten" und dergl.. (Jes. 1, 16.
17; Röm. 12, 9.) Bei gottesfürchtigen, vom Geiste
Gottes geleiteten Seelen gehen diese beiden Dinge auch
immer Hand in Hand. Dabei stehen zu bleiben und darin
zu ruhen, daß man sich vom Bösen abgesondert hat, würde
in der That gefährlich sein und vielleicht bald zu größerem
Uebel ausschlagen, oder aber in einer kalten, dürren Rechtgläubigkeit
enden. Es ist stets ein kritischer Augenblick
in unsrer Geschichte, wenn wir berufen werden, den alten
Sauerteig auszufegen oder uns zu reinigen von Gefäßen
zur Unehre, da die Gefahr nahe liegt, zu viel von unsrer
Handlung der Treue zu denken und aufgebläht zu werden,
anstatt in allen Dingen nur den einen Zweck, die Verherrlichung
Gottes im Gehorsam gegen Sein Wort, zu
verfolgen.
154
Im Blick auf das, was stets der Trennung vom
Bösen folgen sollte, mag es von Nutzen sein, einige der
vorbildlichen Beispiele zu betrachten, die uns im Alten
Testament mitgeteilt werden, und die immer die offenbare
Segnung Gottes im Gefolge hatten. Wir werden finden,
daß in jedem Falle der Anfang mit einer entschiedenen
Absonderung vom Bösen gemacht wurde. Blicken wir z. B.
auf das mächtige Werk Gottes, das in den Tagen des Königs
Hiskia vor sich ging. Der Stand der praktischen Frömmigkeit
war ein so niedriger, der von Jehova angeordnete
Weg der Segnung so völlig vergessen, daß die Lampen
ausgelöscht, die Thüren des Tempels verschlossen waren
und Unreinigkeit an der heiligen Stätte wohnte. Gottes
Mittelpunkt für Sein irdisches Volk war auf diese Weise
gänzlich verloren. Es ist schwer, sich einen solchen Zustand
der Dinge unter dem bekennenden Volke Gottes
vorzustellen; aber er giebt uns vorbildlich sehr ernste
Unterweisungen. Das Werk Gottes begann damit, daß
die Thüren geöffnet und die Unreinigkeit aus dem
Hause des Herrn hinausgeschafft wurde. Aber hörte man
damit auf? War das genügend? Sicherlich nicht. Hiskia
und sein Volk kehrten zurück zu dem, was — nicht von
Salomo, oder David, oder Samuel — sondern von Anfang
war. Sie wandten sich zu „dem Gesetz Moses,
des Mannes GotteS"; und deshalb entdeckten sie, daß
man das Passah seit langer Zeit nicht gefeiert hatte,
„wie es vorgeschrieben war". Dann handelten sie im
Glauben nach dem Worte, so wie es im Anfang
niedergeschrieben worden war, und Gottes Segen war in
wunderbarer Weise mit ihnen. „Und es war große
Freude in Jerusalem; denn seit den Tagen Salomos,
155
Des Sohnes Davids, des Königs von Israel, war desgleichen
in Jerusalem nicht gewesen." Das Passahfest,
der Tod und das Vergießen des Blutes des Lammes,
sowie das Essen desselben mit bittern Kräutern giebt uns
die kostbare Unterweisung, daß, wenn der Geist Gottes
wirksam ist, stets der Wohlgeruch der Leiden, des Todes
und des Blutvergießens unsers Herrn Jesu Christi vorhanden
sein wird; denn der Heilige Geist zeugt von Ihm
und verherrlicht Ihn. Es ist eitel, von einem Werke
Gottes zu reden, wenn das Opfer und Versöhnungswerk
des Sohnes Gottes und die Hoffnung Seiner Ankunft in
dem Dienste fehlen, oder die Autorität des geschriebenen
Wortes nicht den Seelen eingeprägt wird. (2. Chron.
29. 30.)
Wir finden nahezu dieselben Grundsätze des Geistes
wirksam in der großen Erweckung zu Josias Zeiten. DaS
gute Werk begann mit der Verurteilung dessen, was in
GotteS Augen böse war. Man reinigte mit aller Entschiedenheit
Juda und Jerusalem von den Höhen, den
Ascherim, den geschnitzten und gegossenen Bildern und riß
die Altäre der Baalim nieder. Dann wandte man sich
zu der Wiederherstellung und Ausbesserung des Hauses
Jehovas. Als „das Buch des Gesetzes JehovaS durch
Mose" im Tempel gefunden wurde, las Schaphan dasselbe
vor dem Könige, und mit tiefer Demütigung und
heiliger Furcht suchten Josia und die Seinen nach dem
Gehörten zu handeln. Nachdem sie sich von dem, was
Jehova verunehrte, gereinigt hatten und zu dem zurückgekehrt
waren, was „von Anfang war", zu „dem Gesetz
Jehovas durch Mose", feierten sie „dem Jehova Passah
Zu Jerusalem". Den Leviten wurde geboten, das Passah
156
zu schlachten, sich selbst zu heiligen und für ihre Brüder
zuzubereiten, damit sie nach dem Worte Jehovas
durch Mose thun könnten. Wir hören ferner, daß sie
alles dieses thaten nach der Vorschrift, „wie geschrieben
ist im Buche Mose". Wir finden also, gerade wie in
den Tagen Hiskias, daß sie zunächst sich in der ent--
schiedensten Weise von dem Bösen reinigten; dann kehrten
sie zu dem zurück, was von Anfang war, wie es im Gesetz
Moses geschrieben stand; und drittens handelten sie
nach dem Worte Jehovas und feierten das Passah. Und
wir lesen am Ende: „Und es war kein Passah gefeiert
worden in Israel wie dieses, seit den Tagen
Samuels, des Propheten; und alle Könige von
Israel hatten kein Passah gefeiert wie dasjenige, welches
Josia feierte." (2. Chron. 34. 35.)
In welch bemerkenswerter Weise stellten alle diese
vielen Opfer, die gebracht wurden, den Tod und das
Blutvergießen des Sohnes Gottes vorbildlich dar! Und
wir mögen Wohl fragen: Hat es jemals eine Zeit besondern
Segens in der Kirche Gottes gegeben, in welcher
nicht das Opfer Christi, Sein Leiden, Sein Tod und
Sein Blutvergießen vor den Seelen standen und einen
hervorragenden Platz in dem Dienst der Knechte Gottes
einnahmen?
Ein anderes ermunterndes Beispiel aus dem Alten
Testament liefern die Zeiten Esras und Nehemias, als
ein kleiner Ueberrest von Juda aus der babylonischen Gefangenschaft
in sein Heimatland zurückgekehrt war. Sie
wurden nicht nur durch die gnädige Hülfe Gottes von
Babylon und seinen bösen Wegen getrennt, sondern sie
lehnten auch standhaft jede unheilige Verbindung ab und-
157
erlaubten nicht ein verunreinigtes Priestertum. Sie kehrten
zu dem zurück, was von Anfang war. Zunächst bauten
sie den Altar des Gottes Israels wieder auf, dieses einzig,
wahre Verbindungsmittel zwischen Jehova und dem Volke,
„um Brandopfer darauf zu opfern, wie geschrieben ist
in dem Gesetze Moses, des Mannes Gottes". (Esra 3, 2.)
Dann bauten sie das Haus Gottes, den wahren Mittelpunkt,
zu welchem hin sich alle Treuen in Israel versammeln
konnten. Zur Einweihung des Hauses Gottes,
des Tempels, brachten sie dar hundert Rinder, zweihundert
Widder, vierhundert Lämmer, und zum Sündopfer für
ganz Israel zwölf Ziegenböcke, nach der Zahl der Stämme
Israels. Es war eine Zeit großer Freude.
Nachher, als die Mauer der Absonderung in einer
schwierigen Zeit von Nehemia erbaut worden war, wurde
dennoch die Absonderung vom Bösen aufrecht erhalten,
und man ging wieder zurück zu dem, was von Anfang war,
und handelte darnach. „Und Esra, der Schriftgelehrte,
stand auf einem Gerüst von Holz . . . , und sie lasen
in dem Buche, in dem Gesetz Gottes, deutlich und
gaben den Sinn an, so daß man das Gelesene verstand.
... Und das ganze Volk weinte, als es die Worte
des Gesetzes hörte. ... Und sie sanden im Gesetz geschrieben,
daß Jehova durch Mose geboten hatte, daß
die Kinder Israel in Laubhütten wohnen sollten am Feste
im siebenten Monat." Und das Volk ging hinaus und
machte Hütten, wie geschrieben ist; und zum Schluß
hören wir: „Denn die Kinder Israel hatten nicht also
gethan seit den Tagen Josuas, des Sohnes Runs, bis auf
diesen Tag. Und es war eine sehr große Freude." (Neh. 8.)
Wir thun wohl, uns auch daran zu erinnern, daß.
158
alle die Beispiele, die wir betrachtet haben, aus einer
Zeit des Verfalls herrühren. Das macht sie so besonders
ermunternd für uns. Israel war als Volk lange vorher
in Verfall geraten, die zehn Stämme waren in die Gefangenschaft
weggeführt; doch wie lieblich ist es, sowohl
bei Hiskia als auch bei den andern zu bemerken, daß
Gottes Segen in reichem Maße mit ihnen war, obgleich
sie nur einen schwachen Ueberrest bildeten. Sie hießen
auch ganz Israel bei dem Passah willkommen und opferten
zwölf Ziegenböcke bei der Einweihung des Hauses Gottes,
nach den zwölf Stämmen Israels. — Wie ermutigend
ist es ferner, zu sehen, daß, so unheilig das Volk auch
Gott gegenüber geworden war, Gott dennoch, als sie sich
vom Bösen absonderten und mit Herzensentschluß, Seinem
Worte gemäß, sich zu Ihm wandten, sie überströmend
erfreute und reichlich segnetet Selbst in den Tagen
Jeremias, als das Volk sich so weit von Gott entfernt
und sich so erniedrigt und Gott verunehrt hatte, daß es
kein Heilmittel mehr gab, wurde der treue Prophet dennoch
von Jehova ermuntert, sich vom Bösen zu trennen.
„Darum spricht Jehova also: . . . wenn du das Köstliche
vom Gemeinen ausscheidest, so sollst du wie mein Mund
sein. Jene sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht
zu ihnen umkehren." (Jer. 15, 19.) Daniel war ebenfalls
ein abgesonderter Mann inmitten eines Schauplatzes
des Bösen, und wir wissen, wie Gottes Macht und Gunst
mit ihm waren. Die Wege Gottes mit dem Volke Israel
geben uns daher höchst nützliche und ermunternde Unterweisungen;
nur dürfen wir nicht vergessen, daß, wenn
es sich um das Christentum und um Gottes Wege mit
denen handelt, die zu Seinem himmlischen Volke, zu
159
Seiner Versammlung, zu gehören bekennen, wir es mil
geistlichen Dingen zu thun haben, sowie mit dem, was
dem Vater und dem Sohne gebührt, sowie sie uns durch
den Heiligen Geist bekannt gemacht worden sind.
Die Seligpreisungen.
(Match ö, 1—12.)
(Fortsetzung.)
„Glückselig die Reinen im Herzen, denn sie
werden Gott schauen."
Wir kommen jetzt zu der himmlischsten und erhabensten
aller Seligpreisungen, und zugleich zu derjenigen, die
in verschiedener Hinsicht am schwierigsten zu erklären ist.
Nicht daß wir weniger mit einem reinen Herzen bekannt
sein sollten als mit einem barmherzigen; aber der Gegenstand
und die Wirkung der Betrachtung desselben ist ein
Segen, der in Worten nicht ausgedrückt werden kann.
Die menschliche Sprache ist zu schwach dazu. Wir werden
das vielleicht besser verstehen, wenn wir an die Wirkung
denken, welche Gegenstände von geringerer Bedeutung auf
uns ausüben können. Wir betrachten z. B. einen Gegenstand,
der unser ganzes Interesse einnimmt oder der unsre
Liebe besitzt — ein Antlitz vielleicht — das Bild einer
zärtlich geliebten Mutter; wir sind ganz hingerissen und
haben für nichts anderes mehr Auge und Ohr. Wir
stehen und betrachten die teuren Züge, und während liebliche
Erinnerungen an unserm Geiste vorüberziehen und
die Zukunft heitre Bilder vor unser Auge malt, gedenken
wir der „kleinen Weile", die uns noch von dem Augenblick
trennt, da wir den teuren Gegenstand, den das Bild
160
darstellt, in unsre Arme schließen können. Wir stehen,
in stilles Sinnen verloren, da; das Herz ist bis in seine
innersten Tiefen bewegt, und das Auge ruht mit einer
Art melancholischer Freude auf den geliebten Zügen; das
eigne Ich samt allem, was uns umgiebt, ist vergessen.
Bon solch tiefen Bewegungen kann man zu Einzelnen
reden, aber sie müssen stets unbeschrieben bleiben; man
muß sowohl den Zustand des Herzens als auch den Gegenstand
besitzen, um ihre volle Bedeutung zu kennen.
Gerade so ist es mit der Betrachtung der himmlischen
Dinge, der Herrlichkeit Gottes, wie sie uns im Angesicht
Jesu Christi entgegenstrahlt. — Versuchen wir jetzt eine
« Erklärung unsrer Seligpreisung.
Der moralische Zustand des Herzens oder der Seele
ist die wichtige Frage, um die es sich hier handelt. Da
Gott allein absolut rein ist, so muß Reinheit des Herzens
vorhanden sein, um Ihn schätzen und genießen zu können.
Wir brauchen kaum zu sagen, daß hier kein Gedanke ist
an ein leibliches Schauen; denn Jesus selbst ist jetzt
vor unsern Blicken verborgen. Nur mit den Augen des
Herzens oder mit dem moralischen Gesicht der Seele
(d. h. durch den Glauben) können wir Gott schauen oder
Seine Vortrefflichkeit und Herrlichkeit wertschätzen; und
diese Segnung ist abhängig gemacht von dem Zustande
des Herzens. „Glückselig die Reinen im Herzen, denn
sie werden Gott schauen." Je reiner das Herz ist, desto
klarer wird es Gott schauen, und je klarer es Gott schaut,
desto reiner wird es werden. Die beiden Dinge stehen
in gegenseitiger Wechselwirkung zu einander.
Die Reinheit des Herzens, welche hier „glückselig"
.gepriesen wird, mag die Folge eines treuen Wandelns in
161
1)em Geiste der früheren Seligpreisungen sein, besonders
der ersten dieser letzten Klasse, welche zu der Betrachtung
Gottes in einer der anziehendsten Seiten Seines Charakters
— Güte und Barmherzigkeit — Anleitung giebt.
Vom ersten bis zum letzten Blatt der Heiligen Schrift
wird von der Barmherzigkeit als dem großen Vorrecht
Gottes gesprochen; es ist das, worin Er sich verherrlicht.
Die Psalmen reden besonders viel von Seiner „Güte und
Wahrheit". Er ist „reich an Barmherzigkeit", Seine
Güte ist „höher als die Himmel", und „die Erde ist voll
Seiner Barmherzigkeit". Nun, wenn jemand aus dieser
Quelle der Barmherzigkeit trinkt, so ist die einfache Wirkung
die, daß er „barmherzig" wird, und diese Gnade
leitet ihn dann unmittelbar zu jenem sittlichen Ergreifen und
Erfassen Gottes, welches Reinheit des Herzens hervorruft.
Die Bemerkung mag hier am Platze sein, daß wir
nicht dadurch das Herz rein machen oder rein erhalten
können, daß wir versuchen es zu thun. Müßten wir in
uns hineinblicken und den Zustand unsers Herzens zum
Gegenstände unsrer Erforschung machen, so würden wir,
wie es bei vielen geschehen ist, in einen Zustand rein
mystischer Selbstbeschäftigung versinken. Um barmherzig
zu sein, muß das Herz einen Gegenstand haben, der der
vollkommne Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit ist; um
rein zu sein, muß es einen Gegenstand haben, der absolut
in Reinheit ist. Da das Herz nicht aus sich selbst rein
ist, so kann es nur dann für rein gelten, wenn es einen
reinen Gegenstand zurückstrahlt; und weil dieser Gegenstand
Christus ist, so finden wir in Ihm die wahre Erklärung
eines reinen Herzens und eines Gottschauens.
Das Herz wird gereinigt durch den Glauben an Christum,
162
welcher der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck
Seines Wesens ist. (Vergl. Apstgsch. 15, 9; 1. Petr.
1, 22; Hebr. 1, 3.) Welch eine Erleichterung, welch eine
Ruhe findet das Herz, wenn es Ihn findet! Keine Lehrsätze,
keine Anstrengungen, keine Erfahrungen können die
Frage lösen; nur Er, und zwar gekannt als der einst
niedrige und jetzt hoch erhobene Mensch in der Herrlichkeit.
Laß dein Auge, mein Leser, auf Ihm ruhen — das
Auge des Glaubens, das Auge deines Herzens! Sinne
lauge, sinne tief über Ihn nach! Betrachte dieses herrliche
Antlitz! Hier findest du die Strahlen aller göttlichen Vollkommenheit
und jedes beseligenden Anblicks mit einander
vereinigt. Der König der Könige, ewig, unsterblich, unsichtbar,
der allein weise Gott, dessen göttliche Majestät
ihre mannigfaltigen Herrlichkeiten verbindet mit den lieblichen
Gnaden der Sanftmut, der Gerechtigkeit, Güte und
Barmherzigkeit, der Heiligkeit und des Friedens, samt
aller Güte, Weisheit und Liebe — das ist der Gott, den
das reine Herz schaut; ja, nicht nur schaut, nein, sein
Vorrecht ist, sich in den Strahlen dieser moralischen Herrlichkeit
zu baden, jetzt und immerdar.
Aber siehe zu, daß Christus dein einziger Gegenstand
sei; ein reines Herz muß ein ungeteiltes Herz sein —
ein ganzes Herz. So, und nur so, wird dein ganzer Leib
voll von Licht sein. Alle andern Gegenstände verdunkeln
nur deinen geistlichen Gesichtskreis. „Sie sahen ihn an",,
sagt der Psalmist, „und wurden erheitert." Wenn die
Finsternis mehr geliebt wird als das Licht, so kann
moralische Schönheit weder erfaßt noch geschätzt werden.
Derart war die Blindheit Israels und ist es heute noch;,
aber der Tag naht heran, an welchem sie Ihn anschauen
163
werden, den sie verworfen haben, und dann werden sie in
Ihm die Herrlichkeiten und Vollkommenheiten der Gottheit
erblicken. Dann werden sie in Wahrheit Gott schauen
und werden wissen, wie gesegnet es ist, „rein im Herzen"
zu sein.
Daß dies im Blick auf Israel zukünftig ist, wissen
wir; wie steht eS aber mit der Reinheit deines Herzens,
mein Leser? Ist sie eine gegenwärtige, tiefe,
göttliche, gesegnete Wirklichkeit? Ist dein Herz rein?
Schaust du Gott? Das sind ernste, aber durchaus
passende Fragen; und Gott wolle verhüten, daß einer
von uns von diesen Dingen reden sollte, ohne sie persönlich
in der göttlichen Gegenwart kennen gelernt zu
haben! Aber sicher, wir kennen Ihn, in welchem die
Heiligkeit Gottes ihren vollkommnen Abglanz findet; und
da allein können wir Gott schauen und Gemeinschaft mit
Ihm haben.
Im ganzen Neuen Testament ist oft von Reinheit
des Herzens die Rede. Sie wird als der wahre Zustand
aller Christen betrachtet, obwohl leider nicht alle
reines Herzens sind. In unsern Unterhaltungen und
Schriften wird so viel von der Betrüglichkeit des menschlichen
Herzens gesprochen, daß der Ausdruck „rein im
Herzen" selbst von den meisten Christen als ein Bild betrachtet
wird, das nicht das bedeuten soll, was es ausdrückt;
und so geht man darüber hinweg. Aber wenn
die Schrift von „Reinheit des Herzens" spricht,
so meint sie nicht etwas Unbestimmtes, nie Erreichbares.
In seinem zweiten Briefe an sein Kind Timotheus schreibt
der Apostel: „Strebe nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe,
Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem
164
Herzen." Diese Stelle zeigt klar und deutlich, was
wir bei allen denen erwarten sollten, die zum Tische
des Herrn kommen — daß sie Ihn anrufen aus reinem
Herzen. Nur solche können Dem angenehm sein, der sich
„den Heiligen, den Wahrhaftigen", nennt. Der Apostel
Petrus redet in seiner Ansprache in Apstgsch. 15 von den
Gläubigen aus den Heiden als solchen, deren „Herzen,
durch den Glauben gereinigt" worden seien und
deshalb dasselbe Anrecht an die christliche Gemeinschaft
hätten wie die jüdischen Gläubigen; und in seinem ersten
Briefe sagt er: „Da ihr eure Seelen gereinigt
habt durch den Gehorsam gegen die Wahrheit zur ungeheuchelten
Bruderliebe, so liebet einander mit Inbrunst
aus reinem Herzen." (Kap. 1, 22.) Jakobus gebraucht
in seinen Ermahnungen einen ähnlichen Ausdruck,
indem er sagt: „Reinigt die Herzen, ihr Wankelmütigen."
(Kap. 4, 8. 9.) Auch Johannes sagt, wenn
er von der Ankunft des Herrn spricht: „Und jeder, der
diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst,
gleichwie Er" — das ist Christus — „rein ist". Hier
wird der Herr Jesus nicht nur als in sich selbst wesentlich
rein vor uns gestellt, sondern auch als der Maßstab der
Reinheit für uns. „Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm
hat, reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist."
Die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn hat deshalb
eine umgestaltende, verwandelnde Kraft.
Indem wir nach Ihm ausschauen und auf Ihn warten,
suchen wir uns selbst zu reinigen, gleichwie Er rein ist.
Wenn wir Ihn sehen, wie Er ist in der Herrlichkeit,
werden wir Ihm gleich sein — vollkommen Ihm gleichgestaltet
in allem. Jetzt werden wir nach und nach
165
verwandelt, dann werden wir Ihm völlig und für
Immer gleichgestaltet sein.
Das ist auch die Lehre von 2. Kor. 3, 18: „Wir
alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des
Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den
Geist". Die Bedeutung dieser Worte ist klar und höchst
wichtig. Mit aufgedecktem Angesicht schauen wir die
Herrlichkeit des Herrn, des in der Herrlichkeit erhöhten
Menschen, und werden nach demselben Bilde von einer
Herrlichkeit zur andern verwandelt durch den Herrn, den
Geist. Aber nicht nur werden wir in moralischer Hinsicht
in Sein Gleichnis verwandelt, sondern wir sind auch berufen,
Seine Herrlichkeit von uns zurückstrahlen zu lassen.
Laß uns diese große, erhabene Wahrheit nicht vergessen,
mein Leser! Möchte dieser Gedanke von unserm
ganzen Wesen Besitz nehmen! Was? das Bild unsers
abwesenden Herrn soll sich in unsrer Gesinnung und in
unserm Thun abspiegeln? O laß uns zusehen, daß sich
nichts zwischen unser Herz und Ihn drängt, damit das
Bild nicht verunstaltet werde! Je reiner der Spiegel ist,
desto klarer wird jeder Zug hervortreten. Wunderbares,
göttliches Geheimnis! Unendliche Segnung! Die Sprache
ist in der That zu schwach, um die freudenvolle Bewunderung
zu beschreiben, die das Herz bei der Betrachtung
dieses Ausdrucks der unumschränkten Gnade erfüllt.
In äußerer Reinheit bewahrt zu bleiben, ist sicher eine
große Gnade, für die man nie zu dankbar sein kann.
Wer verstände nicht, daß Joseph in praktischer Hinsicht
ein reineres Herz hatte als Ruben und Juda? Die
Menschen haben ja das Siegel ihres Beifalls darauf ge-
166
-rückt. Aber dem Herrn so nahe gebracht und durch den
Glauben so gereinigt zu sein, daß man einem polierten
Spiegel gleich wird, der die Strahlen Seiner Herrlichkeit
zurückzuwerfen vermag — das ist etwas so Hohes, so
Wunderbares, daß die Worte fehlen, um den Seinem
hochgelobten Namen gebührenden Dank auszudrücken.
Aber der Tag ist nahe, da wir den Herrn sehen
werden von Angesicht zu Angesicht und so wie Er ist,
in all den Wirklichkeiten Seiner Liebe und Herrlichkeit.
Dann wird keine Vergeßlichkeit, kein Fehler, keine Verunreinigung
je mehr den Glanz des Spiegels trüben,
noch das Ausstrahlen Seiner Herrlichkeit verhindern. Die
große Verheißung des neuen Jerusalem wird dann in
Erfüllung gehen: „sie werden Sein Angesicht sehen, und
Sein Name wird an ihren Stirnen sein." Dann wird
die Gleichheit vollendet und allen offenbar sein. Höher
als das könnten wir niemals steigen, reicher an Segnung
nie werden; und um diese Vollendung alles Segens bitten
nicht nur wir, sondern auch unser Jesus selbst, wenn Er
sagt: „daß sie bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast."
(Joh. 17, 24.)
Ehe wir für heute unsre Betrachtung schließen,
möchte ich an einen jeden Leser dieser Zeilen die Frage
richten: Wird das auch deine Ewigkeit himmlischer
Segnung seins Oder bist du in deiner Seele noch unentschieden
im Blick auf den Herrn? Ist Er noch nicht
dein Heilands — Warum dann noch länger zögerns Warum
noch länger zweifeln s Das zu deiner Errettung nötige
Werk ist von Jesu gethan worden — gethan für dich,
wenn du nur glauben willst, gethan für den vornehmsten
167
der Sünder. Du hast nichts, worauf du vertrauen könntest,
als Sein vollendetes Werk. Darum glaube an Ihn,
vertraue Ihm, warte auf Ihn, zweifle nie an Ihm, und
deine himmlische Segnung ist gesichert für immer und
ewig. Bedenke aber auch, daß es ohne Glauben, ohne
Glauben an Jesum, keine Segnung, keine Reinheit giebt;
und ohne Reinheit kann es keinen Himmel für dich geben.
Die Stadt unsers Gottes ist eine reine Stadt, und über
ihren Perlenthoren stehen die Worte: „Nicht wird in
sie eingehen irgend etwas Gemeines." Was ihre Bewohner
einst auch gewesen sein mögen, jetzt sind sie alle
rein; und ihre Kleider von blendendem Weiß können dort
nie wieder befleckt werden. Die verwirrenden Mischungen
der Zeit: Gesetz und Gnade, Glaube und Werke, Christus
und die Welt, Fleisch und Geist, sind dort unbekannt;
unbedingte Reinheit charakterisiert alles. Die Straßen
sind von reinem Golde, gleich reinem Glase; die Mauern
bestehen aus Jaspis, und ein Strom des Wassers des
Lebens, glänzend wie Krystall, geht hervor aus dem
Throne Gottes und des Lammes. (Offbg. 21. 22.)
Mein lieber unbekehrter Leser! der Herr gebe dir,
jetzt, heute noch zu Jesu zu kommen. Gieb Ihm
dein Herz, ganz, ungeteilt! Das ist der erste große
Schritt auf dem Wege zu einem reinen Herzen. O wirf
dich unverzüglich zu Seinen Füßen nieder! Die finstern
Regionen der Hölle, wo der düstere Schein eines unauslöschlichen
Feuers die Finsternis nur umso schärfer hervortreten
lassen wird, stehen in schrecklichem Gegensatz zu
der herrlichen Stadt, dem himmlischen Jerusalem droben
von welchem wir lesen: „Uyd die Stadt bedarf nicht der
Sonne, noch des Mondes, auf daß sie ihr scheinen; denn
168
die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe
ist das Lamm." Welcher von diesen beiden Orten wird
der deinige sein, mein Leser — dein für immer und
ewig? Kannst du, mit beiden vor dir, noch einen Augenblick
zögern? Wahrlich nicht!
Ich muß dich jetzt dem Herrn überlassen. Aber
noch einmal laß dich bitten: Schiebe nicht länger auf,
entscheide dich heute; und möge fortan dein Wahlspruch
lauten: „Alles für Jesum!"
(Fortsetzung folgt.)
„Er denkt an mich."
Ein alter Christ lag auf seinem Sterbebett. Eine
langwierige Krankheit hatte seine Kräfte völlig erschöpft.
Er war so schwach, daß er kaum wußte, was um ihn her
vorging. Auf seinem faltenreichen Antlitz aber lag ein
stiller, seliger Friede, und ein glückliches Lächeln umspielte
von Zeit zu Zeit seine Lippen. Als er einmal die Augen
aufschlug, fragte ihn einer der Umstehenden, woher es
komme, daß er trotz der Nähe des Todes so glücklich sei.
„Ach", entgegnete er flüsternd, „wenn ich denken kann, —
so denke ich an Jesum; — und wenn ich zu schwach bin,
— an Ihn zu denken, — so weiß ich doch, daß Er
an mich denkt. — Das macht mich so glücklich."
„Auch wenn ich wandelte im Thale des Todesschattens,
fürchte ich nichts Uebles, denn du bist bei
mir; Dein Stecken und Dein Stab, sie trösten mich."
<Ps. 23, 4.)
Der Weg des Glaubens in einer
bösen Zeit.
Ein Wort der Warnung und Ermunterung.
III.
Die wesentlichen Kennzeichen des Christentums.
Es ist oft und mit Recht bemerkt worden, daß es
zwei wesentliche Kennzeichen oder Merkmale des Christentums
gebe, die von niemandem gekannt und genossen
werden konnten, ehe der große Pfingsttag (Apstgsch. 2)
kam, und die auch nach der Ankunft des Herrn zur
Aufnahme Seiner Braut hienieden nicht mehr genossen
werden. Wir meinen die beiden gesegneten Thatsachen: die
Verherrlichung des Menschen Christus Jesus zur Rechten
Gottes und das Herniederkommen des Heiligen Geistes,
den Er dort von dem Vater empfing und herabsandte, um
die Kirche auf der Erde zu bilden und in jedem Gläubigen
zu wohnen, indem Er uns zu Gliedern Seines
Leibes macht. Vorher waren ohne Zweifel Vergebung
der Sünden, Rechtfertigung und Wiedergeburt in gewissem
Maße bekannt; es gab ein Volk Gottes, das von dem
Geiste belehrt und geleitet wurde; aber vor der Verherrlichung
des Sohnes des Menschen gab es keine Kirche
oder Versammlung auf Erden.
Ehe der Herr gen Himmel fuhr und dort einen
Namen empfing, der über jeden Namen ist, und ehe Er
als Haupt über alles der Versammlung gegeben wurde,
170
welche Sein Leib ist, gab es kein Haupt, mit welchem die
Gläubigen verbunden werden konnten; und kein Heiliger
Geist war herniedergesandt, um diese Verbindung mit dem
Haupte zu vollziehen. Niemand kann daher in die Gedanken
Gottes über Seine Versammlung oder Sein gegenwärtiges
Werk hienieden eingehen, der nicht die glorreiche
Thatsache erfaßt hat, daß der verherrlichte Menschensohn
das „Haupt" ist, und daß die durch den Heiligen Geist
hienieden mit Ihm verbundenen Gläubigen Seinen Leib,
den „einen Leib", bilden. Unser gegenwärtiges Verhältnis
ist dasjenige von Kindern Gottes, die da rufen: „Abba,
Vater!" sowie von Gliedern des Leibes Christi, indem
unsre Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, durch den
wir diese wunderbaren und gesegneten Beziehungen kennen.
Wer diese Beziehungen nicht kennt und genießt, dessen
Wandel und Verhalten kann solch erhabenen Segnungen
offenbar nicht entsprechen. Denn nur dann, wenn ich ein
Verhältnis, eine Beziehung kenne, bin ich imstande, die
daraus hervorgehenden Pflichten zu verstehen; und dann
ist es eine beglückende Sache, dem Herrn zu dienen und
auf Sein Kommen zu warten.
Wahres praktisches Christentum fließt aus dem Verkehr
und der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesu Christo
hervor, da wo Er jetzt ist, auf dem Throne des Vaters,
mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, indem wir in dem
Bewußtsein unsrer neuen Beziehungen stehen und infolge
dessen die Gegenwart, Wirksamkeit und Macht des stets bet
uns bleibenden Sachwalters anerkennen. Ein inniges Anhängen
am Herrn kennzeichnet ein aufrichtiges Herz. Gleichgültigkeit
gegen Ihn charakterisiert den verderbten Zustand
der bekennenden Kirche in ihren letzten Tagen hienieden.
171
Es würde uns zu weit führen, wenn wir auch nur
in kurzen Worten die wesentlichen Charakterzüge des Christentums
hier aufzeichnen wollten; aber ich kann nicht umhin,
die Aufmerksamkeit des Lesers auf zwei oder drei
Punkte zu lenken, die zu allen Zeiten, und besonders in
dem gegenwärtigen Augenblick, für diejenigen von tiefstem
Interesse waren und sind, welche zur Ehre ihres Herrn
zu leben begehren.
1. Die Person des Sohnes, das Wort, welches
Fleisch wurde und unter uns wohnte, das ewige Leben,
das bei dem Vater war und uns geoffenbart worden ist,
Er, der jetzt in der Herrlichkeit ist, die Er bei dem Vater
hatte, ehe die Welt war, — Er ist es, von dem die
Schrift zeugt. Jeder Irrtum bezüglich Seiner herrlichen
Person ist daher verhängnisvoll und verdirbt jede Seite
der göttlichen Wahrheit; denn Er ist „das Leben", „die
Wahrheit", „das Licht der Welt", „das Licht der Menschen",
„das wahrhaftige Licht, welches, kommend in die
Welt, jeden Menschen erleuchtet", „der wahrhaftige Gott
und das ewige Leben". Von Ihm, der das Werk vollbrachte,
das der Vater Ihm zu thun gegeben hatte, redet
und zeugt die Schrift; und wir lesen in Joh. 20, 31:
„Diese sind geschrieben, auf daß ihr glaubet, daß Jesus
der Christus ist, der Sohn Gottes, und aus daß ihr glaubend
Leben habt in Seinem Namen". (Beachten wir hier
die Verbindung zwischen „glauben" und „Leben haben" in
Seinem Namen.) Ferner lesen wir: „So viele Ihn auf-
uahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden,
denen, die an Seinen Namen glauben." Je mehr
wir die unendliche Herrlichkeit und Vollkommenheit des
Sohnes Gottes betrachten, desto mehr wird Er der be
172
friedigende und alles andere verdrängende Gegenstand
unsrer Herzen werden. Nichts haben wir mehr zu fürchten
als ein Aufstellen unsrer eignen Gedanken über Ihn, anstatt
einfältig auf das zu lauschen, was Gott uns in
Seinem Worte betreffs Seiner geoffenbart hat; denn
„niemand erkennt den Sohn als nur der Vater".
Alle unsre Hoffnungen gründen sich aus Sein vollendetes
Werk. Wir könnten keinen Zugang zu Gott
haben als nur durch das Vergießen Seines kostbaren
Blutes. Unsre Hoffnungen gründen sich auf ein Werk,
das für ewig vollbracht ist und welches den heiligen Gott
bezüglich unsrer Sünden vollkommen verherrlicht hat —
auf ein Werk, das ewiglich gültig ist wegen der Herrlichkeit
und des W ert e s D e s s e n, der es vollbracht
hat; so daß Gott jetzt von uns reden kann als
„auf immerdar vollkommen gemacht" durch dieses eine
Opfer. Ja, Er kann sagen: „Ihrer Sünden und ihrer
Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." Welch ein
gesegneter Boden unsers Hinzunahens zu Gott und unsers
Bleibens in Seiner Gegenwart! Getrennt von Christo
haben wir kein Leben. „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Es sei denn daß ihr das Fleisch des Sohnes des
Menschen esset und Sein Blut trinket, so habt ihr kein
Leben in euch selbst." (Joh. 6, 53.)
2. Der „Mensch Christus Jesus", „der Sohn Gottes",
„Jesus", d. i. Jehova, der Heiland, der sich in solch
wunderbarer Gnade herabließ, den Platz eines „ermüdeten"
Pilgrims am Brunnen zu Sicher einzunehmen, der am
Grabe des Lazarus „weinte", der aus Golgatha „starb",
ist aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit
des Vaters und hat sich „in Gerechtigkeit" auf Seinen
— 173 —
Thron gesetzt. Dort ist Er als Haupt über alles der
Versammlung gegeben, welche Sein Leib ist. Nachdem
Er dort den Heiligen Geist, die Verheißung des Vaters,
empfangen, hat Er Ihn als das Siegel für einen jeden,
der dem Evangelium unsers Heils glaubt, herniedergesandt,
um die Versammlung hienieden zu bilden und während
der Abwesenheit des Herrn für alle Gläubigen zu sorgen
und ihnen zu dienen. Dort setzt Er in Treue und
Barmherzigkeit Seine Thätigkeit als Hohepriester und
Sachwalter zu unsern Gunsten fort. Dort sitzt Er auch
als Der, welcher eine ewige Erlösung vollbracht hat, bis
Er wiederkommt, um uns in der Luft zu begegnen, ehe
Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt werden.
3. Die Gabe des Heiligen Geistes (nicht ein gewisses
Maß des Heiligen Geistes, sondern Seine Person) an
alle diejenigen, welche Vergebung der Sünden haben, Seine
Jnwohnung und bleibende Gegenwart, — alles das ist
eine Folge des vollbrachten Werkes unsers Herrn und
Heilandes und Seiner Rückkehr zu dem Vater. Die neuen
Beziehungen, in welche die Gläubigen gebracht sind; die
neue und himmlische Ordnung der Dinge, als verbunden
mit Christo in dem Himmel durch den Geist, sowie als
Glieder untereinander; der neue Charakter der Anbetung,
welche jetzt im Geist und in Wahrheit geschehen „muß";
die neuen Arten von Gaben, welche der gen Himmel gefahrene
Christus zur Auferbauung der Glieder des einen
Leibes dargereicht hat; das Evangelium der Gnade Gottes,
sowie die Verwaltung der Versammlung hienieden
samt dem ihr geziemenden Verhalten — alles das sind
Dinge, mit welchen die Gläubigen „von Anfang" beschäftigt
waren. Die Wirkung dieser Beschäftigung war wunder-
174
bar; denn indem sie bewußter Weise durch die Gnade in
diese neuen und himmlischen Verbindungen eingeführt
wurden, lösten sich ihre Herzen nicht nur von der Welt,
sondern auch von jener Religiosität, die den Menschen
außerhalb des Vorhangs, in einer Entfernung von Gott
hielt; und dieser Grundsatz ist heute noch so wahr wie
damals.
Was wir von Anfang gehört haben.
Die Beschäftigung mit dem Bösen ist überaus schädlich
für unsre Seelen, und der einzige Weg, um davon
befreit zu werden, ist die Beschäftigung mit dem Guten.
Durch die Wahrheit widerstehen wir dem Irrtum und
überwinden ihn. Indem wir durch den Glauben unsre
neue und himmlische- Stellung, unsre neuen Beziehungen
und Verbindungen genießen, werden wir von falschen Verbindungen
befreit. Die herrliche Wahrheit von der Einheit
der Kirche Gottes trennt uns von allen menschlichen
Vereinigungen. Es ist die positive Wahrheit der göttlichen
Offenbarung, die uns frei macht und frei erhält. Fast alle
Angriffe des Unglaubens sind negativ (verneinend); sie
geben der Seele nichts. Aber das Zeugnis der
Schrift hat Ihn zum Gegenstände, der gestern und heute
und in Ewigkeit derselbe ist. Dieses Zeugnis erfüllt unsre
Seelen mit gegenwärtigem Segen, läßt uns Ihn und Seine
Kostbarkeit mehr genießen und giebt uns die Aussicht auf
eine Fülle von Freuden und Lieblichkeiten in alle Ewigkeit.
Johannes wurde von dem Geiste Gottes geleitet, die
positiven Segnungen des Christentums vorzustellen und
an einem bösen Tage uns zu ermahnen, zu dem zurückzukehren,
was von Anfang war, und standhaft alles abzuweisen,
was nicht Christo gemäß ist.
175
Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß die Briefe
des Johannes viele Jahre nach dem Abschiede des Apostels
Paulus geschrieben wurden, welcher prophezeit hatte, daß
verderbliche Wölfe in die Herde einbrechen und ihrer
nicht schonen würden. Der bejahrte Apostel lebte lange
genug, um einige von diesen Wölfen ihre Verwüstungen in
der Kirche Gottes amichten zu sehen. Er sah „viele Antichristen",
„viele falsche Propheten", Lehrer, die einen falschen
Christus verkündigten und nicht in der Lehre des
Christus blieben. Allerlei menschliche Spekulationen bezüglich
der Person unsers Herrn waren hervorgetreten,
und die Zahl derer, welche die Gottheit Christi leugneten,
war anscheinend schon sehr groß. Nun, worin bestand
der inspirierte Dienst des Apostels diesen Erscheinungen
gegenüber? Er unterscheidet in seinen Briefen klar und
deutlich zwischen Wahrem und Falschem, zwischen dem
Geist der Wahrheit und dem Geist des Irrtums, damit
treue Seelen die bösen Lehren richten und sich von ihnen
reinigen möchten. Dann bittet er diese Seelen, das zu
beachten und festzuhalten, was sie von Anfang gehört
hatten. „Ihr, was ihr von Anfang gehört habt, bleibe
in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört
habt, so werdet auch ihr in dem Sohne und in dem
Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.) Deshalb beginnt der
alte, treue Knecht auch seinen Brief mit der Person des
Sohnes — „dem ewigen Leben, welches bei dem Vater
war und uns geoffenbart worden ist". Er erwähnt die
von aller Sünde reinigende Kraft Seines kostbaren Blutes,
redet von der Vollkommenheit unsers Herrn im Himmel
als „der Gerechte", von Seinem Dienst dort als
„Sachwalter bei dem Vater", von unserm gegenwärtigen
176
Verhältnis zu dem Vater als Seine Kinder und von der
reinigenden Kraft der Hoffnung, unsern Herrn zu sehen wie
Er ist, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Das sind einige
von den Dingen, die von Anfang waren und die in den
Gläubigen bleiben sollten; und die verheißene Segnung,
wenn dies geschieht, ist: „Ihr werdet in dem Sohne und
in dem Vater bleiben." Wahrlich, das ist eine gegenwärtige,
kostbare Segnung! Wie ermunternd für unsre Herzen
in einer Zeit wie die gegenwärtige! Ein großer
Teil der ersten Epistel Johannes beschäftigt uns mit der
göttlichen Gewißheit unsers gegenwärtigen Besitzes des
ewigen Lebens, eines neuen Lebens, das „uns gegeben"
ist; und dieses Leben ist in Seinem Sohne und offenbart
sich in uns in praktischer Gerechtigkeit, in Gehorsam und
Liebe, mit einem Worte, in einem Wandel, wie Er gewandelt
hat.^
Im Anfang des Christentums waren die Gläubigen
versammelt in dem Namen unsers Herrn Jesu Christi,
sei es um in der Verkündigung Seines Todes Seiner zu
gedenken und Ihn anzubeten, oder zum Gebet oder zur
Auferbauung, oder endlich zur Ausübung der Zucht, unter
Anerkennung der Gegenwart und Autorität des Herrn
in ihrer Mitte. „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend
ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden
sein; und was irgend ihr auf der Erde lösen
werdet, wird im Himmel gelöst sein . . . Denn wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin
ich in ihrer Mitte." (Vergl. 1. Kor. 11; Apstgsch. 4;
1. Kor. 14; 1. Kor. 5, 4; Matth. 18, 18-20.)
177
Die Seligpreisungen.
(Matth. 5, 1—12.) /
- ' (Fortsetzung.)
„Glückselig die Friedensstifter, denn sie
werden Söhne Gottes heißen."
Die Mission der Kinder Gottes in dieser Welt trägt
einen Charakter, der, wie wir befürchten müssen, das
Maß unsrer Einsicht und unsers Glaubens weit überschreitet.
Es ist eine Würde, eine moralische Schönheit und
Herrlichkeit mit ihr verbunden, die wir leider nicht genug
zu schätzen wissen. Sie geht von Gott dem Vater aus,
hat teil an Seinen moralischen Eigenschaften und ist der
Widerschein — so schwach es auch sein mag — des hochgelobten
Herrn, der einst die göttliche Herrlichkeit in voll-
kommnem Maße von sich ausstrahlen ließ. Jeder Gedanke,
jedes Gefühl Seines Herzens atmete die vollkommne Ruhe
und erhob sich zu der Höhe der absoluten Reinheit und
des unbedingten Friedens der Gottheit. Die sieben Seligpreisungen
leuchten in ihrer göttlichen Vollkommenheit
aus dem demütigen, niedrigen Pfade des Menschensohnes
— des Immanuel, Gott mit uns — hervor; und da
Er unser Leben ist, so sollten die Züge Seines Charakters,
vermittelst des Glaubens, durch die Macht des Heiligen
Geistes, auch in uns hervorgebracht werden.
Das ist die Mission des Gläubigen, ob Jude oder
Christ. In unsern Betrachtungen haben wir uns mit
beiden beschäftigt, vornehmlich aber mit der Anwendung
der Wahrheit auf die Christen, obgleich wir uns in der
Gewißheit freuen, daß Israel in den letzten Tagen den
Charakter aller Seligpreisungen offenbaren und mit den
verheißenen Segnungen derselben gekrönt werden wird.
178
So schätzenswert sie für den Christen heute auch sein
mögen, so schauen sie doch vorwärts, auf den Augenblick
hin, da das Reich in Macht und Herrlichkeit aufgerichtet
werden wird; und an jenem zukünftigen Tage werden sie
ihre volle Erfüllung finden. In der Zwischenzeit aber
sollte der Christ suchen, alle die Tugenden zur Schau zu
tragen, deren Träger hier „glückselig" gepriesen werden.
Sie alle sollten sich bei jedem Christen wiederfinden, obwohl
einige in dem einen mehr ans Licht treten werden
als in dem andern.
Laß uns denn beachten, mein lieber christlicher Leser,
und wohl erwägen, was unsre Mission ist und wodurch
sie sich kennzeichnen sollte. Habe acht, daß du einen guten
Anfang machst, daß dein erster Schritt ein richtiger sei.
Das ist stets von großer Wichtigkeit. Du mußt mit
Gott beginnen und von Ihm aus deine Arbeit anfangen.
Ein allmähliches sich Emporarbeiten zu Gott, wovon mancher
Christ träumt, giebt eS nicht; unser Wirken muß
seinen Ausgangspunkt in Gott haben. Das allein ist
der richtige Weg. Laß uns zuerst unser eignes Nichts in
Seiner Gegenwart kennen lernen, laß uns dort gewogen
und gemessen werden; nirgendwo anders ist eine gerechte
Wage für das eigene Ich zu finden. O vor wie vielen
Dingen, unwürdig eines Christen, würden wir bewahrt
bleiben, wenn wir immer von Gott aus unsre Arbeit begännen!
Ach, wie oft sind wir eigenwillig und selbstgenügsam,
anstatt uns durch Demut, Abhängigkeit und
Gehorsam auszuzeichnen, wie unser gepriesener Herr es
that! Haben wir aber zu den Füßen unsers Herrn und
Meisters unsre Lektion gut gelernt, so werden wir fähig
und geschickt sein, auszugehen und für Ihn Zeugnis ab
179
zulegen, dem Bilde gemäß, das hier von dem Gläubigen
entworfen wird. Wir werden trauern wegen der Unehre,
die Seinem Namen angethan wird; wir werden uns,
gleich Ihm, demütig unter alles beugen, was uns persönlich
vielleicht tief berührt, und ruhig alles Seinen Händen
überlassen; wir werden suchen, den Willen Gottes zu thun,
barmherzig zu sein gegen unsre Umgebung und vor Gott
zu wandeln mit einem reinen Herzen. — Diese Erwägungen
leiten uns zu der letzten der sieben Seligpreisungen.
„Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne
Gottes heißen." Beachten wir: nicht diejenigen, welche
in Frieden leben, in Frieden wandeln oder Frieden halten
mit andern, werden mit der göttlichen Segnung gekrönt,
sondern die Frieden machen, „die Friedensstifter".
Der Unterschied ist wichtig, da es viele Christen giebt,
die eine durchaus friedliche Natur haben, aber sehr wenig
geeignet sind, Frieden zu stiften; sie laufen vielmehr Gefahr,
untreu zu sein nm des Friedens willen. Frieden stiften
ist eine ganz andere Sache. Es ist die Gnade des Herrn
Jesu in gesegneter Ausübung, ein Oelgießen auf die beunruhigten
Wogen — auf die erregten Leidenschaften der
Menschen, und zwar ohne dabei die Heiligkeit Gottes aufzugeben
oder zu sagen: „Friede, Friede!" wenn kein Friede
da ist. Eine solche Thätigkeit mag viel Selbstverleugnung,
viel Sorge, viel Warten auf Gott erfordern und viel
Unruhe in unser eignes Gemüt bringen. Die widerstreitendsten
Gefühle, Ueberzeugungen und Interessen, wobei
Charakter und Lebensglück in Frage kommen, mögen
behandelt und in den Wagschalen des Heiligtums gewogen
werden müssen. Aber der Friedensstifter muß unparteiisch
sein; er muß darauf sehen, daß „Güte und Wahrheit
— 180 —
sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen". Es
muß sowohl Wahrheit vorhanden sein wie Gnade, sowohl
Reinheit wie Friede. Ferner muß der Wirksamkeit Gottes
Raum und Zeit gelassen werden. Der Friede ist nicht
zu erzwingen. Wo irgend aber sich die geringste Möglichkeit
zeigt, in Uebereinstimmung mit der Heiligkeit und
Wahrheit Gottes Frieden in eine Scene der Unruhe und
Kümmernis zu bringen, da sollte der Christ sich seines
Vorrechts und seiner Berufung erinnern und, wenn er
sich in dieser Scene befindet, auf Gottes gnädige Leitung
und auf Seinen Segen rechnen. „Glückselig die Friedensstifter,
denn sie werden Söhne Gottes heißen."
Allein es möchte gefragt werden: Ist denn jeder
Christ berufen, ein Friedensstifter zu sein? Wir erwidern
darauf: Ein jeder besitzt in Christo Jesu die Gnade, sowie
das Vorrecht der Gnade, in diesem gesegneten Werke
thätig zu sein, aber nicht alle haben sie in gleicher Weise
benutzt. Die Eigenschaft oder das Maß der Gnade, das in
einem Friedensstifter notwendig ist, hängt von seinem persönlichen
Seelenzustand in der Gegenwart Gottes ab. Wir
möchten fragen: Zeigen sich in ihm die übrigen Züge des
Charakters des Herrn? Genießt er z. B. die Segnung der
vorigen Seligpreisung: „Glückselig die Reinen im Herzen,
denn sie werden Gott schauen"? Das ist die göttliche
Vorbereitung für einen Friedensstifter. Er muß selbst
Gott gegenüber in der richtigen Stellung sein und den
süßen Frieden der Gemeinschaft mit Ihm schmecken.
Die Reinen im Herzen sind im Frieden mit Gott
durch das kostbare Blut Christi. Gereinigt von aller Sünde,
weißer als Schnee, schauen sie Gott und haben in der
göttlichen Gegenwart vieles gelernt, was sie zu Friedens
181
stiftern geeignet macht. Wer mit Gott wandelt, muß in
dem Geist des Selbstgerichts leben — muß alles verurteilen,
was ihm selbst in natürlicher Hinsicht angehört,
und dadurch seinen eignen Geist, sein Temperament, sein
Reden und Handeln beherrschen lernen. Ein reines Herz
ist ein friedeerfülltes Herz; es liebt den Frieden und sucht
ernstlich, den Frieden und das Glück anderer zu fördern.
Die Liebe beherrscht ein solches Herz und fließt über
gegen alle diejenigen, welche sich in der Lage befinden,
einen Friedensstifter nötig zu haben.
Aber, wird man einwendsn, außer der Liebe ist auch
ein gesundes geistliches Urteil nötig, wenn es sich um
streitige Punkte oder um Fälle der Zucht handelt. Sehr
wahr; aber wer ist so geschickt für ein gesundes geistliches
Urteil wie diejenigen, welche sich selbst richten und im
Lichte wandeln, wie Gott im Lichte ist? Die sechste
Seligpreisung ist daher, wie schon gesagt, die wahre Vorbereitung
zur Ausübung der göttlichen Gnade der siebenten;
oder wie Jakobus schreibt: „Aufs erste rein, sodann
friedsam." (Kap. 3, 17.)
Doch was sollen wir von denen sagen, die nicht nur
ihre himmlische Friedensmission vergessen, sondern selbst
Beunruhigung Hervorrufen? Die, anstatt beschuht zu sein
mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens und
auf Schritt und Tritt Frieden mit sich zu bringen, einhergehen
in einem Geiste des Splitterrichtens und Streitens?
Wir vertrauen zum Herrn, daß es solcher nicht
viele giebt. Aber sie sind da, und die Elemente der
Zwietracht sind in Thätigkeit; Beunruhigungen aller Art
entstehen. Hie und da mag ein verkehrter Eifer für das,
was man Wahrheit und Gerechtigkeit nennt, vorhanden
182 —
sein. Es giebt Personen, die einen geringen Fehler gern
zu einem ernsten Vergehen vergrößern, die einen ungenauen
Ausdruck sogleich als eine bewußte Lüge hinstellen, und,
indem sie ganz verschiedenartige Dinge zusammenbringen,
eine schwere Beschuldigung gegen einen Bruder oder eine
Schwester konstruieren und erheben, ohne daß diese sich
ihrer Schuld irgendwie bewußt wären. Und beide Seiten
mögen bis zu einem gewissen Punkte Recht haben; aber
wer soll zwischen ihnen entscheiden?
O welch ein Segen ist ein Sohn des Friedens in
einem solchen Augenblick! Ein wenig Weisheit, ein wenig
Geduld, ein wenig Liebe, ein wenig Rücksicht auf die
menschliche Schwachheit, ein wenig Warten auf den Herrn
könnte vielleicht den Schwachen retten und die Bedenken des
Starken zerstreuen. Vielleicht ist gar nichts wirklich Böses,
weder in sittlicher Hinsicht, noch im Blick auf die Lehre,
vorhanden; es handelt sich möglicherweise nur um scheinbare
Widersprüche, die von den einen zu rasch und scharf
getadelt, von den andern zu langsam entdeckt und anerkannt
werden. Ja, viel geringere Dinge als die eben beschriebenen
haben häufig Unruhe und Streit hervorgerufen
und viele Herzen in Brand gesetzt, so daß selbst die Zeit
den Schaden nicht mehr zu heilen vermochte. Gott sei Dank!
alles das hört auf mit unserm gegenwärtigen Zustand der
Schwachheit; im Paradiese droben ist alles Frieden und
Ruhe. Aber es würde nur Christo gemäß sein und uns
vor manchem Schmerz, vor mancher bittern Thräne bewahren,
wenn wir verständen, durch die Hand des Glaubens
ein wenig von diesem lieblichen Frieden in unsern gegenwärtigen
unvollkommnen Zustand herabzuziehen. „Glückselig
die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen."
183
Doch es giebt noch eine andere Klasse von Personen,
die weniger zu entschuldigen sind, indem sie ihre Friedens-
Misston soweit vergessen, daß sie ganz enttäuscht sind, wenn
man sie wenig beachtet, oder wenn ihr Dienst nach ihrer
Meinung nicht hoch genug geschätzt wird. Unglücklich und
unzufrieden in sich selbst, erwecken sie in andern dieselben
Gefühle. Ein Parteigeist offenbart sich, und Verwirrung
und Betrübnis sind das unausbleibliche Resultat. Verletzte
Eitelkeit, Neid und Eifersucht im Blick auf den
Dienst und dergl. ähnliche Dinge liegen solchen Unruhen
und Schwierigkeiten meist zu Grunde. Was könnte trauriger
sein für einen Diener des Herrn, als wenn er
für seine eigne Wichtigkeit mehr besorgt ist als für den
Frieden seiner Brüder? Ach! das Ich in irgend einer
seiner tausendfachen Formen ist die fruchtbare Quelle von
Schwierigkeiten, Won Streit und Zwietracht, sowohl in
geistlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Verständen
wir nur, das Ich vom Schauplatz zu verbannen und
würden wir allein für die Verherrlichung des Herrn besorgt
sein, indem wir jenes lieblichsten aller Titel: „sie
werden Söhne Gottes heißen", würdig wandelten, sicher,
alles würde dann Frieden und Liebe sein.
Wie überaus wichtig ist es daher für jeden Gläubigen,
diesen Ausdruck seines Charakters eingehend zu
erwägen! Was könnte Mn Fehlen ersetzen? was das
Vorhandensein des Gegenteils entschuldigen? Nichts! Wer
aus irgend welchem Grunde Zwietracht sät, anstatt Frieden
zu bewahren und zu stiften, hat seinen Weg als Kind
Gottes verfehlt. Wohl mag ein Christ in gewissen Kreisen
infolge seiner Treue für Christum der Anlaß zu vielem
Unfrieden werden; aber das ist eine ganz andere Sache.
184
Satan mag viele gegen ihn aufhetzen, weil er eben mit
seinem ganzen Herzen für Christum steht; ja, der Gläubige
darf dies erwarten, nach dem Worte des Herrn in Matth.
10, 34: „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden
auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden
zu bringen, sondern das Schwert." Allein er wird, soviel
an ihm liegt, darauf aus sein, keinen Anstoß zu geben und,
wenn möglich, keinen zu nehmen. Er wird sich fern halten
von Streit und Hader, sanftmütig leiden um Christi willen
und für seine ungläubige und sorglose Umgebung beten.
Die sieben Seligpreisungen sollten in lieblichem Verein
in seinem Verhalten zu tage treten, der Stellung gemäß,
in welcher er sich befindet. Ein wenig Besonnenheit,
Weisheit und Geduld, ein wenig Warten auf Gott seinerseits
wird manche scharfe Zunge zum Schweigen bringen,
manches aufgeregte Gemüt beruhigen, nicht selten dem
Widerstand die Spitze abbrechen und vielleicht Herzen für
Christum gewinnen. Keine einzige christliche Tugend offenbart
Gott in Seinen Kindern so sehr wie dieser friedenstiftende
Geist: „sie werden Söhne Gottes heißen."
Das, was Gott ist und woran Er sich erfreur, wird in
ihnen gesehen. Die moralische Aehnlichkeit wird offenbar
und ihre Sohnschaft bezeugt. Möchte so auch deine Sohnschaft
sich bewahrheiten, mein Leser; um diese Gnade bete
unaufhörlich, ernst, inbrünstig!
Gott ist der große Friedensstifter. Er hat Frieden
gestiftet, Er thut es noch und wird es thun, bis der
Friede für immer und ewig festgestellt ist in dem neuen
Himmel und auf der neuen Erde. Er hat Seine Wonne
an dem Titel: „Gott des Friedens", welcher siebenmal
in den Episteln vorkommt. Er liebt den Frieden; Streit
185
und Hader können nicht bei Ihm weilen. Wenn der
Dämon der Zwietracht naht, so zieht sich der Gott des
Friedens zurück; und ohne Frieden giebt es keine Auferbauung.
Als die Geburt Jesu durch die himmlischen Heerscharen
angekündigt wurde, riefen sie: „Herrlichkeit Gott
in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen
ein Wohlgefallen I" Und während des demütigen Wandelns
des Herrn als Friedensstifter durch diese Welt war Gott
in Christo, die Welt mit sich selber versöhnend, ihnen ihre
Uebertretungen nicht zurechnend. Er ist der große Versöhner
und hat Seinen Gesandten „das Wort der Versöhnung"
übertragen; und in diesem Geiste sollte das
gesegnete Werk stets vorangehen.
„Friede euch! Gleichwie der Vater mich gesandt hat,
sende ich auch euch." Der wahre Grund des Friedens
zwischen Gott und Menschen wurde in dem großen Werke
des Kreuzes gelegt. Dort wurde Gott verherrlicht und
dort auch Sein Wohlgefallen an den Menschen ans Licht
gestellt. Christus machte Frieden durch das Blut Seines
Kreuzes; und als Sein gesegnetes Werk vollbracht war,
kehrte Er zu Seinem Vater zurück, indem Er Seinen
Jüngern den vollen Segen des Friedens zurückließ: „Frieden
lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht
wie die Welt giebt, gebe ich euch." Der Friede, den Er
am Kreuze machte, und Sein eigner persönlicher Friede,
den Er bei Seinem Vater genoß, während Er durch die
Schwierigkeiten und Kümmernisse dieses Lebens ging, hat
Er als das reiche Vermächtnis Seiner Liebe allen denen
zurückgelassen, die an Ihn glauben.
Welch ein Vermächtnis! magst du Wohl ausrufen.
186
mein Leser. Ja, welch ein Vermächtnis für dich und
mich, und das für alle Ewigkeiten! Der Friede mit
Gott ist gemacht und unser Teil auf immer und ewig;
aber nicht nur das, nein, auch jener sütze Friede, der einst
das Herz unsers Heilandes in Seines Vaters Gegenwart
erfüllte, gehört unS, ist uns geschenkt. Darum laß uns
acht haben, daß wir einhergehen, erfüllt und bekleidet mit
diesem Frieden, daß alle unsre Pfade wirkliche Friedenspfade
seien!
O möchten alle, welche diese Zeilen lesen, aus eigner
köstlicher Erfahrung wissen, wie gesegnet alle diese Dinge
sind! Welch ein Vorrecht, sich in der Gegenwart Gottes
zu wissen, gereinigt von aller Sünde durch das ° Blut
Jesu, mit Gött versöhnt durch den Tod Seines Sohnes!
Gott hat keine Anklage mehr gegen uns; Christus ist
allem begegnet, hat jede Schuld auf sich genommen. Der
Friede ist errichtet auf dem festen, sichern Boden der erfüllten
und befriedigten Gerechtigkeit. Und dieser Friede
ist das unmittelbare, sichere und ewige Teil aller derer,
welche an Ihn glauben. Er hat ihn allen denen, die
aus Gott geboren sind, vermacht als ihr Geburtsrecht.
Lies es in Joh. 14^ür dich selbst, mein lieber Mitpilger,
glaube es für dich selbst und vertraue Ihm für dich selbst;
mache einen guten Gebrauch von dem dir zugefallenen
Vermächtnis, es kann nie geringer werden trotz der ausgiebigsten
Benutzung, nie abnehmen trotz der größten
Freigebigkeit. Suche es zu teilen mit allen denen, die
es annehmen wollen; teile es freigebig aus in, den Hütten
der Armen und in den Palästen der Reichen.
Ja, du kannst es dir gestatten freigebig zu sein, wenn
du ein Erbe des Friedens bist. Dein Erbteil kann nie
187
mals fehlen, nie sich erschöpfen. Seine Quelle ist das
Herz Gottes, sein Kanal das Kreuz Christi, seine Kraft
der Heilige Geist, daS Mittel, durch welches es dein wird,,
das Wort Gottes. Aber bedenke, daß der Unglaube nichts
ererbt als daS gerechte Gericht der beleidigten Güte und
Liebe Gottes. Der Unglaube verwirft alles, was die
göttliche Güte für uns bereitet hat: den Frieden und den
Gott des Friedens, das Heil und den Heiland, den Himmel
und sein Glück. Manche halten ihn bloß für ein
unthätiges oder verneinendes Uebel; aber nach Gottes
Urteil ist er die thätige Kraft alles Bösen. Er verwirft
die Wahrheit und glaubt einer Lüge; er weist den Frieden
ab und nährt die Feindschaft; er verschließt die Thür
des Himmels und öffnet die Pforten der Hölle; sein Atem
ist Trotz, sein Thun Selbstmord.
Das ist der Unglaube, die schreckliche, verhängnisvolle
Sünde des Unglaubens. Der Glaube aber, selbst wenn
er so klein wäre wie ein Senfkorn, setzt dich in den
Besitz des siebenfältigen Segens unsrer Seligpreisungen
und macht dich passend für das ewige Glück und die unvergängliche
Herrlichkeit des Vaterhauses droben. „Glaube
an den Herrn Jesum, und du wirst errettet werden."
(Apstgsch. 16, 31.) ' (Schluß folgt.)
Der Mensch ohne Gott.
Der Mensch ist ohne Gott, verderbt und verloren. Das
ist die traurige und schreckliche Folge seiner Sünde und
seines Abfalls von Gott. Was könnte schrecklicher sein für
das Geschöpf, als die Kenntnis Gottes, seines Schöpfers,
verloren zu haben! Aber so ist es mit dem Menschen in
188
seinem natürlichen Zustande. Er ist ohne Gott und
ohne die Kenntnis Gottes in dieser Welt. Gott ist von
allen seinen Gedanken ausgeschlossen. Eine christliche
Erziehung kann ihn dahin bringen, etwas von Gott zu
wissen oder von Ihm sagen zu können, aber in Wirklichkeit
kennt er Ihn nicht; und wenn Seine gerecheten
Forderungen und Ansprüche ihm vorgestellt werden, so
wendet er sich unwillig ab.
Der Mensch ist nicht so erschaffen worden. O
nein; der gegenwärtige Zustand des Menschen ist nicht
Gottes Werk, nicht das Ergebnis Seines Schaffens als
Schöpfer. Gott hat den Menschen „aufrichtig" geschaffen;
„Er schuf den Menschen in Seinem Bilde, im Bilde
Gottes schuf Er ihn." (Pred. 7, 29; 1. Mose 1, 27.)
Alles war vollkommen, und als der Schöpfer es ansah,
siehe, da war es „sehr gut".
Woher kommt denn die Veränderung, das Verderben,
der Fluch und die Entfernung des Menschen von Gott?
Ach! der Mensch, das abhängige, verantwortliche Geschöpf,
das Haupt dieser Schöpfung, hat sich von Gott abgewandt,
ist Satan gefolgt, hat der Lüge Satans geglaubt
und das Wort und die Güte seines Schöpfers verachtet.
Die Sünde in all ihrer verderbenden, verwüstenden und
trennenden Kraft ist gekommen und hat den Frieden und
Segen Edens gebrochen, den Menschen von Gott getrennt
und ihn zu einem unstäten, schuldigen Wanderer auf
Erden gemacht. Ja, er ist so völlig ohne Gott, daß er nicht
einmal wünscht, „Gott in Erkenntnis zu haben". Er
wünscht nicht, daß sein Geist mit dem Gedanken an Gott
beschwert werde. Wie schrecklich ist daS! Wie furchtbar
ist die Macht, wie entsetzlich sind die Folgen der Sünde!
189
Doch nicht genug damit; der Mensch ist auch der
Feind, der rastlos thätige Feind Dessen geworden, dem
er alle seine Segnungen verdankt. Gott läßt Seine Sonne
aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte
und Ungerechte. Der Mensch nimmt die Segnungen
in Empfang und verachtet Den, der sie giebt. Indem er
sich Satan unterworfen hat, hat er den Geist Satans in
sich ausgenommen — er ist ein Feind Gottes geworden.
„Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott,
denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht Unterthan, denn sie
vermag es auch nicht. Die aber, welche im Fleische sind,
können Gott nicht gefallen." (Röm. 8, 7. 8.) „Wer nun
irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind
Gottes dar." (Jak. 4, 4.)
Aber hat der Mensch infolge seines Falles seine
Verantwortlichkeit verloren? Ist er für sein Thun keine
Rechenschaft mehr schuldig? Hören wir, was die Schrift
sagt. Es steht geschrieben: „Ich sage euch aber, daß von
jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen reden
werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden am
Tage des Gerichts"; und: „Gott wird jedes Werk, es sei
gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene
bringen". (Matth. 12, 36; Pred. 12, 14.) Vor dem
großen weißen Throne werden alle, die einst dort stehen
werden, gerichtet „nach ihren Werken". (Offbg. 20,
11—15.) — Aber wenn dem so ist, wenn der Mensch
schuldig und unrein ist, getrennt von Gott, ein armes,
verlornes Wesen, wie kann er dann errettet, wie mit Gott
versöhnt werdens
Sollte der Mensch Gott kennen lernen und in Seine
Gegenwart zurückgeführt werden, so mußte Gott sich selbst
190
offenbaren und die Sünde des Menschen hinweggethan
werden. Man redet oft von Ursache und Wirkung. In
dem vorliegenden Falle ist die Sünde die Ursache, und
die Thatsache, daß der Mensch ohne Gott und ein schuldiges
Wesen ist, die Wirkung. Die Sünde, die Ursache,
mußte hinweggethan werden, und zwar durch Ihn, der
die vollkommene Offenbarung Gottes sür den Menschen
ist. Der Mensch kennt Gott nicht; Christus, der Ein-
geborne vom Vater, das fleischgewordene Wort, hat Ihn
kundgemacht. Gott ist dem Menschen nahe gekommen und
hat sich ihm in der Person Seines geliebten Sohnes geoffenbart.
„Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne
Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht."
(Joh. 1, 18.) Welch eine unendliche Segnung,
daß es Gott in Seiner wunderbaren Gnade gefallen hat,
sich so dem Menschen zu offenbaren, als er ohne Gott
und in seinen Sünden verloren war! Nicht durch sein
Suchen findet der Mensch Gott, sondern dadurch, daß
Gott sich ihm offenbart.
Wie sollten wir Gott dafür danken, geliebter
Leser, daß Er sich selbst uns so bekannt gemacht hat!
Trotz des unreinen und rebellischen Zustandes des
Menschen tritt Gott hervor und offenbart sich in dem
Charakter der Gnade und Liebe in dem Herrn Jesu.
Wie beugt das das Herz nieder und gewinnt es zugleich
sür Gott! Das Vertrauen des Menschen auf Gott
ist durch sein Glauben an die Lüge Satans verloren gegangen;
es wird wiederhergestellt, indem er den also
geoffenbarten Gott anschaut und in Ihm nicht, wie Satan
ihn glauben machen möchte, einen Feind, sondern einen
Freund findet.
191
Wie kostbar sind die Worte Christi: „Alles ist mir
übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den
Sohn, als nur der Vater, noch erkennt jemand den
Vater, als nur der Sohn, und wem irgend
der Sohn Ihn offenbaren will." (Matth. 11, 27.)
Wir begegnen in Matthäi 11 zwei bestimmt unterschiedenen
Klassen von Personen, den „Weisen und Verständigen",
d. i. den Klugen, mit sich selbst Zufriedenen, und den
„Unmündigen", d. i. denen, die da wissen und bekennen,
daß sie unwissend, hülslos und für Gott unpassend sind.
Jene wunderbare Offenbarung Gottes in Christo nun ist
vor den „Weisen und Verständigen" verborgen, aber —
Gott sei gepriesen! — den „Unmündigen" geoffenbart.
Der in sich selbst weise und deshalb sich selbst betrügende
Sünder wird verworfen, während der zitternde Unmündige,
der von seinem Gewissen Ueberführte, der Hülflose, Mühselige
und Beladene angenommen wird und Gott kennen
lernt in Seinem anbetungswürdigen Sohne.
Die Kenntnis Gottes und das Vertrauen auf Ihn
giebt Ruhe, süße, gesegnete Ruhe. An die zweite Klasse
wendet sich Christus mit den Worten: „Kommet her zu
mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde
euch Ruhe geben." (V. 28.) Ja fürwahr, zu einem verlassenen
und trotzdem so überaus gnädigen Gott zurückzukehren,
das giebt Ruhe. Die stete Unruhe des menschlichen
Herzens ist die Folge seiner Entfernung von
Gott. „Kommet her zu mir" — Gott, geoffenbart im
Fleische, — „und ich werde euch Ruhe geben", sagt
Jesus. So lerne ich Gott als einen Heiland kennen,
und das verleiht Ruhe und befreit mich von dem, was
die Trennung bewirkt hat, von Sünde und Schuld.
192
Aber die Sünde muß doch hinweggethan werden?
Gewiß; und wie wunderbar! derselbe Herr, welcher den
Vater kundgemacht und Gott geoffenbart hat, weil Er Gott
war, obwohl zugleich wahrhaftiger Mensch, hat die Sünde
hinweggethan; und Er hat deshalb ein Recht zu sagen:
„Kommet her zu mir, und ich werde euch Ruhe geben."
Wie deutlich und klar spricht die Schrift über diesen
Punkt! Und Gott sei Dank, daß es so ist! Möchten
unsre Seelen stets mit tiefer Ehrfurcht auf Erklärungen
lauschen wie die folgenden: „Nachdem Gott vielfältig und
auf mancherlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat
in den Propheten, hat Er am Ende dieser Tage zu uns
geredet im Sohne, den Er gesetzt hat zum Erben aller
Dinge, durch den Er auch die Welten gemacht hat; welcher,
der Abglanz Seiner Herrlichkeit und der Abdruck
Seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort
Seiner Macht tragend, nachdem Er durch sich selbst
die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt
hat zur Rechten der Majestät in der
Höhe." (Hebr. 1, 1—3.)
Er, der „der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und
der Abdruck Seines Wesens" war, ist also derselbe, welcher
durch sich selbst „die Reinigung unsrer Sünden gemacht"
und, nachdem Er das gethan, „sich gesetzt hat
zur Rechten der Majestät in der Höhe". Welch eine
sichere Grundlage unsers Heils! Möchten wir alle, Schreiber
und Leser dieser Zeilen, mehr die Freude und das
ewige Glück genießen, Ihn zu kennen als Den, der Gott
geoffenbart und die Reinigung unsrer Sünden
gemacht hat!
193
Die beiden Religionen.
„Zwischen Ihrer Religion nnd der meinigen besteht
ein großer Unterschied", sagte eines Abends eine Christin
zu einem Bekannten, für dessen geistlichen Zustand sie sich
schon seit langer Zeit sehr interessiert hatte.
„Wirklich?" fragte der andere; „inwiefern denn?"
„Ihre Religion," lautete die Antwort, „besteht aus
vier Buchstaben, die meinige aus sechs."
Der also angeredete Mann gehörte zu jener zahlreichen
Klasse von Personen, welche durch ihr Thun in
den Himmel zu kommen suchen. Religiös, ehrbar, eifrig in
der Beobachtung christlicher Formen und Satzungen, und
bereit, zu allen Werken der Nächstenliebe hülfreiche Hand
zu bieten, sind sie reich an dem, was der Apostel im
9. Kapitel des Hebräerbriefes „tote Werke" nennt.
Der gute Mann wußte nicht, was er aus der sonderbaren
Antwort seiner Freundin machen sollte. Diese hatte
schon oft mit ihm über religiöse Dinge gesprochen und
war an jenem Abend gekommen, um Abschied von ihm
zu nehmen, da sie für einige Zeit verreisen wollte. Endlich,
nach längerem Besinnen, sagte er:
„Was meinen Sie eigentlich mit den „vier" und
„sechs" Buchstaben?"
„O das ist sehr einfach. Ihre Religion heißt:
„thun"; die meinige: „gethan"."
Weiter wurde nichts gesprochen. Man nahm Abschied,
und die Sache war damit scheinbar erledigt. Aber
Gott benutzte die kurze Unterhaltung zum ewigen Heil
des Mannes. Die Worte seiner Freundin gingen ihm
194
nach und thaten ein Werk in seiner Seele, wie er es
nie für möglich gehalten hätte. Sie riefen eine völlige
Umwälzung in allen seinen Gedanken hervor. Er fühlte
sehr wohl den Unterschied zwischen seiner Religion und
derjenigen seiner Freundin, denn „thun" und „gethan"
sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das eine bedeutet
Gesetzlichkeit, das andere bildet die Grundlage des Christentums.
Es war allerdings eine neue und etwas merkwürdige
Art, das Evangelium von dem vollbrachten Werke
Christi vorzustellen; aber sie war gerade passend für einen
gesetzlichen Charakter, und der Geist Gottes bediente sich
ihrer zum Nutzen des Hörers. Als der Mann das nächste
Mal wieder mit seiner Freundin zusammentraf, sagte er
Zu ihr: „Jetzt kann ich auch sagen, daß meine Religion
aus sechs Buchstaben besteht. Der Herr sei ewig gepriesen,
daß Er alles gethan hat!"
Er hatte seine „toten" Werke in ihrer ganzen Wertlosigkeit
vor Gott erkannt und gelernt, völlig von ihnen
abzusehen und in dem vollbrachten Werke Christi zu ruhen.
Die Gnade Gottes hatte ihn dahin geleitet zu sehen, daß
es sich nicht mehr darum handelte, was er für Gott
thun konnte, sondern was Gott für ihn gethan hatte.
Das ordnete alles. Gethan — alles gethan, alles
für ewig vollbracht, was zu unserm Heile nötig ist!
Kostbares Wort! Wer könnte die tiefe Freude und Erleichterung
eines mühseligen und beladenen Herzens schildern,
wenn es entdeckt, daß alles gethan ist? Welch
ein Glück, zu wissen, daß das, dessen Erreichung es vielleicht
seit vielen Jahren vergeblich angestrebt hat, schon vor
mehr als achtzehn Jahrhunderten auf dem Kreuze geschehen
ist. Christus hat alles gethan. Er hat die Sünde
195
hinweggethan, den Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit
völlig genügt, den Fluch des Gesetzes getragen, Satan besiegt,
dem Tode seinen Stachel genommen und dem Grabe
seinen Sieg; Er hat Gott gerade da verherrlicht, wo Er
verunehrt worden war, und eine ewige Gerechtigkeit für
den glaubenden Sünder erworben. Alles das liegt eingeschlossen
in dem einen kurzen, aber so kostbaren Worte:
„gethan". O wer wollte dafür nicht sein eignes armseliges
„Thun" aufgeben?
Mein Leser! was ist deine Religion? Besteht sie
aus vier oder aus sechs Buchstaben? Bist du immer
noch damit beschäftigt, zu „thun", oder hast du mit dir
selber und all deinem eignen Wirken abgeschlossen und
deine Ruhe in der seligen Gewißheit gefunden, daß alles
„gethan" ist? Möchte das letztere der Fall sein! Nur
so kannst du wahrhaft glücklich sein, nur dann, wenn du
in dem vollbrachten Werke Christi Ruhe gesunden hast,
beginnen, etwas für Den zu thun, der alles für dich
gethan hat. Denn dann ist alles verändert. Statt
der fruchtlosen Anstrengungen eines ohnmächtigen, verlornen
Sünders, statt der „toten" Werke eines von Satan
gebundenen Sklaven zeigen sich die lieblichen Früchte eines
neuen Lebens, dessen Quelle Gott selbst ist; es erklingen
die Lobgesänge eines aus der Gewalt der Finsternis und
der Herrschaft der Sünde erlösten Gläubigen, der, aufrecht
erhalten und gekräftigt durch die Güte und Macht
seines Erlösers, fähig gemacht ist, auf dem schmalen Pfade
der Wahrheit zu Seiner Verherrlichung zu wandeln. Die
Zeit der „toten" Werke ist vorüber, und die Zeit der
„guten" hat begonnen, wie wir lesen: „Er hat sich selbst
für uns gegeben, auf daß Er uns loskaufte von aller
196
Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentums-Volk,
-eifrig in guten Werken." (Tit. 2, 14.)
Der Herr gebe unS allen ein einfältiges Auge, ein
kindliches, demütiges Herz und einen aufrichtigen Eifer
für Seinen Namen! „Denn einst wäret ihr Finsternis,
jetzt aber Licht in dem Herrn; wandelt als Kinder
des Lichts." (Eph. 5, 8.)
Gedanken.
Wenn Gott einen Menschen dadurch ehrt, daß Er
ihm viel zu thun giebt, so möge dieser sich darüber freuen,
aber nicht murren; denn wenn er murrt, kann er sehr
bald diese Ehre verlieren. Gott ist niemals in Verlegenheit
um Werkzeuge. Er ist an keinen Menschen gebunden
und wird uns niemals zwingen, an einem Ehrenplätze zu
bleiben, wenn wir Ihm nicht das Vertrauen schenken,
daß Er uns da aufrecht erhalten kann. So war es mit
Mose. Mose beklagte sich über die Last, die auf seinen
Schultern ruhte; die Last wurde sehr bald entfernt, damit
aber auch die hohe Ehre, sie allein tragen zu dürfen.
(4. Mose 11.)
Wenn andrerseits ein Mensch in der Eitelkeit seines
Sinnes sich selbst in den Vordergrund stellt und eine
Last auf seine Schultern nimmt, die Gott ihm nie zu
übertragen beabsichtigt und für die Er ihn auch nie befähigt
hat, so können wir sicher erwarten, ihn unter dem
Gewicht zusammenbrechen zu sehen; aber wenn Gott eine
Last auf uns legt, so wird Er uns auch die Fähigkeit
und die Kraft geben, sie zu tragen.
Der Weg des Glaubens in einer
bösen Zeit.
Gin Wort der Warnung und Ermunterung.
IV.
Christus, das Haupt.
Wir brauchen nur einen Blick in die Briefe an die
Epheser und Kolosser zu werfen, um zu sehen, welch ein
hervorragender Platz Christo als dem Haupte des Leibes
im Anfang des Christentums gegeben wurde. Gerade der
Umstand, daß die jungen Gläubigen in Kolossä „daS
Haupt nicht festhielten", brachte sie in Gefahr, durch die
falschen Lehren der Engel-Anbetung, des religiösen Formenwesens,
der Philosophie und des Vernunftglaubens irregeleitet
zu werden. Selbstverständlich genügt es nicht,
die bloße Lehre von Christo als dem Haupte Seines
Leibes zu kennen; was not thut, ist, in dem Glauben
und den innigen Zuneigungen des Herzens das Haupt
festzuhalten und so mit Ihm in Gemeinschaft zu bleiben.
Wenn der Herr Jesus als das Haupt aller Fürstentümer
und Gewalten daS Herz eines Gläubigen erfüllt, und wenn
das Bewußtsein in diesem lebt, daß er in Ihm vollendet
ist, wie könnte er dann daran denken, Engel anzubeten, die
durch Ihn erschaffen und Ihm unterworfen sind? Wenn
er ferner seinen neuen Platz der Begnadigung in Ihm,
dem Geliebten, kennt und genießt, wie könnte er dann
sein Vertrauen auf irgendwelche religiösen Formen setzen,
198
oder glauben, durch die Erfüllung derselben Gott näher
zu kommen?
Er, der „das Haupt aller Fürstentümer und Gewalten"
ist, ist zugleich „das Haupt des Leibes", so daß die Quellen
aller Auferbauung des Leibes in Ihm sind. (Kol. 2, 10;
Eph. 4, 15.) Es ist deshalb unmöglich, auf dem wahren
Boden des Christentums zu stehen oder gegenüber den
Gliedern des Leibes Christi in der richtigen Stellung zu
sein, wenn man nicht das Haupt festhält. Wenige thun
dies leider so, wie es im Anfang geschah, und daher
zeigen sich so viel Trägheit und so viele verkehrte Dinge.
Manche erheben sich in ihren Gedanken nicht über die
Thatsache, daß wir „Brüder" sind; aber dieses Verhältnis
werden selbst die Juden im tausendjährigen Reiche kennen.
Das Verhältnis von „Haupt" und „Gliedern" aber
gehört, so weit wir die Schriften verstehen, allein der Kirche
oder Versammlung Gottes an; und nur wenn wir „das
Haupt festhalten", sind wir imstande, die Glieder Seines
Leibes gleichsam mit Seinen Augen und nach Seinem
Herzen und Seinen Gedanken zu betrachten. Möchten
deshalb alle Gläubige zu dem zurückkehren, was von
Anfang war!
Die bleibende Gegenwart des Heiligen Geistes.
Ein anderer wesentlicher Charakterzug des Christentums
ist die Gegenwart des Heiligen Geistes, der aus
dem Himmel herniedergekommen ist, um bei uns und in
uns zu sein, um uns zu leiten, zu belehren, zu trösten
und, wenn es nötig ist, zu strafen, so lange unser Herr
abwesend ist. Die Art und Weise, wie wir diesen „andern
Sachwalter" behandeln, ist ein ernster Prüfstein für den
— 199 —
Zustand unsrer Seele. Wenn wir einhergehen ohne das
bestimmte Bewußtsein, daß wir stets Seines Beistandes,
Seines Dienstes und Seiner Leitung bedürfen, und wenn
wir uns nicht fürchten, Ihn zu betrüben, so wandeln wir
offenbar in Selbstvertrauen, so schön und fromm auch
unser äußeres Kleid scheinen mag.
ES ist wichtig, sestzuhalirn, daß eS die Person
des Heiligen Geistes ist, die uns gegeben und die das
göttliche Siegel der reinigenden Wirkung des Blutes Christi
ist. Es ist nicht ein Maß des Geistes, nicht bloß ein
Ausfluß der Gottheit, sondern Gott, der Heilige Geist,
mit welchem wir versiegelt und gesalbt sind, der zugleich
die Kraft der Einheit und das Unterpfand des Erbes ist,
bis zur Erlösung des erworbenen Besitzes.
Die Einheit der drei Personen der Gottheit zeigt sich
unter anderm darin, daß der Heilige Geist uns Zeugnis
giebt von dem Vater und dem Sohne, und daß der
Herr Jesus in uns und durch uns handelt durch den
G ei st. Wir lesen, daß zu einigen, die dem Herrn
dienten und fasteten, der Heilige Geist sprach:
„Sondert mir nun Barnabas und Saulus aus zu dem
Werke, zu welchem ich sie berufen habe." (Apstgsch. 13, 2.)
Ferner ist in den Sendschreiben an die sieben Versammlungen
der Herr der Redende, und doch sagt Er siebenmal:
„Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den
Versammlungen sagt." Aus diesen und andern Schrift-
stellen geht klar hervor, daß, wenn wir mit dem Herrn
beschäftigt sind, wo Er jetzt ist, der Geist uns leiten und
belehren wird; und umgekehrt, wenn wir in Abhängigkeit
von dem Geiste stehen, so wird Er uns mit unserm Herrn
Jesu Christo in den Himmeln beschäftigen, sowie mit dem,
200
waS zu Seiner Verherrlichung gereicht. Wir lesen von
unserm Herrn, daß Er die Gefangenschaft gefangen geführt
und den Menschen Gaben gegeben hat (Eph. 4, 8);
und ferner lesen wir von „Verschiedenheiten von Gaben",
aber von „demselben Geist", und alles ist zur Auferbauung
des Leibes Christi.
Laß uns nie vergessen, geliebter christlicher Leser,
daß „jedem einzelnen von uns die Gnade gegeben worden
ist nach dem Maße der Gabe des Christus", so daß jedes
Glied des Leibes, gerade so wie beim menschlichen Körper,
seinen besondern Platz und ein gewisses Maß des Dienstes
auszufüllen hat, welches kein anderes Glied ausfüllen
könnte, und ferner, daß jedes Gieb zum Wohle des ganzen
Leibes notwendig ist. „Der Leib ist nicht ein Glied,
sondern viele"; d. h. er ist aus vielen und mancherlei
Gliedern zusammengesetzt, so daß niemand sagen kann, er
bedürfe nicht aller Glieder des „einen Leibes". Wir bedürfen
einander, so wie unsre natürlichen Glieder in ihren
verschiedenen Verrichtungen zum Wohlbefinden des ganzen
Leibes notwendig sind. Diese Erwägung ist von großer
praktischer Bedeutung. Wir könnten sagen: es ist das
Christentum, so wie eS im Anfang war, und es steht im
völligsten Gegensatz zu Unabhängigkeit und Selbstsucht.
Ein Gläubiger, der nicht in dieser Weise die Gnade und
die Gaben der Glieder des Leibes Christi ehrt, (nicht nur
innerhalb der Versammlung, sondern auch im allgemeinen,)
wandelt praktisch nicht so, wie er wandeln sollte. Viel
Kummer und viele schwere Fehler entstehen unter den Christen
aus dem Mangel an Unterwürfigkeit gegenüber dem
Herrn, indem sie Seine Hülfe vermittelst Seiner Glieder
nicht benutzen und es unbeachtet lassen, daß dem einen
201
„das Wort der Weisheit", dem andern „das Wort der
Erkenntnis" durch denselben Geist zugeteilt ist. Welch
reiche Segnungen würden vorhanden sein, wenn alle
Gläubigen das Haupt festhielten und so in der Kraft
eines ungetrübten Geistes für die Glieder Seines Leibes
Sorge trügen!
Der Leib ist also, wie wir gesehen haben, „nicht
ein Glied, sondern viele. Wenn der Fuß spräche: Weil
ich nicht Hand bin, so bin ich nicht von dem Leibe; ist
er deswegen nicht von dem Leibe? . . . Nun aber sind
der Glieder zwar viele, der Leib aber einer. Das Auge
kann nicht zu der Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht;
oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich bedarf
euer nicht; ... auf daß keine Spaltung in dem Leibe
sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge für einander haben
möchten." (1. Kor. 12, 14—26.) Wunderbare Wahrheit!
Aber, mögen wir wohl fragen, wer befindet sich heute
praktisch in diesem Kreise? Wo find diejenigen, welche
mit allem Ernst für diese Wahrheit streiten als für den
Glauben, der einst den Heiligen überliefert worden ist?
Es hat eine Zeit gegeben, wo die Gläubigen so sehr in diesen
Dingen lebten, daß schon das bloße Wort „unabhängig"
die Gefühle vieler verletzte. Die Wahrheit wurde mit
Entschiedenheit festgehalten, daß „einem durch den Geist
das Wort der Weisheit gegeben wird, einem andern aber
das Wort der Erkenntnis nach demselben Geiste,, einem
andern aber Glauben in demselben Geiste ec."; so daß
die Glieder des Leibes in Abhängigkeit von dem Haupte
wandelten und, indem sie jene Wege des Geistes anerkannten,
mit einander die Schritte berieten, die sie einschlagen
wollten, um so vielleicht die richtige Leitung des
202
Herrn zu empfangen. Beachten wir wohl, wie oft wiederholt
wird: „durch denselben Geist"! (1. Kor. 12, 8—18.)
Wenn daher Glieder des Leibes unabhängig von einander
wandeln und handeln, so setzen sie dadurch die Ordnung
beiseite, die Gott zu Seiner Verherrlichung und unserm
Segen gegenwärtig auf Erden eingerichtet hat. Unabhängigkeit
ist nicht Christentum.
Viel von der Schwachheit und Untreue unter den
Gläubigen unsrer Tage hat seinen Grund auch darin,
daß sie sich so wenig mit dem beschäftigen, was Christus,
ihr Herr, jetzt droben für sie ist und thut. Die Beschäftigung
mit Seinen mannigfaltigen Thätigkeiten droben
würde ihren Sinn auf die Dinge richten, die droben sind,
sie von dem gegenwärtigen bösen Zeitkauf loslösen, und
sie antreiben, zu Seiner Verherrlichung zu leben. Wir
sollten zu allen Zeiten fähig sein, zu sagen: „Unser
Bürgertum ist in den Himmeln" — unser Leben, unsre
Gerechtigkeit, unser Friede, unsre Segnungen, unsre Heimat,
unsre Quellen, mit einem Wort, alles ist dort.
Und wenn wir dies wirklich zu sagen vermögen, so werden
wir auch wahrheitsgemäß hinzufügen können: „von
woher wir auch den Herrn Jesum Christum als Heiland
erwarten, der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten wird
zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit,
nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag, auch alle
Dinge sich zu unterwerfen." (Phil. 3, 20. 21.)
Aus allem, was gesagt worden ist, geht klar hervor,
daß viele der Wahrheiten, die im Anfang des Christentums
eine so große Gewalt über die Herzen und Gewissen
hatten, den Gläubigen praktisch entschwunden sind; und
wir dürfen versichert sein, daß der Pfad des Glaubens
203
in einer treuen Rückkehr zu diesen Wahrheiten und in
einem entschiedenen Handeln nach denselben besteht. Die
ermunternden Worte des Herrn gelten heute noch: „Sei
getreu bis zum Tode, und ich werde dir die Krone des
Lebens geben." Und wenn unsre Herzen ängstlich und
verzagt werden wollen wegen der Leiden oder der mancherlei
Verluste, die ein solches Handeln im Glauben für
uns im Gefolge haben könnte, so ruft Er uns tröstend
zu: „Meine Gnade genügt dir; denn meine Kraft wird
in Schwachheit vollbracht." Er fordert uns auf, „zu
Ihm hinauszugehen, außerhalb des Lagers, Seine
Schmach tragend", und Er sagt unS: „Euch ist es
in Bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein
an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden."
(Offbg. 2, 10; 2. Kor. 12, 9; Hebr. 13, 13;
Phil. 1, 29.)
Niemand kann heute in einer richtigen Stellung sich
befinden, der nicht demütig den Verfall der Kirche oder
Versammlung als der Zeugin Gottes auf Erden anerkennt.
Die Darstellung ihrer Einheit hienieden ist dahin, um nie
wieder hergestellt zu werden, obgleich die Treuen verantwortlich
sind, nach ihren Grundsätzen zu handeln, so weit
ein Ueberrest dies vermag. Dies schließt das Bewußtsein
in sich, daß vieles verloren ist, was im Anfang war,
sowie die dankbare Annahme und Anerkennung dessen, was
durch Gottes Gnade noch geblieben ist. Obgleich wir weder
Apostel und Propheten, noch Zeichen- und Wundergaben
haben, so bleiben doch der Heilige Geist, die Schriften,
Christus in Seiner mannigfaltigen Thätigkeit droben und
die Gaben zur Auserbauung der Heiligen; Gott sei dafür
gepriesen! Und diejenigen, welche das, was geblieben ist,
204
in Demut anerkennen und auf die Barmherzigkeit und
Treue Gottes rechnen, werden auch stets die Zeichen Seiner
Macht und Seines Segens sehen.
Selbstverständlich ist die bloß äußerliche Einnahme
einer Stellung (so schriftgemäß sie auch sein mag)
ohne jenen Zustand des Glaubens, der Liebe und der
Hoffnung, der unserm Herrn gegenüber sich gebührt, ein
armseliges Ding und wird bald zu einer bloßen Formsache
herabsinken. Aber wir dürfen andrerseits versichert
sein, daß dann, wenn unsre Stellung der Wahrheit Gottes
gemäß ist und wir mit Herzensentschluß bei dem Herrn
verharren, auch ein Zeugnis für Ihn vorhanden sein
wird, selbst wenn die Dinge um uns her eine noch
traurigere Gestalt annehmen sollten, als es bereits der
Fall ist. Gott erwartet Wirklichkeit von uns. Die große
wichtige Frage für uns alle ist: Sind unsre Herzen darauf
gerichtet. Ihm wohlzugefallen durch einen Wandel in
der Wahrheit? Wie bald mögen wir ausgenommen werden,
um unserm Herrn in der Luft zu begegnen! Trachten
wir darnach, aus Seinem Munde ein: „Wohl, du
guter und getreuer Knecht!" zu vernehmen?
Die Seligpreisungen.
(Matth. 5, 1—12.)
(Schluß.)
„Glückselig die um Gerechtigkeit willen
Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der
Himmel. Glückselig seid ihr, wenn sie euch
schmähen und verfolgen und jedes böse Wort lügnerisch
wider euch reden werden um meinetwillen.
205
Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn
ist groß in den Himmeln; denn also haben
sie die Propheten verfolgt, die vor euch
waren." (V. 10—12.)
Müßten wir nicht die Kinder des Reiches in einer
feindseligen Welt zurücklassen, so könnten wir hier unsre
Betrachtung über die Seligpreisungen schließen, in der
völligen Gewißheit, daß jene vollkommen gesegnet seien;
denn siebenmal gesegnet zu sein, das ist göttliche Vollkommenheit.
Allein so gesegnet sie auch sein mögen, so
glücklich in der göttlichen Gegenwart, so passend für die
Ererbung der Erde in der herrlichen Zeit des tausendjährigen
Reiches, so passend selbst für die Herrschaft mit
Christo in den höheren Regionen der Herrlichkeit — sie
stehen doch noch in dieser Welt, gerade so wie sie darin
standen, ehe sie aus Gott geboren wurden; ja, sie sind
vielleicht von denselben Personen und Verhältnissen umgeben
wie vorher.
Wir können das alle Tage sehen. Die Heimat, die
einst so traulich und angenehm war, ist für manche zu einer
trostlosen Einöde geworden. Wie oft haben Jungbekehrte
die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß sie in
demselben Hause, in welchem sie die glücklichen Tage ihrer
Kindheit verlebten und wo sie in ihrem unbekehrten Zustande
geliebt und geachtet waren, als Fremdlinge betrachtet
oder gar wie Ausgestoßene behandelt wurden!
Da sie selbst völlig verändert sind, die Familie aber dieselbe
geblieben ist, können sie keine Gemeinschaft mehr
mit den Wegen der letzteren haben, und umgekehrt kann
jene nicht mit ihnen harmonieren. Alles ist verändert;
ein Widerspruch ist unvermeidlich, und Verfolgung in der
206
einen oder andern Form sicher, vor allem wenn der
Jünger Christi das Bild seines Meisters trägt, so wie es
in den sieben Seligpreisungen beschrieben ist. „Alle aber
auch, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden
verfolgt werden." (2. Tim. 3, 12.)
„Schweige! bist du weiser als dein Vater und
deine Mutter, verständiger als deine Brüder und Schwestern?
Müssen wir alle uns unter dich beugen?" —
das ist vielleicht die leichteste Form der Verfolgung, die
ein Jünger des Herrn zu erdulden hat. Aber doch ist es
ein Widerstand gegen die Gnade Gottes und den Geist
Christi, der sich in dem jungen Gläubigen offenbart. Dieser
muß jetzt einsam und allein seinen Pfad gehen.
Wir haben bis jetzt hauptsächlich von dem Charakter
der Kinder Gottes gesprochen; wir möchten nun für
einen Augenblick bei ihrer Stellung in einer bösen
Welt verweilen. Wenn der moralische Charakter derer,
die Christo angehören, sich bis zu der Höhe der siebenten
Seligpreisung erhebt, so muß notwendigerweise der Geist
der Verfolgung erwachen und sie Leiden und Trübsalen
aussetzen; und dies wird so lange der Fall sein, bis das
Reich der Himmel in Macht und Herrlichkeit errichtet
werden wird. Hätte der Herr nicht eine besondere Seligpreisung
für diesen Zustand der Dinge ausgesprochen, so
würden die Jünger vielleicht geneigt gewesen sein, zu
sagen, daß ihre Lage nichts weniger als glückselig sei,
da die Seligpreisung des Himmels nur den Haß und die
Feindschaft des Menschen auf sie bringe. In der That,
eine solche Sprache wäre natürlich gewesen, aber nicht
geistlich — ein Wandeln durch Schauen, nicht durch
Glauben. Aber wozu ist der Unglaube nicht fähig! Was
207
alles wird er nicht sagen und thun! Und leider liegt noch
viel Unglaube in den Herzen der Gläubigen versteckt. Aber
wie reich und überströmend ist dem gegenüber die Gnade
unsers Herrn Jesu! Er preist diejenigen zweimal glückselig,
welche der Verfolgung seitens der Welt ausgesetzt
sind. Das vervollständigt das schöne Gemälde, das Er
von dem Charakter und der Lage Seines Volkes entwirft,
und verleiht jedem einzelnen Umstand in ihrer Stellung
während des Wartens aus das Reich ein großes Interesse.
„Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten,
denn ihrer ist das Reich der Himmel." Wie merkwürdig
und fremd muß diese Sprache denen geklungen haben,
die eine äußere Herrlichkeit, oder eine Herrschaft des
Friedens, ein Paradies auf Erden, erwarteten! Aber der
Herr stellt Seinen Jüngern deutlich vor, was ihre neue
Stellung in dieser Welt sein würde; und je deutlicher
ihre Aehnlichkeit mit Ihm hervorträte, desto schwerer würden
ihre Verfolgungen sein. Er bezieht sich hier insbesondere auf
die erste Gruppe der Seligpreisungen, die durch „Gerechtigkeit"
charakterisiert wird, wie die zweite durch „Gnade".
„Glückselig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich
der Himmel." Jede wiedergeborue Seele muß mehr oder
weniger ein Gefühl von ihrem eignen Nichts haben, sowie
ein aufrichtiges und ernstes Verlangen, im Gehorsam
gegenüber dem Willen Gottes erfunden zu werden. Das
ist Gerechtigkeit, und zwar die Gerechtigkeit, welche Verfolgung
in diesem Leben hervorruft. Nehmen wir ein
Beispiel. Ein mit dem Herrn wandelnder Christ fürchtet
sich, irgend etwas zu thun, was verkehrt ist, und wünscht,
stets den rechten, Gott wohlgefälligen Weg zu gehen; er
übt sich, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor
208
Gott und den Menschen". (Apstgsch. 24, 16.) Das ist
der Brustharnisch der Gerechtigkeit. Aber nun wird ihm
eine Verbesserung seiner Lage, eine einträglichere Stellung
oder dergl. angeboten, wenn er sich zu etwas verstehen
will, bezüglich dessen er fürchtet, daß es nicht recht
sei. Das Anerbieten ist vielleicht sehr vorteilhaft und
verführerisch, während er selbst sich in einer mißlichen
Lage befindet. Die Versuchung ist groß; aber er wartet
auf den Herrn; er bringt die Sache vor Ihn; das Licht
scheint, und der Zweck des Versuchers wird offenbar.
Das Anerbieten wird bestimmt abgewiesen; die Gerechtigkeit
trägt den Sieg davon, aber der Gläubige leidet um
ihretwillen. Er wird mißverstanden, ein Thor genannt,
oder gar als ein großer Narr und Fanatiker hingestellt.
Er verliert nicht nur, was ihm angeboten wurde, sondern
möglicherweise auch das, was er bisher besaß. Man
kann ihn nicht mehr brauchen, und er wird entlassen.
Dennoch kann er sagen: Mein gegenwärtiger Verlust
wird sich unter der gerechten Regierung Gottes als mein
ewiger Gewinn erweisen. Er hat ein vorwurfsfreies
Gewissen und ein glückliches Herz; er wird dem Herrn
näher gebracht, da er in Abhängigkeit von Ihm einhergeht.
„Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten,
denn ihrer ist das Reich der Himmel." Wenn der König
aus dem fernen Lande heimkehren und Seine Knechte um
sich sammeln wird, was wird es dann sein, aus Seinem
Munde die Worte zu vernehmen: „Wohl, du guter und
getreuer Knecht! über weniges warst du getreu, über
vieles werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude deines
Herrn!" (Matth. 25, 21.)
Stehen wir hier einen Augenblick still, mein Leser.
209
Laß uns geduldig und mit Gebet über diesen so überaus
praktischen Gegenstand nachsinnen. Erwägen wir mit Ernst
die vielen Wege, auf welchen wir treu oder untreu sein
mögen. Giebt es da nicht mancherlei Schatten von praktischer
Ungerechtigkeit in den Angelegenheiten dieses Lebens
? Sie müssen alle einmal wieder hervorgebracht und
nach einem gerechten Maßstabe gemessen werden. Wie
ernst, obgleich auch gesegnet ist der Gedanke, daß wir
alle vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden
müssen, daß jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung
dort ins Licht gebracht, untersucht und beurteilt
werden wird! Erwartest du, dort von Ihm zu hören:
„Wohl, du guter und getreuer Knecht"? Ich verlange
keine Antwort auf meine Frage, aber laß dein Herz Ihm
antworten. Sei jetzt vor Ihm offenbar; suche, in allen
Dingen und während deines ganzen Pilgerlaufs hienieden
den vollkommnen Willen Gottes zu thun. Wenn schon
hier der Herr so viel von Glückseligkeit spricht, was muß
es dereinst sein, wenn alles nach Seinem Willen geordnet
ist und jede Glückseligkeit ihren vollen und ewigen Widerschein
in uns finden wird! Darum, mein Leser, fürchten
wir uns, zu sündigen, obwohl wir deshalb zu leiden
haben mögen.
Wir kommen jetzt zu der letzten Seligpreisung des
Reiches der Himmel. Sie bezieht sich ebenfalls zurück,
und zwar auf die zweite Gruppe der sieben ersten Seligpreisungen,
die sich durch „Gnade" kennzeichnet — durch
die Gnaden der Barmherzigkeit, der Reinheit und des
Friedens. Auf diese Weise werden hier die verschiedenen
Tugenden des göttlichen Lebens, die in allen Kindern
Gottes ans Licht treten sollten, unter zwei Häuptern:
210
Gerechtigkeit und Gnade, zusammengebracht; wir finden
zuerst das, was recht ist vor Gott, und dann das, was
Gnade ist gegenüber den Menschen. „Glückselig seid ihr,
wenn sie euch schmähen und verfolgen und jedes böse
Wort lügnerisch wider euch reden werden um meinetwillen."
Die den Duldern um Christi willen verheißene Segnung
hat etwas besonders Liebliches und Kostbares. Wir
brauchen uns darüber nicht zu verwundern; denn welcher
Name ist gleich dem Seinigen! Es giebt nichts Höheres,
nichts Besseres; wer Seinen Namen hat, besitzt alles, was
Gott geben kann; er besitzt jede Segnung, die jemals in
den endlosen Zeitaltern der Ewigkeit genossen werden kann.
Die Verheißung ist unmittelbar persönlich. „Glückselig
seid ihr" — nicht wie sonst: sind „die". Der Herr
blickt auf Seine Jünger, und Wohl wissend, was sie durchzumachen
haben würden, redet Er unmittelbar zu ihren
Herzen und giebt ihnen zu verstehen, welch ein persönliches
Interesse Er an ihnen nehmen und wie nahe sie Ihm
stehen würden. So muß es stets sein, wenn wir um
Seines Namens willen leiden. Es ist dies eine viel
höhere Sache, als um der Gerechtigkeit willen zu leiden,
obgleich beide Arten von Leiden oft zusammengehen mögen.
Viele aufrichtige Seelen haben um der Gerechtigkeit willen
gelitten, ohne daß sie die Liebe des Heilandes oder
Seine errettende Gnade kannten. Von Natur aufrichtig
angelegt, wollten sie sich nicht dazu hergeben, andere zu
betrügen, und sie hatten infolge dessen zu leiden. Schon
eine bloß natürliche Aufrichtigkeit ist zu gerade für die
krummen Wege dieser traurigen, betrügerischen Welt. O
wie schwierig und versuchungsvoll ist der Pfad des Chris
211
ten inmitten von diesem allem! Er muß leben und wandeln
durch das Wort des Herrn und in Gemeinschaft
mit Ihm, wenn er vor einem verunreinigten Gewissen
und einem geschwächten Zeugnis bewahrt bleiben will.
Ein Leiden um Christi willen ist die Folge eines
Redens von Ihm zu andern. Es handelt sich nicht nur
um ein entschiedenes „Nein", wenn wir aufgefordert werden,
etwas Unrechtes zu thun, sondern um ein ernstes,
liebeerfülltes Herz, das jede Gelegenheit benutzt, um von
dem hochgelobten Herrn und Seinem Heil zu reden; wenn
möglich auch zu solchen, die uns gern Schwierigkeiten in
den Weg legen möchten. Es giebt immer eine Menge
weltkluger Christen um uns her, die unter dem Vorwande,
man müsse verständig und klug handeln, nur zu gern bereit
sind, den Eifer zu dämpfen und die Treue für Christum
zu hindern.
Indes möchte jemand einwenden: „Alles hat seine Zeit
und seinen besondern Platz; es ist nutzlos, andere zu
beleidigen, seinen Einfluß preiszugeben oder leichtfertig
seine Aussichten für dieses Leben zu opfern. Wir sind doch
nicht berufen, stets von Christo zu reden oder überall das
Evangelium zu verkündigen; man kann auch leicht Anlaß
geben, daß unser Gut verlästert werde u. s. w." Ach,
wie oft kommen solche oder ähnliche Worte von den Lippen
lauer Christen oder bloßer Bekenner, und wie oft schon
mögen derartige Scheingründe, wenigstens für eine Zeit,
den treuen, aber vielleicht etwas zaghaften Zeugen für
Christum zum Schweigen gebracht haben! Aber wir
dürfen versichert sein, daß es die Stimme des Feindes
ist, von welchen Lippen die Worte auch kommen mögen;
und sie sollten als solche behandelt werden. Es ist wahr
212
lich nicht die Stimme des guten Hirten; und Seine
Schafe hören Seine Stimme und folgen Ihm.
Wenn Christus unsern Herzen kostbar ist, so haben
solche Einwürfe keine Gewalt über uns. Wir wisfen,
daß Er unendlich wertvoller ist als alles, was die Welt
thun oder geben kann. Die schönen Worte menschlicher
Klugheit erscheinen dann in ihrem Nichts, und die Gnade
triumphiert. Christus steht vor der Seele, Er gebietet
über ihre ganze Kraft; Seine Liebe inspiriert die Zunge,
und der Mund kann nicht schweigen. Sein Name brennt
in unsern Herzen und Worten, und wir sehnen uns
darnach, daß Er auch in dem Herzen und auf den Lippen
andrer brennen möge.
Gelten diese Worte nur dem Leser dieser Zeilen?
O nein; ich rede zu mir selbst wie zu allen andern. Die
Richtschnur ist für alle die gleiche. In demselben Verhältnis
wie Christus vor unsrer Seele steht und sie
regiert, in demselben Verhältnis werden wir treu sein
und für Ihn leiden. Vielleicht mögen nicht körperliche
Leiden oder weltliche Verluste unser Teil sein, aber sicher
wird nur ein schmaler Pfad für uns übrigbleiben und
Schmach und Verwerfung uns zufallen. Ja, wir würden
völlig allein sein auf diesem schmalen Pfade, wenn nicht
durch die Gnade Gottes noch andere ihn gingen. Man
kann zu deri Menschen von allem Möglichen reden: von
Religion, von Predigern, von Kirchen, von der Heidenmission,
von christlichen Vereinen, von menschenfreundlichen
Bestrebungen u. s. w. u. s. w., und bei alledem geachtet
und beliebt bleiben. Sobald man aber von dem Herrn
Jesu zu reden beginnt, von Seinem kostbaren Blute, von
einer völligen Heilsgewißheit, von dem Einssein mit Ihm
213
droben in den Himmeln, von einer Trennung von der
Welt und ihren sündigen Freuden und Vergnügungen, —
offenbart sich sofort die Feindschaft des menschlichen
Herzens. Die Zuhörer wenden sich weg, die Zahl der
Freunde nimmt reißend ab, und wenn der Feind es vermag,
bringt er Spott und Verfolgung über die Zeugen
Christi. Sie leiden um Seines Namens willen. Vielleicht
bleibt es bei einem mitleidigen Achselzucken oder
einigen verächtlichen Bemerkungen; allein es ist derselbe
Geist, der einst überall Scheiterhaufen errichtete, um die
Stimme der lästigen Zeugen Christi in den Flammen zu
ersticken. Er würde heute dasselbe thun, wenn Gott es
ihm erlaubte und nicht Seine Hand über Seinen schwachen
Kindern hielte. Wer waren die unversöhnlichsten Feinde
des Herrn und Seines Dieners Paulus? Die religiösesten
Männer in Israel. Hat sich die Welt oder die
menschliche Natur seitdem verändert? Wir glauben es
nicht.
Allein es möchte gefragt werden: Warum giebt es
denn heute so wenig Verfolgung um des Namens Jesu
willen? Es giebt vielleicht mehr, als viele denken mögen.
Ein Christ, der mit Entschiedenheit seinen Pfad außerhalb
des Lagers verfolgt, zu Christo hinausgeht, dahin wo Er
litt, muß die Bitterkeit oder besser gesagt die Süßigkeit der
Verfolgung schmecken. Solche Christen werden von allen
Seiten gemieden, wenn nicht verachtet, und am meisten
von solchen, die ein christliches Gewand zu tragen lieben,
es aber nicht mit der Welt verderben wollen. Der Platz
außerhalb des Lagers, das von der Welt und ihren
Dingen getrennte Leben ist ein fortwährender, lästiger
Vorwurf für den bloßen Bekenner und erregt seinen Haß.
214
Den treuen Zeugen für Christum wird überall widersprochen
und oft am meisten von solchen, die sie am
wenigsten kennen. Dian nennt sie ungerechter Weise geheime
Verbreiter ketzerischer Lehren; man kennzeichnet sie
als solche, die einfältige Seelen abziehen und bethören;
sie sind Verführer, Betrüger, Sektierer u. s. w. — Nun,
wird man vielleicht sagen, alles das ist nicht so schlimm.
Allerdings öffnet eS nicht die Kerker, bringt niemanden
auf die Folterbank, zündet keine Scheiterhaufen an und
entblößt nicht das Schwert des Henkers; aber wie viel
weiter würde der Geist der Verfolgung gehen, wenn Gott
es zuließe! Die Kirchengeschichte redet laut und deutlich
genug. Wer sich nicht scheut, seine Mitchristen zu schmähen
und zu lästern, weil sie in gewissen Punkten der Lehre
oder des praktischen Lebens von ihm abweichen, ist nicht
weit von dem Geiste Roms entfernt, welches um einer
bloßen Meinungsverschiedenheit willen stets zu blutiger
Verfolgung bereit war.
Doch alles dieses wurde von unserm gepriesenen
Herrn vorausgesehen, und Er traf in Gnaden Vorsorge
dafür. Er denkt an alles. Die Gläubigen sind Seinem
Herzen nie teurer, als wenn sie um Seinetwillen verachtet
werden und leiden. „Glückselig seid ihr," so lautet
das liebliche Trostwort, das Er an ihre Herzen richtet,
„glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen
und jedes böse Wort lügnerisch wider euch reden werden
um meinetwillen. Freuet euch und frohlocket, denn euer
Lohn ist groß in den Himmeln; denn also haben sie die
Propheten verfolgt, die vor euch waren."
Sollten sie bis zum Tode leiden, so würde der
Himmel ihre sofortige Heimat sein. „Groß ist euer Lohn
215
in den Himmeln." Auch würden sie die Ehre genießen,
in den Fußstapfen derer zu wandeln, die bereits
früher als die Herolde Seiner Ankunft gelitten und von
den Leiden, die auf Christum kommen sollten, und von
den Herrlichkeiten darnach zuvor gezeugt hatten. Und so
wie dies wahr war von den Propheten des Alten Testaments
und wahr ist von den Christen aller Zeiten, so
wird es auch wahr sein von dem jüdischen Ueberrest, der
in den letzten Tagen um seines Messias willen getötet
werden wird. (Offbg. 6, 9—11.)
Indem wir hiermit diese Betrachtungen schließen,
laß uns, geliebter Leser, zusehen, daß wir unsre Lektion
gut gelernt haben! Laß uns sorgfältig sein betreffs
dessen, was wir von den Erlösten des Herrn sagen und
wie wir gegen sie handeln! Sie sind nicht nur Seinem
Herzen teuer; nein, Er hat Seine Wonne an ihnen.
Betrüben wir Ihn nicht durch irgendwelche Unfreundlichkeit
gegen sie! Wenn es nötig ist, mit dem einen oder
andern offen zu reden oder in Treue mit ihm zu handeln,
so geschehe es in Liebe und Zartheit. „Die Bruderliebe
bleibe!" (Hebr. 13, 1.) Die brüderliche Liebe sollte nie
eine Unterbrechung erfahren, wenn auch der brüderliche
Verkehr, falls der Herr eS fordert, unterbrochen werden
muß.
Der Herr gebe, daß unsre Betrachtungen über diese
herrlichen Seligpreisungen einen unverwischbaren Eindruck
bei Schreiber und Leser dieser Zeilen zurücklassen mögen,
damit der Charakter des Heilandes in unserm ganzen
Leben mehr hervortrete! Wir werden dann auch den
beiden göttlichen Sinnbildern, von denen hier weiterhin
die Rede ist: „Salz" und „Licht", mehr entsprechen.
216
Salz und Licht — die erhaltende Kraft an der Stätte,
zu welcher das Licht bereits gedrungen ist und wo die
Wahrheit bekannt wird, sowie die gesegnete Thätigkeit der
Liebe, die im Licht der Gnade und der Wahrheit ausgeht
zu einer finstern, umnachteten Welt. Das sei unsre
Mission, geliebter Leser, unermüdlich, unveränderlich, damit
noch viele sich bekehren mögen von der Finsternis
zum Licht und von der Gewalt Satans zu Gott, auf
daß sie Vergebung der Sünden empfangen und ein Erbe
unter denen, die geheiligt sind durch den Glauben an
Christum Jesum! (Apstgsch. 26, 18.)
Der Säemann.
Von allen Gleichnissen, die unser Herr während
Seines Dienstes in dieser Welt ausgesprochen hat, ist
wohl keines von umfassenderer Bedeutung und hervorragenderer
Wichtigkeit als dasjenige von dem Säemann.
Die Tiefe und der Ernst der in ihm enthaltenen Lehren,
sowie die außerordentliche praktische Kraft, die es auf
Herz und Gewissen ausübt, lassen es von besonderem
Werte erscheinen, soweit überhaupt ein Vergleich zwischen
den einzelnen Teilen des Wortes Gottes erlaubt ist.
Möge der Heilige Geist uns bei der Betrachtung desselben
leiten, möge Er selbst es auslegen und auf unsre Seelen
anwenden!
Das Gleichnis teilt sich naturgemäß in drei verschiedene
Gegenstände, nämlich den Säemann, den
Samen und den Boden.
Was zunächst den Säemann betrifft, so ist es niemand
anders als der Herr selbst. Ohne Zweifel benutzt
217
Er andere in dem Werke der Aussaat des kostbaren
Samens, aber Er selbst ist der große Säemann. So
lange Er auf Erden weilte, war Er stets beschäftigt,
den Samen des Wortes auszustreuen; und nachdem Er
jetzt Seinen Platz in den Himmeln eingenommen hat,
befähigt, füllt und sendet Er durch den Heiligen Geist
Männer aus, die das herrliche Werk fortsetzen. Er selbst
arbeitet mit ihnen, um ihrem Zeugnis Kraft und Wirksamkeit
zu verleihen und den Samen in den Herzen der
Menschenkinder aufgehen zu lassen.
Es ist unmöglich, einen Säemann die Furchen eines
Ackerstückes entlang schreiten und mit vollen Händen den
Samen ausstreuen zu sehen, ohne von der Schönheit und
Kraft des von dem Herrn gebrauchten Bildes getroffen
zu werden.
Wir möchten jedoch von vornherein den Leser daran
erinnern, daß es nicht in den Bereich dieses Gleichnisses
gehört, die Wirkungen des Geistes Gottes darzustellen,
die in irgend einem gegebenen Falle unumgänglich nötig
sind, damit der Same Wurzel fasse und Frucht hervorkomme.
Von diesen Wirkungen ist in andern Teilen des
Wortes die Rede. Bei der Betrachtung eines Gleichnisses
ist es stets nötig, den Hauptpunkt, um den es sich handelt,
zu erfassen und nicht andere, fremde Dinge hinein zu
bringen. Die Beachtung dieses Grundsatzes ist von der
höchsten Wichtigkeit; eine Vernachlässigung desselben kann
zu der schlimmsten Verwirrung führen.
Daß das Werk des Geistes durchaus notwendig ist,
haben wir bereits gesagt; ja, wir möchten hinzufügen:
nicht die geringste wahre Frucht könnte hervorgebracht
werden, wenn nicht der Heilige Geist die Herzen für die
218
Aufnahme des guten Wortes Gottes zubereitete. Wir
sagen dies mit besonderem Nachdruck, da der eine oder
andere unsrer Leser vielleicht denken möchte, daß eS in der
Art des Bodens wichtige Unterschiede gebe, daß in gewissen
Fällen etwas bei dem Menschen vorhanden sein
könne, was ihn, ohne ein göttliches Werk in der Seele,
befähige, Frucht zu bringen. Allein es giebt nichts derartiges,
durchaus nichts. Die Schrift belehrt uns an
vielen Stellen, daß es in dieser Beziehung keinen Unterschied
giebt, daß von Natur nichts Gutes in uns wohnt, daß,
gleichwie in dem Weinberge des Judentums nie etwas
anderes als Herlinge hervorkamen, so auch auf dem weiten
Erntefelde des christlichen Bekenntnisses nur taube Frucht
sich zeigen würde, wenn nicht durch den Dienst des Heiligen
Geistes der Boden zur Aufnahme des Samens vorbereitet
würde.
Dies läßt die große Frage der Verantwortlichkeit
des Menschen ganz und gar unberührt. Sie wird in der
Schrift gerade so bestimmt gelehrt wie die Wahrheit von
der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Beide Dinge finden
sich indes nicht in unserm Gleichnis, obgleich eS, wie wir
kaum zu sagen brauchen, in völligem Einklang mit ihnen
steht. Es stellt uns den Herrn Jesum in einem ganz
neuen Charakter vor Augen, nämlich als Den, der in
diese Welt herabgestiegen ist und dasjenige mit sich bringt,
was Frucht hervorzubringen vermag, nachdem alle Seine
früheren Wege und Handlungen mit dem Menschen nur
dessen gänzliche Untauglichkeit zu allem Guten erwiesen
hatten.
Lauschen wir einen Augenblick auf die gewaltigen
und doch zugleich so rührenden Worte, mit denen Jehova
219
sich in Jes. 5 an Sein irdisches Volk wendet: „Wohlan,
ich will singen von meinem Geliebten ein Lied meines
Lieben von seinem Weinberge: Mein Geliebter hatte
einen Weinberg auf einem fetten Hügel. Und er grub
ihn um und säuberte ihn von Steinen und bepflanzte ihn
mit Edelreben; und er baute einen Turm in seine Mitte
und hieb auch eine Kelter darin aus; und er erwartete,
daß er Trauben brächte, aber er brachte Herlinge. —
Nun denn, Bewohner von Jerusalem und Männer von
Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberge!
Was war noch an meinem Weinberge zu thun, das ich
nicht an ihm gethan hätte? Warum habe ich erwartet,
daß er Trauben brächte, und er brachte Herlinge?
Nun, so will ich euch denn kundmachen, was ich
meinem Weinberge thun will: seinen Zaun wegnehmen,
daß er abgeweidet werde, seine Mauer niederreißen, daß
er zertreten werde. Und ich werde ihn zu Grunde richten;
er soll nicht beschnitten noch behackt werden, und Dornen
und Disteln sollen aufschießen; und ich will den Wolken
gebieten, daß sie keinen Regen auf ihn regnen lassen.
Denn der Weinberg Jehovas der Heerscharen ist das
Haus Israel, und die Männer von Juda sind die Pflanzung
Seines Ergötzens; und Er wartete auf Recht, und
siehe da: Blutvergießen, auf Gerechtigkeit, und siehe da:
Wehgeschrei."
Das war das traurige Resultat aller Wege Gottes
mit dem Hause Israel: „Herlinge," „Dornen und Disteln",
ein hoffnungsloses Verderben, „Blutvergießen" und „Wehgeschrei".
Nicht ein einziger versöhnender Zug zeigt sich
in dem ganzen Gemälde. Das Haus Israel und die
Männer von Juda hatten trotz all der Mühe, die sich
220
Jehova mit ihnen gegeben hatte, Seinen Gedanken nicht
entsprochen. Der Weinberg hatte auch nicht eine einzige
Traube zur Erfrischung Seines Geistes hervorgebracht; und
deshalb muß Er von neuem beginnen und das weite Erntefeld
dieser Welt betreten, um hier weit und breit den
unverweslichen Samen des Wortes auszustrenen. „Siehe,
der Säemann ging aus, zu säen."
Der Gedanke, unsern Herrn und Heiland unter dem
Charakter eines Säemanns in dieser Welt auftreten zu
sehen, hat etwas überaus Liebliches. Der Hohe und Erhabene,
der die Ewigkeit bewohnt, der die Himmel ausgespannt
hat wie ein Zelt, der über dem Erdkreise thront,
der das ganZe unendliche Weltall durch das Wort Seiner
Macht trägt, der Gegenstand der Anbetung des Himmels
und des Dienstes der Engel — Er durchschreitet die
rauhen Furchen dieser Welt, um Seinen kostbaren Samerr
auszustreuen! O geliebter Leser, welch einen Blick läßt
uns das thun in Seinen Charakter, in Seine Natur, in
Sein Herz! Wie treffend stellt es dar, wie rührend beweist
es Sein liebendes Verlangen, den bestimmten Vorsatz
Seines Herzens, mit den Menschenkindern in Verbindung
zu treten, sich mit Sündern zu umgeben, die aus Gnaden
errettet sind!
Weshalb all diese Mühe, dieses rastlose Wirken,
diese geduldige Arbeit? Warum überließ Er uns nicht
unserm selbsterwählten, dem Abgrunde zuführenden Pfade?
Warum erlaubte Er eS nicht, daß wir dem verdienten
Verderben anheimfielen? — Die Antwort auf alle diese
und tausend ähnliche Fragen liegt in jenem kurzen, aber
so wunderbaren Ausspruch des Apostels Johannes: „Gott
ist Liebe". Ja, hier ist die Quelle von allem, von
221
Seiner Güte und Freundlichkeit gegen uns elende Sünder,
von Seiner Menschenliebe und von Seinem brennenden
Verlangen nach unserm Heil. Sein herrlicher Name sei
ewig gepriesen!
Es ist unmöglich, an den Herrn, unsern Gott, in
dem wunderbaren Charakter eines Säemanns zu denken,
ohne daß unsre Herzen bis in ihre innersten Tiefen bewegt
werden. Nichts kann das Ausströmen Seiner Liebe
verhindern, nichts die Quellen Seiner Gnade erschöpfen.
Er wird Seine Ratschlüsse ausführen trotz aller Bosheit
und Feindschaft des Menschen. Er ist unermüdlich in
Seinem geduldigen Wirken in dieser Welt. Sieht Er
sich in Seinem Weinberge in Palästina getäuscht, so geht
Er hinaus in die Felder der weiten, weiten Welt, um
den kostbaren Samen Seines heiligen Wortes überallhin
zu tragen. Er will erretten; Er will sich umgeben
mit den Gegenständen Seiner Liebe, mit den Siegeszeichen
Seiner Gnade. Nichts kann Sein liebendes Herz befriedigen,
als Sein Haus mit armen, elenden, verdammungswürdigen
Sündern gefüllt zu sehen, die Er selbst
gesucht, errettet, bekleidet und fähig gemacht hat, in den
himmlischen Höfen zu weilen und alle Ewigkeit hindurch
das Lob Seiner erlösenden Liebe zu besingen. Noch einmal
erheben wir unsre Herzen zu Ihm und rufen mit
Anbetung und Bewunderung: Preis und Ehre sei Seinem
herrlichen Namen! Ja, ewig sei unser Heiland-Gott gepriesen,
der uns geliebt hat, als wir noch Sünder und
Feinde waren, und der unsre Seelen erlöst hat vom
ewigen Verderben!
(Fortsetzung folgt.)
222
Jesus allem.
Biele wahre Christen sind bezüglich der Vollkommenheit
ihrer Errettung in Finsternis, und manche von ihnen
geraten infolge dessen in einen Zustand, der an hoffnungslose
Verzweiflung grenzt. Woher kommt das? Ach, sie
setzen ihr Vertrauen auf ihre Erfahrungen und Gefühle,
anstatt auf Christum! Es kann nicht oft genug wiederholt
werden, daß wir, je mehr wir in uns hinein
blicken, um so unglücklicher und elender werden müssen.
Was uns not thut, ist von uns weg auf Jesum zu
blicken. Nur so können wir glücklich sein und in Frieden
unsre Pfade ziehen. Wenn ich mit dem Rücken gegen
das Licht stehe und meinen Schatten betrachte, so brauche
ich mich nicht zu verwundern, daß er so schwarz ist; je
Heller das Licht, desto dunkler der Schatten. Wenn ich
aber meinem Schatten den Rücken wende und mich der
Sonne zukehre, so wird ihr Licht mein Angesicht beleuchten.
Gerade so ist es mit den Gläubigen. Die
einen blicken auf sich selbst und beschäftigen sich mit ihren
eignen finstern Gedanken, und darum ist ihr Herz unglücklich
und ihr Geist beschwert; die andern blicken auf
Jesum, und sind deshalb erfüllt mit dem Lichte der Gegen
wart Gottes.
Vor mehr als zwanzig Jahren kam eine junge Frau,
als sie einer Verkündigung des Evangeliums beiwohnte, zur
Erkenntnis ihres verlornen Zustandes vor Gott und wurde
gläubig an Jesum. Nicht lange nachher beging sie eine
Sünde, welcher viele nur wenig Bedeutung beigelegt haben
würden; dieselbe lastete aber so schwer auf ihrer Seele,
daß sie ihre Freude und bald nachher auch ihren Frieden
223
verlor. Anstatt zu Gott zu gehen und Ihm ihren Fehltritt
zu bekennen, suchte sie unaufhörlich in sich nach der
Freude, die durch ihre Sünde verscheucht worden war.
So vergingen mehr als zwanzig Jahre, und die einst so
glückliche junge Gläubige schien nichts anders zu sein als
eine verzweiselnde, tief unglückliche Verstoßene. Welch
ein trauriger Abschnitt in der Geschichte eines Gläubigen l
Zwanzig Jahre lang ntedergebeugt, zwanzig Jahre lang
unfähig, auf Jesum zu blicken! Doch der Herr bleibt
allezeit treu. Er führte dieses verirrte Schäflein zurück.
Eines Sonntag-Abends war sie wieder zugegen, als die
frohe Botschaft von dem ein für allemal vollendeten Werke
Christi verkündigt wurde. Das Wort drang in ihr Herz;
die Finsternis schwand, und das göttliche Licht leuchtete.
Als sie den Saal verließ, konnte sie mit überströmender
Freude ausrufen: „Ich habe Ihn gefunden; ich habe
Ihn gefunden! Jetzt verstehe ich, daß alles Jesus ist.
Meine Gefühle haben nichts mit meiner Errettung zu
thun; es ist Christus von Anfang bis zu Ende. O wie
thöricht bin ich gewesen! Mehr als zwanzig Jahre habe
ich in Finsternis und Knechtschaft gelebt, weil mein eignes
Ich den ersten Platz einnahm, und Jesus den zweiten!"
Mein lieber Leser! Der Tod und die Auferstehung
Jesu sind die einzige Grundlage unsers Heils. Welch eine
elende Stütze ist die Erinnerung an ein vergangenes Glück I
Wie steht es mit dir? Bist du auch müde und matt von
den trüben Erfahrungen, die du mit deinem eignen Ich
gemacht hast? Mußt du auch auf eine unglückliche, finstere
Zeit zurückschauen? O dann laß dir sagen: Blicke von dir
ab und beginne mit Jesu! Ob ein stolzes Ich oder ein
demütiges Ich, ob ein natürlich gutes oder ein schlechtes
224
Ich — es'ist gleich böse und unverbesserlich. Du kannst
nur glücklich sein, wenn du deinen Blick auf Jesum gerichtet
hältst. Wer kommt zuerst: das Ich oder Jesus?
das ist die wichtige Frage. Wir sind „begnadigt in dem
Geliebten", auferstanden mit Ihm, dem Verherrlichten,
„vollendet in Ihm" — was könnten wir mehr bedürfen?
Wir sind gerechtfertigt für immer und ewig, weil der
Herr Sein kostbares Blut für unsre Sünden vergossen
hat; und nun ruft Er uns zu: „Bleibet in mir, und
ihr werdet viel Frucht bringen."
Was aber mit unsern täglichen Fehlern? Wir alle
straucheln doch oft? Im Blick darauf lesen wir die herrlichen
Worte: „Wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist
Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergiebt
und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit;" und weiter:
„Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht
sündiget; und wenn jemand gesündigt hat — wir haben
«inen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den
Gerechten; und Er ist die Sühnung für unsre Sünden."
(1. Joh. 1, 9; 2, 1. 2.)
Darum noch einmal: der einzige Weg, um glücklich
zu sein und Frucht zu bringen zur Verherrlichung Gottes
des Vaters, ist, von sich selbst abzublicken auf Jesum
hin, mit Ihm beschäftigt zu sein und von Ihm zu lernen.
Er allein ist die Quelle unsrer Freude und unsrer Kraft.
„Freuet euch in dem Herrn allezeit, und wiederum will
ich sagen: Freuet euch!" (Phil. 4, 4.) „Die Freude
Jehovas ist eure Stärke." (Neh. 8, 10.)
Gott in allen Dingen.
Ein einfältiges Auge und ein kindliches Herz sind
eine kostbare Gabe Gottes. Alle Gläubigen könnten und
sollten sie besitzen; aber leider begegnet man ihr nur
selten unter den Kindern Gottes. Die eigene Kraft, der
eigene Verstand und der eigene Wille spielen gewöhnlich
eine so große Rolle, daß das Glaubensauge trübe, der
Blick umschleiert und das Herz unfähig ist, die Wege
Gottes zu verstehen und Sein geheimnisvolles, verborgenes
Wirken in allem wahrzunehmen. Das ist ein großer
Verlust für uns und eine Unehre für unsern Gott.
Nichts hilft dem Christen mehr, still und getrost seinen
Weg zu gehen, die Schwierigkeiten und Versuchungen
auf dem Pilgerpfade zu ertragen und Gott darin zu verherrlichen,
als die Gewohnheit, Ihn in allen Dingen
zu sehen. Es giebt keine Lage, keinen Umstand, kein
Ereignis in dem Leben eines Gläubigen, so unbedeutend
und geringfügig sie auch dem natürlichen Auge erscheinen
mögen, die nicht als stille Boten Gottes an ihn betrachtet
werden könnten. Wenn nur das Auge einfältig, das
Ohr geöffnet, das Herz kindlich und der Sinn geistlich
ist, so werden wir köstliche, gesegnete Erfahrungen machen
von dem Thun Gottes; wir werden erfahren, daß Er
Seine Hand hat in den alltäglichsten Dingen dieses Lebens,
und daß ^es Seine Freude ist, uns durch den Wink Sei
226
nes Auges zu leiten. Ach! wenn wir uns doch mehr in
dieser Weise leiten ließen, daß Er nicht nötig hätte, uns
Zaum und Zügel anzulegen!
Wie groß, wie anbetungswürdig ist unser Gott, der
Schöpfer des Himmels und der Erde, daß Er sich herabläßt,
sich um die kleinsten und unwichtigsten Dinge zu
bekümmern! Er, der einst sprach: „Es werde!", der
alle Dinge durch das Wort Seiner Macht trägt und erhält
— Er bekümmert sich auch um den Sperling auf
dem Dache, Er zählt die Haare auf unserm Haupte!
UnS erscheint manches groß, manches gering, da wir alles
nach unsrer Kraft und unserm Vermögen messen. Für
Ihn, den Allmächtigen, giebt es nichts Großes und nichts
Geringes. Ob Er Millionen von Welten ins Dasein
ruft oder die jungen Raben speist, ist für Ihn gleich.
Seine wunderbare Größe offenbart sich in dem tosenden
Orkan nicht mehr als in dem sanften Säuseln des Südwindes,
in der majestätischen Ceder auf dem Libanon
nicht mehr als in dem kleinen Veilchen, das still am
Wege blüht. ,
Wenn wir nur. einfältigere Augen hätten, um zu
sehen, und kindlichere Herzen, um zu verstehen! Erblicken
wir in den täglichen Umständen nichts anderes als was
der natürliche Mensch darin sieht — Zufälle und selbstverständliche
Ereignisse, wie das menschliche Leben sie einmal
mit sich bringt — so mag das Leben zu einer langweiligen
Einförmigkeit für uns werden, kaum der Mühe
wert, daß man es lebt; oder zu einer drückenden Bürde,
die man je eher je lieber ablegen möchte. Wenn wir
aber Gott in alles und jedes hineinbringen, so erhält
unser Leben hienieden einen unendlichen Wert, eine tiefe
227
Bedeutung für den erneuerten Sinn und einen wunderbaren
Reiz für das Auge des Glaubens. Wir erblicken
dann in allen Dingen die Hand eines allweisen, allmächtigen
und liebenden Vaters; wir erkennen auf Schritt und
Tritt die gesegneten Spuren Seiner Gegenwart und Seines
Wirkens. Und wie sehr dadurch das Gebetsleben,
der verborgene Umgang mit dem Vater, gefördert wird,
brauchen wir kaum zu sagen. Wie lieblich und erfrischend
ist es, das kindlich-einfältige Gebet eines Gläubigen zu
hören, der die Treue und Güte Seines Herrn auf dem
zurückgelegten Wege erfahren, zugleich aber auch sich selbst,
feine eigene Kraft und Weisheit in ihrem ganzen Nichts
kennen gelernt hatI Er läßt „alle seine Anliegen",
die großen und die kleinen, mit Gebet, Flehen und Danksagung
vor dem Vater kund werden; er wirft alle seine
Sorgen, die großen und die kleinen, auf Ihn, der sich
bereitwillig damit beladen will, und — der Friede Gottes,
der allen Verstand übersteigt, bewahrt sein Herz und seinen
Sinn in Christo Jesu. (Phil. 4.) Glückselig ein
jeder, der so den Herrn in allem zu seiner Zuversicht
und Stärke macht! Für ihn ist kein Tag unwichtig. Er
verachtet auch nicht „den Tag kleiner Dinge". Die
Geschichte eines jeden Tages erweckt seine Teilnahme; und
wie könnte es anders sein, da sie ja für seinen Gott und
Vater wichtig ist?
Wir lernen in der ganzen Schrift, daß es für den
Gläubigen keinen Zufall giebt, daß nichts von ungefähr
kommt. Vor allem liefert uns das Buch des Propheten
Jona einige höchst treffende Beweise für diese Wahrheit.
In der ganzen Geschichte des Propheten zeigt sich wieder
und wieder, selbst in den gewöhnlichsten Dingen, die Da
228
zwischenkunft Gottes. Und wird es nicht auch bei einem
jeden von uns so sein, wenn wir einmal unsre Geschichte
in dem Lichte der göttlichen Gegenwart erblicken werden?
Wie werden wir dann staunen über unsre Kurzsichtigkeit,
über unser schwaches Verständnis, über unsern Kleinglauben
und unsre Thorheit! Und wie werden wir die wunderbare
Güte, Treue und Geduld unsers Gottes bewundern,
dessen Hand alle unsre Wege hienieden geleitet und uns
mit unendlicher Langmut bis ans Ziel gebracht hat!
Ich möchte nicht in eine ausführliche Erklärung des
genannten Buches eingehen, sondern nur auf einen Ausdruck
aufmerksam machen, der sich beinahe in jedem Kapitel
wiederholt, nämlich: „ Iehova bestellte". Der Heilige
Geist läßt uns gleichsam einen Blick hinter die Scene
thun und zeigt uns das verborgene Wirken Gottes. Er
ist es, der alles in Seiner Hand hat: Wind und Wellen,
Hitze und Kälte, Mensch und Tier; und Er lenkt alles
nach dem Rate Seines Willens.
Im 1. Kapitel sendet der Herr einen starken Sturm,
um durch ihn zu dem Herzen und Gewissen Seines ungehorsamen
Knechtes zu reden. Jona wollte sich dem ihm
gewordenen göttlichen Auftrag entziehen, indem er in ein
Schiff stieg, das nach Tarsis fuhr. Ninive lag im
Osten von Palästina, Tarsis im Westen. Gott sagte:
„Gehe rechts!" Aber Jona ging links. So ist der
Mensch. „Da warf Jehova einen heftigen Wind auf
das Meer, und es entstand ein großer Sturm auf dem
Meere, so daß das Schiff zu zerbrechen drohte." (V. 4.)
Dieser Sturm redete eine eindringliche, ernste Sprache zu
dem Propheten, wenn nur sein Ohr geöffnet gewesen wäre,
die Stimme Gottes zu vernehmen. Es war eine feier
229
liche Botschaft Gottes an ihn. Jona bedurfte, belehrt
und zurecht gebracht zu werden, nicht die armen heidnischen
Schiffsleute. Sie waren ohne Zweifel schon ost
einem Sturme begegnet; für sie war ein Sturm nichts
Neues, nichts Besonderes, nichts anderes als eines der
gewöhnlichen Erlebnisse eines Seemannes. Aber es gab
einen Mann im Schiffe, für den er etwas Besonderes,
Außergewöhnliches war. Aber wie wunderbar! — die
heidnischen Schiffer merken bald, daß Gott wider sie
ist, während Jona, der Prophet Gottes, im untern Schiffsräume
liegt und so fest schläft, daß der Obersteuermann
ihn mit kräftigem Rufe aufwecken muß. Welch eine ernste
Lektion für uns! Wie ist es möglich, mögen wir wohl
fragen, daß ein Gläubiger so gefühllos werden kann?
Ach! daß es möglich ist, beweist unsre eigne Geschichte.
Erst als die Schiffer das Los werfen, um zu erfahren,
um wessentwillen das Unglück sie erreiche, ja, erst
als das Los den Propheten trifft und die Seeleute ihn
fragen, woher er komme und was sein Geschäft sei, kommt
Iona zur Einsicht. Erst jetzt vernimmt er die Stimme
des Boten Gottes und bekennt, daß der Herr um seinetwillen
so ernst rede. Auf seinen eignen Rat werfen die
geängstigten Seeleute ihn ins Meer. Damit war für sie
die Sache beendigt, nicht aber für Jona und Gott. Die
Schiffer sahen nichts mehr von Jona, aber Gott sah ihn
und gedachte an ihn.-
Gott in allen Dingen! Jona ist in eine
neue Lage, in neue Umstände versetzt, aber nicht in solche,
wo die Boten Gottes ihn nicht mehr erreichen könnten.
Der Gläubige kann sich nie in einer Lage befinden, in welcher
die Hand seines Vaters zu kurz wäre oder die Stimme
230
seines Vaters sein Ohr nicht erreichen könnte. Als Jona
ins Meer geworfen wurde, „bestellte Jehova einen großen
Fisch, um Jona zu verschlingen". Jehova bestellte den
Sturm, und Jehova bestellte den Fisch. Ein großer Fisch
war nichts Ungewöhnliches; es giebt deren viele im Meere.
Aber der Herr bestellte einen besonderen für Jona, damit
er der Bote Gottes an seine Seele werde. Und
siehe da, im Bauche des Fisches kommt Jona zur Besinnung,
ja, er wird in seinen Umständen und selbst in
seinen Worten ein Vorbild von Christo.
Wir überspringen jetzt die nächsten Kapitel, um im
letzten unsern Propheten an der Ostseite der Stadt Ninive
wiederzufinden. Er hatte den Bewohnern der Stadt die
Botschaft Gottes verkündigt, und sie hatten auf seine
Predigt hin Buße gethan, so daß Gott sich des Uebels
gereuen lassen konnte, das Er wegen ihrer Sünden über sie
beschlossen hatte. Jona ist unzufrieden darüber und hadert
mit Gott. Lieber hätte er dem Untergang der großen,
dichtbevölkerten Stadt zugeschaut, als nun sehen zu müssen,
daß der Herr in Gnade und Erbarmen handelte. Argzer
Jona! rufen wir unwillkürlich auS; aber laßt uns nicht
etwa denken, daß unsere Herzen andere wären als das
Herz des murrenden Propheten. Wir sind aus demselben
Stoff bereitet und derselben Thorheit fähig.
Jona scheint die Wahrheiten, die er während der
drei Tage im Bauche des Fisches gelernt hatte, schon
wieder völlig vergessen zu haben, und er bedarf eines
neuen Boten von feiten Gottes. O wie gnädig und
langmütig ist unser Gott! Unermüdlich beschäftigt Er
sich mit uns, und wieder und wieder lehrt Er uns dieselben
Lektionen.
' D HE
— 231 —
„Und Jehova, Gott, bestellte einen Wunderbaum
und ließ ihn über Jona emporwachsen, damit Schatten
über seinem Haupte wäre, um ihn von seinem Mißmut
zu befreien." (Kap. 4, 6.) Welch eine anbetungswürdige
Gnade! Der Wunderbaum wie der große Fisch
bildeten ein Glied in der Kette der Umstände, durch welche
der Prophet nach der Absicht Gottes wandeln sollte.
Obgleich sehr verschieden in ihrer Art, waren sie doch beide
Boten Gottes für seine Seele. „Und Jona freute sich
über den Wunderbaum mit großer Freude." Er hatte
vorher verlangt zu sterben; aber sein Verlangen war
nicht das Ergebnis eines heiligen Wunsches, diese arme
Erde verlassen zu dürfen und für ewig in Ruhe zu sein,
sondern die Folge seines Unwillens und seiner Enttäuschung.
Nicht das Glück der Zukunft, ja, nicht einmal die Leiden
der Gegenwart erweckten den Wunsch in ihm, abzuscheiden;
es war nur gekränkter Ehrgeiz, die eitle Sorge um seinen
Ruf als Prophet.
Bei uns erwecken oft die Leiden der Gegenwart das
Verlangen, abzuscheiden und bei Christo zu sein. Wir
wünschen von dem augenblicklichen Druck befreit zu werden,
und deshalb, wenn dieser Druck vorüber ist, hört auch
das Verlangen auf. Ist dagegen die Person des Herrn
der Gegenstand unsers Verlangens, sehnen wir uns nach
Seinem Kommen, um Ihn von Angesicht zu Angesicht,
„wie Er ist", schauen zu können, so üben die äußern
Umstände wenig Einfluß aus. Unser Sehnen nach Ihm
ist dann ebenso groß in den Tagen des Sonnenscheins
und der Ruhe, als in Zeiten des Sturmes und des
Druckes.
Als Jona unter dem Schatten des Wunderbaumes
232
saß, trug er kein Verlangen mehr nach dem Tode. Seine
Freude über den Wunderbaum und dessen kühlen Schatten
ließ ihn seinen Unmut vergessen. Gerade diese letztere
Thatsache beweist, wie sehr er der besondern Boten des
Herrn bedurfte. Der Zustand seiner Seele mußte offenbar
werden, und er wurde offenbar zu seiner tiefen Beschämung.
Der Herr kann alles benutzen, um die Geheimnisse und
Tiefen des menschlichen Herzens zu enthüllen, auch einen
Wunderbaum, „den Sohn einer Nacht"; und Er thut es
zu unserm ewigen Wohl und zur Verherrlichung Seines Namens.
Wahrlich, der Christ kann sagen: „Göttin allen
Dingen." Er kann Seine Stimme vernehmen in dem
Heulen des Sturmes wie in dem Hinwelken einer Pflanze.
Doch wir sind noch nicht am Ende der Wege Gottes
mit Jona angelangt. Der Wunderbaum war, wie bereits
gesagt, nur ein Glied in der bedeutsamen Kette der Umstände;
das folgende Glied ist ein Wurm! „Aber Gott
bestellte einen Wurm am folgenden Tage, beim Aufgang
der Morgenröte; und dieser stach den Wunderbaum, daß
er verdorrte." Dieser Wurm, so unbedeutend er sein
mochte, war nichtsdestoweniger der ernste Bote Gottes,
gerade so wie der Sturm und der große Fisch. Ein
Wurm, wenn er von Gott benutzt wird, kann Wunder
thun. Der Wunderbaum verdorrte. „Und es geschah, als
die Sonne aufging, da bestellte Gott einen schwülen Ostwind,
und die Sonne stach Jona aufs Haupt." Alles
muß mitwirken, um Jona zur Erkenntnis seines Unrechts
zu bringen. Ein Wurm und ein schwüler Wind —
wunderbare Mittel in der Hand Gottes! Aber gerade
in ihrer scheinbaren Geringfügigkeit offenbart sich umso
auffallender die Größe unsers himmlischen Vaters. Ob
— 233 —
ein heftiger Orkan oder ein unbedeutender Wurm — Gott
kann beide zur Erfüllung Seiner Absichten der Liebe benutzen.
Der Sturm, der große Fisch, der Wurm, der
schwüle Ostwiud — alle sind Werkzeuge in Seiner Hand.
Der unbedeutendste wie der gewaltigste Bote muß Seine
Absichten fördern helfen. Wem wäre es in den Sinn
gekommen, daß ein Orkan und ein Wurm mit einander
die Mittel sein könnten, um ein Werk Gottes zu thun?
Und doch war es so. Groß und klein sind, wie im Anfang
bemerkt, nur Ausdrücke, die unter den Menschenkindern
im Gebrauch sind. Bei Gott ist nichts groß und nichts
klein. Er zählt die Menge der Sterne, und Er nimmt
Kenntnis von dem Sperling, der vom Dache fällt. Er
macht die Wolken zu Seinem Gefähr und ein demütiges
Herz zu Seiner Wohnung.
Darum noch einmal: Gott in allen Dingen.
Für den Gläubigen giebt es nichts Zufälliges, nichts Bedeutungsloses
in allem, was ihm begegnet. Er mag
durch dieselben Umstände zu gehen und dieselben Versuchungen
zu bestehen haben wie andere Menschen; aber
er darf sie nicht nach denselben Grundsätzen deuten. Sie
führen für sein geöffnetes Ohr eine ganz andere Sprache
als für das Ohr des natürlichen Menschen. Er sollte
in den unbedeutendsten wie in den wichtigsten Ereignissen
eines jeden Tages die Stimme Gottes vernehmen und
Seine Boten erkennen. Er wird auf diesem Wege köstliche
Erfahrungen machen.
Die Sonne, die in majestätischem Lauf ihre Bahn
durchzieht, und der Wurm, der über den Weg kriecht —
beide sind von Gott geschaffen, und beide können in der
Ausführung Seiner unerforschlichen Absichten mitwirken.
234
„Die Salbung von dem Heiligen."
„Gesehen haben sie Deine Züge, o Gott, die Züge
meines Gottes, meines Königs, im Heiligtum." (Ps. 68,
24.) So lautet die glühende Sprache des Psalmisten,
wenn er das Haus der Herrlichkeit und seinen Dienst in
den Tagen des tausendjährigen Reiches sich
im Voraus vorstellt.
Das gegenwärtige Haus Gottes, so verfallen es
sein mag, hat auch seinen Dienst und seine Züge, und
deshalb sollte der Gläubige dementsprechend darin erfunden
werden.
Durch die Predigt des Evangeliums wird „die Gerechtigkeit
Gottes" geoffenbart, und durch den Glauben
steht der Sünder in dieser Gerechtigkeit; und glaubende
Sünder, lebendig gemacht durch diesen unverweslichen
Samen des Evangeliums, kommen zusammen, werden mit
einander auferbaut und lernen und wandeln die Wege,
welche sich für sie an diesem Platze und in diesem Charakter
geziemen. Sie beobachten die ihnen überlieferten
Gebote und bewahren sich als eine „ungesäuerte Masse".
Sie erkennen die Pflicht an, für einander zu sorgen, in
der brüderlichen Liebe zu bleiben und einander zu guten
Werken zu ermahnen. Sie schätzen die Bedienung des
Wortes hoch, und, indem sie die Schrift zur Richtschnur
all ihres Denkens und zu dem Maßstabe alles wahren
Wissens machen, suchen sie die Unterweisungen derselben
immer völliger zu lernen. Sie wünschen nicht nur, sich
durch die im Worte ihnen gegebenen Ratschläge leiten zu
lassen, sondern auch durch seine unaussprechlich kostbaren
Offenbarungen genährt und gefördert zu werden.
235
M/
Auch erfassen sie den Charakter, der ihnen als versammelten
Heiligen gehört — „eine Behausung Gottes
im Geiste" — und bekennen, daß, so schwach es sein
mag, ihr einziges Licht und ihre Kraft zu jeglicher Auferbauung
in der Gnade und Wirksamkeit des Heiligen
Geistes in ihnen liegt.
Sie nennen Jesum „Herr" und erkennen Seine
Gegenwart an; und in dieser Anerkennung nehmen sie
einander an, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter
Fragen. Wenn der Name des Herrn anerkannt und
Seine Autorität als unumschränkt hochgehalten wird,
werden Speisen und Tage, Enthaltungen von Speisen und
Eeremouieen und dergleichen Dinge, die dem Urteil des
persönlichen Gewissens unterliegen, kein Hindernis bilden,
noch die Herzen von einander trennen. Sie wissen, daß
Christus zu dem Ende gestorben und wieder auferstanden
ist, um Herr zu sein sowohl über Lebendige als über
Tote. Ihm allein muß sich, nach dem heiligen Urteil
des Gläubigen, jedes Knie beugen; denn so lautet der
Beschluß des lebendigen Gottes. Und wenn der Tag „dem
Herrn" geachtet und das Fleisch „dem Herrn" gegessen
wird (Röm. 14, 6), so erkennen alle den Boden wahrer
Gemeinschaft an.
Alles dieses und manches ähnliche erreichen die
Heiligen, indem sie den Belehrungen des Geistes in den
an die Versammlungen vor alters gerichteten Episteln
Gehör geben. Es wird von den Versammlungen des
Herrn verstanden; und wenn es sich in ihnen verwirklicht
findet, so ist es kostbar in Seinen Augen. Es sind dies,
um mit den Worten des Psalmisten zu reden, ihre „Züge
in dem Heiligtum"; und keiner von ihnen wird vermißt
236
werden, wenn die Gnade und Gegenwart des Heiligen
Geistes mit ihnen ist. Auch tragen sie Sorge, daß ihre
Umgebung erfährt, was der Herr an ihren Seelen gethan
hat, und sie laden andere ein, auch zu kommen und von
demselben Wasser des Lebens umsonst zu trinken. *)
*) In diesem allem gebe ich selbstverständlich nur den richtigen
Gedanken von dem Hause Gottes wieder, abgesehen von jeder thatsächlichen
Darstellung desselben.
Aber so schön und lieblich alles dieses ist, giebt es
doch noch einen andern Dienst von tieferem Charakter;
vielleicht wird er nicht so rasch erfaßt wie die übrigen,
allein er ruft, wenn er in einer rechten und geistlichen
Weise erfüllt wird, die kostbarsten Seelenübungen wach.
Ich meine dies: die Ehre des Namens des
Sohnes Gottes aufrecht zu erhalten. Das
ist in der That der glücklichste Dienst, die heiligste und
zarteste Uebung des Herzens!
Der Herr trug in den Tagen Seines Fleisches keine
Sorge für sich selbst. Er ließ es geschehen, daß man
Ihn mit Fäusten schlug und Ihm ins Angesicht spie.
Er nahm keine Ehre von Menschen. Er wurde verachtet
und verworfen. Aber inmitten von allem diesem versetzte
Er sich im Geiste in die Zeit, wo Er gerächt werden
würde. Das ist kostbar. Jesus wollte nicht Seine eigene
Sache verfechten, aber Er wußte, daß es Einen gab, der
Seine Ehre suchen würde; und in diesem Bewußtsein lag
Kraft und Freude für Ihn.
Als man Ihn anklagte, daß Er durch Beelzebub
die Teufel austreibe, antwortete Er Seinen Gegnern,
daß die Lästerung wider den Heiligen Geist nicht vergeben
werden würde, indem Er es ihren Seelen überließ, den
237
Gedanken zu erfassen, daß das große Geschäft des
Heiligen Geistes in Seinen Tagen (wie auch in der
gegenwärtigen Zeit) darin bestände, die Ehre Seines
Namens aufrecht zu erhalten, obgleich Er selbst'in dieser
Beziehung unbesorgt war und selbst Worte, die gegen
Ihn gesprochen wurden, vergab. (S. Mark. 3, 22 — 30.)
So auch, wenn Er aufgefordert wurde, sich vor den Juden
zu verteidigen, sagte Er ihnen, daß Leben und Gericht
Ihm übergeben seien, auf daß alle Menschen Ihn ehren
möchten, wie sie den Vater ehrten. (Joh. 5.) Als Er
bei einer andern Gelegenheit beschuldigt wurde, Er sei
ein Samariter und habe einen Teufel, erwiderte Er:
„Ich habe keinen Teufel" und fügte dann die rührenden
Worte hinzu: „Ich suche nicht meine Ehre; es ist Einer,
der sie sucht und richtet." (Joh. 8.)
Welch wunderbare Worte! Welch zarte, innige Gefühle
sollten die Seele erfüllen, wenn wir an Ihn denken,
der so wenig um Seine eigene Ehre besorgt war, an Ihn,
der in jenem Augenblick sagte: „Ich ehre meinen Vater,
und ihr verunehret mich," und Trost in dem Gedanken
fand, daß es Einen gab, der sie für Ihn suchen würde,
wenn die Zeit dafür gekommen wäre.
Wahrlich, dies läßt uns das Herz Christi in einem
rührenden Licht erscheinen. Und die Ehre Christi zu suchen,
ist gerade so wahrhaftig das Geschäft des Geistes Gottes
in der Kirche im gegenwärtigen Augenblick, als eS dereinst
das Geschäft des Thrones Gottes sein wird. Der Heilige
Geist hat gleichsam jetzt die Aufgabe übernommen, für die
Verherrlichung Christi Sorge zu tragen, und dasselbe
wird der Vater thun in den Tagen des Reiches. Der
Herr selbst sagte von dem verheißenen Sachwalter: „Er
- -U . - -
— 238 —
wird von mir zeugen", und: „Er wird mich verherrlichen",
und: „Er wird von dem Meinen empfangen
und euch verkündigen", und endlich, wenn Er von Seinen
Heiligen spricht: „aber auch ihr zeuget, weil ihr von
Anfang an bei mir seid."
Wenn der Gläubige die Wohnstätte des Heiligen
Geistes bildet, wie es ja thatsächlich der Fall ist, welche
Pflicht liegt dann aus ihm, wenn nicht diese: für die Ehre
Dessen besorgt zu sein, der selbst Seine Ehre nicht suchte?
Wenn die Kirche diesen Dienst nicht erfüllt, so ist sie,
was den ihr zugewiesenen Dienst betrifft, dahin. Giebt es
Einen, der die Ehre des Herrn sucht und richtet? Hat
der Herr selbst dies in den Tagen Seiner Erniedrigung
verheißen? Nun, wenn es so ist, sollten oder könnten
wir dann etwas thun oder etwas vernachlässigen, was
Seinem Herzen eine Enttäuschung bereiten könnte? Gott
wird dereinst von Seinem Throne herab Seinen verworfenen
Sohn rächen, wie geschrieben steht: „Doch jene,
meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen
sollte, bringet her und erwürget sie vor mir." Aber bis
zu jener Zeit des Gerichts und der Herrlichkeit hat die
Kirche, durch den Geist, diesen Dienst zu verrichten; natürlich
nicht dadurch, daß sie die Feinde ans Licht zieht
und vor Ihm erschlägt, sondern durch ein klares, volles
Erfassen jenes Beschlusses, daß alle Menschen den Sohn
ehren sollen, gleichwie sie den Vater ehren.
Wenn ferner der Heiland vor den Hohenpriester gebracht
und aufgefordert wurde, zu sagen, ob Er der
Christus, der Sohn des Gesegneten, sei, beantwortete Er
diese Frage, obwohl Er wußte, daß es gleichbedeutend war
mit Seinem Todesurteil. Aber in diesem über alle Vor
Z -ff
— 239 —
stellung feierlichen Augenblick fand Er Seine Kraft hierin:
„Und ihr werdet den Sohn des Menschen sehen, fitzend
Zur Rechten der Macht und kommend mit den Wolken
des Himmels."
So wurde Sein Herz in jenem ernsten Augenblick
wiederum aufrecht erhalten durch die nämliche Erwartung,
daß, so sehr Er auch für die Gegenwart zu leiden berufen
war, doch ein Tag glorreicher Rechtfertigung und Verherrlichung
vor Ihm lag. Und Petrus entspricht durch den
Heiligen Geist ebenfalls von vornherein dieser Erwartung
Christi; denn wieder und wieder erklärt er in seiner
ersten Predigt an Israel (Apstgsch. 2), daß Der, den sie
gekreuzigt hätten, jetzt zur Rechten Gottes droben im
Himmel sei. Der Heilige Geist wartet nicht, bis der
Thron Gottes Jesum rechtfertigen wird, sondern Er verkündigt
sofort, daß Jesus erhoben und Zum „Herrn über
alles" gemacht ist; so daß der Mensch Ihn jetzt schon in
dieser Weise zur rechten Hand Gottes erblicken und
Christus schon jetzt in dieser Weise die Erwartungen
Seines Herzens erfüllt sehen kann.
Und gerade diese Thatsache verleiht dem Dienste
des Gläubigen oder der Kirche seine besondere Kostbar
keit und Schönheit. Es ist ein Dienst, welcher der
Ehre und Herrlichkeit oder, ich möchte noch lieber sagen,
dem Herzen und den Erwartungen Christi erwiesen
wird.
Alles dieses ist von ernster Bedeutung, geliebte
Brüder; und wir verletzen eine unsrer höchsten Pflichten,
wenn wir die geringste Gleichgültigkeit verraten bezüglich
der heiligen Sorge für den Namen Christi, die uns in
so feierlicher und zugleich rührender Weise anvertraut
240
ist. Der Tag wird alles klar machen. Gott wird über
kurz oder lang in Macht „suchen und richten"; Er wird
nach der Ehre und Verherrlichung jenes Namens sehen.
Jedes Knie wird sich beugen, und jede Zunge bekennen,
daß dieser Name „über jeden Namen" ist. Zu Seiner
Zeit wird der Herr erscheinen, und Seine Namen werden
an Ihm sein: „Treu und Wahrhaftig", „das Wort
Gottes", „der König der Könige", sowie jener Name, den
niemand kennt als Er allein. Aber bis dahin ist uM
die Hut dieses Namens anvertraut, um in der Kraft des
Heiligen Geistes jeden Gedanken zu verurteilen, der ihn
beschmutzen könnte, und jede Hand zurückzuweisen, welche
die Schranken, die Liebe und Anbetung um ihn errichten,
niederreißen will.
Der Name des Sohnes Gottes ist für uns das,
was der Name Jehovas vor alters für Israel war. Es
bedeutete Verderben und Zerstörung für Israel, wenn es
sich zu andern Göttern wandte. Ob ein Prophet mit
erfüllten, eingetroffenen Prophezeiungen, oder der nächste,
teuerste Verwandte, oder eine Stadt mit allen ihren Bewohnern
sich andern Göttern zuneigte und zum Götzendienst
verführte — in keinem Falle war Schonung und
Erbarmen am Platze: „du sollst ihm nicht zu Willen
sein und nicht auf ihn hören; und dein Auge soll seiner
nicht schonen, und du sollst dich seiner nicht erbarmen,
noch ihn verbergen, sondern du sollst ihn gewißlich töten . . ..
Du sollst die Bewohner selbiger Stadt gewißlich schlagen
mit der Schärfe des Schwertes; du sollst sie verbannen
und alles, waS in ihr ist." (5. Mose 13.) Gericht
und Verderben trafen das Volk, wenn es nicht durch ein
entschiedenes, schonungsloses Handeln den Zorn Jehovas
241
abwendete. Levi durfte in einem solchen Falle weder
Vater noch Mutter verschonen; die Häupter des Volkes,
die sich durch Baal-Peor versündigt hatten, mußten aufgehängt
werden vor dem Herrn. Und ist es nicht heute
noch genau so im Blick auf den Namen des Sohnes?
Allerdings ist weder Schwert noch Speer in der Hand
der Kirche, aber sie muß die Thür verschließen vor einem
jeden, der nicht die Lehre Christi mit sich bringt, der nicht
bleibt in dem, was wir gelernt und empfangen haben.
Vergessen wir nicht, daß es der Name des Sohnes
Gottes ist, um den es sich handelt. Es mag Tausende
von Fällen geben, wo man zu untersuchen hat, ob wenig
oder viel geistliche Kraft und geistliches Licht bei dem
vorhanden ist, der gefehlt hat, und wo dieses verschiedene
Maß von straft und Licht in Berechnung zu ziehen ist.
Aber wenn es sich um den Namen des Sohnes Gottes
handelt, so darf ich nicht darnach fragen, ob Kraft oder
Schwachheit vorhanden ist; es giebt dann nur einen
einzigen Gesichtspunkt, nur eine einzige Frage, und diese
lautet: „Ist die Ehre Seines Namens gewahrt?"
Das Gebot des VaterS an uns ist, daß wir,
„wie wir von Anfang gehört haben, darin wandeln sollen,"
wandeln in der Wahrheit von der Herrlichkeit des Sohnes.
(2. Joh. 6.) Und wir können nicht Gleichgültigkeit und
Unentschiedenheit in der Bewahrung der Wahrheit damit
entschuldigen, daß nur wenig geistliche Kraft unter uns
vorhanden sei. Nein, wir sollten eine Mauer von Feuer
um sie her bauen. Der Herr gebe uns allen eine heilige
Entschiedenheit, um nicht zu erlauben, daß auch nur der
geringste Flecken auf Seinen Namen gebracht werde!
(Fortsetzung folgt.)
242
: Der Säemann.
(Fortsetzung.)
Ehe wir zu der Betrachtung „des SamenS" übergehen,
müssen wir noch ein wenig bei dem Charakter
„des Säemanns" verweilen. Es ist in der That überaus
lieblich und belehrend, unsern gepriesenen Herrn in Seinem
Werke als Säemann zu betrachten; zu beobachten» was
Er that und wie Er es that; Sein Werk zu sehen,
sowie den Geist, in welchem Er es ausführte.
Wersen wir z. B. einen Blick auf den Beginn des
Evangeliums Markus, dieses bewunderungswürdigen Berichtes
über das Werk und den Dienst eines unermüdlichen
Arbeiters. Wir lesen dort: „Nachdem aber Johannes
überliefert war, kam Jesus nach Galiläa und predigte
das Evangelium des Reiches Gottes." Das war Sein
Werk als der große Säemann! Laßt uns darüber sinnen!
Der Sohn Gottes predigt das Evangelium! Gesegnete
Thatsache — eine Thatsache, die lauter und mächtiger zu
uns redet, als tausend Beweisgründe und Ermahnungen.
Möchte jeder Evangelist Trost schöpfen aus diesem
kurzen, ober so wichtigen Bericht. Wie oft wird in etwas
geringschätziger Weise von dem Werke des Evangeliums
gesprochen; wie manches geschieht, was dazu angethan ist,
die Hände derer, die sich mit diesem herrlichen Werke beschäftigen,
matt zu machen! Aber alles das ist von
geringer Bedeutung, wenn wir sehen, wie unser Herr und
Meister selbst sich mit ganzer Seele diesem Dienste hin-
giebt. Wenn wir Sein Beispiel vor uns haben, so sind
alle Meinungen der Menschen wertlos.
Manche finden Gefallen daran, das Werk des Evan
U
- 243 -
geliums in den Schatten zu stellen, indem sie es mit der
Belehrung der Kirche Gottes und dem Weiden der Herde
Christi in Gegensatz bringen und es so gleichsam als
minderwertig bezeichnen. Das ist aber, nach unsrer tiefen
Ueberzeugung, ein ernster, schlimmer Fehler. Jeder Teil
des Werkes hat seinen besondern Platz und Wert, sein
ihm eigentümliches Interesse. Allerdings müssen die Schafe
Christi geweidet werden, und ein jeder, der Christum
liebt, wird auch bestrebt sein, den liebenden Wunsch des
Herzens des guten Hirten zu erfüllen: „Weide meine
Lämmlein" — „hüte meine Schafe!"
Aber müssen nicht die Schafe zunächst gesammelt
werden, ehe von einem Hüten und Weiden die Rede sein
kann? Sicherlich. Und wie sollen sie gesammelt werden,
wenn nicht durch das große Werk der Evangelisation?
Der Prediger des Evangeliums ist berufen, auf die Landstraßen
und Kreuzwege, an die Hecken und Zäune zu
gehen und dort die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen.
Seine Sendung richtet sich an die weite, weite
Welt. Er hat die kostbare Geschichte von der Liebe
Gottes und dem vollendeten Werke Christi jedem Geschöpf
zu erzählen, das unter dem Himmel ist.
Auf diesem Wege wird die Kirche gesammelt. Das
Werk der Evangelisation geht deshalb der Belehrung der
Kirche voraus; der Evangelist kommt vor dem Lehrer und
Hirten. Allein es ist ganz und gar verkehrt, den einen
dem andern voranzustellen bezüglich ihres Wertes oder
des Interesses ihrer Arbeit. Beide sind dem liebenden
Herzen des Meisters gleich nahe. Er war der eifrigste
Evangelist und der ernsteste, von brennender Liebe erfüllte
Hirt, der je diese Erde betrat. Wer hat jemals das
244
Evangelium gepredigt, wie Er es that? Wer sorgt für
die Herde wie Er?
Doch laßt uns Seinen gesegneten Pfad noch etwas
weiter verfolgen.
„Und frühmorgens, als es noch sehr Nacht war, stand
Er auf und ging hinaus, und ging hin an einen wüsten
Ort und betete daselbst. Und Simon und die mit ihm
waren gingen Ihm nach; und als sie Ihn gefunden hatten,
sagen sie zu Ihm: Alle suchen dich. Und Er spricht
zu ihnen: Laßt uns anderswohin in die nächsten Flecken
gehen, auf daß ich auch daselbst predige; denn
dazu bin ich ausgegangen. Und Er predigte in
ihren Synagogen, in ganz Galiläa, und trieb die Teufel
aus." (Mark. 1, 35-39.)
Beachten wir diese Worte: „Dazu bin ich ausgegangen."
Wer möchte eS solchen Worten gegenüber
wagen, in gleichgültiger Weise von der Predigt des Evangeliums
zu reden? Wahrlich, niemand, der irgendwie das
Herz Christi kennt und in Seinen Fußstapfen zu wandeln
wünscht.
Lauschen wir ferner auf die folgenden rührenden
Laute: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil Er mich
gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen;
Er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung
auszurufen und Blinden das Gesicht, Zerschlagene in
Freiheit hinzusenden, auszurufen das annehmliche Jahr
des Herrn." (Luk. 4, 18. 19.)
Wie lieblich und gewaltig zugleich reden solche Worte zu
unsern Herzen! Wie ermunternd sind sie für jeden wahren
und ernsten Evangelisten! Wer könnte daran denken, daß
der Herr Jesus mit dem Heiligen Geiste gesalbt war
245
Mr Predigt des Evangeliums, daß der Sohn Gottes selbst
einst hienieden die frohe Botschaft verkündigte, und dann
in geringschätziger Weise von der Arbeit und dem Dienste
des Evangelisten reden! Ohne Zweifel muß jeder Arbeiter
Zusehen, wie er seine Arbeit verrichtet. Des Herrn Werk
sollte stets nach des Herrn Gedanken getrieben werden.
Leider werden heutzutage in Verbindung mit dem Werke
des Evangeliums oft Wege eingeschlagen, die kein geistlicher
-Christ gutheißen kann, und die dazu angethan sind, Werk
und Arbeiter in den Augen der Hörer verächtlich zu
machen.
Alles das ist tief zu beklagen und sollte von den
Knechten des Herrn durchaus vermieden werden. Wir
sollten es uns angelegen sein lassen, das Werk zu treiben
sowohl' mit Besonnenheit als mit Ernst, sowohl mit
Weisheit als mit Eifer, sowohl mit Bescheidenheit als mit
Energie. Das kostbare Evangelium von der Gnade Gottes
kann in all seiner lebendigen Fülle und Kraft gepredigt
und Seelen können errettet werden, ohne daß man die
Regeln des Anstandes und des guten Tones verletzt. Die
Evangelien belehren uns über die Art und Weise, wie
unser Herr und Meister Sein Werk trieb; und in der
Apostelgeschichte hören wir, wie der Heilige Geist die
ersten großen Prediger unterwies, ihr Werk zu thun. Das
Wort muß hier wie in allen Dingen unser Führer sein.
Der Herr gebe, daß das Werk geschehe mit allem
Ernst, mit Hingebung und Ausharren! Möchte trotz aller
Schwierigkeiten und trotz der Feindschaft des Menschen
das lautere Evangelium Gottes fleißig gepredigt werden!
Der Evangelist hat unentwegt seinen Auftrag zu erfüllen:
„Gehet hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium
246
der ganzen Schöpfung." Der Teufel wird alles thun,
waS in seinen Kräften steht, um ein Werk zu hindern,
das er mit ganzer Seele haßt; und er mag zu Zeiten
selbst laue, träge Christen dazu benutzen, um den Eifer
der Diener des Herrn zu dämpfen und sie in ihrer Arbeit
aufzuhalten. Alle, welche sich so von dem Feinde der
Seelen gebrauchen lassen, werden dereinst dem Herrn
davon Rechenschaft zu geben haben. „Ich bezeuge ernstlich
vor Gott und Christo Jesu, der da richten wird Lebendige
und Tote, und bei Seiner Erscheinung und Seinem
Reiche: Predige das Wort, halte darauf in gelegener
und ungelegener Zeit; ... thue das Werk eines
Evangelisten, vollführe deinen Dienst." (2. Tim.
4, 1. 2. 5.)
Hier begegnen wir der unerschütterlichen Grundlage
des Werkes, sowie einer klaren, unzweifelhaften Autorität.
Und zu unserm Trost und zu unsrer Ermunterung, während
wir das Werk treiben, steht allezeit das vollkommne Vorbild
unsers Herrn und Meisters vor uns, dessen innige
Freude es war, armen, zerbrochenen und mühseligen
Herzen die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen, und
der selbst daun, wenn nur ein einziges elendes, ausgestoßenes
Geschöpf Sein Wort ins Herz ausgenommen
hatte, Seinen Mitarbeitern die Worte zurufen konnte:
„Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet . . .
Meine Speise ist, daß ich den Willen Dessen thue, der
mich gesandt hat, und Sein Werk vollbringe. Saget ihr
nicht: Es sind noch vier Monate, und die Ernte kommt?
Siehe, ich sage euch: Hebet eure Augen auf und schauet
die Felder an, denn sie sind schon weiß zur Ernte. Der
' da erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum
247
ewigen Leben, auf daß beide, der da säet und der da
erntet, Zugleich sich freuen." (Joh. 4, 32-36.)
Welch ein Erguß eines liebenden Herzens — und
alles das in Verbindung mit der Errettung einer einzigen
Seele! Welch eine Unterweisung für alle Evangelisten und
welch ein Tadel für jeden, der ihr Werk geringschätzig
behandelt! —
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Abschnitt unsers
Gegenstandes, zu „dem Samen".
„Der Säemann säet das Wort." Wie einfach und
doch wie überaus wichtig ist dieser kurze Ausspruch! Das
Wort Gottes ist das große Mittel und Werkzeug, um
Frucht hervorzubringen und Seelen lebendig zu machen
und zu segnen. Allerdings muß der Heilige Geist das
Wort auf die Seele anwenden; aber wir dürfen nie
vergessen, daß es das Wort ist, welches Er anwendet.
Der große Säemann säte das Wort, und alle Seine
Nachfolger dürfen nichts anderes säen. Mag die Form,
in welche das Wort gekleidet ist, sein, welche sie will —
eine Strophe aus einem Liede, oder eine einfache Erläuterung
der Wahrheit aus der Natur oder dem täglichen
Leben, — dennoch ist das Wort das einzige Mittel,
welches der Heilige Geist in dem großen Werke der
Lebendigmachung der Seelen benutzt.
Es liegt, wie bereits bemerkt, nicht in dem Bereich
dieses Gleichnisses, das Werk des Heiligen Geistes in der
Anwendung der Wahrheit auf die Seele darzustellen; es
redet einfach von dem Worte als dem Mittel der Wiedergeburt.
Wir brauchen nichts anderes als das Wort; es
ist völlig genügend. Wir bedürfen keiner Mittel, um auf
die natürlichen Gefühle zu wirken oder die Sinne zu er
248
regen. Das Wort Gottes in seiner heiligen Würde und
Autorität ist alles, was der Säemann zu gebrauchen hat;
und wenn wir nur dieses unschätzbare Mittel mit einfältigerem
Glauben und Vertrauen benutzten, so würden
wir mehr gesegnete Resultate sehen.
Man kann unmöglich die Evangelien oder die Apostelgeschichte
lesen, ohne sich getroffen zu fühlen von dem
hervorragenden, ja, ausschließlichen Platz, der dem Worte
überall gegeben wird. Der Raum dieser Blätter gestattet
es nicht, auch nur einen Teil der bezüglichen Stellen anzuführen
; allein wir möchten alle unsre lieben Mitarbeiter
dringend bitten, jener Thatsache ihre ernste Aufmerksamkeit
zu widmen. „Es sei denn daß jemand aus Wasser und
Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes
eingehen." — „Der Säemann säet das Wort."
Das Wort sollte stets Anfang, Mittel und Ende
unsrer Predigt bilden. Erläuterungen aus der Natur
oder dem täglichen Leben mögen gelegentlich eingefügt
werden; der große Snemann selbst that dies mit bewunderungswürdiger
Weisheit und Kraft, und alle Evangelisten
und Lehrer werden finden, daß sie behülflich sind,
den Herzen und Gewissen ihrer Zuhörer die Wahrheit
näher zu bringen. Sehr oft wird eine einfache, erläuternde
Erzählung mehr wirken als die ausführlichste und
schlagendste Beweisführung. Trotz alledem aber muß das
Wort Gottes stets das große Werkzeug in der Hand des
Predigers bilden, wenn anders seine Predigt von göttlicher
Wirksamkeit sein soll. Ein Ueberfluß an Erläuterungen
oder Anekdoten schwächt die Predigt und stimmt ihren
Ton herab. So nützlich sie als ein gelegentliches Hülfsmittel
sein mögen, setzen sie doch, wenn sie allzusehr vor
249
herrschen, das Wort Gottes thatsächlich beiseite, anstatt
es zu erläutern oder wirkungsvoller zu machen. Wir
sollten suchen, mit einem tieferen Glauben an das Wort
selbst, an seine göttliche Kraft und Fülle, zu predigen.
ES bedarf keiner Hinzufügungen oder Ausschmückungen.
Ein einziger Vers der Heiligen Schrift genügt in der
Hand des Heiligen Geistes völlig, um die Tiefen der
Seele zu erreichen und dort zu dem Keime des ewigen
Lebens zu werden. Wir dürfen überzeugt sein, daß unser
schwacher Glaube an die Kraft des Wortes nicht selten
die Ursache des Mangels an Frucht von unsrer
Predigt ist. Möchten wir alle ein tieferes Bewußtsein
davon haben, „daß das Evangelium Gottes Kraft
ist zum Heile jedem Glaubenden".
Ja^ das Evangelium selbst in seiner göttlichen Herrlichkeit
und Fülle, getrennt von allem, was der Mensch
darüber zu sagen haben mag, — das kostbare Evangelium,
so voll und rein, wie es aus dem Herzen Gottes hervor-
fließt, — die gesegnete Botschaft von einer vollbrachten
Erlösung, die in der Kraft des Heiligen Geistes in die
Seele dringt, — die herrliche, auf das inspirierte Wort
gegründete Erzählung von der freien Liebe Gottes und
dem vollendeten Werke Christi, — das ist die Kraft
Gottes zum Heile jedem Glaubenden, ob Jude oder
Grieche.
Nicht daß wir deu Ernst, den Eifer und die Energie
in dem Prediger selbst unterschätzen möchten. Weit davon
entfernt! Wollte Gott, daß mehr von diesen Dingen
in unsrer Mitte vorhanden wären! Wir verlangen nach
einem größeren Maße von himmlischem Feuer in unsern
Predigten, nach einem brennenderen Verlangen des Herzens
250
Aach kostbaren Seelen, nach einem innigeren Wunsche,
unsre armen, dem Verderben entgegeneilenden Mitmenschen
vor der ewigen Qual zu bewahren, nach einem tieferen
Bewußtsein von den Schrecken der Hölle und den unaussprechlichen
Freuden des Himmels. Alle diese Dinge
würden unserm Reden und Thun mehr Tiefe und Kraft,
mehr Ernst und Feierlichkeit verleihen. Aber so begehrenswert
sie auch sein mögen, laßt uns vor allem nie die
wichtige Thatsache vergessen, „daß der Säemann das
Wort säet".
(Fortsetzung folgt.)
Nichts gleich Ihm.
Welch eine kostbare, gesegnete Sache ist eS, Gott in
Christo geoffenbart zu sehen! Wie herrlich hebt sich die
Person Christi ab von dem Hintergründe des Schauplatzes
dieser Welt, um unsre Blicke auf sich zu ziehen und unsre
Herzen mit Gott zu verbinden! Er steht allein da. In
dieser Hinsicht ist der Anfang des Evangeliums Johannes
von besonderem Interesse. In welch einer vollständigen
Weise wird Christus dort unsern Blicken dargestellt! Er
sammelt um sich; Er muß Gott sein, anders würde Er
uns von sich weisen müssen. Er sagt: „Folge mir nach."
Er ist der Mensch, der den Weg bereitet, den einzigen
Weg durch diese Wüste; denn für den Menschen giebt
es keinen Weg mehr, seitdem er von Gott getrennt ist.
Ueber dem Menschen Christus ist der Himmel offen; Er
ist, als Mensch, der Gegenstand des Himmels und des
Dienstes der Engel Gottes. Johannes (ein schönes Beispiel
von der Abwesenheit aller Selbstsucht und Selbstgefälligkeit)
empfängt ein Zeugnis von oben, aber er redet
251
von dem, was irdisch ist. Nun, das ist nur ein Zeugnis;
aber Der, welcher von oben kam, zeugt von dem, was
Er gesehen hat, und offenbart in sich selbst den
Himmel. Er giebt — Er ist — das ewige Leben,
damit wir es genießen möchten. Welch eine wunderbare
Sache: der Himmel, seine Natur, seine Freuden, mit einem
Worte das, was er ist, sollte uns durch das Wort und
die Gegenwart Dessen geoffenbart werden, der
dort wohnt, der der Mittelpunkt und die Herrlichkeit des
Himmels ist! Ohne Zweifel hat der Mensch jetzt Eingang
in den Himmel gefunden; allein es ist nicht weniger
köstlich, daß Gott auf diese Erde herabgestiegen ist. Der
Mensch und seine Zulassung in den Himmel ist der Gegenstand
des Apostels Paulus, Gott' und das auf Erden
geoffenbarte Leben der Gegenstand des Johannes. Der
eine Gegenstand ist himmlisch, was den Menschen betrifft,
der andere göttlich. Das ist auch der Grund, weshalb
die Schriften des Johannes eine solche Anziehungskraft für
uns haben. Es giebt eben nichts gleich Ihm.
Wenn die Seele von dem Gedanken durchdrungen
ist, daß der Hochgelobte hienieden derselbe war, der von
Ewigkeit her im Schoße des Vaters war, — wenn dieser
Gedanke durch den Heiligen Geist in der Seele lebendig
erhalten bleibt, so wird er manche Neigung in Schranken
halten, welche die Seele jetzt vielleicht verunreinigt. Er, der
im Mutterleibe der Jungfrau lag, ist derselbe, der im Schoße
des Vaters war — welch ein Gedanke! Der majestätische
Jehova des Alten Testaments, den die geflügelten Seraphim
anbeteten (Jes. 6), war Jesus von Galiläa — welch
ein Gedanke! So fleckenlos als Mensch, wie Er als
252
Gott war — so rein in dem menschlichen Gefäße wie
in dem ewigen Schoße — so makellos inmitten der Verunreinigungen
der Welt wie zur Zeit, da Er die Wonne
des Vaters bildete vor Grundlegung der Welt!
Möchte die Seele von diesem Geheimnis durchdrungen
sein; dann wird mancher Gedanke, der aufsteigen will,
sofort seine Beantwortung finden. Wer möchte angesichts
eines solchen Geheimnisses reden, wie manche in unsern
Tagen geredet haben? Wenn nur diese Herrlichkeit vor
der Seele steht, so werden wahrlich die Flügel wieder das
Antlitz bedecken und die Schuhe von den Füßen gezogen
werden. (Vergl. Jes. 6, 2; 2. Mose 3, 5.)
Der müde Pilger.
„Wie drückend ist die Wüste,
„Der Weg so öd' und hart!
„So einsam oft die Reise,
„So rauh die Pilgerfahrt!" —
Getrost, du müder Pilger!
Bald ist das Ziel erreicht;
Des ew'gen Morgens Röte
Sich schon am Himmel zeigt.
Getrost! bald ruhst du droben
Bon allen Mühen aus;
Bald führt dein Herr und Heiland
Dich heim ins Vaterhaus.
Will drum dein Fuß ermüden,
Brennt heiß der Sonne Glut —
So blick' hinauf zum Ziele,
Das giebt dir frischen Mut.
Und sieh! des Herren Güte
Ist jeden Morgen neu;
Ob Freund und Bruder weichen,
Gr bleibt dir immer treu.
Er kann dich niemals täuschen,
Er läßt dich nie allein;
Er schenkt trotz aller Feinde
Den Becher voll dir ein.
Er fühlt, wie keiner fühlet,
Mit dir jedweden Schmerz,
Enttäuschung, Kummer, Sorgen,
Er kennt dein banges Herz.
Er schenkt dein Schwachen Stärke,
Dem Müden neue Kraft;
Er wird auch dich nicht lassen
Auf Leiner Pilgerschaft.
Harr' aus, du müder Pilger!
Bald ist das Ziel erreicht;
Des ew'gen Morgens Röte
Sich schon am Himmel zeigt.
Harr' aus! die Wüstenreise
Kürzt täglich, stündlich ab;
Auf sel'gen Friedensauen
Ruht bald der Wanderstab.
„Die Salbung von dem Heiligen."
(Schluß.)
Johannes zeigt uns in seinen Briefen, wie der
Gläubige oder die Versammlung Gottes diese ihr anvertraute
heilige und kostbare Pflicht, die Ehre des Namens
des Sohnes Gottes aufrecht zu erhalten, erfüllt; und
wahrlich, diese Briefe sind Schriften von ausgezeichneter
Schönheit und reichstem Segen für die Seele. Laßt uns
sie einen Augenblick betrachten.
- In dem 1. Briefe stellt der Geist (in dem Apostel)
den Gläubigen dar als in Gemeinschaft stehend mit jenem
überaus herrlichen Gegenstände: „Gott, geoffenbart im
Fleische". Sie beginnt mit einer Erklärung der Wahrheit
jenes großen Geheimnisses, der Offenbarung des ewigen
Lebens, welches bei dem Vater war. Sie verkündet, daß
diese Offenbarung in einer Weise geschehen sei, daß unsre
Ohren, Augen und Hände das Vorrecht hatten, sie sich
gleichsam zu eigen zu machen. Sie war nahe und vertraulich,
und die Gemeinschaft mit ihr war wirklich und
lebendig. Und nachdem der Apostel den Gegenstand in
der ihm eigenen Herrlichkeit und in seiner Nähe zu uns
entfaltet hat, beginnt er dann die herrlichen Eigenschaften
und Segnungen der Gemeinschaft mit ihm zu schildern.
Das ist sein großer Zweck.
Zunächst erklärt er, daß eine Fülle von Freude dieser
Gemeinschaft harrt. (Kap. 1, 4.) Wie kostbar sollte uns
dies sein! Der Geist stellt einen Gegenstand vor unsre
254
Augen, dessen naturgemäße und nächstliegende Eigenschaft
die ist, der Seele eine Fülle von Freude mitzuteilen.
Hier giebt es keinen Schrecken, der uns bestürzt machen
könnte, keine Hand, die sich schwer auf uns legte. Es
gleicht nicht der Entfaltung der göttlichen Majestät auf
dem Berge Sinai, noch selbst jener geheimnisvollen Gestalt,
deren Erscheinen Josua einst zu der Frage veranlaßte:
„Bist du für uns oder für unsre Feinde?" (Josua 5, 13.)
Auch erscheint der Gegenstand des Apostels zunächst nicht
auf dem Platze der Autorität, so daß die Worte hervorgerufen
würden: „Hier bin ich, sende mich!" oder: „Rede,
Herr, denn dein Knecht hört." (Jes. 6, 8; 1. Sam. 3.)
Nein, er tritt an die Seele heran in einer Weise, daß
sie mit Freude erfüllt wird. Er wird nicht verstanden,
wenn diese Freude nicht genossen wird; und er wird
nur teilweise verstanden, wenn die Freude an ihm keine
völlige ist.
Auch ist Licht in ihm. (Kap. 1, 5.) Er richtet
ebensosehr eine Botschaft aus an das Gewissen und das
Verständnis, wie er dem Herzen Freude darreicht. Diese
Offenbarung des ewigen Lebens sagt uns, „daß Gott
Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm ist"; und das
Gewissen wird gewarnt, daß es eine Lüge sei, von Gemeinschaft
mit ihm zu reden, während man in der
Finsternis (der Verderbtheit und Unwissenheit der Natur)
wandelt. Es ist dies eine weitere herrliche Eigenschaft
des geoffenbarten ewigen Lebens; und diese Eigenschaft
ist seiner würdig. Wenn es einerseits der lebendige Born
einer Fülle von Freude ist, so ist es andrerseits die nie
versiegende Quelle des Lichtes und der Reinheit. Und die
Seele, die diese große Offenbarung erfaßt hat, muß als
255
ein Kind des Lichtes wandeln, und nicht länger mit einem
verfinsterten Verstände, entfremdet dem Leben Gottes.
So heißt es auch weiterhin: Der Sohn Gottes „ist
geoffenbart worden, auf daß Er unsre Sünden wegnehme;
und Sünde ist nicht in Ihm". (Kap. 3, 5.) Da ist kein
Makel an dieser Offenbarung, kein Flecken auf diesem
Antlitz der Herrlichkeit. Mögen wir sie anschauen wie
hier (Kap. 3, 5), oder auf die Botschaft lauschen, die
sie uns bringt (Kap. 1, 5) — in beiden Fällen lernen
wir dieselbe Lektion. Es ist dasselbe Zeugnis, welches
das Ohr hört und das Auge sieht — „was wir gehört,
was wir mit unsern Augen gesehen, was wir. angeschaut
und unsre Hände betastet haben" — dasselbe Zeugnis
ag. das Gewissen. Von Gemeinschaft mit Gott reden
und in der Finsternis wandeln, ist eine Lüge; und „jeder,
der sündigt, hat Ihn nicht gesehen, noch Ihn erkannt."
Ferner ist jene Offenbarung eine Offenbarung der
Liebe, und zwar einer Liebe, die eine zwiefache Frucht
in der Seele hervorbringt. Sie bewirkt Vertrauen zu
Gott und Liebe gegen andere. Was Gott betrifft, so
treibt sie die Furcht aus und verleiht dem Herzen und
Gewissen Kühnheit, selbst wenn ein Tag des Gerichts
ihm bevorsteht. Sie füllt den Ort, den sie betritt, so
völlig mit der ihr eignen Kraft und Freiheit aus, daß
für den Geist der Furcht kein Raum mehr bleibt. Und
was die Umgebung betrifft, so wirkt sie nach der ihr
eignen Kraft in dem Geiste und dem Dienste der Liebe
so mächtig, daß man bereit ist, das Leben für die Brüder
darzulegen. (Kap. 3, 16; 4, 8—20.)
Das Herz, das Gewissen und das Verständnis stehen
somit im Verkehr mit ihr. Freude ist die Frucht dieser
256
Gemeinschaft, sowie Licht und Reinheit, Liebe und Vertrauen.
Das Ohr, das Auge, die Hand, sowie alle
Liebestriebe und Kräfte der Seele werden eingeführt in
diesen herrlichen, geheimnisvollen Gegenstand, die Offenbarung
des ewigen Lebens, daS bei dem Vater war;
und sie entdecken die herrlichen Eigenschaften desselben und
ernten den Segen, den er für alle diejenigen hat, die
unter der mächtigen Leitung des Heiligen Geistes von
ihm nehmen.
Doch daS ist nicht alles. Es giebt noch etwas mehr,
etwas anderes, ich möchte lieber sagen, etwas über alles
dieses hinaus. Gerade so wie wir Segen aus jener
Offenbarung schöpfen dürfen, giebt es auch Pflichten
gegen sie zu erfüllen. Allein das ist dem Herzen nur
willkommen, gerade so willkommen, in einem Sinne, wie
alles andere. Wir möchten ihr ebenso gern einen Dienst
zu erweisen haben, wie wir jenes reiche Maß von Licht
und Freiheit durch sie empfangen. Und gerade mit diesen
Pflichten und Diensten verbindet der Apostel ausdrücklich
die Salbung, die wir, wie er sagt, empfangen haben.
Die Salbung war ohne Zweifel in dem ganzen übrigen
Teil seiner Abhandlung über diese Offenbarung mit ein-
gefchlossen; denn ohne die Salbung von dem Heiligen,
ohne den Heiligen Geist, den Geist der Wahrheit, hätten
wir unmöglich eine lebendige Gemeinschaft mit diesem
Gegenstände haben können. Es ist die Sache des Geistes,
von den Dingen Christi zu nehmen und sie uns zu verkündigen.
Ohne Seine Wirksamkeit in uns würden wir
nie imstande gewesen sein, diesen großen Gegenstand zu
erfassen. Wir würden nie unser Auge, unser Ohr oder
unsre Hand dahin gebracht haben, ihn zu sehen, zu hören
257
und zu betasten. Wir würden nie eine lebendige, wirksame
Gemeinschaft mit Jesu, dem geoffenbarten ewigen Leben,
haben genießen können, wenn nicht die Salbung uns
diesen Weg geführt und uns Zu diesem Gegenstände hingeleitet
hätte. Doch beachten wir, daß der Apostel nicht
in Verbindung mit den Tugenden und Segnungen, die
uns aus dieser Offenbarung zufließen, sondern mit den
Pflichten, die wir ihr schulden, ausdrücklich die Salbung
erwähnt, die wir empfangen haben.
Wir sehen das im 2. Kapitel. Dort lesen wir, daß
die Salbung uns über die Herrlichkeit jenes Gegenstandes
belehrt, so daß wir keines Menschen zu unsrer Belehrung
bedürfen. Wir mögen durch unsre Brüder vieles andere
lernen, aber dies zu lernen haben wir nicht nötig. Die
Salbung, die wir empfangen haben, läßt uns in dem
Vater und in dem Sohne bleiben und verleiht der Seele
Gemeinschaft mit beiden in der Ergebenheit, der Ehrerbietung
und dem Vertrauen unsrer Herzen. Die Salbung
offenbart uns die Herrlichkeit, die es in jenem Gegenstände
giebt. Diese Herrlichkeit wird von uns erkannt vermittelst
der Salbung, die wir empfangen haben. Selbst
„die Kindlein" unter uns, wie Johannes sich ausdrückt,
haben sie empfangen und bedürfen niemandes, um sie
über diese Herrlichkeit zu belehren. Und diese Salbung
durchdringt, oder besser bildet, so völlig die Atmosphäre
des Aufenthaltsortes des Gläubigen, daß niemand, der auf
einem andern Boden steht, niemand, der nicht auch Jesu,
dem geoffenbarten ewigen Leben, Herrlichkeit zu geben
bereit ist, es da aushalten kann. Und diesen Dienst haben
wir Ihm noch immer darzubringen. Die Stätte unsrer
Anbetung sollte mit einem solchen Element von uns an
258
gefüllt werden, daß alle, die nicht in dem Sohne und in
dem Vater bleiben, es nicht ertragen können und Weggehen.
Und wahrlich, dem Herzen ist dieser Dienst willkommen.
Das ist die Luft, die wir einzuatmen begehren, gerade so
wie die Salbung ihre Freude daran findet, sie zu verbreiten.
Und welche Lüge könnte ihr gegenüber standhaften?
Mag es nur eine kleine Lüge sein, mag der Flecken auf
dem Antlitz dieser Herrlichkeit nur unscheinbar, nicht größer
als ein Sonnenstäubchen fein; ja, sei die Form des Gedankens,
welcher Jesum verunehrt, nur dunkel oder kaum
zu erklären — die Salbung verwirft ihn! Selbst die
Kindlein wissen, „daß keine Lüge aus der Wahrheit ist".
Das ist unser Dienst und unsre Pflicht gegenüber
diesem herrlichen Gegenstände, gegenüber Jesu Christo,
dem Sohne Gottes, dem ewigen Leben, das bei dem
Vater war und uns geoffenbart worden ist. Und die
Ausübung dieses Dienstes giebt, wie der Apostel sagt,
Freimütigkeit an dem Tage Seiner Ankunft. „Bleiben
in Ihm", das ist die Regel dieser Freimütigkeit. Die
zehn Pfunde, die Frucht einer fleißigen Benutzung der
Güter des Herrn während Seiner Abwesenheit, mögen
den Gläubigen mit Ehren in die Gebiete des Königs
einführen, um dort die Herrschaft über die zehn Städte
anzutreten; aber es ist nicht das, was in dem Sinne
der Salbung (nach Johannes) Freimütigkeit geben wird
an dem Tage Seiner Erscheinung. Wenn die Herrschaft
ausgeteilt wird, so wird der Fleiß für den Herrn seinen
Lohn empfangen; aber es ist die eifersüchtige Sorge für
den Namen des Sohnes (wie Johannes es darstellt), die
uns Gewißheit giebt, daß „wir nicht beschämt werden vor
Ihm bei Seiner Ankunft". (S. Kap. 2, 28.)
259
Auch ist es das unmittelbare und erste Gebot des
Vaters, daß wir diesen göttlichen Dienst dem Sohne
darbringen sollen: „Dies ist Sein Gebot, daß wir glauben
an den Namen Seines Sohnes Jesu Christi und
einander lieben, gleichwie Er uns ein Gebot gegeben hat."
(Kap. 3, 23.) An Seinen Namen glauben heißt, Ihm
göttliche Ehre erweisen. Man mag Ihm gehorchen, als
einem Herrn, oder Seine Unterweisungen entgegennehmen,
als von einem Lehrer; aber wenn Ihm göttliche Ehre,
alle göttliche Ehre verweigert wird, so ist das erste
Gebot des Vaters gebrochen. Auch in seinem zweiten
Briefe schreibt Johannes: „Dies ist das Gebot, wie ihr
von Anfang gehört habt, daß ihr darin wandeln sollt."
(V. 6.) Dienst oder Bemühung, oder ein Ohr, das für
die Lehren und Vorschriften des Herrn geöffnet ist, genügt
nicht, wenn Ihm dies verweigert wird. Der Glaube an
Sein Werk genügt nicht; Seine Person hat Ansprüche
an uns. Denn der Vater hat es sich vorgesetzt
und wird darnach sehen, daß alle den Sohn ehren,
gleichwie sie den Vater ehren.
DaS, Geliebte, ist unsre Pflicht dieser herrlichen
Offenbarung gegenüber. Wir kennen die Freiheit, das
Licht, die reinigende und erfreuende Kraft, die aus ihr
jeder Seele zuströmen, welche durch den Heiligen Geist
zu der Gemeinschaft mit ihr gebracht wird; aber wir
haben auch jene Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen. Und
die Salbung offenbart in besondrer und ausdrücklicher
Weise Seine Gegenwart in uns und unter uns dadurch,
daß sie diese Herrlichkeit Jesu zuschreibt und unS anleitet,
jene Pflicht und jenen Dienst Ihm zu erweisen. Sie
erfüllt, wie gesagt, den Ort, wo wir sind, mit einem
260
solchen Gefühl und Widerschein dieser Herrlichkeit des
geoffenbarten ewigen Lebens, daß ein jeder, der ihm fremd
ist, fortgetrieben wird.
'Wie einfach und doch wie willkommen ist die Belehrung
dieser Epistel, die in gewissem Sinne herrlicher ist als die
meisten der übrigen Briefe! Denn wenn sich an den Himmeln
Stern von Stern an Herrlichkeit unterscheidet, so giebt
es auch wohl unter den Lichtern des Heiligtums keines, das
Heller leuchtete und zugleich lieblicher und notwendiger wäre
als daS Licht dieser Epistel, die uns den Heiligen Geist bei
der Ihm eignen Thätigkeit zeigt, nämlich von den Dingen
Christi zu nehmen und uns zu verkündigen. Inmitten dieser
Dinge verkündigt Er uns auch „das Zukünftige". Er
sagt uns, daß, wenn Christus erscheinen wird, „wir Ihm
gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist".
Aber das ist nicht der Gegenstand, der uns jetzt beschäftigt.
Wir begegnen indessen noch mehr von dieser Art bei
unserm Apostel. In seinem zweiten Briefe finden wir
die heilige und liebliche Empfehlung einer Person, die
von Johannes treu erfunden worden war im Blick auf
die Pflicht und den Dienst, wovon wir reden. Und dies
ist ganz am Platze. Der erste Brief behandelt die Pflicht,
die wir jener herrlichen Offenbarung schulden; und der
zweite zeigt, wie dieser Pflicht durch die „auserwählte
Frau" genügt wurde. Ein jedes der „Kindlein" wird
die Pflicht kennen und anerkennen; und ein Weib, „das
schwächere Gefäß", kann und will sie erfüllen. Zugleich
beweist ein solcher Brief, wenn das überhaupt nötig wäre,
wie wertvoll dieser Dienst nach dem Urteil des Geistes
ist, indem Er sich in einer besondern Schrift damit
beschäftigt, ihn darzustellen und zu empfehlen.
261
Diese auserwählte Frau wurde geliebt „in der Wahrheit".
Das sind Worte, die an dieser Stelle ihre besondere
Bedeutung haben. Denn wenn Johannes von
der „Wahrheit" spricht, so meint er etwas anderes als
die Wahrheit, wie sie z. B. in dem Dienste des Apostels
Paulus hervortrat. Es handelt sich hier nicht um das
Evangelium der Gnade Gottes, noch um die Lehren, die
Christus selbst predigte oder Seinen Aposteln eingab zu
predigen, sondern es ist die Wahrheit oder die Lehre
bezüglich der Person Christi; mit einem Wort: „die
Lehre des Christus". (S. V. 9.) Vers 7 bezeugt dies
unmittelbar, indem dort die Verführer als solche beschrieben
werden, welche die Lehre bezüglich der Person
Christi angreifen oder leugnen.
Paulus und Johannes müssen unterschieden werden.
Bei Paulus ist die „Wahrheit" das allgemeine Geheimnis
des Evangeliums, bei Johannes ist sie „die Lehre des
Christus". Paulus wachte darüber, daß das Werk
Christi für den Sünder in all seiner Einfachheit bewahrt
blieb, und belehrte den Gläubigen über seine Annahme
in der Person Christi. Aber Johannes spricht wie
einer, dem die Aufrechthaltung der Ehre der Person
Christi anvertraut war; er verteidigte „die Lehre des
Christus", und zwar nicht so sehr um des Interesses
willen, das wir daran haben, sondern vielmehr um der
Herrlichkeit Christi selbst willen. Wenn Paulus von dem
Geheimnis der Gottseligkeit spricht, so kann er nicht bei
dem ersten Teil desselben: „Gott ist geoffenbart worden
im Fleische", stehen bleiben, sondern er muß es weiter
entwickeln, bis er zu dem Interesse gelangt, das wir
daran haben, und sagt: „gepredigt unter den Nationen".
262
Johannes hat aber nur einen Gegenstand hier vor sich:
die Herrlichkeit der Person des Sohnes, sowie nur eine
Pflicht gegenüber diesem Gegenstände: die eifersüchtige
Aufrechthaltung dieser Herrlichkeit angesichts von allem.
Johannes, war, um in levitischer Sprache zu reden,
ein Kehathiter; und vor allem ist er es in dieser Schrift.
Er ist im Allerheiligsten mit der Bundeslade (dem Vorbilde
von Christo) beschäftigt. Er mag zu andern Zeiten
andere, ebenfalls notwendige Geschäfte versehen, (Paulus
und andere mit ihm hatten fortwährend mit solchen
zu thun,) aber in dem vorliegenden Briefe ist er ein
Kehathiter, der sich mit der Person Christi, des Sohnes
des Vaters, und mit dieser allein, beschäftigt. (Vergl.
4. Mose 4.) *)
*) Der Dienst der Kehathiter war mit Gefahr verbunden.
Wenn sie irgendwie die Bundeslade anrührten oder nur einen Blick
auf sie warfen, so mußten sie sterben. (4. Mose 4, 17—20.) Mit
dem Dienst der Söhne Gersons oder Meraris war es anders.
Gerade das Vorrecht des Kehathiters, sich dem Allerheiligsten nahen
zu dürfen, setzte ihn der ernstesten Gefahr aus. Das ist nichts
Ungewöhnliches. Das Vorrecht ist aber um der Gefahr willen
nicht zurückzuweisen, sondern nur in einem rechten Geiste zu benutzen.
Möge tiefe Ehrfurcht uns erfüllen, wenn wir den Dienst
eines Kehathiters thun; und dann dürfen wir ihn thun mit dem
vollen Bewußtsein unsers Vorrechts und in einem Geiste der
Freude und der Freiheit.
Die Briefe des Johannes behandeln ferner einen
„bösen Tag" — eine Zeit, in welcher in besondrer Weise
Angriffe auf „die Lehre des Christus" gemacht wurden.
Johannes, der Kehathiter, war (unter der Leitung des
Geistes) sich sehr wohl bewußt, was für eine solche Zeit
nötig war. Aber er stand nicht allein. „Die auserwählte
Frau" und „Gajus" werden beide von ihm als Geliebte
263
„in der Wahrheit" angeredet. (S. die 3. Epistel.) Und
obwohl dem Hause des Gajus ein andrer Charakter verliehen
wird als demjenigen der auserwählten Frau, so
standen doch beide gemeinsam in dem Dienste der Wahrheit
in jenen Tagen.
Das Haus der Frau war gleichsam das Heiligtum
der Wahrheit und hatte alles fern zu halten, was nicht
aus der Wahrheit war, alle abzuweisen, die nicht „die
Lehre des Christus" mit sich brachten. Das Haus des
Gajus war andrerseits das Gastzimmer der Wahrheit
und hatte sich allen Zeugen der Wahrheit zu öffnen.
Sie war die Hüterin dieses Geheimnisses, er derMit-
arb eiter desselben, indem er denen diente, die es, aus
Liebe getrieben, überall hinbrachten, die „um des Namens
Christi willen" ausgingen und nichts von denen aus den
Nationen nahmen.
So fand also der Aelteste Johannes an einem bösen
Tage Gefährten „in der Wahrheit", die ihr daheim oder
draußen dienten, als Hüter oder als Mitarbeiter, indem
ihre Häuser entweder den Jüngern der Wahrheit als Tempel
dienten, oder die Zeugen derselben gastlich aufnahmen.
Die Atmosphäre innerhalb des Hauses sollte stets so von
dem Wohlgeruch des Namens Christi durchdrungen sein,
daß alle, die andern Sinnes sind, hinausgedrängt werden
(1. Joh. 2, 19); die Thür des Hauses sollte so fest verschlossen
sein, daß jene das Bewußtsein haben: hier ist
für uns kein Eingang zu finden (2. Joh. 10); und zugleich
sollte der Willkommsgruß so deutlich und innig
fein, daß alle, die von dem kostbaren Namen Christi zeugen
und seinen Wohlgeruch mit sich bringen, sich in dem Hause
daheim fühlen. (3. Joh. 8.) ...
264
Geliebter Leser! möchten wir nicht alle mit Freuden
an einem solchen Dienste teilnehmen? Wahrlich, alles
dieses ist der Dienst eines Kehathiters, ein Beschäftigtsein
mit der Bundeslade selbst. Rinder «und Wagen können
dabei nicht behülflich sein. (S. 4. Mose 7; vergl. auch
1. Chron. 13.) Das Material des Dienstes ist zu zart für
eine solche Hülfe. Die Schultern der Leviten müssen diesen
Dienst verrichten, und selbst ihre Hände dürfen nur in tiefster
Ehrfurcht das ihnen anvertraute heilige Gut berühren.
In einer Stunde also, in der es schon viele Verführer
gab und jener herrlichen Offenbarung die ihr gebührende
Ehrerbietung verweigert wurde, freute sich der
Apostel darüber, daß er sie als ein Bindemittel zwischen
seinem Herzen und dieser auserwählten Frau nebst ihren
Kindern und seinem geliebten Gajus anerkennen konnte.
Denn selbst schwache und junge Seelen sind, wie wir
oben sagten, vermögend, dieses kostbare Geheimnis heilig
zu halten und zu hüten. Das Verhalten der auserwählten
Frau war ein sehr gutes. Der Apostel hatte einige von
ihren Kindern in der Wahrheit wandelnd gefunden, wie
wir ein Gebot von dem Vater empfangen haben. (Vers 4.)
Und nun brauchte er sie nur zu ermuntern, fest zu stehen
an dem bösen Tage. Er wünschte, daß sie „vollen Lohn"
empfangen und in keiner Weise verlieren möchte, was sie
erarbeitet hatte. Andrerseits hatte Gajus das Herz des
Apostels dadurch erfreut, daß die Brüder von seinem
Festhalten an der Wahrheit Zeugnis gegeben hatten. Wie
klar und einfach ist die Belehrung, die uns hier entgegentritt,
aber zugleich auch wie inbrünstig und bestimmt die
Ermahnung! AuS diesem allen gehen indes für uns
noch besondere Warnungen hervor.
265
In der gegenwärtigen Zeit wird nah und fern viel
Zeugnis gegeben von dem Werke des Sohnes Gottes
für Sünder, oder von der Wahrheit, die man allgemein
(und mit Recht) „das Evangelium" nennt. Und wahrlich,
diese Wahrheit sollte stets verkündigt und vor dem Verderben
geschützt werden. Paulus war, wie bereits bemerkt,
in hervorragender Weise in diesem Dienste beschäftigt.
Er wachte sorgfältig über jeden Versuch des Feindes, die
Einfalt, die in Christo war, zu verderben. Wir sehen
ihn eifrig thätig unter Juden und Griechen, beweisend
und verteidigend, predigend und verkündigend das Evangelium
der Gnade Gottes und das Heil der Sünder durch
den Glauben an das Blut Jesu. Aller Orten offenbarte
sich die glühende Inbrunst seines Geistes in diesem guten,
kostbaren und notwendigen Dienste. Allein wir dürfen
nicht vergessen, daß, wie das Werk des Sohnes Gottes
unserm Zeugnis, so Seine Person unsrer Hut anvertraut
ist. Es ist uns, wenn ich es so nennen darf, eine
Verwaltung dieses großen Geheimnisses übertragen. Es
handelt sich nicht so sehr um unser Interesse für den
Namen des Sohnes, als vielmehr um die Rechte und die
Ehre, die Ihm gebühren, wenn wir denen, die Einlaß bei
uns begehren, eine Antwort zu geben haben. Und zu einer
Zeit, wie die gegenwärtige, wo evangelische Grundsätze weit
und breit angenommen werden und wo man mit dem Evangelium
allgemein bekannt ist, thut es not, daß diese Pflicht,
die wir dem Sohne Gottes schulden, der Seele in steter,
eifersüchtiger Erinnerung bleibe. Sie wird den zartesten
und heiligsten Dienst des Herzens Ihm gegenüber erwecken.
Auch ist die Kirche Gottes in Gefahr, von dem Geiste
der Vereins- und Bündnismacherei, der heute so wirksam
266
ist, angesteckt zu werden. Es liegt nahe, daß dieser Geist
auch in ihrer Mitte Raum finde, und zwar in einer Form,
die dazu angethan ist, sie zu verführen und dann zu verderben.
Dieser Geist wird selbstverständlich stets behaupten,
ihr in christlicher Weise dienen zu wollen, und vielleicht
einige der wertvollsten Grundsätze Gottes nehmen un5
durch sie wirken. Er redet vielleicht von Bruderschaft und
Liebe; wenn aber die „Wahrheit", wie Johannes von
ihr spricht, nicht ängstlich und eifersüchtig gehütet wird,
wenn die verheißene Bruderschaft nicht eine Liebe „in der
Wahrheit", Liebe „um der Wahrheit willen" ist, in dem
göttlichen Sinne unsers Apostels, so muß der Geist als
nicht von Gott bloßgestellt werden, und die Salbung, die
wir empfangen haben, muß ihn zurückweisen.
Gott sei Dank, daß es so ist! Wir lieben diese
Eifersucht für Jesum, wir heißen diesen Dienst für Ihn
willkommen; und wir haben unsern Weg zum Himmel
zu verfolgen, nicht nur in Gerechtigkeit hinsichtlich unsers
täglichen Lebens, nicht nur in der Gemeinschaft und Liebe
der Brüder, ja, nicht nur in dem unverderbten Bekenntnis
des Evangeliums oder in der eifrigen Verkündigung desselben
unter denen, die uns umgeben, — sondern auch
in der Kraft dieser Salbung von dem Heiligen, die uns
verpflichtet, die Ehre der Person des Sohnes Gottes
hoch zu halten. Wir müssen vorangehen als eine gesalbte
Schar, als ein Volk, das da weiß und anerkennt, daß
ihm der Name Jesu Christi und „die Geheimnisse Gottes",
wie Paulus sagt, anvertraut sind, um sie unversehrt,
heilig und in Ehrerbietung durch diese Welt zu tragen;
gerade so wie vor alters die Stämme Israels die Bundeslade
durch die Wüste geleiteten.
267
Müssen wir nicht fürchten, daß viel von diesem kostbaren
Geheimnis, das unsrer Verwaltung anvertraut und
Zu unsrer Freude geoffenbart ist, sich nicht in den Herzen
vieler Gläubigen vorstndet mit der Gewißheit und
dem Licht, oder nicht von ihnen verteidigt wird mit der
Eifersucht, die es stets begleiten sollten? Ist der Gedanke
an die Person des Sohnes unsern Herzen so
kostbar wie der an Sein Werk? Es kann Wohl sein,
daß die heutigen Gläubigen, trotz ihres größeren Lichtes
über die prophetischen Wahrheiten und andere Fragen,
weit unter vielen stehen, die einst mit immer neuer Freude
und Inbrunst über die gesegneten Geheimnisse Gottes
nachsannen und sich an ihnen ergötzten.
In der Erfüllung des großen Werkes des Evangeliums
ist der volle „Name" Gottes — Vater, Sohn
und Heiliger Geist, drei Personen in einer göttlichen
Herrlichkeit, eine Gottheit — geoffenbart und das große
Geheimnis entfaltet worden, daß Gott geoffenbart war
im Fleische, und daß der Heilige Geist jetzt den wunderbaren
Endzwecken der göttlichen Liebe dient, indem Er
das herrliche Evangelium der Gnade Gottes in den Herzen
der Auserwählten wirksam macht. Und demgemäß verhieß
der Herr in den Tagen Seines Dienstes den zukünftigen
Dienst des Heiligen Geistes und ehrte ihn als
solchen. Er sagte Seinen Jüngern, daß da Einer sei,
der sie in einer weit höheren Weise belehren würde, als Er
selbst es damals that. Der andere Sachwalter würde ihnen
alles das ins Gedächtnis zurückrufen und sie über das
belehren, waS Er ihnen bloß sagte; Er würde sie in
die ganze Wahrheit leiten, indem Er die Worte des
Herrn auf ihre Seelen anwandte und sich nicht nur
268
an ihre Ohren, sondern auch an ihre Herzen wandte.
(Joh. 14 u. 15.)
Das ist sehr kostbar; und jeder Christ sollte jetzt
der glückliche Zeuge von unserm andern Lehrmeister sein.
Die Dinge von Jesu, von dem Vater und von Christo
sind „in dem Buche" niedergeschrieben; wir können sie da
lesen und lernen. Aber der Heilige Geist nimmt und
verkündigt sie uns. Das Buch liefert gleichsam die
Lektion, und der Heilige Geist legt sie uns aus. Seine
lebendige Kraft begleitet die Lektion und wendet sie aufs
Herz an. Und geistlich sein heißt deshalb nicht nur
die Lektion kennen, wie das Buch sie uns mitteilt, sondern
sie so kennen, daß dieses Nehmen und Verkündigen
des Geistes, dieses große Geschäft der „Salbung von dem
Heiligen", sich darin offenbart. Wenn die Dinge Christi
so von unsern Seelen behandelt werden, wie der Geist
der Wahrheit sie in uns behandeln würde, so sind wir
„geistlich gesinnt", und das zu sein ist „Leben und Friede".
Möchte es so bei uns allen sein, hochgelobter Herr!
Der Säemann.
(Fortsetzung.)
Wersen wir jetzt einen Blick auf den dritten Hauptgegenstand
in unserm Gleichnis, auf den Boden.
Wir haben bereits den Leser vor dem falschen Gedanken
zu warnen gesucht, als ob es in den Herzen der
Menschen einen wesentlichen Unterschied im Hinblick auf
das Wort Gottes gebe. Die Schrift belehrt uns mit
großer Klarheit und unwiderstehlicher Kraft, daß es „keinen
Unterschied" giebt. Der Mensch mag das nicht gern hören;
269
aber das ändert nichts an der Wahrheit Gottes. Betrachtet
von einem göttlichen Standpunkte aus, gemessen
mit einem göttlichen Maßstabe und gewogen in der göttlichen
Wage, giebt es keinen Unterschied. Von einem
menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen, nach menschlichem
Maßstabe gemessen, in sittlicher und gesellschaftlicher Hinsicht
betrachtet, giebt es Schattierungen, verschiedene Grade
und Zustände, die nicht übersehen werden dürfen. Aber
wenn es sich um „die Herrlichkeit Gottes" handelt, so
erklärt der Heilige Geist, daß da „kein Unterschied" ist,
indem sie alle gesündigt haben, allesamt untauglich
geworden sind und die Herrlichkeit Gottes
nicht erreichen.
Aber, wird man einwenden, spricht der Herr in unserm
Gleichnis nicht von „gutem Boden" ? Allerdings. Nun, beweist
das denn nicht, daß es doch einen Unterschied giebt?
Zwischen „gut" und „böse" besteht doch ein wesentlicher
Unterschied? Ohne Zweifel; allein der Herr sagt uns an
dieser Stelle nicht, was es ist, das den Boden gut macht.
Es ist dies weder Sein Gegenstand noch Seine Absicht in
diesem Gleichnis. Die Schrift erklärt wieder und wieder,
daß da kein Gerechter, kein Guter sei; hieraus folgt, daß
der hier erwähnte gute Boden nur durch göttliche Thätigkeit
gut geworden sein kann. In dem ganzen Gebiete der
gefallenen Natur, der alten Schöpfung, giebt es nicht
einen Zollbreit Boden, auf welchem gute Frucht wachsen
könnte, es sei denn daß der Tau des Himmels darauf
falle und die Hand des göttlichen Ackerbauers ihn in
Gnaden bearbeite.
Aber wir wiederholen: es ist nicht der Zweck des
vorliegenden Gleichnisses, die Wahrheit von der Natur
270
des Bodens vorzustellen, noch auch die unbedingte Notwendigkeit
des Wirkens der göttlichen Gnade in jedem
Falle, wo gute Frucht hervorgebracht wird, zu betonen.
Es ist von andrer Seite mit Recht bemerkt worden, daß
ein Gleichnis wie eine Glaskugel ist, die eine ebene Fläche
berührt. L)ie Kugel berührt die Fläche nur an einem
Punkte, und wenn man versucht, eine Berührung an
mehreren Stellen zugleich herzustellen, so zerbricht man die
Kugel. Es ist wichtig, diese Thatsache bei der Auslegung
eines Gleichnisses im Gedächtnis zu behalten.
Betrachten wir nunmehr die verschiedenen Arten des
Bodens. „Siehe, der Säemann ging aus zu säen. Und
es geschah, indem er säete, fiel etliches an den Weg, und
die Vögel kamen und fraßen es auf." In der Erklärung,
die der Herr Seinen Jüngern nachher giebt, sagt Er:
„Der Säemann säet das Wort. Diese aber sind die an
dem Wege, wo das Wort gesäet wird, und wenn sie es
hören, alsbald der Satan kommt und das Wort
wegnimmt, das in ihre Herzen gesäet war." (Mark. 4.)
Das ist überaus ernst für alle, die unter dem Schall
des Evangeliums stehen oder in irgend einer Weise mit
dem Worte Gottes in Berührung kommen. Der Teufel
ist stets auf der Hut; er meint es in seiner Art ernst.
Er weiß sehr Wohl, was für ihn auf dem Spiele steht,
so sorglos die Menschen auch sein mögen. Und ach! wie
sorglos und gleichgültig sind Tausende und Millionen
bezüglich ihrer unsterblichen Seele! So hart wie der festgetretene
Weg! Das Wort, das in ihre Herzen gesäet
wird, redet in klarer und eindringlicher Sprache von ihrem
wirklichen Zustande in den Augen Gottes, von ihrer
Schuld, ihrer Gefahr, ihrem gänzlichen Verderben und
271
ihrer furchtbaren Verantwortlichkeit. Es redet zu ihnen
von dem kommenden Zorn, von dem Wurm, der nicht
stirbt, und dem Feuer, das nicht erlischt. Es stellt vor
die Augen ihrer Herzen die unaussprechliche Segnung und
Herrlichkeit jenes Himmels, der aller derer wartet, die
einfältig und aufrichtig an Jesum glauben.
Aber alles ist vergeblich. Diese Klasse von Hörern
bleibt unberührt, unbewegt — hart wie die Straße, die
sie gekommen sind, oder wie die Bänke, auf denen sie
sitzen. Die Boten deS Herrn reden ernst und liebevoll
zu ihnen; sie warnen, bitten und flehen; ihr Herz blutet bei
dem Gedanken an ihre Zuhörer; sie suchen sie zu überreden,
doch Buße zu thun und nicht länger aufzuschieben. Aber
alle Mühe ist umsonst. Sie bleiben sorglos und unbußfertig
; und Satan, immer wachsam, immer thätig, nie
müßig, nimmt sogleich das Wort wieder weg, das in ihre
Herzen gesäet wurde, und sie bleiben in seiner Gewalt,,
verblendet, verhärtet und gleichgültig.
Wie traurig ist es, an alle solche und an ihre kostbaren
Seelen zu denken! Wie erstaunlich, daß irgend
jemand sorglos sein könnte im Blick auf sein ewiges Heil,
sorglos hinsichtlich seines ewigen Schicksals, sorglos bezüglich
der ernsten Frage, wo er die endlosen Zeitalter,
die vor ihm liegen, zubringen wird! Wenn jemand sicher
wüßte, daß er noch hundert Jahre auf dieser Erde zu
leben hätte, und daß ihm eine Stunde gegeben wäre,
in welcher er für diese hundert Jahre Vorsorge zu treffen
hätte, und ferner, daß ihm für diese eine Stunde die
Geldschränke eines reichen Bankhauses offen ständen, um
aus ihnen so viel Geld zu entnehmen, als er nur fortzubringen
imstande wäre — mit welch einem Eifer würde
272
er sich an dieses wichtige Geschäft machen! Wie würde
er jeden Nerv, jeden Muskel anspannen! mit welchem
Fleiß Säcke und Kästen herbeischleppen und sie mit dem
kostbaren Schatze füllen, damit er für die hundert Jahre
genug hätte!
Was würden wir aber von einem solchen Menschen
denken, wenn wir ihn während jener wichtigen Stunde
nachlässig auf der Treppe des Bankhauses sitzen oder
einem umherziehenden Puppentheater zuschauen oder einer
Musikbande Nachlaufen sähen? Wahrlich, wir würden
ihn für einen Narren oder gar Wahnsinnigen erklären.
Und doch, mein Leser, wenn du bezüglich des Heils deiner
unsterblichen Seele gleichgültig bist, so bist du ein unendlich
größerer Narr als jener. Denn gerade in demselben
Matze wie die Ewigkeit die kurze Spanne von hundert
Jahren an Länge übertrifft, und in demselben Maße wie
die Interessen der unsterblichen Seele die Bedürfnisse des
Leibes an Wichtigkeit überragen, in demselben Maße
übertrifft deine Thorheit diejenige jenes Mannes.
Es giebt in der That keinen wahnsinnigeren Menschen
als den, der das Heil seiner Seele vernachlässigt.
Und doch, wie viele Millionen tragen diesen Wahnsinn
zur Schau Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr
für Jahr! Gleich Leuten, denen die Augen verbunden
sind, taumeln sie an dem Rande des Abgrundes dahin,
dessen Tiefe den Feuersee birgt, der mit Feuer und
Schwefel brennt. Sie beachten keine Warnungen, hören
auf keine Bitten, schlagen alle Ermahnungen in den
Wind, sind taub gegen die Stimme des Herrn und Seiner
Boten. Blindlings, ja, mit Willen eilen sie ihrem
ewigen Verderben entgegen. Sie wollen Christum nicht;
— 273 —
sie wollen die Welt und ihre Vergnügungen, Satan
und die Sünde. Sie verachten den Himmel und wählen
eine ewige Hölle.
Es ist eine leere Ausflucht, wenn jemand dem gegenüber
einwendet, er könne nichts dazu, daß sein Herz so
hart und unempfänglich sei, er könne Satan nicht verhindern,
das Wort aus seinem Herzen wegzunehmen, er
würde es gern darin behalten, wenn er nur dazu imstande
wäre. Alle solche Beweisführungen und Entschuldigungen
werden am Tage des Gerichts keinen Augenblick standhalten;
ja, niemand wird in dem durchdringenden Lichte
jenes Tages auch nur den Versuch machen, sie vorzubringen.
Sie sind ja heute schon völlig gründ- und wertlos.
Es giebt nicht eine einzige Seele unter dem Himmel,
die das leiseste Verlangen nach dem Worte Gottes, das
geringste Begehren nach Errettung hat, und die dieser Errettung
nicht jetzt teilhaftig werden könnte in all ihrer
Fülle, Freiheit und göttlichen Kostbarkeit. Nein, mehr
als das; ich möchte sagen, es giebt nicht eine einzige
Seele auf dem ganzen Erdenrund, die jemals die frohe
Botschaft von dem Heile Gottes gehört hat oder im Besitze
eines Neuen Testamentes ist, die nicht verantwortlich
wäre, zu glauben und ihre Errettung zu suchen; und die,
wenn sie verloren geht, nicht einzig und allein sich und
niemanden anders dafür zu tadeln hat. Ihr Blut wird
auf ihrem Kopfe sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Wir halten es für unsre heilige Pflicht, dies allen
denen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, die hinter
dem nichtigen Vorwande Schutz suchen, daß sie nicht verantwortlich
gemacht werden können. Solche dürfen versichert
sein, daß es nichts anders als eine Lügen-Zuflucht
274
ist. Ja, eine Lügen-Zuflucht, obwohl sie von einer einseitigen
Theologie einen Schatten von Unterstützung finden
mag. Ein jeder, auch „der am Wege", ist verantwortlich
und macht sich der Verwerfung des guten Wortes Gottes
schuldig. Wer oder was hat ihn zu einem solch gleichgültigen,
sorglosen Hörer gemacht? Die einfache Thatsache
ist, daß alle solche Hörer kein Verlangen nach Errettung
haben; sie wollen Christum und den Himmel nicht und
hüllen sich in jenes dünne, durchsichtige Spinnengewebe
von Entschuldigungen, welches, anstatt die ewige Verdammnis
von ihnen abzuwenden, sie nur noch vertiefen
und erschweren wird.
Wir finden stets in der Schrift, daß gerade die
Entschuldigungen, welche die Menschen Vorbringen, zur
Grundlage ihrer Verdammung gemacht werden. Adam sagte:
„Das Weib, das du mir beigegeben hast, sie gab mir
von dem Baume, und ich aß." Und nun hören wir,
was folgt: „Und zu Adam sprach Er: Weil du gehört
hast auf die Stimme deines Weibes und gegessen
von dem Baume, von dem ich dir geboten und
gesprochen habe: Du sollst nicht davon essen — so sei
verflucht der Erdboden um deinetwillen; mit Mühsal wirst
du davon essen alle Tage deines Lebens rc." (1. Mose 3.)
Gerade so ist es in dem Falle des bösen und faulen
Knechtes in Luk. 19. Er sagt: „Herr, siehe, dein Pfund,
welches ich in einem Schweißtuch verwahrt hielt; denn
ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mann bist: du
nimmst, was du nicht hingelegt, und du erntest, was du
nicht gesäet hast." Hilft ihm diese alberne Entschuldigung
etwas? Sicherlich nicht. „Er spricht zu ihm: Aus
deinem Munde werde ich dich richten, du böser
275
Knecht! .. . Und er sprach zu den Dabeistehenden: Nehmet
das Pfund von ihm und gebet es dem, der die zehn
Pfunde hat." Gerade seine Entschuldigung wird zu dem
klaren, handgreiflichen und gerechten Grunde seiner Verurteilung.
So wird es in jedem Falle sein. Jeder Mund wird
verstopft werden. Ein jeder wird, wenn einmal zur
Rechenschaft gezogen vor dem Richterstuhl Christi, stumm
dastehen; und wir sind überzeugt, wenn irgend jemand
mehr bestürzt sein wird als ein anderer, so wird es derjenige
sein, der seine Verantwortlichkeit, dem Evangelium
zu glauben, leugnet und den lebendigen Gott zu beschuldigen
wagt, der Urheber seines Unglaubens und seiner
Herzenshärtigkeit zu sein.
Darum wachet auf, wachet auf, ihr sorglosen Sünder,
ihr Verächter des Evangeliums, ihr gleichgültigen Hörer!
Erwachet zu einem Bewußtsein eurer schweren Verantwortlichkeit!
Erlaubet nicht den Vögeln des Himmels,
d. i. Satan und seinen Mitarbeitern, den kostbaren Samen
des Wortes Gottes aus euern Herzen wegzunehmen.
Laßt es euch Ernst werden um das Heil eurer unsterblichen
Seelen. Gott meint es ernst, Christus meint es
ernst, der Heilige Geist meint es ernst; und wir mögen
wohl hinzufügen, Satan, euer großer Widersacher, meint
es ernst. Wollt ihr allein gleichgültig und sorglos sein?
Laßt euch bitten, laßt euch warnen! „Heute, wenn ihr
Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht." Kommt,
ja, kommt heute, in diesem Augenblick! Kommt zu Jesu;
glaubet an Ihn und errettet eure Seele!
(Fortsetzung folgt.)
276
Ein Wort über den Dienst»
- (1. Kor. 12—14.)
In den oben angeführten drei Kapiteln, die ich dem
eingehenden Studium des Lesers empfehlen möchte, giebt
eS drei höchst wichtige Punkte in Verbindung mit dem
Gegenstand des Dienstes in der Versammlung Gottes.
1. In Kapitel 12 haben wir die einzige göttliche
Grundlage des Dienstes, nämlich die Gliedschaft an dem
Leibe Christi gemäß dem Willen Gottes, wie wir im 18.
Verse lesen: „Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt,
jedes einzelne von ihnen an dem Leibe, wie es Ihm gefallen
hat." Ohne diese Gliedschaft giebt es keinen Dienst.
Wer nicht ein Glied an dem Leibe Christi ist, kann
auch nicht den übrigen Gliedern dienen. Er mag sich
einen Diener nennen, aber er ist kein wahrer Diener.
Denn „Gott hat die Glieder gesetzt . . ., wie
es Ihm gefallen hat." Das ist der große, wichtige
Grundsatz. Nicht daß ein Mensch sich selbst setzt, oder
daß der eine den andern setzt; davon finden wir nichts
in dieser Abhandlung über den Dienst. Es ist dem
Worte Gottes völlig fremd. „Es sind aber Verschiedenheiten
von Gnadengaben, aber derselbe Geist; und es
sind Verschiedenheiten von Diensten, und derselbe Herr;
und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber derselbe
Gott, der alles in allen wirkt." (V.""4 —6.) Hier
wird die ganze heilige Dreieinheit als mit dem Dienste
in Verbindung stehend vorgestellt. Es ist die Gabe des
Geistes, ausgeübt unter der Herrschaft des Sohnes und
wirksam gemacht durch Gott den Vater. Der Heilige
Geist „teilt einem jeden insbesondere aus, wie Er
277
will." (V. 11.) „Einem jeden" — laß uns das nicht
vergessen, geliebter Leser! und: „einem jeden insbesondere"!
Der Fuß ist nicht Hand, und das Auge
nicht Ohr; jeder hat seinen besondern Dienst, seine besondere
Gabe, seine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen.
Kein Glied ist überflüssig oder für nichts da. Nein,
„vielmehk find die Glieder des Leibes, die schwächer zu
sein scheinen, notwendig." (V. 22.) Wofür notwendig?
notwendig für die übrigen Glieder, notwendig
für den ganzen Leib. Möchte uns dies stets vor Augen
stehen; es würde viel Ernst und Eifer in uns wachrufen.
2. Im 13. Kapitel finden wir dann den Beweggrund
des Dienstes; und dieser ist die Liebe. Es mag
jemand die glänzendste Gabe besitzen; aber wenn sie nicht
ausgeübt wird in Liebe, wenn nicht Liebe die treibende
Kraft ist, so nützt die Gabe nichts. Es hätte in jenen
ersten Tagen der christlichen Kirche ein Mann in der Versammlung
aufstehen können, um seine Gabe, in Sprachen zu
reden oder zu prophezeien, sein Verständnis der Geheimnisse
Gottes, seine Erkenntnis in der Lehre, die Macht seiner
Beredsamkeit u. s. w. zu zeigen, ohne daß es der Versammlung
oder einem einzelnen Gliede derselben von
irgendwelchem Nutzen gewesen wäre, einfach weil nicht
die Liebe der Beweggrund seines Dienstes war. Es ist
gut, dies mit Aufrichtigkeit vor Gott zu erwägen. Es ist
ein ernster Prüfstein für alle, die sich irgendwie im Dienste
bemühen. Jeder Diener sollte sich immer wieder die Frage
vorlegen: „Ist es Liebe, was mich treibt und leitet?"
Wenn es nicht Liebe ist, wenn irgend ein anderer Beweggrund
ihn leitet, so wird sein Dienst sich als wertlos
erweisen, und er selbst wird früher oder später zu Schanden
278
werden. „Wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der
Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tönendes
Erz geworden oder eine schallende Cymbel.
Und wenn ich Prophezeiung habe und alle Geheimnisse
und alle Erkenntnis weiß, und wenn ich allen Glauben
habe, so daß ich Berge versetze, aber nicht Liebe habe, so
bin ich nichts." (V. 1. 2.) Möge der Heilige Geist
uns allen dies kräftig zum Bewußtsein bringen!
3. In Kapitel 14 endlich begegnen wir dem Zweck
oder dem Resultat des Dienstes, nämlich der „Erbauung".
Das ist der große Endzweck alles Dienstes. Der
Apostel wollte lieber „fünf Worte reden" zur Erbauung
der Versammlung, als „zehntausend" zur Verherrlichung
seines eignen Ichs. Die Erbauung der Versammlung ist der
Hauptpunkt, von dem in diesem ganzen Kapitel die Rede ist;
und die Liebe wird stets diesen Zweck zu erreichen suchen,
mag die Gabe groß oder klein, glänzend oder unscheinbar
sein. Die Liebe kennt kein anderes Ziel, als das Wohl
der andern. Die Eigenliebe denkt nur an sich, an die eigne
Ehre, an die Verherrlichung des armen, elenden Ichs.
Wie traurig und verwerflich muß ein solcher Dienst in den
Augen Gottes sein! Mag er auch vor den Menschen einen
schönen Schein haben, vor Gott ist er ein Greuel.
Laßt uns denn dieser drei Dinge stets eingedenk
fein, geliebter Leser: der Grundlage, des Beweggrundes
und des Zweckes alles wahren Dienstes. Laßt uns
suchen, sie gründlich zu verstehen und sie praktisch darzustellen
zur Ehre Gottes und zum Wohle Seiner Versammlung.
Laßt uns treu wuchern mit dem Pfunde,
Las wir empfangen haben, bis der Herr kommt.
279
Rettungsjubel.
„Du bist ein Bergungsort für mich; vor Bedrängnis
behütest Du mich; Du umgiebst mich mit Rettungsjubel."
(Pst 32, 7.)
In d^m Herzen eines einfältigen Gläubigen giebt
es ein „Singen und Spielen dem Herrn", und das nicht
öffentlich, sondern daheim, im Kämmerlein. Durch den
Glauben an Jesum aus der Finsternis ins Licht gebracht,
sieht er jetzt alles in diesem Lichte. Wie kann es da
anders sein, als daß sein Herz mit Frieden und Freude
erfüllt ist? Er hat im Anfang das Erbarmen und die
Güte Gottes erfahren, als er im Gefühl seiner Schuld
Zu Ihm kam; und dasselbe Erbarmen und dieselbe Güte
begleiten ihn nun" auf Schritt und Tritt. Sein Leben
ist eine ununterbrochene Kette von Beweisen der Liebe
und Treue Gottes, von Bewahrungen und Errettungen.
Denn „unser Gott ist ein Gott der Errettungen". Die
gläubige Seele kann in allen Fällen auf die Güte Gottes,
ja, auf Gott selbst rechnen. Er, der starke, mächtige
Gott, ist ihr Bergungsort in Zeiten der Drangsal, und
Er wird sie am Ende stets mit Rettungsjubel umgeben.
Die erfahrene Güte zieht das Herz unwiderstehlich zu
Gott hin. In dem tiefen Gefühl der eignen Abhängigkeit
und Bedürftigkeit wendet sich der Fromme zu Dem hin,
dessen vergebende Gnade und errettende Macht er kennen
gelernt hat, und er ist wohl geborgen, komme was da
wolle. „Gewiß, bei Flut großer Wasser — sie werden
ihn nicht erreichen." (V. 6.)
Es ist eine glückliche Schule, in die wir gebracht
find: Gott kennen zu lernen in dem Charakter, in welchem
280
Er sich uns geoffenbart hat. Die Geschichte eines jeden
Gläubigen wird dieselbe Wahrheit ans Licht stellen; es
wird sich zeigen, daß da, wo die Sünde überströmend
war, die Gnade noch überschwenglicher geworden ist. Und
das Ende eines jeden Gläubigen, wie der ganzen Kirche
Gottes, wird sein „zum Preise der Herrlichkeit
Steiner Gnade, worin Er uns begnadigt hat in dem
Geliebten." O möchten wir treu und aufrichtig mit Gott
wandeln und in Wahrheit unsre Hülfe, unsre Kraft, unsern
Trost, unser Alles in Ihm suchen! Werden wir dann
einerseits auch demütigende Erfahrungen von unserm Nichts,
von der Thorheit und Verkehrtheit unsrer Herzen machen
müssen, so werden wir doch andrerseits auch Gottes
wunderbare Führungen mit uns, Seine Güte und Treue
anschauen dürfen, und wir werden jubeln über Seine Errettungen
und dem Herrn singen und spielen in unserm
Herzen.
„Lobet Jehova! denn es ist gut, unsern Gott zu
besingen; denn es ist lieblich, es geziemt sich Lobgesang."
(Ps.'l47, 1.)
Ergebung.
Immer will ich stille
Sem vor Dir;
Es gescheh' Dein Wille,
Herr, mit mir!
Jst's doch lauter Liebe,
Die das Herz
Zieht mit heil'gem Triebe
Himmelwärts.
Will nicht bang verzagen,
Schickst Du Leid;
Will's geduldig tragen
Jederzeit.
Der Du Schmerz und Wehe
Gerne stillst,
Stets, o Herr, geschehe,
Was Du willst.
Die Lehre des Christus.
Die freiwillige Erniedrigung des Sohnes Gottes, durch
welche die Liebe Gottes zu uns geoffenbart, unsre Erlösung
bewirkt, und Gott auf's Höchste verherrlicht worden ist —
das, was die Lobpreisungen der himmlischen Heerscharen
wachries und die Herzen der Erlösten alle die endlosen Zeitalter
der Ewigkeit hindurch mit tiefster Anbetung erfüllen
wird — hat der Mensch unter dem Einfluß des Feindes
dazu benutzt, Christum zu verachten und mit Geringschätzung
zu behandeln. Wenn dies seitens einer gottlosen Welt
geschehen ist, so brauchen wir uns nicht so sehr darüber
zu verwundern; wie schrecklich aber ist es, wenn die sogenannte
Christenheit es thut! Es ist das Zeichen ihres
Endes. „Kindlein," sagt der Apostel im Blick auf diese
Thatsache, „es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört
habt, daß der Antichrist kommt, so sind auch jetzt viele
Antichristen geworden; daher wissen wir, daß es die
letzte Stunde ist." (1. Joh. 2, 18.) Schon damals war
der Geist des Antichristen wirksam im Schoße der bekennenden
Kirche (das Verderben ist von ihr ausgegangen),
und es ist dem Feinde gelungen, sie auf die abschüssige
Bahn des Verfalls zu führen, die in dem gänzlichen
Abfall und in der Unterwerfung unter die Person des
Antichristen enden wird. Indes hat es Gott in Seiner
reichen Gnade gefallen, die Seinigen in diesen letzten Tagen
noch einmal klar und deutlich mit der Wahrheit betreffs
ber Lehre des Christus bekannt zu machen. Aber ach! was
282
in den Tagen der Apostel geschehen ist, als die Wahrheit
noch in ungetrübter Klarheit geoffenbart war, ist auch in
unsern Tagen geschehen — der Feind hat einen erfolgreichen
Versuch gemacht, die Lehre des Christus zu verfälschen,
und zwar gerade da, wo die Wahrheit bekannt
war. Und daß dies ein Zeichen des nahen Endes ist,
brauche ich kaum hinzuzufügen.
Keine Wahrheit sollte uns heiliger sein, als diejenige
betreffs der Person Jesu. Johannes sagt: „Wenn jemand
zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet
ihn nicht ins Haus aus und grüßet ihn nicht. Denn wer
ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken." (2. Joh.
10. 11.) Dies zeigt zur Genüge die Wichtigkeit der Lehre
des Christus; denn davon spricht Johannes. Er verkündigt
und verteidigt „die Lehre des Christus", d. h. die
Wahrheit oder die Lehre bezüglich Seiner Person. Und
diese Lehre bildet die Grundlage, mit welcher das Christentum
steht und fällt. Sie ist der Eckstein, auf dem das
ganze Gebäude ruht. „Jeder, der weitergeht und nicht
bleibt in der Lehre des Christus, hat Gott nicht;
wer in der Lehre bleibt, dieser hat sowohl den Vater als
auch den Sohn." (2. Joh. 9.)
Man leugnet in unsern Tagen, daß Jesus Christus
hienieden zu jeder Zeit, sowohl persönlich als auch in
allen Seinen Worten und Werken, der Ausdruck Gottes
und des ewigen Lebens gewesen sei. Als Beweis dafür
seien hier einige Auszüge angeführt, die einer vor kurzer
Zeit erschienenen Betrachtung über die erste Epistel Johannes
entnommen sind *): „Der lebendige Stein war
*) I^etnrss on tve Lest Lpistle ol lovn von F. E- Raven.
Seite 71 u. 72. ,>
-
— 283 —
Christus, wie Er dem Petrus durch den Vater als der
Sohn des lebendigen Gottes bekannt gemacht war. Petrus
bekennt Ihn also, und der Herr sagt zu ihm: „Fleisch
und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein
Vater, >der in den Himmeln ist"; was nach meinem Urteil
bedeutet, daß der Fleisch- und Blutzustand, selbst in Christo,
es in sich selbst nicht offenbarte.... Denn ewiges Leben
war nicht etwas, das nach außen hin ausgedrückt war in
dem Fleisch- und Blutzustand; denn jener Zustand sollte
nach dem Willen Gottes im Tode ein Ende nehmen."
Obwohl wir gern Zugebeu, daß es nicht in der
Absicht des Verfassers obiger Schrift gelegen hat, eine
Lästerung wider die heilige Person Jesu auszusprechen,
so verbirgt sich trotzdem eine solche in den angeführten
Worten. Gab es etwas in Christo, das dem Tode
unterworfen war? War nicht Sein Fleisch und Blut,
d. i. der Mensch Jesus, so wie Er in dieser Welt geoffenbart
war und von jedermann gesehen werden konnte,
„das Heilige, das geboren werden und Gottes Sohn
genannt werden sollte"? (Luk. 1, 25.) Er nahm unsre
Sünden auf sich, nahm unsern Platz ein auf dem Kreuze,
damit unser Zustand im Tode ein Ende nehme; und
Er konnte dieses gerade deshalb thun, weil Er in sich
selbst der Heilige und Reine war. Sein Blut reinigt
uns von aller Sünde, weil es das Blut Jesu Christi,
des Sohnes Gottes, ist. (1. Joh. 1, 7.) Der Fleischund
Blutzustand in Christo — wenn man diesen Ausdruck
einmal gebrauchen will, obwohl er durchaus unpassend
und nicht schriftgemäß ist — war heilig, und kann
nicht von der Person des Herrn getrennt werden. Er
begreift das ganze Leben Jesu auf der Erde in sich.
284
Und dieses Leben war das Leben des Sohnes Gottes
und die Offenbarung des ewigen Lebens. Wer vermag
die Heiligkeit zu ergründen, die Sein Leib in der Krippe
hatte? Wer die Heiligkeit dieses Leibes, wenn er als
Opfer die Heiligkeit, Majestät und Gerechtigkeit Gottes
vollkommen befriedigte? Ist es nicht Lästerung, von
diesem Leibe in solch geringschätzender Weise zu reden,
wie der Verfasser obiger Schrift es thut? So sagt er
z. B. auch: „Man denke sich ein hülfloses Kindlein als
die Darstellung des ewigen Lebens." Ferner: „Er war
als Säugling die Darstellung der Kindheit in ihrer Hülf-
lofigkeit; denn alles andere, obgleich vorhanden, war für
den Augenblick verhüllt." *) Oder, wie bereits oben angeführt:
„Ewiges Leben war nicht etwas, das nach außen
hin ausgedrückt war in dem Fleisch- und Blutzustand;
denn dieser Zustand sollte nach dem Willen Gottes im
Tode ein Ende nehmen." — Spricht wohl der Heilige Geist
in solcher Weise von der Person des Herrn?
*) Siehe die Briefe vom 20. März und 2. Juli 1890. Der
Schreiber hat zwar das Wort „hülflos" aus Wunsch andrer zurückgezogen,
aber der Sinn des Satzes bleibt dadurch unverändert.
Wenn unsre in Sünden empfangenen und gebornen
Leiber, welchen der Grundsatz der Sterblichkeit innewohnt,
auf Grund der Erlösung „Tempel des Heiligen Geistes"
geworden sind, Leiber, an denen das Leben Jesu sich
offenbaren soll (1. Kor. 6, 19; 2. Kor. 4, 10. 11),
sollte dann nicht der Leib des Herrn Jesu, der vom
Heiligen Geiste gezeugt war, dieser heilige Tempel,
in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, das
ewige Leben nach außen hin ausgedrückt haben?
Nun sagt man uns aber: der-Verfasser meint es
285
nicht so schlimm. Allein wir müssen urteilen nach dem,
was er sagt, und seine Worte an dem untrüglichen
Prüfstein des Wortes Gottes messen. Halten sie diese
Probe nicht aus, so müssen wir sie als verkehrt und
schriftwidrig abweisen. Ueberdies ist jener Einwurf schon
deshalb nicht stichhaltig, weil aus zahlreichen andern
Briefen und Schriften des Verfassers hervorgeht, daß er
sehr wohl weiß, was er sagt. Es handelt sich nicht um
eine unbedachte Aeußerung, um ein gelegentliches „Straucheln
im Worte" (Jak. 3, 2), sondern um ein wohl
durchdachtes, nach allen Seiten hin reiflich erwogenes
Lehrsystem, dessen einzelne Teils in einander greisen wie
die Glieder einer Kette oder die Maschen eines Gewebes.
Indes ist es nicht unsre Absicht, hier weiter auf diese
Lehren einzugehen; wir möchten nur in Verbindung mit
dem uns beschäftigenden Gegenstände zeigen, in welch
verderblicher Weise „die Lehre des Christus" in unsern
Tagen angetastet wird.
Wer darf es wagen, die heilige Person des
Herrn, den niemand kennt als nur der Vater, in solcher
Weise zu zerlegen und zu zertrennen, wie der Verfasser
es thut? Die Schrift sagt an einer Stelle: „Sein
Fleisch hat die Verwesung nicht gesehen" (Apstgsch. 2,
31); au einer andern: „Der aber, den Gott auferweckt
hat, sah die Verwesung nicht." (Apstgsch. 13, 37; vergl.
auch Ps. 16, 10.) Diese Stellen beweisen, daß die Person
Christi und Sein Fleisch stets als ein einheitliches Ganzes
und nicht von einander getrennt betrachtet werden. Auf
Grund dieser Thatsache sagt der Verfasser mit seinen
Worten: „Der Fleisch- und Blutzustand in Christo in
sich selbst hat nicht geoffenbart, daß Er der Sohn des
- 286 —
lebendigen Gottes war" rc., thatsächlich nichts anderes
als: Christus hat nicht geoffenbart, daß Er der Sohn
Gottes war; in Christo war nach außen hin das ewige
Leben nicht ausgedrückt.
Diese uuheilige, schriftwidrige Zerteilung der Person
des Herrn finden wir auch in andern Stellen der oben
erwähnten Schrift. So heißt es z. B. auf Seite 72
und 73: „Es (das ewige Leben) war wirklich die Person
Christi, aber in einem Sinne abgesondert von dem, was
Er annahm, indem Er teilnahm an Blut und Fleisch ...
Sie (die Apostel) kannten Christum als unterschieden
von dem, was Er hier war als Mensch nach dem Fleische."
Hier begegnen wir wieder demselben Gedanken: das Fleisch
und Blut oder die Menschheit Christi wird von Seiner
Person unterschieden, als sei jene nicht so heilig wie
diese, und als gäbe es zwei Personen: einen Menschen
Christus und einen Gott Christus. Aber der Herr selbst
antwortet auf die Frage: „Wer bist du?" —: „Durchaus
das, was ich auch zu euch rede." (Joh. 8, 25.) Christus
unterscheidet also in keiner Weise Seine göttliche Person
(Er war daS ewige, fleischgewordene Wort) von dem, was
Er als Mensch war. Gottheit und Menschheit waren unzertrennlich
in Ihm vereinigt, und wer könnte die Art
ihrer Vereinigung erklären oder gar sie von einander
trennen, ohne in die größten Irrtümer zu verfallen?
Denn welche Kreatur kann sagen, wo die Menschheit in
Ihm aufhört und die Gottheit anfängt? Wie kann ein
Sterblicher, der das Weltall nicht einmal zu ergründen
vermag, dessen Schöpfer und Erhalter ergründen, und erklären
wollen, was ein heiliger Leib ist?
Wenn der Apostel sagt: „Wenn wir aber auch
287
Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir
Ihn doch jetzt nicht mehr also," so spricht er von der jetzigen
Stellung Christi in Herrlichkeit im Gegensatz zu Seiner
Stellung hienieden, aber sicherlich nicht von einem Unterschied
in der Person Christi selbst; denn diese war
immer dieselbe, sei es in Niedrigkeit oder in Herrlichkeit.
Sein Einssein mit dem Vater hat von Ewigkeit her bis
zu Seiner jetzigen Stellung in Herrlichkeit nie eine Unterbrechung
erlitten. Und darum mußte Er stets der Ausdruck
Gottes und des ewigen Lebens sein, oder aber Er
war nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber der Herr selbst
sagt: „Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen."
(Joh. 14, 9.) Nicht bloß die Apostel oder die Gläubigen,
sondern wer Ihn sah, sah den Vater. Darf man zu
behaupten wagen, daß es irgend einen Augenblick in Seinem
Leben gegeben habe, wo man den Vater nicht sah,
wenn man Christum sah? Der Herr sagt in der angeführten
Stelle nicht: Durch meine Worte oder Handlungen
ist der Vater geoffenbart, so wahr dieses auch ist; sondern:
wer mich (also Seine Person) gesehen, hat den
Vater gesehen. Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes,
der Abdruck Seines Wesens. (Kol. 1, 15; Hebr. 1, 3.)
Er redete die Worte Gottes, und Er war das, was Er
redete. (Joh. 3, 34.) Ebenso spricht Johannes von Seiner
Person und dem ewigen Leben oder dem Worte des
Lebens als einer und derselben Sache: „Was wir gehört,
was wir mit unsern Augen gesehen, was wir angeschaut
und unsre Hände betastet haben, betreffend das Wort des
Lebens; und das Leben ist geoffenbart worden, und wir
haben gesehen und zeugen und verkündigen euch das ewige
Leben, welches bei dem Vater war und uns geoffenbart
288
worden ist." (1. Joh. 1, 1. 2.) Offenbar hatten die
Apostel die Person des Herrn Jesu und somit das
Wort des Lebens angeschaut und mit ihren Händen betastet.
Wenn man aber den Vater und das ewige Leben sah,
indem man Christum sah, so beweist dieses, daß Er der
Ausdruck von beiden war. Auch machte Er die Welt
dafür verantwortlich, daß sie sowohl Ihn als auch Seinen
Vater gesehen und gehaßt hatten. (Joh. 15, 24.)
Wohl hat Er sich selbst zu nichts gemacht und Knechtsgestalt
angenommen, ist in Gleichheit der Menschen geworden
und in Seiner Stellung wie ein Mensch erfunden
(Phil. 2, 7. 8); aber das will nicht sagen, daß Er
aufgehört habe, dieselbe Person oder der Ausdruck von
dem zu sein, was Er von Ewigkeit her war.
Wie könnte Gott aufhören, Gott zu sein? Aber das,
was Er war, verlieh Seiner Menschheit, Seiner Erniedrigung
und Seinem Gehorsam bis zum Tode am Kreuze
einen Charakter und Wert, den nur Gott gebührend zu
schätzen wußte. Es ließ allen Seinen Worten, allen Seinen
Handlungen, selbst den einfachsten und unscheinbarsten,
und allen Seinen Wegen einen Wohlgeruch entströmen,
der unendlich kostbar war für Gott. Es machte Sein
Opfer zu dem, was unvergleichlich dastand gegenüber all
den Opfern des alten Bundes, und was diese nur in
schwacher Weise vorbilden konnten. Wie anders hätte Er
auch den Tod überwinden können als nur in der Macht
dessen, was Er war — der wahrhaftige Gott und das
ewige Leben?
Die Behauptung, daß Er in Seiner Niedrigkeit nicht
der vollkommene Ausdruck Gottes und des ewigen Lebens
gewesen sei, heißt daher: Seine Worte, Wege und Hand
289
lungen, mit einem Wort Sein ganzes Leben zu dem eines
gewöhnlichen Menschen stempeln. Denn wenn Er
nicht der Ausdruck dessen war, was Er von Ewigkeit
her war, wovon war Er dann der Ausdruck? Und wo
bleibt dann die Wahrheit: „Gott istgeofsenbart worden
im Fleische"? „Wer mich gesehen, hat den Vater
gesehen?" Eine solche Behauptung steht nicht nur in
entschiedenem Widerspruch mit den klaren, unzweideutigen
Aussprüchen der Schrift, sondern ist auch eine Herabwürdigung
der hochgelobten Person des Herrn und führt
zur Verleugnung Seiner Gottheit und zum Umsturz des
Christentums.
Offenbar geht durch solche Lehren die Person Christi,
so wie sie in der Schrift dargestellt ist, für uns verloren,
und es ist daher von der höchsten Wichtigkeit, festzuhalten
an der uns anvertrauten Lehre des Christus. Die Schrift
geht in ihrer Darstellung der Person Christi stets von
dem aus, was Er von Ewigkeit her war. Nur
in diesem Lichte betrachtet sie Ihn von der Krippe bis
zum Kreuze und bis zum Throne in Seiner Herrlichkeit;
betrachtet sie Seinen ganzen Pfad, jeden Seiner Schritte,
jedes Seiner Worte und jede Seiner Bewegungen; nur so
betrachtet sie Ihn in allen Verhältnissen und Umständen
Seines Lebens hienieden, sei es in der Krippe als Säugling
oder in Seiner Stellung der Unterwürfigkeit unter
Seine Eltern; sei es als den müden Wanderer am Brunnen
Sichars, oder als den Weinenden am Grabe des Lazarus;
sei es als den, der auf den Wogen des Meeres wandelte,
oder als den, der am Kreuze aufs tiefste erniedrigt war.
Sicherlich dürfen wir keinen andern Standpunkt einnehmen,
wenn die Person Jesu ihren Wert für uns
290
behalten, und wir den Geist der Anbetung bewahren
wollen. Jeder andere Standpunkt bringt uns in Widerspruch
mit der Schrift und führt uns auf das öde Gebiet
des menschlichen Verstandes mit seinen fruchtlosen, das
Herz ausdörrenden Spekulationen. Wir dürfen bei der
Betrachtung der Menschheit des Herrn niemals außer
acht lassen, was Er von Ewigkeit her war und nie aufhörte
zu sein. Der in Niedrigkeit hienieden wandelnde
„Jesus von Galiläa" war derselbe, der von Ewigkeit her
im Schoße des Vaters war, der sich als der „Allmächtige"
dem Abraham offenbarte und als der ewige „Ich
bin" Sein Volk Israel durch die Wüste führte; der die
Wasser mißt mit Seiner hohlen Hand und die Himmel
ausgebreitet hat wie ein Zelt. Nur wenn wir dieser
Thatsache ehrfurchtsvoll eingedenk bleiben, werden wir in
Uebereinstimmung sein mit den Gedanken Gottes über
Ihn, und nur dann werden unsre Herzen genährt und
erquickt werden. Es ist unendlich kostbar, Den auf der
Erde als einen wirklichen Menschen wandeln zu sehen,
der von Ewigkeit her war, und von Ihm zu lernen, was
der Vater, was das ewige Leben, was der Himmel ist,
und was himmlische Beziehungen, Zuneigungen und Gefühle
sind. Er konnte sagen: „Wir reden, was wir
wissen, und zeugen, was wir gesehen haben." (Joh. 3, 11.)
Auf welchem andern Wege könnten wir dies alles kennen
als nur durch Ihn, der im Schoße des Vaters war?
Die Schrift sagt: „Und das Wort ward Fleisch und
wohnte unter uns". (Joh. 1, 14.) Das Wort war
Gott, der Schöpfer des Weltalls; in Ihm war das Leben
(Joh. 1, 2—4); und Er wohnte unter uns als ein
wahrhaftiger Mensch. Welch ein Gedanke, Gott, der
291
Schöpfer des Weltalls, die Quelle des Lebens, wandelnd
als Mensch auf dieser Erde! Er war in die Mitte sündiger
Menschen gekommen, um zu zeigen, was in Seinem
Herzen für sie war, und ihren Bedürfnissen zu
begegnen; did Liebe des Vaters kundzumachen, deren das
unter der Last seiner Sünden niedergebeugte Herz bedurfte.
Er war die vollkommene Offenbarung Gottes in Liebe
und Gnade. Er kam, um Mühselige und Beladene zu
sich zu rufen und ihnen Ruhe zu geben; und „aus
Seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar
Gnade um Gnade". (Matth. 11, 28; Joh. 1, 16.)
Aber, sagt man, Er war hienieden nicht die Darstellung
des ewigen Lebens; Er hat es der Welt nicht
geoffenbart. Das heißt mit andern Worten: Er hat
nicht gezeigt, was in Seinem Herzen für die Welt war;
Er war für sie nicht gekommen. Aber war eS nicht der
ursprüngliche Zweck der Sendung des Sohnes, die Welt
zu erretten? (Joh. 3, 16.17; 12, 47.) „Das Brot Gottes
ist Der, welcher aus dem Himmel herniederkommt und
der Welt das Leben giebt." Und: „So lange ich in
der Welt bin, bin ich das Licht der Welt." (Joh. 6,
33; 9, 5.) Erst als die Welt Ihn endgültig verworfen
hatte, brach Er jede Beziehung mit ihr ab. Und wofür
anders machte Er sie verantwortlich, als daß sie Ihn und
Len Vater gesehen und gehaßt habe?
Das ewige Leben ist die Erkenntnis des Vaters
und des Sohnes. „Dies aber ist das ewige Leben, daß
sie Dich, den allein wahren Gott, und den Du gesandt
hast, Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Diese
Worte zeigen klar, daß die Offenbarung des ewigen Lebens
mit der Offenbarung des Vaters und des Sohnes un
292
zertrennlich verbunden ist. Niemand kannte den Vater;
alle, Juden wie Nationen, standen in dieser Beziehung auf
gleichem Boden; niemand hatte das ewige Leben; alle
lagen in der Macht der Finsternis und des Todes. Aber
Christus, gekommen im Fleische, war in Seiner Person
sowohl die Offenbarung des Vaters als auch des ewigen
Lebens in der Welt. „Niemand hat Gott je gesehen; der
eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn
kund gemacht." (Joh. 1,18.) „Und das Leben ist geoffenbart
worden, und wir haben gesehen und zeugen
und verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem
Vater war und uns geoffenbart worden ist; was wir
gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch." (1. Joh.
1, 2. 3.) Hier wird uns klar und bestimmt gesagt, daß
Christus persönlich das ewige Leben war, und dies
stimmt völlig überein mit den ersten Versen des Evangeliums
Johannes: „In Ihm war das Leben, und das
Leben war das Licht der Menschen." Alles knüpft
sich an die Person Christi, im Fleische gekommen. Als
Mensch hienieden seiend, war Er der vollkommene Ausdruck
dessen, was Er von Ewigkeit her war — der wahrhaftige
Gott und das ewige Leben.
Demgegenüber behauptet man, daß Er nur als
der auferstandene und verherrlichte Mensch
die Darstellung des ewigen Lebens sei. Aber hat Er
nicht hienieden den Vater kund gemacht? Und wir
wissen, daß die Erkenntnis des Vaters und des Sohnes
das ewige Leben ist. Der Apostel Johannes knüpft die
herrliche Offenbarung des wahrhaftigen Gottes und des
ewigen Lebens an die Offenbarung Christi, gekommen im
Fleische. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte
293
unter uns, (und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut,
eine Herrlichkeit als eines Eingebornen vom Vater,) voller
Gnade und Wahrheit." Ebenso Paulus: „Gott ist geoffenbart
worden im Fleisch e." Aber weil der Mensch
mit seiner Weisheit dieses „große Geheimnis" nicht fassen
noch erklären kann, will er jene herrliche Offenbarung
nicht zugeben und verlegt sie gänzlich außerhalb der Welt
— sie war nicht für diese. Und doch sagt die Schrift:
„Das Licht scheint in der Finsternis." Die Finsternis
hat es allerdings nicht erfaßt, aber trotzdem gesehen;
denn wie könnte es anders heißen, daß „das Licht, in
die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet"? (Joh.
1, 9.) ES schien hienieden in seinem vollen, ungetrübten
Glanze; und niemand kann diese herrliche Wahrheit hinwegleugnen,
ohne sich in offenbaren Gegensatz zu der
Schrift zu bringen und die Herrlichkeit der Person Jesu
zu verdunkeln. „Das Volk, das in Finsternis saß, hat
ein großes Licht gesehen, und denen, die da saßen im
Lande und Schatten des Todes — Licht ist ihnen aufgegangen."
(Matth. 4, 16.) Simeon sagte von dem
Kindlein Jesu, als er es auf seinen Armen hielt: „Meine
Augen haben Dein Heil gesehen .... ein Licht zur
Offenbarung der Nationen." (Luk. 2, 28 — 32.) Der
stolze Vernunftmensch schüttelt den Kopf darüber und
ärgert sich an diesem Lichte, aber der Glaube betet an
und bewundert dieses große Geheimnis. Er erfreut sich
in dem Anschauen des großen Gottes, der ihm in der
Person Jesu so nahe gekommen ist, um von ihm erkannt
und genossen zu werden wie Er ist.
Es ist ganz besonders Johannes, der in seinen
Schriften die große Wahrheit hervorhebt, daß Jesus
294
Christus hienieden als der wahrhaftige Gott und
das ewige Leben geoffenbart worden ist. Sie wurde bereits
in seinen Tagen angegriffen, weshalb er wiederholt auf
dem Bekenntnis besteht, daß Jesus Christus im
Fleische gekommen ist. Unter dem Namen „Jesus
Christus" wird stets die ganze Person des Herrn verstanden:
alles was Er war, und was Er geworden ist,
wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch. Alle die
verschiedenen Titel und Herrlichkeiten, die sich an Seine
Person knüpfen, sind in diesem Namen eingeschlossen.
Jesus Christus ist Gott, der Sohn Gottes, das
Wort, das ewige Leben — im Fleische gekommen.
Aber diese Einheit der Person des Herrn wird geleugnet,
wenn gelehrt wird: „Was den zweiten Menschen
charakterisierte, konnte nicht alles das einschließen, was
von einer göttlichen Person wahr war, wie Bestehen aus
sich selbst, Leben haben in sich selbst, Allmacht und Allwissenheit
und viele andere Eigenschaften einer göttlichen
Person." Christus ist der Zweite Mensch; aber, sagt
man, was Ihn, den zweiten Menschen, charakterisierte,
konnte nicht die Eigenschaften einer göttlichen Person in
sich schließen! Ist das nicht eine Zerlegung und Zerteilung
der Person Christi? Heißt es nicht, die göttliche
Person von dem zweiten Menschen trennen und Seine
Herrlichkeit in den Staub ziehen? Was sagt die Schrift?
„Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in Ihm
zu wohnen." Und wiederum: „Denn in Ihm wohnt die
ganze Fülle der Gottheit leibhaftig." (Kol. 1, 19;
2, 9.) Mögen wir Ihn betrachten als den erniedrigten
oder als den verherrlichten Menschen, stets ist Er der
Mensch, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt.
295
Unter dem Namen „Jesus Christus" giebt uns die
Schrift den ganzen Christus, Gottheit und Menschheil
tn einer Person. „Du sollst Seinen Namen Jesus nennen,
denn Er wird Sein Volk erretten von ihren Sünden
... . und sie werden Seinen Namen Emmanuel
nennen, was verdolmetscht ist: Gott mit uns."
(Matth. 1, 21. 23.) Er ist der Jehova Seines irdischen
Volkes, der Sohn des Menschen, der letzte Adam, der
zweite Mensch, alles in einer Person. Auf Seine Frage:
„Wer sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des
Menschen, sei?" antwortet Petrus: „Du bist Christus,
der Sohn des lebendigen Gottes." Der Sohn
des Menschen ist also der Sohn des lebendigen Gottes,
der deshalb die ewigen und göttlichen Eigenschaften des
lebendigen Gottes hat. Er ist zugleich der Sohn des
Vaters; „denn", sagt Er, „Fleisch und Blut haben es
dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den
Himmeln ist." Ferner hören wir aus Seinem Munde
die Worte: „Ehe Abraham ward, bin ich," und:
„Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich
ihn aufrichten." (Joh. 2, 19; 8, 58.) Der Sohn des
Menschen war also der „Ich bin", der Ewige, der Jehova
deS Alten Testaments mit all den Eigenschaften
einer göttlichen Person. Zu sagen,
daß das, was den zweiten Menschen charakterisierte, nicht
in sich schließen konnte, was von einer göttlichen Person
wahr war, ist daher im Grunde nichts anderes als eine
Leugnung der göttlichen Eigenschaften des Herrn. Es
ist ein Angriff des Feindes auf Seine persönliche Herrlichkeit.
Aber wie eifersüchtig wacht Gott stets darüber,
daß diese bewahrt bleibt! Moses und Elias erschienen
296
in gleicher Herrlichkeit mit dem Herrn auf dem heiligen
Berge — ein Bild von unsrer zukünftigen Stellung mit
Christo in Herrlichkeit. Aber als Petrus darüber die
persönliche Herrlichkeit des Herrn vergaß, indem er
Ihn mit Moses und Elias auf gleichen Boden stellen
wollte, empfing er eine Zurechtweisung durch die Stimme
des Vaters aus der Wolke: „Dieser ist mein geliebter
Sohn, Ihn höret." Und es ist bemerkenswert, zu lesen:
„Und indem diese Stimme geschah, ward Jesus allein
gefunden." (Luk. 9, 28—36.)
Die Schrift umgiebt den Herrn eben deshalb, weil
Er sich so tief erniedrigt hat, mit um so größerer Herrlichkeit.
Die „ganze Fülle der Gottheit", welche die
Herrlichkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes umfaßt, wohnt in Ihm; und dies war hienieden
ebenso wahr von Ihm, als es in der Herrlichkeit wahr
ist. Er war der vollkommene Ausdruck des Vaters;
Seine Worte und Seine Werke waren die Worte und
Werke des Vaters, so daß Er sagen konnte: „Wer mich
sieht, der sieht Den, der mich gesandt hat." (Joh. 12,
44—50; 10, 11.) Ebenso waren Sein ganzes Wesen und
Sein ganzer Wandel der Ausdruck der Fülle und Macht
des Heiligen Geistes, der in Ihm wohnte ohne Maß.
(Joh. 3, 34.) Als Mensch gezeugt von dem Heiligen
Geiste, gesalbt mit dem Heiligen Geiste, that Er alles in
der Kraft des Heiligen Geistes, und opferte sich selbst
ohne Flecken Gott durch den ewigen Geist.
Diese Wahrheit wird vorgebildet durch das Speisopfer,
das aus Feinmehl, Oel und Weihrauch zusammengesetzt
war und bekanntlich das herrliche Bild der reinen,
heiligen und vollkommenen Menschheit Christi ist. Wir
297
können hier nicht auf eine nähere Erklärung desselben
eingehen; wohl aber sei erinnert an den Wert dieses
Opfers vor Gott: „Es ist ein Hochheiliges von den
Feueropfern Jehovas." Nur die Priester durften davon
essen, und'zwar an „heiligem Orte", nachdem sie zuvor eine
Handvoll von dem Mehl und Oel nebst dem ganzen
Weihrauch auf dem Altar geräuchert hatten. (3. Mose
2, 2. 3; 6, 16.) Es zeigt uns, was die Menschheit Christi,
Sein Leben der Hingebung und des Gehorsams, in den
Augen Gottes ist — „ein duftender Wohlgeruch", der für
Gott allein war und den nur Er nach seinem vollen
Werte zu würdigen wußte. Steht jemand, so mögen wir
wohl fragen, an „heiligem Orte", wenn er in so geringschätzender
Weise von der Menschheit Christi spricht, daß
er darin nur einen Zustand sieht, der im Tode ein Ende
nehmen sollte? der die göttliche und menschliche Natur
Christi in einer Weise zerlegt, daß schließlich Seine erhabene
göttliche Person ganz unsern Blicken entschwindet s
Welch ein unberechenbarer Verlust für alle, die sich durch
solche Lehren fortreißen lassen! Sie genießen nicht mehr
das kostbare Vorrecht, sich in der Gegenwart Gottes von
Christo zu nähren. Christus verliert Seinen zarten Wohlgeruch
für sie, das Manna seinen lieblichen Geschmack.
Anstatt den Herrn mit anbetender Bewunderung auf Seinem
einsamen Pfade hienieden zu betrachten, wie Er in all
dem Mangel, den Entbehrungen und Leiden, die dieser
Pfad für Ihn mit sich brachte, Gott verherrlichte; wie
Er, verkannt von der Welt und selbst von den Seinigen,
in geduldigem und unermüdlichem Dienst verharrte, zufrieden,
den Willen des Vaters gethan zu haben —
grübeln sie darüber, was in dem Leben Christi der Aus
298
druck des ewigen Lebens war und was nicht. Ach, nur
in der heiligen Gegenwart Gottes, wo der Verstand
schweigt und der Glaube allein thätig ist, lernen wir
etwas davon verstehen, was Gott in Christo hienieden
gesehen hat; nur da lernen wir Ihn schätzen in Uebereinstimmung
mit der Schätzung Gottes.
Die Worte: „Niemand erkennt den Sohn als nur
der Vater", lassen Christum als eine Person erscheinen,
deren Tiefen unergründlich für uns sind, die aber darum
unsre Herzen mit um so größerer Ehrfurcht erfüllt. Der
Vater bewahrt die Erhabenheit und Herrlichkeit des Sohnes.
Niemand vermag die wunderbare Person des Gottmenschen
zu ergründen als der Vater allein. Hier ist
dem menschlichen Geiste eine Schranke gezogen, die seinem
vermessenen Vordringen ein gebieterisches Halt zuruft.
„Niemand erkennt den Sohn", auch die Engel nicht;
keine Kreatur kann diese Schranke überschreiten. Einem
jeden ruft sie zu: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen
Füßen, denn der Ort, auf dem du stehest, ist heiliges
Land." (2. Mose 3, 5.) Der Glaube thut dieses und
erfreut sich gerade an der Unergründlichkeit jenes Geheimnisses.
Er schaut und betet an. Durch den Geist
Gottes geleitet, erblickt er Tiefen und Höhen, die ein
heiliges Verlangen nach einer größeren Erkenntnis Christi
in ihm wachrufen, und die dem Dichter die Worte entlockt
haben:
„Jesus-Nam'I" Wer kann ergründen
Deine Tiefe, Deine Höh';
Wer die Gnad' und Lieb' verkünden,
Deren End' ich nirgend seh'I
Unausforschlich bleibet hier
Deines Namens Fülle mir. "
299
Und wie verschieden ist eine solche Erkenntnis von
den eitlen und thörichten Spekulationen und stolzen Vernunftschlüssen
des menschlichen Geistes! Während diese nur
den Verstand beschäftigen, aber das Herz immer weiter
von Chriskd entfernen, nährt und erquickt jene das Herz
und zieht es immer mächtiger zu Christo hin. Während
durch diese der Mensch aufgebläht und von sich selbst eingenommen,
Christus aber verkleinert wird, macht jene uns
klein in unsern Augen, erhebt Christum und macht Ihn
zum ersten und köstlichsten Gegenstände für uns; während
durch diese Christus verunehrt wird, wird Er durch
jene verherrlicht. Die wahre Erkenntnis Christi erzeugt
nie Streit und Unfrieden, Zwiespalt und Aergernis unter
den Gläubigen, sondern einigt die Herzen in Liebe und
Wahrheit in Ihm als ihrem gemeinsamen Mittelpunkt,
und führt sie zu einer entschiedenen Nachfolge des Herrn.
Man denke an die aufopfernde Hingebung des Apostels
Paulus für Christum, und sehe die Wirkungen der wahren
Erkenntnis Christi: „Ja, wahrlich, ich achte auch alles
für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles
eingebüßt habe und es für Dreck achte, auf daß ich
Christum gewinne." (Phil. 3, 8.) Möchte diese wahre
Erkenntnis Christi mehr unter uns vorhanden sein!
Vergessen wir nicht, den Herrn Jesum hienieden stets
im Lichte dessen zu betrachten, was Er war, ehe die
Welt war. Als das fleischgewordene Wort war Er immer
der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist; der
Sohn des Menschen, der im Himmel ist. (Joh. 1, 18;
3, 13.) Wie deutlich kennzeichnet dieses Wörtchen „ist"
das tiefe Geheimnis Seiner Person! Seine Erniedrigung.
300
hat weder Seine Person noch Seinen Platz verändert.
Er, der als ein Kindlein in der Krippe lag, der als ein
müder Wanderer einsam am Jakobsbrunnen saß, war
zugleich im Schoße des Vaters, in Seinem ewigen Wohnplatz
im Himmel, verfügte über alles und trug alle Dinge
durch das Wort Seiner Macht. (Hebr. 1, 3.) Er konnte
sagen: „Ehe Abraham ward, bin ich." (Joh. 8, 58.)
Er war der Jehova der Heerscharen, vor dem die Seraphim
ihre Angesichter verhüllten und riefen: „Heilig,
heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen!" (Vergl. Jes. 6,
1—4 mit Joh. 12, 41.) Johannes beweist durch die
Anführung dieser Stelle, daß er den Herrn hienieden mit
derselben Ehrfurcht betrachtete, wie einst die Seraphim in
Jesaja 6 es thaten. In dem Tone tiefster Ehrfurcht und
heiliger Scheu spricht er beständig von Ihm in allen seinen
Schriften. Für ihn ist Jesus Christus stets diese heilige
und göttliche Person, im Fleische gekommen — wahrhaftiger
Gott und wahrhaftiger Mensch — in welcher die göttliche
und menschliche Natur unzertrennlich vereinigt und
ausgedrückt war. Und wenn wir daran gewöhnt
sind, den Herrn in diesem Lichte zu betrachten, so wird
auch in uns derselbe Geist der Anbetung wach erhalten
bleiben. Es kann unsre Herzen ja nur mit tiefster Anbetung
erfüllen, Ihn zu einer Zeit als den mächtigen
Schöpfer und Erhalter des Weltalls, und zu einer andern
als Den zu erblicken, der nicht hatte, wohin Er Sein
Haupt legen konnte. Und diese Anbetung wird in demselben
Maße zunehmen, wie wir Ihn tiefer und tiefer
herniedersteigen sehen, bis Er endlich am Fluchholze für
uns zur Sünde gemacht wurde. Anbetungswürdiger
Heiland! Du stiegst freiwillig aus Deiner ewigen Herr
301
lichkeit herab zum schmachvollen Kreuze, und von da
wiederum zum Throne — aus Liebe für uns!
Durch die Zerteilung der Person Jesu geht indes
nicht nur Seine persönliche Herrlichkeit verloren, sondern
auch diejenige Seines Werkes, an welchem die ganze
Gottheit beteiligt war. Gott, der Vater, und Gott, der
Heilige Geist, hatten gleiches Interesse mit Gott, dem
Sohne, an diesem kostbaren Werke der Erlösung. Es
war der Wille Gottes, und der Sohn kam, um vermittelst
Seiner Menschwerdung denselben zu erfüllen.
„Darum, als Er in die Welt kommt, spricht Er:
Schlachtopfer und Speisopfer hast Du nicht gewollt,
einen Leib aber hast Du mir bereitet . . . .
Siehe, ich komme, (in der Rolle des Buches steht von
mir geschrieben,) um Deinen Willen, o Gott, zu thun."
(Hebr. 10, 5. 7. 9.) Wiederum sagt der Herr: „Mein
Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke." (Joh. 5, 17.)
Ferner kam der Heilige Geist auf Ihn hernieder und
blieb auf Ihm, so daß das ganze Werk nach dem Willen
des Vaters, durch die Hingebung des Sohnes und in der
Kraft des Geistes auSgeführt wurde. Welch eine Liebe
giebt sich kund in jener Unterhaltung des Sohnes mit dem
Vater: „Siehe, ich komme, um Deinen Willen, o Gott,
zu thun!" Welche Liebe im Herzen des VaterS, der den
Sohn, den Eingebornen, gab! (Röm. 8, 32.) Welche
Liebe in dieser freiwilligen Annahme des Leibes seitens
des Sohnes mit all der damit verbundenen Erniedrigung
Welche Liebe in diesem einmütigen Zusammenwirken des
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes für die
Errettung des verlornen Sünders! Was ist größer, diese
Liebe oder die Erlösung, welche das Ergebnis der Liebe
302
war? Ohne Zweifel werden die Resultate des Erlösungs-
Werkes groß, unendlich groß sein; wir sehen sie vorbildlich
auf dem heiligen Berge, wo Moses und Elias in gleicher
Herrlichkeit mit dem Herrn erschienen. Aber noch unendlich
größer erscheint die Liebe, die Ihn vom Berge
herniedersteigen ließ, um den sauren Gang nach Jerusalem
anzutreten, den einzigen Weg, der zu diesen herrlichen
Resultaten führen konnte. Wahrlich, die ganze Schönheit
dieses Werkes geht verloren, wenn die Person des Herrn
Jesu zerteilt wird, und man Seiner Menschheit einen
untergeordneten Platz anweist, getrennt von der ewigen
Gottheit. Man schließt die ganze Gottheit, die Mitwirkung
des Vaters, der dem Sohne den Leib bereitete, und diejenige
des Heiligen Geistes, der den Leib gezeugt hat,
von diesem Werke aus, wenn man in der Menschheit
Christi nur das sieht, was im Tode ein Ende nehmen
sollte, nur damit jene herrlichen Resultate für uns herbeigeführt
würden. Das heißt in der That, diese Resultate
höher stellen als die Liebe, welche sie herbeigeführt hat.
Nicht nur geht der Wert der Stellvertretung Christi durch
solch unheiliges Zerteilen verloren, sondern auch die ganze
Offenbarung Gottes. Wo anders als im Tode Christi
fand alles das, was Gott ist — Licht und Liebe —
seinen höchsten und vollkommensten Ausdruck?
Es ist daher von der höchsten Wichtigkeit zu sehen,
wie die Schrift, entgegen diesem Streben des menschlichen
Geistes, mit Nachdruck hervorhebt, daß Jesus Christus
hienieden stets der Ausdruck Gottes und des ewigen
Lebens war, und zwar gegenüber einer ungläubigen Welt.
Der Herr selbst sagt: „Wenn ich nicht die Werke meines
Vaters thue, so glaubet mir nicht; wenn ich sie aber thue,
303
so glaubet den Werken, wenn ihr auch mir nicht glaubet,
auf daß ihr erkennet und glaubet, daß der Vater in mir
ist, und ich in Ihm." (Joh. 10, 37. 38.) Ganz besonders
drückt Johannes in seinen Episteln auf diese
Wahrheit, daß Christus als Mensch hienieden die Offenbarung
Gottes und des ewigen Lebens war. „Deswegen
erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht erkannt
hat." (1. Joh. 3, 1.) Er bezieht das Wörtchen „Ihn"
auf Gott, von dem er unmittelbar vorher gesprochen hat.
Gott war hienieden in Christo geoffenbart in all Seiner
Liebe und Güte. Ferner: „Und wir wissen, daß der
Sohn Gottes gekommen ist und uns ein Verständnis
gegeben hat, auf daß wir den Wahrhaftigen kennen;
und wir sind in dem Wahrhaftigen, in Seinem Sohne
Jesu Christo. Dieser ist der wahrhaftige Gott und
das ewige Leben." (1. Joh. 5, 20.) Dieser Vers enthält
in seinen wenigen Worten den Inbegriff der ganzen
Epistel. Der Sohn Gottes ist gekommen —
Jesus Christus, gekommen im Fleische — das ist die
große und wichtige Thatsache, von der die ganze Offenbarung
Gottes und des ewigen Lebens abhing. Er ist
gekommen, der von Ewigkeit her bei dem Vater war, um
uns Gott zu offenbaren wie Er ist. Wir kennen den
Wahrhaftigen und wissen, was das ewige Leben ist, weil
wir Ihn kennen, der der wahrhaftige Gott und das ewige
Leben ist. Ihn haben die Apostel gehört, gesehen und
mit ihren Händen betastet. Und hieran knüpft sich die
andere große Wahrheit: „Wer den Sohn hat, hat das
Leben." (Kap. 5, 12.) Alles, die Erkenntnis Gottes,
des Wahrhaftigen, und der Besitz des ewigen Lebens,
knüpft sich an die Person des Sohnes, geoffenbart hie-
304
nieden. Wenn man leugnet, daß Er hienieden der Ausdruck
des ewigen Lebens war, so leugnet man damit,
daß Er hienieden die Offenbarung Gottes war. Denn
das Wort: „Dies aber ist das ewige Leben, daß sie Dich,
den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesum
Christum, erkennen", bezieht sich auf Jesum Christum,
gekommen im Fleische.
Die Wahrheit könnte nicht einfacher ausgedrückt
werden, wie die Schrift es thut: „Dieser ist der wahrhaftige
Gott und das ewige Leben." Es bedarf daher
keiner besonderen Gelehrsamkeit und Kenntnis, um die
Lehre des Christus von falschen Lehren zu unterscheiden,
wenn nur diese einfache Wahrheit festgehalten wird.
Johannes schrieb an eine Frau, solche nicht aufzunehmen,
welche diese Lehre nicht brächten. Wenn jemand leugnet,
daß Christus hienieden der vollkommene Ausdruck Gottes
und des ewigen Lebens war, die Offenbarung alles dessen,
was den Bedürfnissen eines verlornen, nach Erlösung
seufzenden Sünders entsprach, was war Er dann für ihn?
Aber der Herr sei gepriesen! Er, der am Brunnen Sichars
saß, war vollkommen genug für das arme sündige Weib —
die Quelle des lebendigen Wassers. Das Wort des Herrn:
„Ich bin das Brot des Lebens: wer zu mir kommt, wird
nie hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr
dürsten", hatte sich an ihr bewährt. Sie vergaß ihre
leiblichen Bedürfnisse, ließ ihren Wasserkrug stehen und
wurde der Anlaß für andere, daß auch sie kamen und
erkannten und bekannten: „Dieser ist wahrhaftig der Heiland
der Welt." (Joh. 4.) „Herr, zu wem sollen wir gehen?"
sagte Petrus, „Du hast Worte des ewigen Lebens."
(Joh. 6, 68.) Alle diese Seelen waren überzeugt, daß
805
Jesus hienieden der Ausdruck des ewigen Lebens war.
Und wie viele Tausende haben seitdem mit Petrus bekannt:
„Zu wem sollen wir gehen?" haben in Ihm Den
gefunden, der allein die Leere ihres Herzens ausfüllen
konnte. Sollen wir weiter gehen? Die Antwort des Apostels
ist: „Jeder, der weiter geht und nicht bleibt in der
Lehre des Christus, hat Gott nicht; wer in der Lehre
bleibt, dieser hat sowohl den Vater, als auch den Sohn."
(2. Joh. 9.)
Ohne Zweifel ist die Herrlichkeit, die eigentliche
Wohnstätte des ewigen Lebens, noch nicht geoffenbart;
aber dies hinderte nicht, daß das Leben selbst in seiner
ganzen, seelenbefriedigenden Fülle in Christo hienieden
geoffenbart war. Aber nahe ist der Augenblick, wo Christus,
unser Leben, in Herrlichkeit geoffenbart werden wird, und
wir mit Ihm. (Kol. 3, 4.) Und Er ruft uns zu:
„Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf daß niemand
deine Krone nehme!"
Möge der Herr uns allen Gnade geben, bis dahin
fest zu halten an der Lehre des Christus, und ein ganzes
Herz sür Ihn zu bewahren, der uns so teuer erkauft hat l
Der Säemann.
(Fortsetzung.)
In Matth. 13 begegnen wir einem Ausdruck in
Bezug auf „die am Wege", der bemerkenswert ist: „So
oft jemand das Wort des Reiches hört und nicht versteht,
kommt der Böse rc." — Wie zahlreich ist diese
Klasse von Hörern! Wie viele kommen unter den Schall
des Wortes, ohne auch nur im geringsten ihr Herz darauf
306
Zu richten, es auch zu verstehen! Sie kommen und hören
das Wort aus reiner Gewohnheit, aus einem gewissen
religiösen Bedürfnis: sie haben aber keinerlei Interesse
für die Wahrheit. DaS Geredete geht über ihre Köpfe
hin; sie beachten es nicht. Wenn man solche Personen
am Ende der Versammlung fragen würde: „Habt ihr
auch verstanden, was ihr gehört habt?" so würden sie
vielleicht die Frage eifrig bejahen, aber ihr Herz weiß
nichts davon. Die Folge ist, daß der Böse alsbald
kommt und wegreißt, was in ihre Herzen gesäet war.
Wie ernst ist das und wie sollte es mit Macht zu
den Gewissen aller derer reden, die das Wort Gottes
hören oder lesen! Es ist eine ernste Sache, in irgend
einer Weise mit dem göttlichen Worte in Berührung zu
kommen. Viele mögen es als etwas Geringfügiges betrachten,
einer Predigt des Wortes beizuwohnen oder die
Bibel im Familienkreise zu lesen; aber weit entfernt
davon, bringt es im Gegenteil eine ernste Verantwortlichkeit
auf alle, die daran teilnehmen. Wer das Wort
Gottes hört oder liest, ob Mann, Weib oder Kind, kommt
durch diese einfache Thatsache unter eine Verantwortlichkeit,
wie sie schwerer nicht gedacht werden kann.
Es ist eine eitle Ausflucht, zu sagen: Wer das
Wort nicht versteht, kann auch nicht verantwortlich dafür
gemacht werden. Denn warum versteht er es nicht? Hat
er es jemals ernstlich versucht? Hat er sich jemals bemüht,
die Gedanken Gottes zu erfassen? Wo liegt die
Schwierigkeit? Die Heilige Schrift ist einfach, klar und
bestimmt. Auf diesem Boden giebt es keine Entschuldigung.
Noch nie hat jemand aufrichtig gewünscht, das Wort zu
verstehen, dem das Verständnis nicht willig dargereicht
worden wäre. Ein Mensch mag suchen, sich hinter dem
Einwand zu verstecken, er könne die göttlichen Dinge
nicht ohne göttliche Belehrung verstehen. Aber ist dieser
Einwand stichhaltig? Zeigt er nicht vielmehr die schreckliche
Verkehrtheit des menschlichen Herzens? Ist Gott nicht
bereit, zu belehren? Ist es nicht Seine Freude, jedem.
307
der da will, in Gnade zu begegnen? Ach der Mensch
meint, auf solche Weise seiner Verantwortlichkeit entgehen
zu können. Eitles Bemühen!
Allerdings ist das Maß der Verantwortlichkeit und
infolge dessen die Schwere des Gerichts verschieden. Der
Heide ist verantwortlich, das Zeugnis der Schöpfung verworfen
zu haben; der Jude hat sich des Bruches des
Gesetzes schuldig gemacht; und der Hörer des Evangeliums
vom Reiche ist verantwortlich, dieses verworfen zu haben.
Will man behaupten, der Heide könne nicht das Zeugnis
der Schöpfung verstehen, oder der Jude nicht die Stimme
des Gesetzes? Warum nicht? Ist es nicht offenbar, daß^
der wahre Grund der Schwierigkeit nicht in dem Charakter
des Zeugnisses, sondern einzig und allein in dem Zustande
des Herzens liegt? Und weil das so ist, so ist ein jeder
dem Gericht verfallen; und das Gericht wird dem Maße der
Verantwortlichkeit entsprechen, so wie das Maß der Verantwortlichkeit
dem Maße des empfangenen Lichtes entspricht.
Ja, alle sind schuldig, obwohl nicht auf demselben
Boden oder nach demselben Maße. Der Heide steht auf
seinem Boden, und der Jude auf dem seinigen. Jeder
Mund wird verstopft werden. Alle die stolzen Reden
und nichtigen Einwände des Menschen werden einmal verstummen.
Allen denen, die es wagen, gegen Gott aufzustehen
und über Sein Thun zu Gericht zu sitzen, werden
einmal die Augen aufgehen, um ihren verhängnisvollen
Irrtum zu erkennen. Aber ach! dann wird cs für immer
zu spät sein; sie werden ihn erkennen inmitten der ewigen
Qualen des FeuerseeS.
Doch es giebt eine Klasse von Personen, deren Verantwortlichkeit
noch ungleich schwerer ist als die des
Heiden oder des Juden. Es sind diejenigen, welche das
Evangelium von der Gnade Gottes, die frohe Botschaft
von einer vollkommnen Erlösung durch den Tod und die
Auferstehung Jesu Christi vernommen haben, denen wieder
und wieder die Liebe Gottes zu einer verlorenen, feindseligen
Welt verkündigt worden ist — die aber das Ge
— 308 —
hörte nicht beachtet und der göttlichen Liebe den Rücken
gewandt haben — bloße Bekenner, die den Namen Christi
tragen, aber Ihn nicht kennen, Ihm nicht vertrauen, Ihn
nicht lieben. Solche werden das schwerste Gericht empfangen.
Denn soweit das Zeugnis von Christo das
Zeugnis der Schöpfung an Wert, Wichtigkeit und Herrlichkeit
überragt, so weit das Evangelium der Gnade Gottes
das Gesetz Moses übertrifft, gerade so viel schwerer ist
die Verantwortlichkeit des Verächters des Evangeliums als
diejenige des Juden oder des Heiden. Eine ewige Strafe,
ein ewiges Verderben wird sein Teil sein. (Vergleiche
2. Thess. 1, 7-9.)
Ja, wenn einmal die Stunde der Abrechnung kommt,
dann wird keiner mehr ein Wort zu erwidern haben.
Jeder Mund wird vor dem Richterstuhl Christi verstopft
werden. Jeder wird gerichtet werden nach seinen Werken;
aber das schwerste Gericht, die tiefste Finsternis, die
peinlichste Strafe wird diejenigen erreichen, welche das
herrliche Evangelium der Gnade Gottes verworfen haben.
Und wir dürfen versichert sein, daß dann keiner von
„denen am Wege" sich damit entschuldigen wird, daß er
„daS Wort des Reiches" nicht habe verstehen können.
Nein, nein, er wird dann seine Thorheit und Schuld erkennen,
dem Teufel erlaubt Zu haben, den guten Samen
aus seinem Herzen zu reißen. Nur in diesem Leben
macht der Mensch seine Einwürfe und Entschuldigungen;
an jenem Tage nicht mehr. Alle werden bekennen müssen:
„Wir empfangen nur, was unsre Thaten wert sind."
O möchte doch ein jeder an diese Dinge denken, so
lange die Zeit der Langmut Gottes noch währt! Die
Wolke des Gerichts ballt sich immer dichter zusammen,
und wehe einem jeden, über den der Sturm losbrechen
wird! Die Thür der Gnade wird bald für immer geschlossenwerden;
und allen denen, die so oft gehört, aber
nicht gehorcht haben, werden dann die Worte entgegentönen:
„Ich habe euch niemals gekannt; weichet von
mir!" (Schluß folgt.)
Der Säemann.
(Schluß.)
Wir kommen jetzt zu der zweiten Klasse von Hörern
des Wortes vom Reiche, zu denen, bei welchen das Wort
auf steinichten Boden fällt. Sie unterscheiden sich wesentlich
von der ersten Klasse. Bei „denen am Wege" zeigt sich
niemals irgend ein praktisches Ergebnis der Predigt. Der
hoffnungsfreudigste Evangelist könnte keinen Augenblick
daran denken, sie unter die Früchte seines Werkes zu
rechnen. Sie gehen wieder hin, wie sie gekommen sind,
unerreicht, ohne Interesse, ohne wahre, tiefe Eindrücke.
Anders ist es mit der zweiten Klasse von Hörern.
Durch sie kann mancher Arbeiter getäuscht werden, da
sich in ihnen wirklich ein Resultat zeigt — Erscheinungen,
die zu dem Schluffe zu berechtigen scheinen, daß ein göttliches
Werk in der Seele begonnen habe. Doch hören
wir des Herrn eigene Worte über diese Klasse:
„Anderes aber fiel auf daS Steinichte, wo es nicht
viel Erde hatte." Etwas Erde ist vorhanden; es ist
nicht alles harter Felsen oder festgetretener Weg. „Und
alsbald ging es auf, weil es nicht tiefe Erde hatte.
Als aber die Sonne aufging, ward es verbrannt, und weil
es keine Wurzel hatte, verdorrte es." (Matth. 13, 5. 6.)
In Markus lauten die Worte fast ebenso. In Lukas
lesen wir: „Und anderes fiel auf den Felsen; und als
es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtig
310
keit hatte." Die Erklärung, welche der göttliche Lehrmeister
Seinen Jüngern über diese Art von Hörern giebt,
lautet folgendermaßen: „Der aber auf das Steinichte ge-
säet ist, dieser ist's, der das Wort hört und es alsbald
mit Freuden aufnimmt, hat aber keine Wurzel
in sich, sondern ist nur für eine Zeit; und wenn
Drangsal entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen,
alsbald ärgert er sich." (V. 20. 21.)
Dies verdient in der That die ernsteste Beachtung
aller derer, welche sich irgendwie im Werke des Evangeliums
bemühen. Jeder ernste Evangelist verlangt nach Ergebnissen
seines Wirkens, nach der Errettung seiner Zuhörer;
und je mächtiger die Liebe Christi, des großen Evangelisten,
im Herzen wirkt, desto sehnlicher ist dieser Wunsch.
Aber gerade das Verlangen nach Frucht setzt den Arbeiter
der Gefahr aus, sich über die Resultate seines Wirkens zu
täuschen. Es kann ihn leicht dahin führen, etwas für eine
echte, aufrichtige Bekehrung zu halten, was sich schließlich
nur als eine bloße Erregung der Gefühle erweist. Wie
manche sind als bekehrt ausgegeben worden, die sehr bald
nicht nur in die Welt zurückgingen, sondern gar aus anscheinend
glücklichen Bekeunern des Namens Christi bittere
Feinde des Kreuzes wurden!
Das ist sehr ernst und sollte alle Evangelisten anleiten,
viel zum Herrn zu rufen um Weisheit und geistliches
Unterscheidungsvermögen, damit sie fähig seien, die
verschiedenen Fälle, die ihnen in ihrem Dienste begegnen,
richtig zu beurteilen. Mancher verlangt allzu eifrig nach
sofortigen, sichtbaren Resultaten; mit andern Worten:
der Beweggrund, der ihn leitet, Bekehrungen zu erwarten,
ist nicht rein, nicht geistlich und himmlisch. Gegen diese
311
Schlinge sollten alle die teuren Arbeiter des Herrn auf
der Hut sein. Es giebt Gefahren auf allen Seiten.
Im Gegensatz zu der eben genannten Gefahr haben
andere über die Neigung zu wachen, diejenigen, welche
wirklich begehren, dem kommenden Zorn zu entfliehen und
dem Herrn nachzufolgen, zurückzustoßen. Wir müssen
stets bereit sein, alles anzuerkennen, was irgendwie als
vom Herrn kommend anerkannt werden darf; stets bereit,
schwachen, zagenden Seelen hülfreiche Hand zu bieten.
Es ist in der That traurig, hie und da alten Christen
zu begegnen, die Gefallen daran zu finden scheinen, jungbekehrten
Seelen Anstöße in den Weg zu legen. Es
mag vielleicht mit den besten Absichten geschehen, indem
man fürchtet, getäuscht zu werden oder andere zu täuschen.
Allein so nötig es ist, vorsichtig zu sein und gründlich
zu Werke zu gehen, müssen wir uns doch auch sehr davor
hüten, das schwache, zarte Pflänzlein mit rauher Hand
zu knicken.
Wieder andern fällt es schwer, Bekehrungen als echt
anzuerkennen, wenn sie nicht selbst in irgend einer Weise
dabei beteiligt gewesen sind. Allein das ist ganz und gar
eines Mannes unwürdig, der sich einen Christen oder gar
einen Diener Christi nennt. Wir sollten stets eine hoffnungsvolle,
gnadenerfüllte Gesinnung gegen alle offenbaren,
die irgendwie Gegenstände eines geistlichen Werkes zu sein
scheinen; und selbst wenn wir nicht imstande sind, anzuerkennen,
sollten wir doch niemals zurückstoßen. Wir
haben nur eine schwache Vorstellung von der niederschmetternden
Wirkung, die es auf neuerweckte Seelen hat,
wenn gereifte Christen sie mit Argwohn oder auch nur
mit Gleichgültigkeit behandeln.
312
Trotz allem, was wir gesagt haben, dürfen wir jedoch
nicht vergessen, daß es thatsächlich Hörer giebt, die
dem steinichten Boden gleichen, und weiter, daß man durch
solche leicht getäuscht werden kann. „Der aber auf das
Steinichte gesäet ist, dieser ist's, der das Wort hört und
es alsbald mit Freuden aufnimmt." Das sieht sehr hoffnungsvoll
aus, und bei allen größeren Erweckungen, die
im Laufe der Zeit stattgefunden haben, sind gewiß Hunderte
von Fällen vorgekommen, die unter diese Rubrik
gehörten.
Doch beachten wir den ernsten Schluß des Satzes:
„hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur
für eine Zeit; und wenn Drangsal entsteht oder Verfolgung
um des Wortes willen, alsbald ärgert er sich."
Es ist gut, nicht zu eilig und zu hoffnungsvoll zu sein;
es ist weit besser, ein wenig zn warten. Ein wirklich
göttliches Werk wird sich sicher zu seiner Zeit als solches
offenbaren. Möchten daher alle, die sich im Werke des
Evangeliums bemühen, mit Ernst und vielem Gebet vor
angehen !
Indes möchte gefragt werden: Wie können wir denn
diese zweite Klasse von Hörern unterscheiden? Der Herr
selbst giebt uns ein sehr deutliches Kennzeichen, wenn Er
sagt: „alsbald mit Freuden". Es ist niemals ein
gutes Zeichen, wenn jemand das Wort sofort mit Freuden
aufnimmt. Es beweist einen Mangel an jener tiefen
Gewissensübung, die zur Bildung eines wahren christlichen
Charakters so wesentlich notwendig ist. Es ist eine ernste
Sache, wenn einem Menschen zum ersten Male die Augen
aufgehen und er seinen wahren Zustand, seine Schuld,
sein Elend und die Gefahr, in der er schwebt, erkennt.
313
Es erregt keine freudigen Gefühle, wenn die Pflugschar
der Ueberzeugung in der innersten Seele ihr Werk thut.
Selbstgericht und wahre Buße sind nichts weniger als
etwas Freudiges. Saulus, von TarsuS war in jenen
drei Tagen und Nächten, die seiner Bekehrung folgten,
wahrlich nicht mit Freude erfüllt. Nein, eine aufrichtige
Buße ist eine ernste Sache; und wir dürfen versichert
sein, daß da, wo der Geist Gottes in einer Seele wirkt,
tiefe Herzens- und Gewissensübungen nicht ausbleiben
werden — Uebungen, die mit freudigen Gefühlen ganz
und gar unverträglich sind. Es ist nichts Erfreuliches,
sich in dem Lichte Gottes als ein verderbtes, böses und
schuldiges Geschöpf zu erkennen, oder einen Rückblick zu
werfen auf ein verlorenes, sündiges Leben, ein Leben in
Gleichgültigkeit, Leichtfertigkeit und Auflehnung gegen Gott.
Freude und Friede werden sicher kommen, wenn ein göttliches
Werk in der Seele vorgeht, aber erst nach einer,
wenn auch kurzen, Zeit, nicht „alsbald". Der verlorene
Sohn näherte sich nicht mit muntern, elastischen Schritten
dem Vaterhause. Er sollte ohne Zweifel in den Armen
seines Vaters ein nie gekanntes Glück genießen; aber auf
seinem Wege dahin ging er durch Erfahrungen, die sehr
verschieden waren von „alsbald mit Freuden".
Mit einem Wort: Bekehrungen, die den eben besprochenen
Charakter tragen, halten nicht stand. Es ist
keine „tiefe Erde" vorhanden und deshalb auch keine
„Wurzel". Es fehlt an der notwendigen Feuchtigkeit,
und deshalb verdorren sie. Es ist gut, wenn die
Pflugschar tiefe Furchen zieht; aber das ist unmöglich,
wenn nicht viel Erde da ist. Werden nur die natürlichen
Gefühle erregt, ohne daß ein Werk des Geistes Gottes
314
in dem Gewissen vorgeht, so wird alles in nichts, ja, in
Schlimmerem als nichts enden. „Wenn Drangsal entsteht
oder Verfolgung um des Wortes willen, alsbald ärgert
er sich." An die Stelle der anfänglich vielleicht hochgespannten
Hoffnungen tritt bald die schmerzliche Entdeckung,
daß alles nur oberflächlich und unecht ist. Wird
das Werk irgendwie auf die Probe gestellt, „alsbald
ärgert er sich".
Das Aufgeben des Wortes geht gerade so rasch vor
sich wie die Aufnahme desselben. Es ist nicht in die
Tiefen der Seele gedrungen. Der steinichte Untergrund,
das ungebrochene, steinharte Material, das unter der
dünnen Oberfläche liegt, verhindert den kostbaren Samen,
in Herz und Gewissen einzudringen. Die Kraft der
Wahrheit wird nicht gefühlt, ihr Wert nicht erkannt noch
geschätzt. Sobald daher um der Wahrheit willen eine
Prüfung über solche Seelen kommt, ärgern sie sich und
geben sie alsbald wieder auf, da sie die Wahrheit nicht
genug schätzen, um ihretwegen irgend etwas fahren lassen
zu können. Es ist sehr schön, die frohe Botschaft des
Heils durch das Blut des Lammes zu hören, die liebliche
Geschichte von Gottes wunderbarer, bedingungsloser Liebe
zu vernehmen; zu hören, wie eine volle, freie Vergebung
einem jeden zu teil wird, der au Jesum Christum glaubt,
und wie Gott bereit ist, uns von einer ewigen Verdammnis
zu befreien und ein „über die Maßen überschwengliches,
ewiges Gewicht von Herrlichkeit" über uns auszuschütten —
alles daS ist, wie gesagt, sehr schön und sehr gesegnet. Aber
wenn diese kostbaren Dinge nur als ebenso viele Wahrheiten
mit dem Verstände ausgenommen werden, während
das Gewissen nicht ins Licht Gottes kommt und nichts
315
von dem mächtigen Wirken des Heiligen Geistes erfährt,
dann — wenn Schwierigkeiten und Prüfungen kommen,
wenn es gilt, sich bestimmt für Christum zu entscheiden
und die Schmach eines gekreuzigten Heilandes auf sich zu
nehmen — dann wird es offenbar, daß keine lebendige
Verbindung zwischen der Seele und Christo besteht. Es
ist keine Tiefe, keine Kraft, keine Festigkeit, kein Ausharren
vorhanden. Die Seele ist nicht wirklich bearbeitet und
für Christum gewonnen. „Diese sind es, die auf
das Steinichte gesäet werden."
Mein Leser! Es geziemt uns, diese Dinge mit
Ernst zu erwägen. Es ist unmöglich, ihre Wichtigkeit zu
überschätzen. Laß uns wohl darauf acht haben, daß wir
nicht zu denen gehören, die auf das Steinichte gesäet
werden! Laß uns zusehen, daß das kostbare Wort
Gottes, der unverwesliche Same des Reiches, eine tiefe
und bleibende Stätte in unsern Herzen gefunden habe!
Wenn es jemals in der Geschichte der bekennenden Kirche
eine Zeit gab, in der es nötig war, solchen Gedanken
seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, so ist es heute der
Fall, wo es so viel leichtfertiges, leeres Bekenntnis giebt,
so viel „Wort und Zunge", und so wenig „That und
Wahrheit".
„Anderes aber fiel unter die Dornen." —
Welch eine Tiefe, welch eine Kraft und ernste Bedeutung
liegt in diesen wenigen Worten! Wie oft fühlt sich der
denkende Leser der Heiligen Schrift von der schlagenden
Kürze der Aussprüche derselben getroffen! In unzähligen
Fällen ist eine Fülle von tiefen, praktischen Wahrheiten
in einem einzigen Satze eingeschlossen. Welche menschliche
316
Feder wäre imstande, alles das zu beschreiben, was in
dem oben angeführten kurzen Ausspruch enthalten ist?
Wahrlich, nur Der, welcher das Bild gebrauchte, kann
unsern Herzen seine wunderbare Bedeutung auslegen.
Und welche Erklärung giebt Er? „Der aber unter die
Dornen gesäet ist, dieser ist's, der das Wort hört, und
die Sorge dieses Lebens und der Betrug des Reichtums
ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht."
Hier haben wir zwei völlig entgegengesetzte Einflüsse,
die aber dieselbe Wirkung hervorbringen. „Sorgen" und
„Reichtum" scheinen nicht viel mit einander gemein zu
haben; und doch ersticken beide den kostbaren Samen des
Reiches. Tausende und Hunderttausende werden so völlig
von den Sorgen dieses Lebens in Anspruch genommen,
daß sie keinen Augenblick für die große und über alles
wichtige Frage des Heils ihrer Seele übrig zu haben
scheinen. Von Montag Morgen bis Samstag Abend
sorgen und streben sie dem einzigen Ziele nach, vorwärts
zu kommen. Sie haben keine Zeit, an etwas anderes
zu denken als an die Dinge dieses Lebens; und wenn
sie am Sonntage wirklich für einige Minuten unter
den Schall des Wortes Gottes kommen, so ist ihr Herz
doch so erfüllt mit weltlichen Dingen, daß das Wort,
obwohl es an ihr Ohr dringt, keinen Eingang in ihr
Herz findet, weil die Sorgen den Weg dahin völlig versperren.
Sie denken mit Sorge an morgen, mit Sorge
an ihre Kinder, mit Sorge an ihr Geschäft, mit Sorge
an die Frage, wie sie den mannigfachen Anforderungen,
die an sie herantreten können, entsprechen, und wie sie
durch die möglicherweise entstehenden Schwierigkeiten der
begonnenen Woche hindurchkommen sollen. Mit einem
317
Wort, der gute Same wird erstickt von den Sorgen dieses
Lebens und bringt keine Frucht.
Das Gewissen dieser Klasse von Personen zu erreichen
ist insofern sehr schwierig, als die Dinge, welche
ihre Zeit und all ihr Denken in Anspruch nehmen, anscheinend
ganz rechtmäßig und gut sind. Diese Art von
Leuten ist nicht unmoralisch; sie trinken, fluchen und
spielen nicht. Sie scheinen sehr brave, gutgesinnte, fleißige
Leute zu sein, die alle ihre Kräfte daran setzen, sich und
ihre Familien ehrlich durchzubringen und einen anständigen
Lebenswandel zu führen. Im Wirtshause, beim Kartenoder
Billiardspiel, im Theater, bei Musik und Tanz suchst
du sie vergebens. Sie sind, wie man zu sagen pflegt,
durchaus harmlose Menschen, liegen ihrem Beruf mit
Fleiß und Treue ob und erfüllen ihre Pflichten gegen
Familie und Freunde, gegen Kirche und Staat mit anerkennenswertem
Eifer. Wenn du es wagst, ein Wort der
Warnung an sie zu richten, sie an ihre unsterbliche Seele
zu erinnern, sowie an die Notwendigkeit, auf die Ewigkeit
vorbereitet zu sein, der sie entgegeneilen, so werden sie dir
antworten, daß sie wirklich keine Zeit haben, an solche Dinge
zu denken, daß ein dringendes Geschäft nach dem andern zu
besorgen sei, daß sie jede Minute benutzen müssen, um für
die Bedürfnisse ihrer Familie zu sorgen, daß Zinsen und
Pacht zu bezahlen seien u. s. w. u. s. w. Sie würden gern
lauschen, wenn sie nur einmal ein wenig vor sich gebracht
hätten, wenn ihre Kinder erzogen und versorgt wären; aber
so lange das nicht der Fall sei, bleibe ihnen nichts anderes
übrig als rastlos zu wirken und zu arbeiten. Und in der
That, Gott hat es ja so geordnet, daß wir arbeiten sollen;
wie könnte es deshalb unrichtig sein? Hat Er nicht gesagt:
318
„Wenn jemand für die Seinigen, und besonders für die
Hausgenossen, nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet
und ist schlechter als ein Ungläubiger" ? oder an
einer andern Stelle: „Wenn jemand nicht arbeiten will,
so soll er auch nicht essen"? (1. Tim. 5, 8; 2. Thess.
3, 10.) Es kann deshalb doch nicht unrecht sein, fleißig
zu arbeiten!
Das sind die Beweisgründe, mit welchen diese Klasse
von Personen die Schärfe des Wortes Gottes abzustumpfen
sucht, damit es nur nicht ihr Herz und Gewissen erreiche.
Die Thatsache, daß ihr Leben so ehrbar und so weit von
grober Unsittlichkeit entfernt ist, bildet ein weiteres Hindernis
für sie, ihren wahren Zustand zu erkennen oder die
Gefährlichkeit ihrer Lage einzusehen. Sie verstehen nicht,
daß „Sorgen" gerade so gut wie „Reichtümer", „Lüste
und Vergnügungen" das Wort ersticken und unfruchtbar
machen. Sie würden sich tief verletzt fühlen, wenn man
sie mit der unsittlichen, gottlosen Menge, deren einziges
Ziel die sündigen Freuden dieser Welt find, auf einen
und denselben Boden stellen wollte; und doch wird bei
allen in gleicher Weise das Wort erstickt, Christus verworfen
und das Heil der Seele vernachlässigt.
Man mag einwenden, daß „Sorgen" doch nicht so
böse und verunreinigend seien wie „Lüste und Vergnügungen";
aber wenn die einen wie die andern uns
dahin führen, unser Seelenheil aufs Spiel zu setzen, was
sollen wir dann sagen? Es giebt verschiedene Wege zur
Hölle; der breite Weg hat allerlei besondere Pfade: sowohl
für den Ehrbaren, für den Religiösen und Sittlichen, wie
auch für den Lebemann, den Gottlosen, den Lästerer und
Trunkenbold. Der eine will nicht mit dem andern wan
319
dein, aber der breite Weg hat Platz für alle; und das
Ende für alle, die darauf wandeln, ist „der zweite
Tod". Und wenn am Ende der fleißige, unermüdlich
thätige Mann, der Tag und Nacht für Weib und Kind sich
abmühte, der nie einen Pfennig im Wirtshause ausgab,
nie eine Stunde an einem Vergnügungsorte zubrachte, der
einen Lebenswandel führte ohne Tadel und Vorwurf —
wenn ein solcher, sage ich, am Ende sich in dem Feuersee
wiederfindeu wird, Seite an Seite mit einem armen, vergnügungssüchtigen
Verschwender, der sein Leben in Saus
und Braus verbracht hat, so wird er sich kaum versucht
fühlen, Betrachtungen über den Unterschied zwischen sich
und jenem anzustellen oder gar sich dieses Unterschiedes
zu rühmen. Beide haben, obwohl auf verschiedenen Wegen,
dasselbe Ziel erreicht, jenen schrecklichen Ort, wohin kein
Hoffnungsstrahl dringt und wo alle die volle Bedeutung
jener hienieden so wenig verstandenen und so viel widersprochenen
Worte verstehen werden: „Es ist kein
Unterschied; denn alle haben gesündigt und erreichen
nicht die Herrlichkeit Gottes".
Aber, mag der eine oder andere meiner Leser versucht
sein zu fragen, sollen wir denn unsre irdischen Pflichten
vernachlässigen? Müssen wir den Wirkungskreis verlassen,
den die Vorsehung uns angewiesen hat? Sind wir nicht
verpflichtet, für unsre Familien zu sorgen? Sollen wir
aufhören zu arbeiten, um an unsre Seele und an die
Ewigkeit denken zu können? Sollen wir ein Leben träumerischer
Betrachtungen und trägen Dahinbrütens führen?
Mein Leser! dein eignes Gewissen giebt dir die
Antwort auf solche Fragen. Du weißt sehr wohl, daß
so etwas weder gelehrt noch gemeint wird. Aber vergiß
320
nicht, daß die erste Pflicht, die eine große Sorge, die
einem Sünder obliegt, die ist, an das ewige Heil seiner
unsterblichen Seele zu denken. So lange dieser Pflicht
nicht genügt ist, sind alle andern Pflichten, Sorgen und
Interessen von geringer Wichtigkeit. Als der Herr in
den Tagen Seines Fleisches einmal von den Juden gefragt
wurde: „WaS sollen wir thun, daß wir die Werke
Gottes wirken?" antwortete Er: „Dies ist das Werk
Gottes, daß ihr an Den glaubet, den Er gesandt hat."
(Joh. 6, 28. 29.) Beachte diese Antwort, mein lieber
Leser; erwäge sie mit allem Ernst! Sie sagt dir, daß es
die erste große Pflicht eines jeden Menschen — Mann,
Weib oder Kind — ist, an Den zu glauben, dev- Jesum
in diese Welt gesandt hat; und dies zu thun bedeutet
ewiges Leben, ewiges Heil, ewige Herrlichkeit. Alles, was
dich hindert, dieser ernsten Pflicht Zu genügen, kann deshalb
nur ein Fallstrick und sündhaft sein, etwas von den
„Dornen", mit welchen der Teufel das Wort zu ersticken
sucht. Verlaß dich darauf, mein Freund, so lange deine
Seele nicht errettet ist, kannst du nichts für Gott thun;
aber wenn sie errettet ist, kannst du alles für Ihn thun,
selbst essen und trinken zu Seiner Verherrlichung. Er
hat einen Pfad guter Werke zuvor bereitet, in welchem
Sein erlöstes Volk wandeln soll. (Eph. 2, 10.) Aber
um diesen Pfad gehen zu können, mußt du von neuem
geboren sein; denn nur die Erlösten können darauf wandeln.
Auf diesem Pfade können, Gott sei Dank, weder Pflichten
noch Sorgen daS Wort ersticken, da die Pflichten zu
Seinem Preise erfüllt werden können; und was die
„Sorgen" betrifft, so gebietet Er uns, sie alle auf Ihn
zu werfen.
321
Doch vergessen wir nicht, daß es noch andere
„Dornen" giebt als „die Sorge des Lebens". Unser
göttlicher Lehrmeister spricht auch von dem „Betrug des
Reichtums". Mancher Armx meint vielleicht, wenn er
nur reich wäre, so würde er sich sicher Zeit nehmen, an
sein Seelenheil zu denken. Aber ach, welch ein Trugschluß!
Es giebt bekanntlich kein schrecklicheres Hindernis
als gerade der Reichtum. Er betrügt die Seele und zieht
sie ab von Gott, von Christo, vom Himmel. Der Reiche
baut auf seine Reichtümer. Er kennt keine Not und keine
Sorgen, es sei denn die eine Sorge, sein Kapital zu
vergrößern und seine Einnahmequellen zu vermehren.
Unser Herr und Heiland hat selbst gesagt: „Es ist leichter,
daß ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe, als daß ein
Reicher in das Reich Gottes eingehe." Er kann unmöglich
als Reicher eingehen. Wohl kann Gott — gepriesen
sei Sein Name! — reiche Leute erretten, indem Er ihnen
ihre tiefe Armut zu sehen und zu fühlen giebt, und sie
zu dem Bekenntnis führt, daß sie arm und elend, sündig,
blind und bloß sind; und weiter, indem Er sie zu Jesu
hinzieht, in welchem sie unerforschliche, ewig dauernde
Reichtümer und göttliche Gerechtigkeit finden. Aber ein
Reicher ist als solcher fern vom Reiche Gottes. Er
gehört ganz und gar zu einem andern Reiche. Er schenkt
die Liebe seines Herzens einem Andern als Christo. Er
huldigt dem Gott dieser Welt. Der Reichtum ist sein
Gegenstand, das Geld sein Götze, und der Gewinn sein
Ziel. Der Besitz an irdischen Gütern betrügt sein Herz,
indem er den wahren Zustand geistlichen Elends, in welchem
er sich befindet, vor seinen Blicken verbirgt. Der
Arme wird von Sorgen verzehrt, der Reiche durch seine
322
Reichtümer übersättigt. Bei beiden wird der Same des
Reiches erstickt; beide verwerfen die Wahrheit, wenden
Christo den Rücken und schreiten den finstern Schatten einer
nie endenden Verdammnis zu. Ja, mein Leser, „Sorgen"
und „Reichtümer" verderben in gleicher Weise unsterbliche
Seelen und führen sie dem ewigen Verderben entgegen.
So belehrt uns unser hochgelobter Herr und Meister;
und wahrlich, wir thun Wohl, Seine himmlische Belehrung
zu beachten.
Doch wie schrecklich ist der Gedanke an einen Menschen,
der aus dem Schoße des Reichtums und Luxus
hinübergeht in die finstre Ewigkeit, hinabsinkt in die nie
erlöschenden Flammen des Feuersees! Wie entsetzlich für
jemanden, der nach langem Wohlleben hienieden plötzlich
aus seinem bequemen Hause, aus dem glänzenden Kreise
seiner Feste und Vergnügungen sich versetzt sieht in all
die Schrecken jenes Ortes, wo es nicht einmal einen
Tropfen Wassers giebt, um die brennende Zunge zu kühlen.
Welch ein Gegensatz! Auf Erden kannte er keine
Not, keinen unerfüllten Wunsch. Er war umgeben mit
allem, was der Reichtum verschaffen kann. Seine Tafel
war beladen mit den köstlichsten Leckerbissen. Reich betreßte
Diener standen bereit, jeden seiner Winke auszuführen.
Sein Keller war gefüllt mit den besten und
teuersten Weinen. In glänzender Karosse rollte er durch
die Straßen der Stadt, angestaunt und beneidet von den
Vorübergehenden. Im Winter eilte er in den sonnigen
Süden; die heißen Sommermonate verbrachte er am Meere
oder auf seinem schattigen Landsitze.
Aber dann starb er und ward begraben. Welch eine
Veränderung! Lauschen wir einen Augenblick auf die
323
erschütternden Worte des Herrn in der Geschichte von dem
reichen Mann und dem armen Lazarus: „Und in dem
Hades seine Augen aufschlagend, als er in Qualen war,
sieht er Abraham von ferne und Lazarus in seinem
Schoße. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme
dich meiner und sende Lazarus, daß er die Spitze
feines Fingers ins Wasser tauche und meine Zunge kühle;
denn ich leide Pein in dieser Flamme." (Luk. 16.)
Könnte es etwas Schrecklicheres geben als das?
Wie furchtbar ist der Gegensatz zwischen dem Purpur,
der feinen Leinwand und dem herrlichen Leben auf dieser
Erde und den peinigenden Flammen dort an dem Orte
der Qual! Der bloße Gedanke daran ist überwältigend;
und bedenken wir Wohl, daß es des Herrn eigne Hand ist,
die das schreckliche Gemälde entworfen hat! Es ist keine
Legende oder altweibische Fabel. Nein, nein, mein Leser!
Der Herr selbst zieht den Vorhang zurück und zeigt uns den
thatsächlichen Zustand eines Menschen, der über all dem
Guten, das er hienieden genossen, die Zeit der Gnade
versäumt hat und nun vergeblich um Erbarmen ruft. Es
ist eine ernste Sache, gerade von den Lippen Dessen, der
sprach, wie nie ein Mensch gesprochen hat, eine solche Erzählung
zu vernehmen. In der That, der Herr spricht
mehr von dem höllischen Feuer als irgend einer Seiner
Apostel. Wieder und wieder erinnert Er daran, und
in der Geschichte des reichen Mannes geht Er sogar in
die ernstesten Einzelheiten ein. „Sende Lazarus, daß er
die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und meine
Zunge kühle; denn ich leide Pein in dieser Flamme."
Aber dort giebt es keinen Tropfen Wasser mehr zur
Kühlung; kein Herz denkt daran, kein Finger rührt sich.
324
ihn zu bringen. Dort ist nur marternde Verzweiflung
und unabänderliche Qual; und alles das für immer und
immer und immer! Wenn schon die bloße Beschäftigung
mit diesen Dingen zu viel ist für das Herz, was muß
dann die thatsächliche Erfahrung derselben sein! Gott
gebe in Gnaden, daß der Leser diese Erfahrung nie machen
müsse! — O mein Freund, wenn es noch nicht geschehen
ist, so fliehe heute vor dem kommenden Zorn! Bist du
ein reicher Mann, dann laß mich in aller Liebe dich
bitten: Setze nicht dein Vertrauen auf deinen Reichtum;
klammere dich nicht an dein eitles, vergängliches Hab und
Gut; laß es dich nicht hindern, zu Jesu Zu eilen! Was
ist denn all dein Besitz anders als Staub und Asche?
und, wenn es von Satan benutzt wird, was ist es anders
als tötender, erstickender Rost auf deiner Seele? O laß
deinen Reichtum dir nicht im Wege stehen! Was für einen
Wert hat er? In einem Augenblick kann er dahin sein.
Laß dich nicht durch ihn betrügen, nicht durch ihn abhalten
von Christo, vom Himmel, von der ewigen Herrlichkeit!
Komme zu Jesu, komme noch heute! Die Zeit
ist kurz, und die Ewigkeit liegt vor dir. —
Es bleibt uns noch übrig, einen kurzen Blick auf
die dritte Art von „Dornen" zu werfen, welche der Herr
mit den Worten bezeichnet: „die Begierden nach
den übrigen Dingen". (Mark. 4, 19.)
Welch ein unabsehbares Feld eröffnet sich hier vor
unsern Blicken! Die Worte des Herrn weisen hin auf
jenen weiten, weiten Bereich, den das arme menschliche
Herz mit seinen unersättlichen Wünschen zu durchstreifen
pflegt, indem es unermüdlich nach Gegenständen sucht, die
eS erfreuen und befriedigen sollen. „Die Begierden nach
325
den übrigen Dingen" — unreine Begierden, unheilige,
stets wechselnde Wünsche, die nie befriedigt werden können
durch eine Welt, die in den Armen des Bösen liegt. Diese
Welt mit allem, was sie umschließt, ist nicht imstande, die
öde, schmerzliche Leere des Herzens auszufüllen. Das
vermag nur Einer — Jesus Christus, der Herr vom Himmel,
der Ausgezeichnete vor Zehntausenden, an welchem
„alles sehr köstlich ist". Und Er thut es, gepriesen sei
Sein Name!
Es wäre unmöglich, „die Begierden nach den übrigen
Dingen" hier einzeln aufzuzählen; sie find thatsächlich
zahl- und namenlos. Allein so verschieden sie auch sein
und so verschieden sie sich in den Menschen offenbaren
mögen — ihr Ziel ist dasselbe: sie ersticken das Wort
und verhindern es, Frucht zu bringen. Welch ein Unterschied
zwischen einem tiefgesunkenen Trunkenbolde, dessen
unreiner Atem und stierer Blick jedem sofort verraten,
worauf seine Begierde gerichtet ist, und einem sorgfältig
erzogenen, hochgebildeten Manne dieser Welt, dessen guter
Geschmack, feine Manieren, menschenfreundliche Gesinnung,
wissenschaftliche Erfolge, geistreiche Schriften rc. 2c. ihn zu
einem begehrten Gesellschafter, zum Mittelpunkt eines
Kreises auserlesener Männer, zu einem hochgeachteten Gliede
der menschlichen Gesellschaft machen! Der Unterschied
könnte kaum größer gedacht werden. Und doch begegnen
sich diese beiden Gegensätze in einem gemeinschaftlichen
Punkte: in der Verwerfung Christi; und dereinst auf einem
gemeinschaftlichen Boden: in dem See, der mit Feuer und
Schwefel brennt! Beide werden, obwohl in ganz verschiedener
Weise, durch „die Begierden nach den übrigen
Dingen" verhindert, das Wort vom Reiche aufzunehmen.
326
Wohl mag der eine mit dem andern durchaus nichts zu
thun haben wollen; aber wie einst „böse Männer vom
Gassenpöbel" und Fürsten, Gelehrte und die Angesehensten
des Volkes einen Berührungspunkt fanden in der Verwerfung
des Evangeliums und in der Verfolgung des
Herrn und Seiner Knechte, so reichen sich auch die heutigen
Vertreter dieser verschiedenen Klassen die Hand in ihrem
Haß gegen Gott und Seinen Gesalbten.
Indem wir hiermit unsre Betrachtungen über „den
Säemann" schließen, erinnern wir noch einmal daran, daß bei
den drei Klassen von Personen, die uns bisher beschäftigten,
weder die Pflugschar noch die Egge jemals in Anwendung
gekommen sind und deshalb auch keine Frucht möglich ist.
Bei der ersten Klasse liegt der gute Same auf der harten
Oberfläche des Weges und wird sofort von dem Bösen
weggerissen. Bei der zweiten wird das Wort nur mit
dem Verstände ausgenommen; eine äußerlich fromme,
religiöse Natur scheint für eine Zeit das Evangelium zu
erfassen, aber der Zustand des Herzens ist ungebrochen
und ungerichtet. „Das Fleisch nützt nichts." Bei der
dritten Klasse endlich kann der Pflug sein Werk nicht
thun, weil die Dornen ihm im Wege sind. Vermöchte er
einzudringen und die Dornen auszureißen, so würde der
Same vielleicht eine Stätte im Innern des Herzens finden.
Mit andern Worten: würde die Welt und ihre Lust,
dieses Leben mit seinen Sorgen und Begierden, erkannt
und gerichtet werden, so würde das gute Wort Gottes
aufgehen und Frucht tragen können. So aber erstickt es.
Noch einmal denn, das Herz und das Gewissen
müssen durch die Kraft des Heiligen Geistes bearbeitet
327
sein, und das Wort Gottes muß gleichsam ein Teil unsers
eignen Ichs werden, wenn irgend ein bleibendes Resultat
erzielt oder irgend eine echte Frucht hervorgebracht werden
soll. Und hier ist es, wo der große Gegensatz zwischen
dem guten und schlechten Boden so klar ans Licht tritt.
„Der aber auf die gute Erde gesäet ist, dieser ist's, der
das Wort hört und versteht, welcher wirklich' Frucht
bringt; und der eine trägt hundert-, der andere sechzig-,
der andere dreißigfältig." (Matth. 13, 23.) So auch in
Markus: „Und diese sind es, die auf die gute Erde
gesäet sind, welche das Wort hören und aufnehmen
und Frucht bringen: eines dreißig- und eines sechzig- und
eines hundertfältig." (Mark. 4, 20.) Das Zeugnis des
Evangelisten Lukas ist, wenn möglich, noch ausdrucksvoller.
Dort lesen wir: „Das in der guten Erde aber
sind diese, welche in einem redlichen und guten
Herzen das Wort, nachdem sie es gehört haben, bewahren
und Frucht bringen mit Ausharren."
(Luk. 8, 15.)
Wenn wir diese drei Stellen zusammennehmen, so
haben wir die drei großen unterscheidenden Charakterzüge
der auf die gute Erde Gesäeten vor uns: sie verstehen
das kostbare Wort Gottes, sie nehmen es auf und bewahren
es in einem redlichen Herzen. Und das Resultat
ist ein „Fruchtbringen mit Ausharren".
Gesegnetes Resultat! Wollte Gott, daß wir mehr
davon sähen in unsern Tagen! Jeder aufrichtige Arbeiter
muß darnach verlangen. Aber ach! wie wenig ist davon
zu sehen! Wie viele Hörer der drei ersten Klassen füllen
die Bänke, wenn die frohe Botschaft von der Liebe Gottes
verkündigt wird; wie viele täuschen die Erwartungen der
328
nach ihrem Seelenheil verlangenden Evangelisten! Wie
wenige sind derer, die das Wort Gottes wirklich verstehen,
die es im Glauben aufnehmen und bewahren, und dann
hingehen und Frucht bringen mit Ausharren zur Freude
derer, welche das Werk des Evangeliums treiben!
Woher kommt diese Erscheinung? Sie muß sicherlich
eine Ursache haben. Unser Gott hat uns in diesen letzten
Tagen viel Licht geschenkt und uns mit der ganzen Fülle
des Evangeliums bekannt gemacht; der wahre Grund
des Friedens eines Sünders, sowie der wahre Charakter
der Stellung des Gläubigen in Christo werden mit einer
Kraft und Klarheit verkündigt, wie es seit vielen Jahrhunderten
nicht geschehen ist. Woher kommt es nun,
daß wir so wenig echte Bekehrungen sehen? Und selbst
von denen, die als bekehrt ausgegeben werden, erweisen
sich so viele als unecht. — Geliebte Brüder und Mitarbeiter!
laßt uns diese wichtige Frage mit allem Ernst erwägen.
Es muß ein Hindernis da sein. Untersuchen wir mit
Aufrichtigkeit, wo es liegt. Richten wir uns selbst in
der Gegenwart unsers hochgelobten Herrn. Unser Platz
ist auf unserm Angesicht, in aufrichtiger Herzensübung betreffs
dieser Sache. Verlangen wir wirklich mit Ernst
nach gesegneten Resultaten? Predigen wir das Evangelium
mit dem wahren Herzensentschluß, Seelen zu Christo zu
führen? Haben wir ein eifriges Verlangen nach dem
Heil unsrer Zuhörer? Sind wir viel vor Gott betreffs
ihrer? Oder sind wir damit zufrieden, eine gewisse Reihe
von Vorträgen zu halten, unbekümmert darum, ob sie
Frucht hervorbringen oder nicht?
Möge der Herr selbst in allen Seinen geliebten
.Knechten an allen Orten und Enden der Erde ein tiefes
329
Gefühl über die Wichtigkeit dieses großen Gegenstandes
erwecken! Möge Er Sein Werk in unsern eignen
Seelen beleben, die erschlafften Hände stärken und die
gelähmten Kniee aufrichten, damit Sein Wort laufen
und verherrlicht werden könne, und viele Tausende dahin
geführt werden, nicht nur das Wort zu hören, sondern
es auch zu verstehen, aufzunehmen und zu bewahren und
hundertfältige Frucht zu bringen mit Ausharren, zu
Seinem Preise und zur Freude und Erquickung Seiner
Diener!
Segenskanäle.
„In jenen Tagen, als wiederum eine große Volksmenge
da war und nichts zu essen hatte, rief Er Seine
Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich bewegt
über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen sie bei
mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie nach Haufe
entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden sie auf dem
. Wege verschmachten; denn etliche von ihnen sind von ferne
gekommen. Und Seine Jünger antworteten Ihm: Woher
wird jemand diese hier in der Einöde mit Brot sättigen
können? Und Er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr?
Sie aber sagten: Sieben. Und Er gebot der Volksmenge,
. sich auf der Erde zu lagern. Und Er nahm die sieben
Brote, dankte und brach sie und gab sie Seinen Jüngern,
auf daß sie vorlegien; und sie legten der Volksmenge vor.
Und sie hatten einige kleine Fische; und als Er sie gesegnet
hatte, hieß Er auch diese vorlegen. Sie aßen aber und
wurden gesättigt; und sie hoben auf, was an Brocken übrigblieb,
sieben Körbe. Es waren aber derer, welche gegessen
' hatten, bei viertausend; und Er entließ sie." (Mark. 8,1—9.)
Diese Geschichte stellt uns ein treffendes Vorbild von
der Berufung des Christen in dieser Welt vor Augen —
ein Vorbild von allgemeiner, alle Kinder Gottes umfassen
330
der Anwendung. Ein jeder von uns sollte daran denken,
daß er in diese Welt gesandt ist, um ein Verbindungskanal
zwischen dem Herzen Christi und den mannigfaltigen
Bedürfnissen zu sein, die uns Tag für Tag auf unserm
Wege begegnen. Diese Seite der Berufung des Christen
ist von großem Werte und ausnehmender Schönheit. Sie
setzt selbstverständlich voraus, daß ich ein wahrer Christ
bin. Wenn ich nicht weiß, daß ich das ewige Leben
habe; wenn ich an meiner Errettung zweifle; wenn ich
Christum nicht kenne als meinen Heiland und Herrn, als
das Teil, den Gegenstand und die Ruhe meines Herzens
— dann betrüge ich mich selbst und bin blind über den
Zustand meiner Seele, wenn ich mich mit der Berufung
des Christen beschäftigen will. Um dieser Berufung nachkommen
zu können, muß ich zu allererst wissen, daß
ich errettet bin durch den Glauben an Jesum.
„In jenen Tagen, als wiederum eine große Volksmenge
da war und nichts zu essen hatte." Das
Bedürfnis war also groß und keine sichtbaren Hülfsmittel
vorhanden, um es zu stillen. Aber Jesus war da mit
all der Liebe Seines Herzens und mit all der Kraft
Seiner Hände. Er war da, der vor alters ein Volk von
drei Millionen Menschen vierzig Jahre lang in einer dürren
Sandwüste ernährt hatte. Er hätte ohne Zweifel sofort
und unmittelbar die Bedürfnisse des Augenblicks stillen
können, ohne die Hülfe Seiner armen, ungläubigen, an
sich selbst denkenden Jünger in Anspruch zu nehmen. Er
hätte auch Engel kommen und durch sie der hungrigen
Menge die nötige Speise darreichen lassen können. Aber
Er that weder das eine noch das andere. Seine gnädige
Absicht war, Seine Jünger als Segenskanäle zwischen sich
331
und der Volksmenge zu benutzen; und zwar nicht nur als
die Werkzeuge Seiner Macht, — das hätten auch Engel sein
können, — sondern auch als den Ausdruck Seines Herzens.
Beachten wir, wie Er dies thut. Hätte Er sie
allein als Werkzeuge Seiner Macht gebrauchen wollen, so
hätte Er ihnen nur die Mittel zur Stillung des vorliegenden
Bedürfnisses in die Hände zu geben brauchen.
Aber nein! Er wollte sie zu Kanälen machen, d'urch welche
das Mitgefühl Seines Herzens fließen sollte. Wie aber
konnte das geschehen? Hören wir nur: „Er rief Seine
Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich
bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen
sie bei mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie
nach Hause entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden
sie auf dem Wege verschmachten; denn etliche von
ihnen sind von ferne gekommen."
Hier haben wir das Geheimnis der Vorbereitung zu
unsrer hohen und heiligen Berufung. Unser teurer Heiland
versammelt erst Seine Jünger um sich und sucht ihre Herzen
mit Seinen Gedanken und Gefühlen zu erfüllen, bevor
Er ihre Hände mit Brot und Fisch füllt. Es ist, als wenn
Er sagen wollte: „Ich bin innerlich bewegt, und ich
wünsche, daß ihr es auch seid. Ich wünsche, daß ihr in
meine Gedanken und Gefühle eingeht; daß ihr denkt wie
ich und fühlt wie ich. Ich wünsche, daß ihr mit meinen
Augen diese hungrige Menge betrachtet, damit ihr in einem
passenden Zustande seid, um meine Segenskanäle zu sein."
Wie schön ist das! Wird nicht jeder von uns ausrufen:
„Ich möchte auch ein solcher Segenskanal sein"?
Aber mancher wird vielleicht seufzend hinzufügen: „Das
ist unerreichbar für mich; das geht über meine Kraft.
332
Wie könnte ich jemals so weit kommen?" Nun, die einfache
Antwort auf diese zweifelnde Frage lautet: Verkehre
so innig mit dem Herrn, daß du denken und fühlen lernst
wie Er. Das ist der einzige Weg, um das ersehnte Ziel
zu erreichen. Wenn ich sage: Ich muß versuchen, oder:
ich muß mich an strengen, ein Segenskanal für andere
zu werden, so rede ich wie ein Thörichter und werde nur
ein Zerrbild liefern. Wenn ich aber an der wahren
Lebensquelle trinke, so werde ich bis zum Ueberfließen
gefüllt werden; mein ganzes Wesen wird der Ausdruck des
Geistes Christi sein, so daß Er mich benutzen und daß ich
von den Mitteln Gebrauch machen kann, die Er mir darreicht.
Habe ich meine Hände gefüllt, ehe mein Herz von Christo
erfüllt ist, so werde ich die Mittel nicht zur Ehre Christi,
sondern zu meiner Selbstverherrlichung gebrauchen.
Laß uns hierüber ernstlich nachdenken, mein lieber
Leser! Vergessen wir nie, wozu wir berufen sind und
worin das Geheimnis besteht, um diese Berufung erfüllen
zu können. Möchten wir verstehen, daß wir berufen sind,
Kanäle zu sein, durch welche die Segnungen Christi den
Seinigen und einer armen, verlornen Welt zufließen können.
Allerdings erscheint es fast zu groß und zu wunderbar,
um wahr sein zu können; aber, Gott sei gepriesen! es
ist ebenso wahr wie wunderbar. Suchen wir nur, es uns
im Glauben zuzueignen. Begnügen wir uns nicht damit,
es als eine schöne Theorie zu bewundern, sondern trachten
wir darnach, unsre Herzen damit zu erfüllen in der
Kraft des Heiligen Geistes.
Doch beachten wir, wie träge die Jünger waren,
dem Verlangen des Herzens Christi zu entsprechen. Er
wollte sie in Seiner Gnade als Segeuskanäle für die
333
Volksmenge benutzen; allein sie waren, gerade wie wir,
wenig imstande, dieses Vorrecht zu schätzen, und das hatte
seinen Grund darin, daß sie Seine Gedanken nicht verstanden
und nicht hinblickten auf,die Herrlichkeit Seiner Person.
„Und Seine Jünger antworteten Ihm: Woher wird jemand
diese hier in der Einöde mit Brot sättigen können?" Bei
einer andern Gelegenheit sagen sie: „Wir haben nichts hier
als nur fünf Brote und zwei Fische." (Matth. 14, 17.)
Wußten sie nicht, oder hatten sie ganz vergessen, daß
sie Den bei sich hatten, der das Weltall erschaffen hat
und erhält? Er war bei ihnen in der niedrigen Gestalt
des Jesus von Nazareth. Seine göttliche Herrlichkeit war
dem natürlichen Auge hinter dem Kleide Seiner Menschheit
verborgen. Doch sie hätten besser wissen sollen, wer und
was Er war und wie sie von Seiner Gegenwart und
von Seinen unerschöpflichen Reichtümern Gebrauch machen
konnten. Wenn ihre Herzen die Herrlichkeit Seiner Person
verstanden hätten, so würden sie sicher nicht gefragt haben:
„Woher wird jemand diese hier in der Einöde mit
Brot sättigen können?" Mose hatte Jahrhunderte vorher
in ähnlicher Weise gefragt: „Woher soll ich Fleisch haben,
diesem ganzen Volke zu geben?" (4. Mose 11, 13.) Das
arme, ungläubige Herz schließt stets Gott aus. Hatte
Jehova Mose aufgefordert, Israel Fleisch zu geben? Ach,
nein! Kein Mensch würde dazu imstande gewesen sein;
und ebensowenig hätte ein Geschöpf viertausend Menschen
in einer Einöde speisen können.
Aber Gott war da — Gott, der mit menschlichen
Lippen gesagt hatte: „Ich bin innerlich bewegt über die
Volksmenge." Gott war es, der acht hatte auf die Umstände
eines jeden Einzelnen aus dieser großen Zahl
334
müder und hungriger Leute. Er kannte genau die Länge
des Weges, den jeder gegangen war, und wie lange jeder
gefastet hatte. Er beschäftigte sich mit den etwaigen Folgen-
wenn Er sie ohne Speise entlassen würde. Gott selbst
ließ die rührenden Worte hören: „Wenn ich sie nach
Hause entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden
sie auf dem Wege verschmachten; denn etliche von ihnen
sind von ferne gekommen."
Ja, Gott war da in all der Zärtlichkeit einer Liebe,
welche die geringfügigsten Umstände der Schwachheit und
der Bedürfnisse eines jeden Seiner Geschöpfe in Rechnung
ziehen konnte. Er war da mit Seiner allmächtigen Kraft
und mit Seinen unerschöpflichen Hülfsquellen, um Seine
armen Jünger in den Stand zu setzen, die Gefäße Seiner
Güte und die Kanäle Seiner Gnade zu sein. Und was
hatten sie nötig, um ihren lieblichen Beruf erfüllen zu
können? Sie mußten einfach auf Ihn blicken und zu
Ihm gehen. Sie mußten den einfältigen Glauben bethätigen,
der betreffs aller Dinge auf Gott schaut und
alle seine Quellen in Ihm findet.
So war es für die Jünger, und so ist es für uns.
Wollen wir Kanäle der Gnade Christi sein, so müssen
wir uns mit Christo beschäftigen. Wir müssen von Ihm
lernen, von Ihm uns nähren, mit Ihm Gemeinschaft
pflegen; wir müssen nahe genug bei Ihm sein, um Seine
Gedanken zu kennen und Seine Liebesabsichten zu verstehen.
Wollen wir zeigen, wer Er ist, so müssen wir
Ihn anschauen. Wollen wir Ihn darstellen, so muß Er
durch den Glauben in unsern Herzen wohnen. Denn eines
ist sicher: was in unsern Herzen ist, das wird sich auch
in unserm Leben offenbaren. Wir können viele Wahr-
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Heiken in unserm Kopfe und viele Worte auf unsern Lippen
haben; aber wenn wir wirklich Segenskanäle für
unsre Umgebung sein wollen, so müssen wir selbst uns beständig
an der Liebe Christi erquicken. Auf einem andern
Wege ist es unmöglich. „Wer an mich glaubt, gleichwie
die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme
lebendigen Wassers fließen." (Joh. 7, 38.)
Das ist das große Geheimnis. „Wenn jemanden
dürstet, so komme er zu mir und trinke." Sollen die
Ströme fließen, so müssen wir trinken. Das kann nicht
anders sein. Ach, wenn alle Glieder der Gemeinde Gottes
unter dem Einfluß dieses Grundsatzes ständen, wie ganz
anders würde dann der Zustand der Dinge um uns her
sein! Und worin liegt das Hindernis? Wir verkehren
nicht innig genug mit unserm anbetungswürdigen Herrn
und Heilande. Er wünscht uns zu gebrauchen, gerade so
wie Er damals Seine Jünger gebrauchte. Er sammelte
sie um sich und suchte das Mitleiden, welches Sein eignes
Herz erfüllte, auch in ihre Herzen auszugießen, damit sie zu
fühlen vermöchten wie Er fühlte, und imstande seien, für
Ihn zu arbeiten. Wir dürfen überzeugt sein, daß, wenn
das Herz mit Christo erfüllt ist, auch die Kraft zum
Handeln nicht mangeln wird.
Doch ach! es geht uns wie den Jüngern. Sie
schätzten die Kraft nicht, die in ihrer Mitte war, und
machten keinen Gebrauch von ihr. Sie fragten: „Woher
kann jemand?" während sie hätten sagen sollen: „Wir
haben Christum." Sie sahen an dem Herrn vorbei;
und wie oft thun wir dasselbe! Wir beklagen unsre
Armut, unsre Kälte und Gleichgültigkeit; wir sagen, daß
wir dies oder jenes nicht besitzen; während in Wirklichkeit
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das, was uns mangelt, nur ein Herz ist, welches mit
Christo erfüllt ist, erfüllt mit Seinen Gedanken, mit
Seiner Liebe, Güte und Freundlichkeit — ein Herz, erfüllt
mit Selbstverleugnung und Selbstvergessenheit. Wir
klagen über den Mangel an Hülfsmitteln, während wir
eines guten Herzenszustandes bedürfen; und dieser gute
Herzenszustand hat seine Quelle nur in einem innigen
Umgang mit Christo, in der Gemeinschaft mit Seinen
Gedanken und in dem Trinken Seines Geistes.
Mein Leser! laß uns diese Sache ernstlich zu Herzen
nehmen. Möchte ein jedes Glied am Leibe Christi sich
als einen Kanal gebrauchen lassen, durch welchen Seine
kostbare Gnade sich in Strömen des Lebens ergießen könne
gegen alle, die uns umringen! Möchte ein jeder von
uns ein Strom werden, der dahinstießt in lebendiger
Kraft, auf seinem Laufe Fruchtbarkeit und Frische verbreitend;
nicht aber ein totes, stillstehendes Wasser, daS
ein so treffendes Bild ist von einem Christen, der nicht
in Gemeinschaft mit dem Herrn wandelt!
Ja, Herr, wecke Du selbst unsre Herzen auf und
mache uns geschickt, um unsre erhabene und heilige Berufung
als Kanäle Deiner Gnade zu erfüllen in einer
Welt, die Dich verworfen hat!
„Steige eilend hernieder!"
Man kann den Herrn von hohen Zweigen
Wohl sehn, wie Ihn Zachäus sah;
Doch muß man tief herniedersteigen,
Will man Ihn haben ganz und nah'.
So viele sind, die Ihn nur sehen,
Und nie kehrt Er bei ihnen ein;
Sie wiegen sich auf stolzen Höhen
Und lernen niemals niedrig sein.
Herr, lehr' mich das Herniedersteigen,
Zieh' selbst mich kräftig niederwärts;
Dann kannst Du ganz Dich zu mir neigen
Und Einkehr halten in mein Herz.
Vierzigster Jahrgang.
R. Brockhaus, Elberfeld. 1892