Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1930 | Seite |
Tage der Entscheidung | 1 |
Der Brief an die Rõmer 8. 37. 64. 93. | 8 |
119. 150. 177. 204. 225. 253. 293. 315 | |
Ein Wort über die Himmelfahrt unseres Herrn | 22 |
Jesus Christus. | |
„Der Bogen in den Wolken" | 29 |
Ein Brief Christi. | 50 |
Lichtblick (Gedicht) | 55 |
Fragen aus dem Leserkreise | 56 |
Die wahre Gnade Gottes, in welcher ihr stehet" | 57 |
Die Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi | 78 |
Wie sollte ich? | 83 |
Vertrauen (Gedicht) | 84 |
Gericht und Segen. | 85 |
Aus alten Briefen | 107 |
Ein gereizter Geist. | 113 |
Weil ich lebe, werdet auch ihr leben" | 133 |
Der hebräische Knecht | 141 |
„Es war um die sechste Stunde" | 163 |
Die Macht des Glaubens | 166 |
„Kraft, die in Schwachheit vollbracht wird". | 169 |
Ein eifersüchtiges und heuchlerisches Herz | 190 |
Barnabas. | 197 |
,Alles geschehe anständig und in Ordnung" | 220 |
Vater, die Stunde ist gekommen". | 246 |
Markus | 248 |
Treue im Kleinen (Gedicht) | 252 |
Er liebt und ehrt Dich" | 261 |
Selbstgericht | 268 |
Kein Sohn | 278 |
Sammelt die Brocken!. | 279 |
Einmal wird die Stunde kommen (Gedicht) | 280 |
Der Richterstuhl und der Gläubige. | 281 |
Mensch, wie ist dein Herz bestellt?" | 304 |
Ein Wort Luthers | 208 |
Wer mein Fleisch ist und mein Blut trinkt". | 309 |
Die Macht des Lebens. | 328 |
Bist du zum Leiden auserlesen... (Gedicht). | 332 |
F. u. W. Brockhaus, K.-G., Elberfeld
Inhaltsverzeichnis
Seile
Tage der Entscheidung ......... 1
Der Brief an die Römer 8. 37. 64. 93.
449. 450. 477. 204. 225. 253. 293. 345
Ein Wort über die Himmelfahrt unseres Herrn
Jesus Christus ............ 22
„Der Bogen in den Wolken" ....... 29
Ein Brief Christi........... 50
Lichtblick (Gedicht) .......... 55
Fragen aus dem Leserkreise ... 56. 440. 334
„Die wahre Gnade Gottes, in welcher ihr stehet" 57
Die Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi . 78
Wie sollte ich? ........... 83
Vertrauen (Gedicht) .......... 84
Gericht und Segen ............................................. 85
Aus alten Briefen............................... 407. 495
Ein gereizter Geist............................................................... 443
„Weil ich lebe, werdet auch ihr leben" . . . 433
Der hebräische Knecht ......... 444
„Es war um die sechste Stunde" ..... 463
Die Macht des Glaubens................................... . 466
„Kraft, die in Schwachheit vollbracht wird" . . . 469
Ein eifersüchtiges und heuchlerisches Herz . . . 490
Barnabas................................................................................ 497
„Alles geschehe anständig und in Ordnung" 220.
237. 262
„Vater, die Stunde ist gekommen" ..... 246
Markus......................................................................... 248
Treue im Kleinen (Gedicht)......................................... .252
„Er liebt und ehrt Dich"....................................... 264
Selbstgericht ........................................................................268
Kein Sohn................................................................... 276
Sammelt die Brocken!............................................ . 279
Einmal wird die Stunde kommen (Gedicht) . . 280
Der Richterstuhl und der Gläubige...........................284
„O Mensch, wie ist dein Herz bestellt?" .... 304
Ein Wort Luthers...................................................308
„Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt" . . 309
Die Macht des Lebens.................................................328
Bist du zum Leiden auserlesen... (Gedicht) . . . 332
Tage der Entscheidung
Daö Wort Gottes wird mit geläutertem Silber verglichen,
das, siebenmal gereinigt, zur Erde fließt. (Ps.
l2, 6.) Eö war zu allen Zeiten und in allen Lagen der
untrügliche Führer und freundliche Tröster, zugleich aber
auch der treue Warner und Mahner derer, die eö lesen
und achten. Es ruft unö zu: „Friede dir! fürchte dich
nicht! — Schaue nicht ängstlich umher!" und hinter diesen
Worten steht der allmächtige Gott, der Treue hält
auf ewig. Und es warnt die Sorglosen: „Irret euch nicht!
Gott läßt sich nicht spotten", und mahnt die Gläubigen:
„Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von
der Ungerechtigkeit". Wie könnte es auch anders sein?
Die Botschaft, welche der Apostel Johannes einst von
Gott gehört und uns verkündet hat, lautet:
„Gott ist Licht, und gar keine Finsternis
ist in Ihm". (I. Joh. H 5.)
Der Leser wird sich vielleicht erinnern, daß wir unö
im Beginn des vorigen Jahres ein wenig mit der Treue
der kostbaren Verheißungen Gottes und mit Seiner nie
wankenden Güte und Barmherzigkeit beschäftigt haben;
gedenken wir heute mit einigen Worten der Unwandel-
barkeit und des feierlichen Ernstes Seiner Aussprüche über
das uns geziemende Verhalten, besonders in den Tagen,
in welchen wir leben.
ÜXXVIII
2
Der Apostel Paulus hat diese Tage „schwere Zeiten"
genannt, „denn", so schreibt er an sein Kind Timotheus,
„die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch,
hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar,
heillos, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich,
Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend,
Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen
liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit
haben, deren Kraft aber verleugnen." (2. Tim. Z, 4—5.)
Der Apostel Petrus seinerseits warnt vor „Spöttern, die
in den letzten Tage n mit Spötterei kommen werden,
die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und sagen: Wo
ist die Verheißung Seiner Ankunft? denn seitdem die Väter
entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung
an". (2. Petr. Z, Z. 4.) Und der Apostel Johannes
kennzeichnet die letzteStunde dadurch, daß schon viele
Antichristen da seien, Vorläufer deö Antichristen, des
„Lügners", der da leugnet, daß Jesus der Christus ist,
ja, der den Vater und den Sohn leugnet, (l. Jvh. 2,
48—22.) Und in seinem Brief an die auserwählte Frau
schreibt er: „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen,
die nicht Jesum Christum im Fleische kommend bekennen;
dies ist der Verführer und der Antichrist". (2. Joh.
V. 7.)
Unwillkürlich staunt man über die Genauigkeit des
Bildes, das diese Stellen von unseren Tagen und dem
Zustand der Menschen und Dinge um uns her entwerfen.
Aber wir haben das Wort des lebendigen Gottes vor uns,
in welchem „der Geist Gottes ausdrücklich" zu uns redet.
(4. Tim. 4, 4.) Die Zeit ist da, in der es gilt, zwischen
Christo und dem Antichristen zu wählen. Ist der
— z —
Antichrist, der Sohn des Verderbens, auch noch nicht erschienen,
so wirkt sein Geist doch in erschreckend zunehmendem
Maße in der ganzen Welt. Der Teufel selbst, dessen
Werkzeug er sein wird, bereitet und bahnt ihm den Weg.
Es ist nicht mehr, wie zur Zeit des Apostels, nur „das
Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam", nein, Kundgebungen
unmittelbar antichristischer Bosheit zeigen sich so
unverhüllt und frech (z. B. in Rußland), daß Gläubige,
die das Wort der Prophezeiung nicht genügend kennen,
sich ernstlich fragen, ob der Antichrist doch nicht schon
da sei.
Wir wissen ja, daß er nicht kommen kann, solang
Der, welcher zurückhält, nicht aus dem Wege ist. (2. Thess.
2, Z ff.) Aber wie rasch kann die Verheißung unseres geliebten
Herrn, die Deinigen zu sich zu nehmen, in Erfüllung
gehen, wie bald kann „der Kommende" kommen,
und dann steht der Offenbarung des Antichristen, die jetzt
noch durch die Gegenwart des Heiligen Geistes hienieden
aufgehalten wird, nichts mehr im Wege.
In diesen Tagen fiel mir ein in englischer Sprache
geschriebenes Büchlein *) in die Hand, das mit treffenden
Worten die heutigen Zustände schildert und auch unter
Hinweis auf die nahe Ankunft des Herrn ernste Worte
zu den Gläubigen redet. Ich möchte einige der darin ausgesprochenen
Gedanken hier wiedergeben.
Der Schreiber sagt:
Wenn wir das weite Meer der Menschheit betrachten,
so sehen wir es aufgewühlt durch vulkanische Stürme,
die in und unter ihm wirken. Elementare Kräfte sind
°) von H. Wreford, Exeter.
4
in der ganzen Welt am Werke, und urwüchsiger Barbarismus
droht an die Stelle des geordneten Lebens zu
treten, worauf die Zivilisation Anspruch macht.
Wo liegt die Quelle aller dieser Unruhe? Sie liegt
in der Leugnung des Vaters und des Sohnes.
Der Geist des Antichristen wirkt auf der ganzen
Erde, der Teufel regiert an der Stelle Gottes, und Räte
der Finsternis walten über den Geschicken der Völker.
Diese selbst schauen aus nach dem Übermenschen,
den sie erwarten, während sie dem Gott der ganzen Erde
den Rücken gekehrt haben.
Die gotteslästerliche Gesinnung, die ein ganzes Volk
schon dahin geleitet hat, den Namen Gottes aus allen
seinen Schulen zu verbannen, breitet sich immer weiter
aus. „Wir sind Götter", rufen die Menschen, und dabei
handeln sie wie Teufel. Gott zum Menschen und den Menschen
zu Gott zu machen, das ist der Geist unserer Tage.
Die unumschränkte Herrschaft des Eigenwillens — jeder
tut, was recht ist in seinen Augen — führt zu dem Gespenst
des Bolschewismus, der seinerseits das unmittelbare
Ergebnis des Materialismus unserer Zeit ist. Alle
sittliche Energie scheint in der Welt zusammengebrochen
zu sein, während die in dem natürlichen Menschen schlummernden
Kräfte des Bösen, die bis zu einem gewissen
Grade durch Bildung und Erziehung zurückgedrängt waren,
sich in einer erstaunlichen Mannigfaltigkeit auöwir-
ken, nicht nur in den offenbar Gottlosen, Gottesleugnern
und Lästerern, sondern auch in den Menschen, die unter
irgend einem religiösen Schein „Lehren der Dämonen"
verkündigen, falsche Propheten und Prophetinnen, welche
vorgeben, die Gabe der Heilung und der Prophezeiung
5
zu besitzen, Spiritisten und Okkultisten, Wahrsager und
Wahrsagerinnen, Hellseher, die behaupten, über die Geheimnisse
des Lebens und des Todes Auskunft geben zu
können — bis hin zu Männern, die selbst von den Kanzeln
der Kirchen herab ohne Scheu den Vater und den
Sohn leugnen. Ja, gerade die letztgenannten falschen Zeugen
in christlichein Gewände sind die besten Werkzeuge
in der Hand des Feindes, um die Köpfe der Menschen
durch ihre Spitzfindigkeiten zu verwirren und ihre Herzen
zu vergiften.
Daneben treibt der Kultus des Sozialismus sein
Wesen, eine unaufhaltsam wachsende Macht, welche die
Torheit lehrt und glaubt, daß die Übergabe aller staatlichen
Geschäfte in die Hände einer allmächtigen und got-
tesleugnerischen Bürokratie die äußere Wohlfahrt aller
Staatsbürger verbürge. Man baut seine Lehrsätze auf Umwälzung
und Zerstörung auf und bildet so eine nie endende
Drohung für alle Völker der Erde.
Wir wiederholen: Wo finden alle diese Dinge ihren
Ursprung? In der verzehrenden Unruhe, die in der heutigen
Welt herrscht, einer Welt, die vorsätzlich ohne Gott
und Seinen Sohn auskommen will. „Die Gesetzlosen sind
wie das aufgewühlte Meer, dessen Wasser Schlamm und
Kot aufwühlen." (Vergl. Jes. 57, 20.) Die Welt ist voll
von dem Schlamm und Kot eines ruhelosen und gotteö-
leugnerischen Zeitalters. Die fortgesetzten ernsten Erschütterungen
im gewerblichen Leben, die riesengroß wachsende
Putz- und Vergnügungssucht, verbunden mit schnöder
Mißachtung des Tages des Herrn, sind die traurigen
Früchte des heute herrschenden Materialismus. Alle diese
Dinge führen nicht nur zu der gänzlichen Vernachlässi
6
gung des Wortes Gottes, sondern auch zur Auflösung aller
sittlichen Bande.
Der Premierminister von Frankreich sagte vor einigen
Jahren in dem französischen Senat etwa folgendes:
„Wir haben die Gemüter der Menschen dem religiösen
Glauben entrissen. Dem armen Arbeiter, der früher, müde
von seinem Tagewerk, seine Kniee beugte, haben wir auf
die Füße geholfen. Wir haben ihm gesagt, daß hinter den
Wolken nur Hirngespinste sind. Zugleich haben wir mit
majestätischer Gebärde die Lichter im Himmel ausgelöscht,
um nie wieder angezündet zu werden." — Der Rede
folgte allgemeiner, anhaltender Beifall, und es wurde
beschlossen, sie drucken und allgemein verbreiten zu lassen.
So könnten wir fortfahren und dem Gemälde von
einer Welt, die Gott völlig aus ihren Gedanken entfernen
möchte, noch manchen dunklen Strich beifügen.
Was haben wir Christen nun allem diesem gegenüber
zu tun? Was sind unsere Verantwortlichkeiten und
Gelegenheiten in solchen Tagen der Entscheidung? Gott
helfe uns, mit aller Treue an folgenden sieben Punkten
festzuhalten und unerschütterlich zu glauben an:
t. Gott, den Vater, Gott, den Sohn, und Gott, den
Heiligen Geist.
2. Die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus.
3. Die göttliche Eingebung der Schriften.
4. Die Unsterblichkeit der Seele.
5. Den sühnenden Tod des Herrn Jesus, Seine Auferstehung
und Erhöhung zur Rechten Gottes.
6. Den Sundenfall, die Notwendigkeit der neuen Geburt
und die Rechtfertigung durch Glauben.
7. Die ewige Verdammnis der Gottlosen.
7
Wenn durch Gottes Gnade unsere Seelen auf diesen
göttlichen Grundlagen ruhen, wird Gott uns auch die
Kraft geben, in diesen bösen Tagen für Ihn zu leben und
ein Zeugnis für Seinen geliebten Sohn zu sein.
So weit das englische Büchlein. Wir möchten den
sieben Punkten noch einen achten hinzufügen, nämlich:
Die Wiederkunft und Erscheinung unseres Herrn
und Heilandes Jesus Christus.
Wenn irgend etwas imstande ist, die zagende Seele
über die Umstände zu erheben, vom Bösen abzusondern
und Kraft zum Ausharren zu schenken, so ist es die lebendige
Gewißheit: „Noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen".
Gott kann nicht lügen. Je finsterer die Nacht wird,
desto näher ist der Morgenstern, der mit seinem Glanze
alle Schatten für ewig entfernen und uns in das Licht
des Vaterhauses droben einführen wird.
Und wie bei Seinem „Kommen" Kummer und Seufzer
für immer entfliehen werden, so wird Seine „Erscheinung"
aller Bosheit und Gottlosigkeit ein Ziel setzen und
den Mann einführen, den Gott dazu bestimmt hat, den
Erdkreis zu richten in Gerechtigkeit. (Apstgsch. 1.7, ZI.)
Da wo heute Hochmut und Eigenwille herrschen, Ungerechtigkeit
und Gewalttat das Zepter führen, wo ,)alle
Gedanken des Gesetzlosen sind: Es ist kein Gott!", da
wird binnen kurzem ein Thron aufgerichtet werden, dessen
Grundlagen Gerechtigkeit und Wahrheit sind. Ein König
wird regieren, der den Arm des Gesetzlosen zerbrechen,
den Bedrücker zertreten, der Waise Recht schaffen und des
Armen sich erbarmen wird. (Ps. 10; 72.)
8
Und nun zum Schluß: Wird das begonnene Jahr
uns die Erfüllung unserer Hoffnung bringen? Wir wissen
es nicht. Wir wissen aber, daß „die Nacht weit vorgerückt
und der Tag nahe ist". Laßt uns denn der Ermahnung
des Apostels folgen und, mit Ausharren nach
unserem geliebten Herrn ausschauend, „die Werke der
Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anziehen"!
(Röm. 73, st st—74.)
Ich komme bald!
So hast Du's einst gelobet,
Und wird das Herz im Harren auch erprobet,
Du hältst getreulich, was Dein Mund verspricht,
Du kommst gewiß!
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel 7, 12—30
Doch wir sind dem Gang unseres Kapitels vorausgeeilt.
Kehren wir zu den Versen 7—Ist zurück: An die
ernste Ablehnung des Gedankens, daß das Gesetz Sünde
sei, knüpft der Apostel die Worte: „Aber die Sünde hätte
ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der
Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt
hätte: „Laß dich nicht gelüsten"." So ist gerade die Vortrefflichkeit
des Gesetzes verhängnisvoll für den Sünder.
Schon im Z. Kapitel hatte der Apostel gesagt: „Durch
Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde". (V. 20.) Hier:
Die Sünde hätte ich nicht erkannt, von der Lust nichts
gewußt, wenn nicht das Gesetz mir die Augen darüber
geöffnet hätte. Durch das Gesetz werden Sünde und Lust
in ihrem wahren Charakter erwiesen und erkannt.
y
Die Sünde wird hier gleichsam personifiziert. Sie
erscheint als eine im Fleische wohnende Macht, die Gott
und Seinem Gesetz feindlich gegenübersteht. Sie wirkt,
und zwar gerade das, was das Gesetz verbietet und weil
es dasselbe verbietet. Die Lust ist die im Fleische aufsteigende
Neigung oder Begierde. Da es sich hier nicht
darum handelt, die Schuld des Menschen festzustellen,
sondern seine böse, widerspenstige Natur ans Licht zu
bringen, wählt wohl der Heilige Geist das letzte Gebot:
„Du sollst nicht begehren", oder: „Laß dich nicht gelüsten"
als das am meisten geeignete, um das Vorhandensein
jenes bösen Grundsatzes, der Sünde im Menschen,
zu beweisen. Denn „ohne Gesetz ist die Sünde tot", aber
„durch das Gebot Anlaß nehmend, bewirkte sie jede Lust
in mir". (V. 8.) Das Gesetz hat nicht nur die Pflichten
des Menschen Gott und seinem Nächsten gegenüber festgestellt,
sondern ihm auch durch die Forderung: „Laß dich
nicht gelüste,:" einen untrüglichen Prüfstein für seinen
Zustand in die Hand gegeben. Vor dem Gesetz war die
Sünde da, aber sie war tot. Solang ein Mensch nichts
tat, was sein natürliches Gewissen ihm verbot, hatte er
kein Bewußtsein von ihr, kannte auch den Urteilöspruch
des Todes nicht. Ebensowenig wußte er etwas von dem
Vorhandensein der Lust in seinem Innern. Erst durch Gesetz
lernte er ihr Vorhandensein und das Verdammliche
der Begierden seines Herzens kennen; zugleich aber erfuhr
er auch, daß gerade das Gebot das leidenschaftliche Begehren
in ihm weckte, das Verbotene zu tun, mit anderen
Worten, daß seine Natur böse und eine Quelle des
Bösen ist.
Wir verstehen jetzt auch die weiteren Worte des Apo
10
stels: „Ich aber — d. i. der Mensch in seinem natürlichen
Zustande — lebte einst ohne Gesetz; als aber das
Gebot kam, lebte die Sünde auf". (V. 9.) Anstatt dem
Menschen Kraft zu geben, die Lust zu unterdrücken, das
Fleisch zu verbessern, deckte das Gesetz nur sein völliges
Verderben auf. Was der Mensch bedarf, ist eine neue
Natur und ein ihn völlig umwandelnder Gegenstand,
aber das Gesetz gibt weder die eine, noch offenbart
sie den anderen. Die Gnade tut beides in Christo.
„Ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben
gegeben, dasselbe erwies sich mir zum Tode." (V. 10.)
Das Gesetz sagte: „Wer diese Dinge getan hat, wird durch
sie leben". (Vergl. Gal. Z, 12.) Da ich sie nicht getan
habe, im Gegenteil, das Gebot erst recht die Lust in mir
geweckt hat, den Begierden meines Fleisches zu folgen, so
hat sich das Gesetz für mich als ein Werkzeug des Todes
erwiesen. Es hat gerechterweise Tod und Verdammnis
über mich gebracht, und mein aufgewachtes Gewissen kann
sein Urteil nur bestätigen. „Ich aber starb."
Welch ein Ergebnis! Wer trägt die Schuld daran?
Das Gesetz? Nein, sondern „die Sünde, durch das
Gebot Anlaßnehmend, tauschte mich und tötete mich
durch dasselbe". (V. 11.) So ist das Gesetz wohl, wie
vorhin gesagt, ein Werkzeug des Todes für mich geworden,
aber der Anlaß, die Ursach e von allem ist die in
mir wohnende Sünde. Sie brachte mir durch das Gesetz
den Tod.
Diesen Gedanken führt der Apostel vom 12. Verse
bis zum Schluß des Kapitels noch weiter aus, indem er
an den praktischen Erfahrungen eines wohl bekehrten,
aber noch nicht befreiten Menschen, der das Gute will
— u —
und das Böse haßt, in ergreifender Weise zeigt, wie das
Gesetz sich in Wirklichkeit dem Menschen zum Tode erweist,
aber auch wie Gottes Gnade ihm Erlösung und
Befreiung bringt.
„So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig
und gerecht und gut." (V. 42.) Das Gesetz steht völlig
gerechtfertigt da, alle seine Gebote sind heilig und gut.
Nicht an ihm liegt es, wenn es nichts zur Vollendung
bringen kann, sondern an der Natur des Menschen, an
die es sich wendet.
„Gereichte nun das Gute mir zum Tode? Das sei
ferne! sondern die Sünde, auf daß sie als Sünde erschiene,
indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte,
auf daß die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot."
(V. 43.) Immer wieder erhebt die Torheit des
Menschen ihre Fragen. Nein, der Zweck des Gesetzes war
nicht, mich zu töten, so gerecht sein Urteilsspruch über mich
lauten mag. Es bezweckte etwas ganz anderes. Wir hörten
schon in Kap. 5, 20, daß es „daneben einkam, auf
daß die Übertretung überströmend würde", hier: auf
daß die Sünde in ihrem vollen Charakter offenbar würde,
daß sie „als Sünde" erschiene, ja, „überaus sündig
würde" durch das Gebot; denn an und für sich böse, wird
sie durch das Tun des Verbotenen zu unmittelbarem U n -
gehorsam: überaus sündig. Beachten wir immer wieder,
daß es sich hier nicht handelt um Tatsünden, sondern
um die Sünde als solche, die als ein feststehender Grundsatz
in uns wirkt.
Die schmerzliche Wahrheit des Gesagten beweist der
Apostel an den vom 44. Verse an beschriebenen praktischen
Erfahrungen eines erneuerten Menschen, die ihn zu
— 12 —
der niederschmetternden Erkenntnis führen, daß in ihm,
d. i. in seinem Fleische, „nichts Gutes wohnt".
(V. 18.) Er beschreibt diese Erfahrungen so, wie sie sich
ihm darstellen als einem Manne, der, selbst völlig frei,
mit Ruhe die Kämpfe einer unter Gesetz stehenden Seele
betrachtet, und der diese Kämpfe richtig beurteilen kann,
weil er, von Gott belehrt, weiß, was „Gesetz", „Sünde"
und „Fleisch" ist. Er beginnt mit den Worten: „Denn
wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft". (V. 14.)
Von vornherein sei hier auf den großen Unterschied
zwischen den Ausdrücken: „Wir wissen" und „ich bin"
hingewiesen. Das erste ist, kurz gesagt, allgemeine christliche
Erkenntnis, das zweite persönliche Erfahrung.
Wir, d. i. alle Christen, wissen mit Paulus,
daß das Gesetz geistlich ist. Aber was sagt die Erfahrung
des einzelnen dazu? Es heißt in unserer Stelle nicht:
„Wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, und daß wir
fleischlich sind", oder: „wir aber sind fleischlich", sondern:
„ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft".
Die einzelne Seele, die sich unter das Gesetz stellt, und
zwar nicht nur unter seine unmittelbaren Gebote, sondern
auch unter seine Verurteilung der Quellen des
Bösen im Herzen, eine solche Seele wird zu der bitteren
Erkenntnis geführt, daß sie, obwohl sie die Sünde haßt
und Gottes Gesetz liebt, gleich einem Sklaven „unter die
Sünde verkauft ist". Das Gesetz ist geistlich, ich aber bin
fleischlich; das Gesetz fordert mich auf: „Laß dich nicht
gelüsten!" und ich liege in solch einer Sklaverei der Sünde,
daß das Gebot nur die böse Lust in mir weckt. Welch
unversöhnliche Gegensätze! Die Seele erkennt sie rückhalt
— rz —
los an. Was sie dahin bringt, sind die Erfahrungen, die
sie auf dem in den Versen 75—23 beschriebenen Wege
macht.
„Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn
nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das
übe ich aus." (V. 75.) Die Enttäuschung ist groß. Anstatt
nach der erfolgten Umkehr Erleichterung, Frieden
und Freude zu finden, muß der Arme entdecken, daß in
ihm eine Macht wirkt, von der er sich nicht befreien kann,
und die ihn hindert, das Gute, das er tun möchte, zu vollbringen.
Er stimmt „dem Gesetz bei, daß es recht ist"
(V. 76), indem es das Gute fordert und den verurteilt,
der das Böse tut. Aber Ms nützt ihm diese Erkenntnis,
was hilft's, daß er dem Guten beistimmt, wenn er das
Gegenteil tut? Sein Wille ist zwar erneuert, er liebt
das Gute und macht die größten Anstrengungen, es zu
tun, aber er muß erfahren, daß er keine Kraft dazu
hat, daß vielmehr die Sünde über ihn herrscht. Er möchte
auch die Forderungen des Gesetzes keineswegs schwächen
oder einschränken, sie sind ja gerecht, heilig und gut, aber
er steht ihnen kraftlos gegenüber. Der Fehler liegt
nicht in dem Gesetz, sondern in der Sünde des Menschen.
Nun ist es freilich wahr: wenn ich nach meinem
neuen Menschen das Gute anerkenne und auch gern tun
möchte, so „vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern
die in mir wohnende Sünde" (V. 77); aber was für ein
Trost liegt für mich darin? Diese Erkenntnis beweist ja
gerade die Größe der Sklaverei, in welcher ich mich befinde:
wenn ich auch selbst das Böse nicht mehr ausübe,
sondern die in mir wohnende Sünde, so lasse ich
mich doch gegen meinen Willen von ihr gebrauchen und
14
vermag mich nicht von ihrer Gewalt freizumachen. Obwohl
ich erkenne und bekenne, daß die Sünde überaus
böse und häßlich ist, bin ich ihr doch völlig unterworfen.
Ich möchte gern Gott dienen und setze alle meine
Kräfte ein, um dieses Ziel zu erreichen; aber alle meine
guten Vorsätze und Bemühungen scheitern an der unwiderstehlichen
Macht der Sünde, die mich in ihren Banden
hält. Je aufrichtiger ich es meine, und je ernster meine
Anstrengungen sind, umso klarer tritt mein trostloser Zustand
ans Licht, umso greller zeigt sich die Häßlichkeit
der Sünde und mein hoffnungsloses Verkauftsein unter
ihre Macht.
So komme ich auf Grund meiner Erfahrungen zu
einem klaren, aber erschreckenden Bewußtsein: „Ich
weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische (als von
Adam stammend), nichts Gutes wohn t". Denn obwohl
ein ernstes, aufrichtiges Wollen bei mir vorhanden
ist, „finde ich das Vollbringen dessen, was recht ist, nicht".
Der Wille ist, wie schon mehrfach gesagt, da, aber die
Kraft fehlt. „Denn das Gute, das ich will, übe ich
nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses
tue ich." (V. 18. Id.) Wenn das aber so ist, „wenn
ich dieses, was i ch nicht will, ausübe, so vollbringe nicht
mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde".
(V. 20.) Das im 17. Verse bereits Gesagte hat seine
volle Bestätigung gefunden. Der Gläubige hat auf dem
Wege der Erfahrung, außer der Wahrheit, daß nichts
Gutes in ihm wohnt, und daß er ohne Kraft ist, das
Gute zu tun, gelernt, daß er unterscheiden muß zwischen
sich als dem erneuerten Menschen, der das Gute will, und
der in ihm wohnenden Sünde; mit anderen Worten, daß
15
es zwei Naturen in ihm gibt, zwei „Ich". Zunächst
ist da ein fleischliches „Ich", das unter die Sünde verkauft
ist, und dann ein zweites „Ich", das nicht sein
Fleisch ist, sondern der erneuerte innere Mensch, der die
Sünde haßt. Damit ist er zugleich zu der Erkenntnis gekommen,
daß nicht dieses zweite „Ich" das Böse tut,
sondern die in ihm wohnende Sünde *). Die kostbare Wahrheit,
daß er mit Christo gestorben, daß das erste „Ich"
am Kreuze unter das Urteil des Todes gebracht worden
ist, nicht kennend oder doch nicht verstehend, hat der Gläubige,
in der Hoffnung, doch noch irgend etwas Gutes in
seinem Fleische zu finden, nur an Gesetz und an sich
selbst gedacht. Die Wörtlein „ich, mir, mich" kommen in
den Versen 7—24 etwa vierzigmal vor, während der
Name Christi im 25. Verse zum erstenmal genannt wird.
*) Wenn in unserer Stelle von diesem zweiten „Ich" die Rede
ist, so ist es im Grundtext besonders hervorgchoben, deshalb in der
deutschen Übersetzung gesperrt gedruckt. (Vergl. V. 17 u. rv.)
Es ist eine große Sache, so schmerzlich es anderseits
ist, zu lernen, was das eigene Ich ist, was es heißt, als
ein Mensch, der gar keine Kraft besitzt, unter Gesetz zu
stehen, und so endlich dahin zu kommen, von dem elenden
alten Ich abzublicken, alle eigenen Anstrengungen aufzugeben
und das Auge allein auf Christum zu richten. Das
ist der gesegnete Prozeß, durch den in der letzten Hälfte
unseres Kapitels der Gläubige geführt wird, in welchem
aber leider, leider so viele teure Kinder Gottes Zeit ihres
Lebens stecken bleiben und deshalb nie zu wahrer Freiheit
und ungestörtem Frieden gelangen. Frieden zu finden auf
dem Wege eines allmählichen Fortschritts, sodaß man
schließlich mit sich selbst zufrieden sein kann, istunmög -
rs
lich. Nein, nicht Zufriedenheit mit sich selbst, sondern die
Entdeckung, daß man der Befreiung durch das Werk
eines anderen bedarf, ist daö Endergebnis des Prozesses.
Glücklich die Seele, die sich dahin führen läßt!
An die Stelle der größten Not, ja, einer hoffnungslosen
Verzweiflung tritt selige Ruhe, Freude und jubelnder Dank.
Doch wir müssen uns noch ein wenig eingehender
mit dem Inhalt der Verse 2t—23 beschäftigen. „Also
finde ich daö Gesetz für mich, der ich das Rechte ausüben
will, daß das Böse bei mir vorhanden ist. Denn ich habe
Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren
Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz (ein Gesetz von
anderer Art) in meinen Gliedern." Über die verschiedene
Bedeutung oder Anwendung des Wortes „Gesetz" haben
wir im Anfang unseres Kapitels schon ausführlich geredet,
sodaß wir wohl nicht noch einmal darauf zurückzukommen
brauchen. Der Gläubige ist also auf dem Wege der Erfahrung
zu der Erkenntnis gelangt, daß er unter einem
Grundsatz, einer Regel oder Norm steht, die unausweichbar
bestimmend für ihn ist, der nämlich, daß bei ihm,
der das Gute tun will, das Böse vorhanden ist, dem er
trotz aller Kraftanstrengung nicht entrinnen kann. Er hat
Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes und an Seinen heiligen
Geboten, ist auch fest entschlossen, sie zu tun, aber
er sieht in seinen Gliedern einanderes Gesetz, das dem
Gesetz seines (erneuerten) Sinnes widerstreitet und ihn
in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde,
das in seinen Gliedern ist. (V. 23.)
Immer wieder finden wir bestätigt, daß unser Kapitel
nicht von der Schuld frage redet, sondern von der
Sünde als Grundsatz oder Macht, sowie von dem völli
— 17 —
gen Mangel an Kraft, ihr zu widerstehen. Zugleich aber
auch, daß wir nicht einen Menschen in der Finsternis
seines natürlichen Zustandes vor uns haben, sondern eine
erneuerte Seele, die mit aller Kraft kämpft, um den Sieg
über das Böse zu erringen, aber sehen muß, daß alles in
hilfloser „Gefangenschaft" für sie endet. (V. 23.) Sie
muß erkennen, daß in den Gliedern des Menschen, trotzdem
er wiedergeboren ist, eine Macht wirkt, ,der er nicht
zu widerstehen vermag, so sehr er sie haßt und sich von
ihren Einflüssen freizumachen sucht. Trotzdem macht sie
Fortschritte, wenn auch die Finsternis um sie her immer
dichter zu werden scheint. Mit dem Heißerwerden deü
Kampfes wächst die innere Erkenntnis, und das Licht
dämmert. Aber wie immer, so geht auch hier dem Anbruch
des Tages das tiefste Dunkel voraus.
Völlig zu Boden geworfen, keinen Ausweg mehr
sehend, macht der Mensch seiner Seelenqual endlich Lust
in dem Schrei: „Ich elender Mensch! wer wird
mich retten von diesem Leibe des Todes?" (V. 24.)
Die Wortstellung im Grundtext gibt hier dem Worte
„Mensch" besonderen Nachdruck. Der elende Zustand des
Menschen ist der Seele zum Bewußtsein gekommen.
Trotz der Erneuerung seines Willens und der Erkenntnis
dessen, was er nach dem Gesetz sein sollte, ist der Gläubige
doch nur ein Mensch, das ist ein gefallenes Wesen,
mit bösen Lüsten und Begierden, unter die Sünde
verkauft und ohne jegliche Kraft, das Böse zu überwinden!
Der Ausdruck: „dieser Leib des Todes" kennzeichnet
treffend den hilf- und hoffnungslosen Zustand, in
welchem er sich befindet. Aber wenn die Gnade — denn
sie ist es, die sich mit dem Armen hier beschäftigt, ohne
18
daß er es ahnt — ihn zu der klaren Erkenntnis dessen gebracht
hat, was er ist, überläßt sie ihn nicht sich selbst, sondern
vollendet ihr Werk, indem sie seinen Blick von seiner
Person ab auf Gott richtet und ihm den Retter
zeigt, nach welchem er verzweiflungsvoll ausschaut.
„Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren
Herrn!" So kommt es mit einemmale über die
Lippen des eben noch mit Angst und Schrecken Erfüllten.
Wie ist diese wunderbare Wandlung bewirkt worden?
Durch die einfache, aber so wichtige Tatsache, daß der
Mensch nicht mehr auf das blickt, was er für Gott
i st, und darin Befriedigung sucht, sondern daß sein Auge
sich auf das richtet, was Gott für ihn ist, und was
Er für ihn ist durch Jesum Christum! Wie durch
einen Schlag ist damit alles verändert. Nicht daß der
Gläubige jetzt wäre, was er gern sein möchte, oder daß
fortan jeder Kampf für ihn aufhörte. Keineswegs! Aber
anstatt, wie bisher, mit sich selbst beschäftigt zu sein,
beschäftigt er sich jetzt mit Gott und — dankt!
Wir möchten noch einmal sagen: Welch eine Wandlung!
Und wie unmittelbar ist sie erfolgt! Das Herz ist
auf die göttliche Liebe hingelenkt, die den eingeborenen
Sohn für solch elende Wesen dahingab und die Quelle
der Befreiung für sie wurde, der Blick auf daö Werk gerichtet,
welches die Befreiung vollbracht hat, und damit aus
Ihn, den Befreier selbst. Hat der Mensch früher gefragt:
Wie kann ich mich bessern? Was kann ich tun, um Gott
zu befriedigen und Ruhe für meine Seele zu finden?
so lautet jetzt seine Frage: Wer wird mich, den Elenden,
Kraftlosen, retten? Wer mich befreien von
diesem Leibe des Todes? Jusammenbrechend unter der
19
furchtbaren Last der Entdeckung, daß trotz alles Seufzens,
Betens, Flehens und Ringens nur Fehler über Fehler,
Enttäuschung über Enttäuschung sein Teil waren, gibt
er endlich sich selbst als hoffnungslos böse auf und erkennt
in Christo Den, der nicht nur seine Schuld getragen hat,
sondern auch sein Erretter geworden ist aus dem furchtbaren
Todeszustand, in welchem er lag.
Es ist in der Tat eine Rettung, Dessen würdig,
der sie vollbracht hat. Aber ist mit ihr das Fleisch in dem
Gläubigen verändert oder gar aus ihm entfernt? Trägt
er die beiden Naturen, von denen wir hörten, nicht mehr
in sich? Es wäre eine verhängnisvolle Täuschung, so etwas
zu denken, und der Geist Gottes hat Sorge getragen,
uns vor ihr zu bewahren, mdem Er den Apostel
sogleich die Worte hinzufügen läßt: „Also nun diene ich
selbst mit dem Sinne Gottes Gesetz, mit dem Fleische
aber der Sünde Gesetz". (V. 25.) Das will selbstverständlich
nicht sagen, daß diese beiden Dienste bei dem Gläubigen
nun stets nebeneinander herlaufen sollen, daß das
sein regelrechter Zustand wäre, sondern vielmehr daß die
beiden Naturen mit ihren entsprechenden charakteristischen
Neigungen nach wie vor bei ihm vorhanden sind und in
ihm bleiben werden bis ans Ende. Im Himmel werden
wir die alte Natur (das Fleisch) nicht mehr an uns tragen,
wir werden auf immer und ewig von ihr befreit
sein; aber solang wir noch in diesem Leibe sind, geht sie
mit uns, und so oft wir ihr zu wirken erlauben, „dienen
wir mit dem Fleische der Sünde Gesetz". Gott sei gepriesen,
daß wir in Christo heute schon von ihrer Macht befreit
sind und als gestorben mit Ihm nicht länger unter
Gesetz stehen! Ja, daß wir mit Petrus sagen können: „Die
20
vergangene Zeit ist uns genug, den Willen der Nationen
vollbracht zu haben"; was wir wünschen, ist, die im Fleische
noch übrige Zeit dem Willen Gottes zu leben. (Vergl.
r. Petr. 4, r—z.)
Da wo göttliches Leben wirkt, kann es nicht anders
sein. Das Verlangen der neuen Natur, ihr sehnliches Begehren
geht dahin, Gottes Gesetz zu dienen, Seinen Willen
zu tun. Und wie schön: das ist es, was der Gläubige
jetzt als sein eigentliches Ich anerkennt und anerkennen
darf! „Also nun diene ich selbst mit dem Sinne Gottes
Gesetz." Freilich, der Kampf hört nicht auf. Eö wird
immer wahr bleiben, daß „das Fleisch wider den Geist
gelüstet, und der Geist wider das Fleisch, und daß diese
einander entgegengesetzt sind"; wenn wir aber im Geiste
wandeln, werden wir die Erfahrung machen dürfen, daß
wir die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Statt der
traurigen Werke des Fleisches wird die liebliche Frucht des
Geistes hervorkommen zur Ehre Gottes. Denn „wenn
ihr durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht
unter Gese tz", d. h. nicht in dem traurigen Zustand,
der in Röm. 7 beschrieben wird; und: „die des Christus
sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften
und Lüsten". (Vergl. Gal. 5, tb—25.)
Von der Kraft, die den Gläubigen nunmehr befähigt,
mit seinem Sinne Gottes Gesetz zu dienen, ist in dem
Schlußverse unseres Kapitels indes keine Rede. Er macht
uns nur mit der Befreiung der Seele aus dem Zustande,
in welchem sie lag, bekannt, und beschreibt den völlig veränderten
Boden, auf welchen sie durch die Gnade gekommen
ist, sowie den Charakter und die Gesinnung der neuen
Natur in ihr.
— 2t —
Rufen wir uns zum Schluß noch einmal kurz die
Wahrheiten ins Gedächtnis, die wir in diesem interessanten
7. Kapitel gelernt haben:
7. Die Befreiung vom Gesetz durch den Tod.
(V. t-6.)
2. Die Erkenntnis der Sünde durch das Gesetz.
(V. 7-73.)
3. Den Zustand und die Erfahrungen einer erneuerten,
aber noch nicht befreiten Seele unter Gesetz auf ihrem
Wege zur Befreiung.
In Verbindung mit Punkt drei haben wir dann noch
drei andere wichtige Dinge gelernt:
7. Daß in unserem Fleische nichts Gutes wohnt;
2. daß wir unterscheiden müssen zwischen uns selbst,
die wir das Gute wollen, und der in uns wohnenden
Sünde;
3. daß es in uns, solang wir die Befreiung in Christo
nicht im Glauben erfaßt haben, keine Kraft gibt, um die
Sünde im Fleische zu überwinden, daß wir vielmehr immer
wieder durch sie überwunden werden.
Wir können als viertes, obwohl es eigentlich schon in
der letztgenannten Wahrheit enthalten ist, noch hinzufügen,
daß wir selbst uns nicht aus diesem elenden Zustand
befreien konnten, sondern durch einen anderen b e -
freit werden mußten.
(Fortsetzung folgt)
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand
untertan.
Ein Christenmenfch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und
jedermann untertan.
Martin Luther
22
Ein Vstort über die Himmelfahrt
unseres Herrn Aesus Christus
Der Evangelist Matthäus, der uns in besonderer
Weise den Herrn Jesus als den Messias vor Augen
stellt, erwähnt die Himmelfahrt gar nicht, sondern schließt
sein Evangelium mit dem Gespräch, das der Herr wohl
nicht lange vorher mit Seinen Jüngern gehabt hat. Wir
finden hier den von Seinem Volke verschmähten und in
Jerusalem gekreuzigten Messias auch nach Seiner Auferstehung
in Galiläa, bei den Geringen der Herde, und
von hier aus sendet Er die Jünger hinaus, um die Botschaft
von neuen, mit dem Namen des Vaters, des Sohnes
und des Heiligen Geistes verbundenen Wegen Gottes
allen Völkern der Erde zu verkündigen. Nicht die Himmelfahrt
Christi schließt das Evangelium des Matthäus,
sondern die Verheißung: „Siehe, ich bin bei euch alle
Tage bis zur Vollendung des Zeitalters".
Markus, der unter der Leitung des Heiligen Geistes
das Bild des vollkommenen Dieners und Propheten
Gottes entworfen hat, berichtet: „Der Herr nun
wurde, nachdem Er mit ihnen geredet hatte, in den Himmel
ausgenommen, und setzte sich zur Rechten Gottes. Jene
aber gingen aus und predigten allenthalben, indem der
Herr mitwirkte und das Wort bestätigte durch die darauf
folgenden Zeichen."
Lukas, der in solch wunderbarer Weise die imMen-
schensohne erschienene Gnade Gottes schildert und zugleich
der Schreiber der Apostelgeschichte ist, gibt uns zwei
Berichte über die Himmelfahrt des Herrn. In seinem
Evangelium erzählt er: „Er führte sie aber hinaus bis
23
nach Bethanien und hob Seine Hände auf und segnete
sie. Und es geschah, indem Er sie segnete, schied Er von
ihnen und wurde hinaufgetragen in den Himmel. Und sic
warfen sich vor Ihm nieder und kehrten nach Jerusalem
zurück mit großer Freude; und sie waren allezeit im Tem
pel, Gott lobend und preisend."
In der Apostelgeschichte lesen wir, nachdem der Herr
Seinen Jüngern das baldige Kommen des Heiligen Geistes
angekündigt und sie zu Seinen Zeugen „bis an das
Ende der Erde" verordnet hatte: „Und als Er dies gesagt
hatte, wurde Er emporgehoben, indem sie es sahen, und
eine Wolke nahm Ihn aus von ihren Augen hinweg. Und
als sie unverwandt gen Himmel schauten, als Er auffuhr,
siehe, da standen zwei Männer in weißem Kleide
bei ihnen, welche auch sprachen: Männer von Galiläa, was
stehet ihr und sehet hinauf gen Himmel? Dieser Jesus,
der von euch weg in den Himmel ausgenommen worden
ist, wird also kommen, wie ihr Ihn habt hingehen sehen
in den Himmel. Da kehrten sie nach Jerusalem zurück von
dem Berge, welcher Olberg heißt."
Johannes gibt uns, wie Matthäus, auch keinen Bericht
über die Himmelfahrt, aber aus einem anderen Grunde.
Der Heilige Geist hat Johannes dazu benutzt, den
Herrn Jesus als den Sohn Gottes vor unsere Blicke
zu stellen, als das Fleisch gewordene Wort, das unter
uns gewohnt hat, dessen Herrlichkeit angeschaut werden
konnte als die Herrlichkeit eines „Eingeborenen vom Vater".
Als solcher hatte der Herr gleichsam nicht nötig,
in den Himmel aufzufahren. Der eingeborene Sohn, der
in des Vaters Schoß ist, war stets dort, auch wenn Er
in Knechtsgestalt hienieden wandelte.
24
Indem wir nun noch etwas näher aus die Mitteilungen
der drei Evangelisten eingehen, erfahren wir zunächst
aus dem Bericht des Lukas, daß der Berg, von
welchem aus der Herr Jesus in den Himmel fuhr, der
Ölberg war, der, nur einen Sabbathweg von Jerusalem
entfernt, nahe bei Bethanien lag, dem Orte der Martha
und Maria und ihres Bruders Lazarus. Auch hieraus
geht klar hervor, daß die Erzählung des Matthäus sich
auf eine frühere Zusammenkunft des Herrn mit Seinen
Jüngern bezieht, auf welche auch Markus hindeutet (Kap.
44, 28; 46, 7), und die auf einem Berge in Galiläa stattfand,
einige Tagereisen vom Ölberg entfernt. Das Gespräch,
das der Herr hier mit Seinen Jüngern hatte,
enthält zunächst die Mitteilung, daß Ihm, dem „von dem
Volke Verachteten", alle Gewalt im Himmel und auf
Erden gegeben worden ist, eine Gewalt, die Er zum Wohl
und zur Bewahrung der Seinen verwenden will, bis alle
Ratschlüsse Gottes im Blick auf diese Erde zur Vollendung
gekommen sind. Im Anschluß an diese Mitteilung
erfolgt dann der Auftrag an die Jünger, nunmehr der
ganzen Welt die gute Botschaft zu verkündigen, daß Er das
Erlösungswerk vollbracht habe, kraft dessen nicht nur die
verlorenen Schafe aus dem Hause Israel, sondern alle,
die Buße tun und von Herzen an Ihn glauben würden,
errettet werden können. Hatte der auf Erden lebende Messias
ihnen früher geboten, nur zu Israel, nicht einmal
zu den Samaritern, zu gehen, so sandte der Auferstandene,
mit aller Gewalt Gekrönte sie jetzt über die Grenzen
Israels hinaus zu allen Völkern der Erde.
Die Jünger, zu denen der Herr sprach, haben diesen
Auftrag allerdings nur teilweise erfüllt, indem sie meist
25
nur zu Juden redeten; aber das Gebot des Herrn erfüllte
sich dennoch, vor allem durch den großen Apostel der
Nationen, der insbesondere zu den Nationen gesandt wurde,
„ihre Augen auszutun, auf daß sie sich bekehrten von
der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans
zu Gott, auf daß sie Vergebung der Sünden empfingen
und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an Jesum
geheiligt sind". (Vergl. Apstgsch. 2t, t8.)
Wie der Herr sich im Dienst Seiner Knechte stets
als Der geoffenbart hat, dem alle Gewalt im Himmel
und auf Erden gegeben ist, davon berichtet die Apostelgeschichte.
Welche Wunder und Zeichen geschahen durch die
Apostel in dem Namen Jesu, und wie wunderbar errettete
der Herr Seine Diener aus so mannigfachen Gefahren
und Versuchungen! Und dieser starke Herr ist der Jesus,
den wir heute kennen, unveränderlich „derselbe gestern
und heute und in Ewigkeit".
Der Bericht des Evangelisten Markus unterscheidet
sich von dem des Lukas nicht nur durch eine bemerkenswerte
Kürze, sondern vor allem durch die Hinzufügung
der Worte: „und Er setzte sich zur Rechten Gottes". Jesus
ist hier der Diener, der die Stätte Seines Dienstes
verläßt und sich nach vollendeter Arbeit zur Rechten
Dessen niedersetzt, der Ihn gesandt hat. Er, der sagen
konnte: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du
mir gegeben hast, daß ich es tun sollte", geht als der vollkommene
Diener gleichsam ein in die Ruhe Seines Herrn.
Aber um fortan untätig zu sein? Nein, Markus berichtet
weiter, daß die Jünger ausgingen und allenthalben predigten,
„indem der Herr mitwirkte und das Wort
bestätigt e". Der treue, nie ermüdende Diener Gottes
2b
während Seines Lebens hienieden setzt Seinen Dienst fort,
trotzdem Er zur Rechten aller Majestät und Gewalt droben
thront.
Der Bericht des Evangelisten Lukas versetzt uns nach
Bethanien, an den Ort, wo die vom Herrn so innig geliebte
Familie wohnte, in deren Hause Er so oft nach
mühsamem Dienst eine Ruhestätte gefunden hatte. Dorthin
führte Er Seine Jünger zum letztenmal, und, mit
segnenden Händen von ihnen scheidend, wurde Er in den
Himmel hinaufgetragen. Der Mensch vom Himmel, der
letzte Adam, der den Tod zunichte gemacht und den Fluch,
deir der erste Mensch über sich und die ganze Schöpfung
gebracht, in Segen umgewandelt hatte, kehrte in den Himmel
zurück, um dort für alle die Seinigen eine Stätte zu
bereiten und dann wiederzukommen. Ist es ein Wunder,
daß die Jünger mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehrten,
um dort, im Tempel allezeit Gott lobend und
preisend, die Erfüllung der Verheißung des Vaters ab-
zuwartcn, das Kommen des anderen Sachwalters, der
bei und in ihnen bleiben sollte in Ewigkeit?
In der Apostelgeschichte folgt der Bericht über die
Himmelfahrt auf die Frage der Jünger: „Herr, stellst du
in dieser Zeit dem Israel das Reich wieder her?", und
so steht auch die Verheißung Seiner Wiederkehr offenbar
mehr in Verbindung mit der Aufrichtung des Reiches, der
Wiederherstellung aller Dinge und der Regierung des
Herrn über alle Völker und Sprachen und Zungen, als
mit Seinem Kommen zur Heimholung Seiner Braut.
Es handelt sich hier um Seine Wiederkehr in mehr allgemeinem
Sinne, nicht eigentlich um die himmlische Seite
derselben.
27
Wir haben gesehen, welch einen tiefen und gesegneten
Eindruck die Auffahrt des Herrn auf Herz und Gewissen
der Augenzeugen machte, und wir tun gut, uns zu fragen,
welchen Eindruck sie auf uns macht. Die Jünger warfen
sich vor dem Herrn nieder, kehrten dann nach Jerusalem
zurück mit großer Freude, priesen Gott und verharrten
einmütig im Gebet. (Apstgsch. 1, 74.) Wie ist es mit
uns? Wir waren ja nicht bei der Himmelfahrt gegenwärtig,
aber sind wir nicht mehr unterrichtet über die Bedeutung
dieses Ereignisses und über die Folgen des Hingangs
des Herrn zum Vater, als die Jünger eö damals waren?
Der Heilige Geist hat uns durch die Apostel Dinge
geoffenbart über die Person unseres aufgefahrenen Herrn
und unsere Beziehungen zu dem droben Verherrlichten,
welche die Engel damals noch nicht mitteilen konnten.
Wir wissen heute, daß Er, obwohl zur Rechten Gottes
thronend, stets unser gedenkt und uns vor Gott vertritt;
daß Er als unser gerechter Sachwalter und treuer, bann-
herziger Hohepriester die Stellung eines im Heiligtum
für uns Dienenden einnimmt, und daß wir nur Ihm es
verdanken, wenn wir wohlbehalten durch diese gefahrvolle,
böse Welt hindurchkommen. Wir kennen Ihn ferner als
das verherrlichte Haupt Seines Leibes, der Versammlung,
und wissen: „Wie der Himmlische, so sind auch die Himmlischen".
(7. Kor. 15, 48.) Wir haben nicht nur die herrliche
Verheißung, daß Er wiederkommen und uns zu sich
nehmen wird, auf daß da, wo Er ist, auch wir seien, sondern
wissen auch, daß wir dann Ihm gleich sein werden,
indem wir Ihn sehen werden, wie Er ist. Wir erwarten
Ihn als den glänzenden Morgenstern, der dem Tage und
dem Aufgehen der Sonne der Gerechtigkeit vorangeht.
28
Von diesem Kommen für Sein himmlisches Volk reden,
wie bereits gesagt, die Engel nicht, sondern vielmehr von
Seiner Rückkehr auf die Erde, von Seiner Erscheinung
für Sein irdisches Volk. So wie Er vom Ölberg aus
gen Himmel gefahren ist, so wird Er auch dahin zurückkehren
— „Seine Füße werden an jenem Tage auf dem
Ölberg stehen" (Sach. 44, 4) —, und zwar um Seine
königliche Herrschaft über Sein irdisches Volk und über
alle Nationen anzutreten. Jur Heimholung Seiner himmlischen
Braut kommt der Herr bekanntlich nur bis in die
Wolken. Die Braut wird Ihm „in Wolken" entgegengerückt
werden in die Luft. Hier findet die Begegnung
statt, und von hier aus erfolgt die gemeinsame Himmelfahrt.
(4. Thess. 4.)
Immerhin wird der Herr Jesus auch für uns so
wiederkommcn, wie die Jünger Ihn damals haben auffahren
sehen, d. i. durchaus persönlich, als der verklärte
Heiland, als der Erstling der Entschlafenen, der
Erstgeborene aus den Toten, als der teure, geliebte Herr.
Wie vertraulich sprach Er vor Seiner Auffahrt noch mit
Seinen Jüngern! Welch eine Ruhe, welch ein Friede ruhte
auf dem Ganzen, welch eine Freude kennzeichnete es! Da
war nichts Unklares oder Ungewisses, nichts Übereiltes.
Alles war Leben und Sieg. So wird es auch bei Seiner
Wiederkehr sein, sei es um uns heimzuholen, oder um
Sein Reich aufzurichten. Der einst am Kreuze in schwerem
Kampfe überwunden hat, wird vor aller Augen in
Seiner Herrlichkeit erglänzen. Und dann werden wir Ihn
schauen von Angesicht zu Angesicht, mit Ihm aus- und
eingehen, mit Ihm reden von Mund zu Mund!
„Ser Bogen in den Dolken"
sLies i. Mose y, 12-16)
Wie verschiedenartig wirken die gleichen Dinge.auf die
Gemüter der Menschen! Die mit Gott wandeln erblicken
Gott überall, während die Ungläubigen Ihn nirgendwo
sehen. Die einen vernehmen Gottes Reden in
Seiner Schöpfung wie in Seiner Vorsehung, aber vor
den Augen der anderen mögen die größten Wunder der
Natur sich entfalten, die auffallendsten Führungen der
göttlichen Vorsehung sich abspielen, die Hand des Herrn
erkennen sie nicht darin.
So betrachten z. B. viele immer wieder staunend
den Regenbogen am Himmel, aber sie fragen nie danach,
wer ihn dorthin gesetzt hat und was er bedeutet. Entzückt
beobachten sie, wie er aus schwachen Umriffen sich allmählich
zu dem herrlichen Bogen entwickelt, dessen Farbenpracht
kein Maler nachzuahmen vermag, aber weiter gehen
ihre Gedanken nicht.
Anders ist es mit dem Gläubigen. Für ihn ist der
Regenbogen mehr als eine großartige Naturerscheinung.
Er ist für ihn das Zeichen eines Bundes. Der Bogen
redet zu ihm von der Treue Gottes, der seit Jahrtausenden
der Erde Seinen Bund gehalten hat, und mahnt ihn,
eines anderen Bundes zu gedenken, des Gnadenbundes,
dessen Grundlagen am Kreuz gelegt wurden, und der am
Ende der Tage den beiden Häusern Israel errichtet werden
wird. (Hebr. 8, 8—r3.) Der Anblick des Bogens
t,XXVIII 2
— ZV —
in den Wolken erfüllt das Herz des Glaubenden heute mit
Vertrauen. Der Gott, der den Regenbogen zum Zeichen
Seines Bundes an den Himmel gesetzt hat, istsein Gott
und Vater in Christo, der Seiner Verheißung, ihn, solang
er hienieden weilt, zu bewahren und zu leiten, treu bleiben
und W, nach vollendetem Erdenlauf, für iinmer zu sich
in die Herrlichkeit droben aufnehmen wird.
Gott vergißt Seines Bundes mit der Erde nicht, solang
sie nach Seinem Ratschluß bestehen soll. Darum,
wenn Er Seinen Thron, den Er in Jerusalem errichtet
hatte, wegen der Bosheit Israels aufgeben, wenn Seine
Herrlichkeit'aus dem Heiligtum verschwinden und in den
Himmel zurückkehren mußte, war sie von dem Regenbogen
begleitet. (Hes. l, 28.) Das will sagen: Mochte
die Erde damals auch aufhören, der Wohnplatz Gottes
zu sein, und Gott nicht mehr in unmittelbarer Weise über
sie regieren, so blieb sie doch ein Gegenstand Seines wohlwollenden
Gedenkens. Selbst wenn wir in Offenb. 4 den
Thron Gottes, aus welchem dann Blitze und Stimmen
und Donner hervorgehen, im Himmel erblicken, wenn die
furchtbaren Endgerichte über diese Erde und ihre Bewohner
ergehen sollen, erscheint der Regenbogen wieder, und
zwar rings um den Thron. Ja, mehr noch: Wenn
im 10. Kapitel ein starker Engel, das Bild des Herrn
selbst, aus dem Himmel herniederkommt und „keine
Frist mehr sein wird", zeigt sich der Regenbogen noch
einmal. Wohl ist der Engel mit einer Wolke, dem Sinnbild
des Gerichts, bekleidet, aber auf Seinem Haupte
strahlt der Regenbogen.
Aus Gnaden hat Gott einst den Regenbogen zu
einem Zeichen gemacht, um dem Menschen alle Furcht
zu nehmen und ihm ein Gefühl der Sicherheit zu geben.
Die furchtbarste Umwälzung, von welcher die Erde je heimgesucht
worden ist, hatte stattgefunden, eine gewaltige
Wasserflut hatte alles Lebendige vernichtet. „Alles starb,
in dessen Nase ein Odem des Lebenshauches war, von
allem, was auf dem Trockenen war. Und vertilgt wurde
alles Bestehende, das auf der Fläche des Erdbodens war,
vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm und bis
zum Gevögel des Himmels; und sie wurden vertilgt von
der Erde. Und nur Noah blieb übrig und was mit ihm
in der Arche war." (Kap. 7, 22. 23.)
Noah und die Seinen hatten die unheimlichen Fluten
Tag für Tag steigen sehen. Unaufhaltsam waren sie aus
den Tälern und Gründen an den Bergen hinangestiegen,
höher und höher, bis sie schließlich die höchsten Gipfel,
die unter dem Himmel sind, fünfzehn Ellen hoch bedeckten.
Als dann, nach Verlauf von fünf Monaten, die Wasser
wieder geschwunden waren und das trockene Land sichtbar
wurde, da lag das grauenvolle Ergebnis der Katastrophe
vor den Augen der aus der Arche Tretenden. Wohin
ihre Blicke sich richteten, nichts wie Tod und Verwüstung
begegnete ihnen. Mit welcher Sorge mögen sie
in die Zukunft geschaut haben! Konnte das, was soeben
geschehen war, sich nicht wiederholen? Was stand im Wege,
wenn die Menschen wieder sündigten, daß ein neues, ähnliches
Gericht die Erde traf? Und die nächste Flut konnte
auch sie dahinraffen. Wir können uns gut vorstellen, daß
der erste Regenguß, so nötig und erfrischend er sein mochte,
ihre Herzen mit Sorge erfüllt hat; möglicherweise war er
ja der Anfang zu einer neuen Flut!
Dieser Furcht begegnete Gott durch eine Verheißung.
32
„Ich errichte meinen Bund mit euch; und nicht mehr soll
alles Fleisch ausgerottet werden durch die Wasser der Flut,
und keine Flut soll mehr sein, die Erde zu verderben."
(V. U.) Und damit diese Verheißung dem Gedächtnis
der Menschen nicht entschwinde, gab Er ihnen den Regenbogen,
der sie, so oft sie ihn erblicken würden, an den
Bund erinnern und sie der gewissen Erfüllung desselben
versichern sollte.
Es ist nach t. Mose 2, 6 mehr als wahrscheinlich,
daß es vor der Flut auf Erden nicht geregnet hat, sodaß
der Regenbogen erst nach derselben zu dem besonderen
Zweck gebildet worden ist, um als Bundeözeichen zwischen
Gott und der Erde zu dienen. Das Tun Gottes war in
diesem Falle also außergewöhnlich. Im allgemeinen bedient
Er sich zur Ausführung Seiner Absichten gewöhnlicher
Mittel, schon vorhandener Dinge. Wenn daher Gläubige
inbrünstig um diese oder jene Sache zu Gott beten, so geschieht
in Erhörung ihres Flehens selten ein Wunder. Gott
benutzt vielmehr die alltäglichen Geschehnisse und ordnet
sie so, daß sie den Betenden zum Guten mitwirken. Ihre
Umgebung sieht vielleicht nichts Besonderes in dem, was
geschieht, sie aber erkennen, daß nicht durch Zufall oder
menschliche Kraft und Weisheit, sondern durch die Fügung
Gottes das gewünschte Ziel erreicht wird, wenn auch
oft in ganz anderer Weise, als sie dachten oder erwarteten.
So darf der Christ täglich die Treue Gottes zu seinen
Gunsten erfahren. Und indem alle Dinge ihm zum Guten
mitwirken, hat er das Vorrecht, in vielen anscheinend
geringen Umständen Gnadenzeichen zu erblicken, die ihm
beweisen, wie Gott um sein Wohl besorgt ist. Wäre unser
Leben mehr ein Leben des Glaubens, so würden wir
33
viel öfter in ganz gewöhnlichen Umständen Zeichen entdecken,
die uns an die Liebe und Treue des Herrn erinnern
und uns versichern sollen, daß Er zu Seinem Worte
steht und uns nicht versäumen noch verlassen kann.
Der Regenbogen-Bund, wenn wir ihn so nennen
dürfen, wurde mit der Erde und allen ihren Bewohnern
geschlossen. Er wird ein „ewiger Bund" genannt „zwischen
Gott und jedem lebendigen Wesen von allem Fleische,
das auf Erden ist". (V. ^b.) Das will sagen: er soll
nie gebrochen werden; solang die Erde besteht, will Gott
Seines feierlichen Versprechens gedenken, daß nie wieder
eine Flut kommen soll, um sie zu verderben.
Der allumfassende Charakter dieses Bundes erinnert
uns unwillkürlich an die weltumspannende Weite des
Evangeliums der Gnade. Das Evangelium ist heute für
alle da. Wohl gibt es viele, die seinem Angebot gegenüber
taub sind, viele, auf die es ebensowenig Eindruck
macht wie seinerzeit die Worte Gottes auf die unvernünftigen
Tiere, die Noah umgaben. Aber gleichwohl ergeht
das Angebot an alle. Niemand ist von den Segnungen
der Gnade ausgeschlossen als nur die, welche durch Unglauben
und Verstocktheit sich selbst davon ausschließen.
Die Stimme Gottes im Evangelium erklingt in allen Ländern
und Jungen, Vergebung dem Sünder, Ruhe dem
Müden, Rettung dem Verlorenen anbietend. „He! ihr
Durstigen alle, kommet zu den Wassern; und die ihr
kein Geld habt, kommet, kaufet ein und esset, ja, kommet,
kaufet ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und Milch!"
(Jes. SS, r.)
Der Regenbogen wurde in den Wolken gesehen. „Und
es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe.
34
so soll der Bogen in den Wolken erscheinen." (V. 44.)
Ohne Regen kann es keinen Regenbogen geben, und je
dichter und dunkler die Wolken sind, umso klarer erscheint
der Bogen.
Wenn die Seele am meisten des Trostes bedarf, ist
er ihr auch am nächsten. Hangen dunkle Trübsalswolken
über uns, und sind wir im Begriff, der Verzagtheit Raum
zu geben, dann sind Gottes Verheißungen am köstlichsten.
Viele dieser Verheißungen gelten ja doch vornehmlich
denen, die durch Trübsal gehen, geradeso wie der Regenbogen
am Himmel nur dann zu sehen ist, „wenn Gott
Wolken über die Erde führt". Ium Beispiel: „Wenn du
durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme,
sie werden dich nicht überfluten". Oder: „Wer in Finsternis
wandelt und welchem kein Licht glänzt, vertraue
auf den Namen Jehovas und stütze sich auf seinen Gott".
(Jes. 43, 2; 50, 40.)
Diese Worte gelten dem Gläubigen, aber, wenn auch
in anderem Sinne, nicht minder dem Sünder. Solang ein
Mensch kein Bewußtsein von Schuld und Sünde hat und
weder Reue noch Furcht ihn bewegen, hat er keinen Blick
für die Zeichen Gottes, kein Verlangen nach der errettenden
Gnade. Erst wenn sein Gewissen berührt ist und er
sich in der Gegenwart Gottes als schuldig und verloren
erkennt, wenn sozusagen eine undurchdringliche, schwarze
Wolke zwischen ihm und Gott hängt, ist er fähig und bereit,
der guten Botschaft von der in Christo geoffenbarten
Liebe Gottes zu lauschen. Bis dahin hatte das Kreuz Christi
keine Bedeutung für ihn; jetzt erblickt er in ihm seine
einzige Hoffnung. Gerade die Wolke läßt ihn das Zeichen
der Gnade erblicken.
Mr sagten vorhin, daß Gottes Verheißungen und
Trostworte zunächst den Gläubigen gelten. Darum, mein
lieber gläubiger Leser, wenn wolkenschwere Tage über dich
kommen, wenn du durch Tiefen der Trübsal gehst, so
blicke zu Dem auf, der dem Betrübten so viele kostbare und
untrügliche Verheißungen gegeben hat, und du wirst gerade
in deiner Trübsal ein Zeichen der Liebe Gottes entdecken.
Schaue aus nach den ermunternden Zeichen väterlicher
Sorge und zärtlicher Liebe, und du wirst erfahren,
daß gerade der dunkelste Tag sie dir am hellsten und
klarsten erscheinen läßt. Selbst wenn Schuldbewußtsein
dich zu Boden drücken sollte, schlage keinen anderen Weg
ein! Sage dem Vater was dich drückt, bekenne Ihm aufrichtig
und reumütig deine Schuld, und Er wird um Christi
willen dir vergeben und dich reinigen von aller Ungerechtigkeit.
Sage Ihm alles und glaube, daß Er auf Grund
des am Kreuzesstamm vollbrachten Sühnungswerkes nicht
nurgnädig, sondern gerechtist, wenn Er deine Übertretung
zudeckt und dir die Ungerechtigkeit nicht zurechnet.
Aber sieh auch wohl zu, daß „kein Trug" in deinem
Geist ist! Dann wirst du Frieden und Freude haben in
deiner Seele. (Ps. 32, r. 2.)
Zum Schluß noch eins. Wir lesen in Vers ltz unseres
Kapitels: „Und der Bogen wird in den Wolken
sein; und ich werde ihn ansehen, um zu gedenken des ewigen
Bundes zwischen Gott und jedem lebendigen Wesen
von allem Fleische, das auf Erden ist". Bedarf Gott denn
eines Zeichens, um an das, was einmal aus Seinem Munde
hervorgegangen ist, erinnert zu werden? Keineswegs. Der
Allmächtige redet hier gleichsam nach Menschenweise. W i r
können vergessen. Er niemals. Aber Er verspricht hier,
36
indem Er sich unseren menschlichen Begriffen anpaßt, immer
wieder auf dasselbe Zeichen zu schauen, durch dessen
Anblick der Mensch beständig an die Worte Gottes erinnert
wird.
Und Er hat Seines Bundes mit der Erde gedacht.
Tausende von Jahren sind vergangen, seitdem derselbe
errichtet wurde. Große Erschütterungen haben stattgefunden,
gewaltige Gerichte und Heimsuchungen aller Art sind
über das trotzige Menschengeschlecht dahingegangen. Aber
keine Flut hat die Erde wieder zerstört — nicht weil die
Sünde nicht groß genug gewesen wäre; ach! wenn „des
Menschen Bosheit groß war auf Erden" vor der Flut,
so ist sie sicherlich n a ch ihr groß gewesen. Es hat Zeiten
gegeben, — und ist es heute anders? — in denen die
Gottlosigkeit überhand zu nehmen und die Furcht des
Herrn gänzlich von der Erde zu verschwinden drohte; aber
wegen des Bundes, den der Herr mit allem Fleische gemacht
hat, ist keine Flut mehr gekommen. Gott hat auf
das Zeichen geblickt und wird darauf blicken, bis der Tag
kommt, „an welchem die Himmel vergehen werden
mit gewaltigem Geräusch, die Elemente aber imBrande
werden aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr
verbrannt werden".
Doch was erwarten wir? „Wir erwarten aber,
nach Seiner Verheißung, neue Himmel und
eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt." Vor
uns liegt der „Tag Gottes", der „Tag der Ewig-
k e i t", dessen Sonne nie wieder untergehen wird. Welch
e sollten wir in dieser Erwartung nun sein in heiligem
Wandel und in Gottseligkeit! (2. Petr. 3, ro—18.)
37
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitels, i—11
„Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in
Christo Jesu sind." (V. 4.) Mit diesen triumphierenden
Worten beginnt der Apostel daö 8. Kapitel seines Briefes.
Es ist gleichsam der Schlußstrich, den er jubelnden Herzens
unter seine Ausführungen setzt, das herrliche Ergebnis
aus den Belehrungen der drei vorhergehenden Kapitel.
KeineVerdammnis mehr für alle, die in Christo
Jesu sind! Welch ein Wort! Der Apostel redet nicht von
etwas, das erst nach und nach erlangt werden kann, von
einer Sache, auf die nur treue oder gereiftere Christen Anspruch
machen dürfen, sondern von einer Tatsache,
die sich auf alle erstreckt, die an diesen Platz der Annahme
„in Christo Jesu" gebracht sind. Sie ist in ihrer unbedingten
Form einigen Abschreibern der neutestamentlichen
Handschriften so unfaßlich erschienen, daß einer den
Schluß des 4. Verses: „die nicht nach dem Fleische, sondern
nach dem Geiste wandeln", zunächst wohl nur als
eine vermeintlich heilsame Einschränkung heraufgenommen
und neben den Text geschrieben hat, während spätere Abschreiber
ihn dann in den Text selbst eingeschoben haben.
(Vergl. die Übersetzung von M. Luther.) Aber Gott sei gepriesen!
Sein Heil ist bedingungslos, die Befreiung
von jedem Verdammungsurteil steht fest für alle, die
„in Christo Jesu sind". Ich brauche kaum hinzuzufügen,
daß dadurch die Pflicht eines jeden Gläubigen, in unermüdlicher
Wachsamkeit und ernstem Selbstgericht zu
wandeln, in keiner Weise berührt wird; aber es ist ein
38
verhängnisvoller Fehler, ja, im Grunde eine große Anmaßung,
wenn man die Sicherheit dieser Stellung in
Christo von dem Wandel und der Gesinnung des Gläubigen
abhängig macht.
Wie diese kostbare Stellung erreicht wurde, ist uns
bekannt. Die Sünde im Fleische, die uns unter das Urteil
des Todes und der Verdammnis brachte, ist in Christo
ein für allemal gerichtet worden. Alle, die in Christo Jesu
sind, wurden am Kreuze „mit Ihm einsgemacht in der
Gleichheit Seines Todes" (Kap. 6, s), sind mit Ihm
gekreuzigt, mit Ihm gestorben; darum kann es keine Verdammnis
mehr für sie geben. Was an Christo geschehen
ist, ist an ihnen geschehen. So unmöglich es für den auferstandenen
Christus eine Verdammnis geben kann, so
unmöglich auch für die, welche in Ihm sind. Immer wieder
begegnen wir derselben großen Wahrheit, daß am
Kreuze neben der Tilgung aller Sünden der Gläubigen
auch die Sünde im Fleische, die ihnen so viel Not
und Qual bereitet, gerichtet wurde. Sie sind nicht mehr
Menschen in dem ersten Adam, sondern stehen jetzt vor
Gott als „Menschen in Christo"; sie sind,'wie wir gleich
nachher hören werden, „im Geiste", nicht mehr „im Fleische".
Das ist der Platz, welchen die Gnade ihnen gegeben
hat, eine Stellung, die wohl ernste, heilige Pflichten
für sie mit sich bringt, aber in keiner Weise von dem Grade
ihrer Erkenntnis oder der Höhe ihres Wandels abhängt.
Der Gläubige wandelt treu, nicht um diese Stellung
zu erlangen, sondern weil er in ihr steht.
„Denn", so lesen wir weiter, „das Gesetz des Geistes
des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht von
dcm Gesetz der Sünde und des Todes." (V. 2.) Wieder
begegnen wir dem Worte „Gesetz" in dem uns aus dem
7. Kapitel bereits bekannten Sinne, als einem Grundsatz,
der unabänderlich in der gleichen Weise wirkt und seinem
Ziele zustrebt. (Vergl. auch die Ausdrücke „Gesetz der
Werke" und „Gesetz des Glaubens" in Kap. Z, 27.)
Der Ausdruck „Gesetz des Geistes des Lebens m Christo
Jesu" weist wohl hin aus das immer gleiche, mächtige
Wirken des Geistes des Lebens in unserem geliebten Herrn,
der nach vollendetem Werke als Sieger über Tod und
Grab in der Mitte Seiner Jünger erschien, um ihnen
dieses Leben und den Geist als Quelle und Kraft desselben
— „Leben in Überfluß" (Joh. 10, 10) — mitzu
teilen.
Ähnlich nun wie in Christo dieses Gesetz gewirkt
hat, bildete in uns „das Gesetz der Sünde und des Todes"
den alles beherrschenden Grundsatz, dem wir nicht zu
entrinnen vermochten. Das vorige Kapitel, hat uns den
armseligen Zustand und die völlige Hilflosigkeit, worin
wir waren, zur Genüge gezeigt. Erst als der Mensch, von
dem wir dort lesen, aufhörte, die in ihm wohnende Sünde
durch gesetzliche Anstrengungen zu besiegen, und sich rückhaltlos
der Gerechtigkeit Gottes unterwarf, trat die Befreiung
ein. Doch beachten wir, daß dieser Wahrheit hier
nicht in einer alle Gläubigen umfassenden Form, als
einer für alle in gleicher Weise gültigen Regel, Ausdruck
gegeben wird, sondern daß der Apostel noch einmal, und
zwar zum letztenmal in dieser Abhandlung, sich der persönlichen
Form bedient. Nach dem Inhalt des 1. Verses
würden wir hier statt des „mich" ein „sie" oder ein „unö"
erwarten, wie im 4. Verse. Aber obwohl das „Keine Verdammnis
mehr" allen Christen gemeinsam gehört, heißt
40
es im 2. Verse: „Denn das Gesetz des Geistes ... hat
mich freigemacht von dem Gesetz usw."; daö will sagen:
obwohl der 2. Vers unlöslich mit dem Inhalt des ersten
verbunden ist, handelt es sich hier doch um eine Sache der
persönlichen Erfahrung, zu der wohl für alle die
Grundlage gelegt ist, die allen bekannt sein sollte, die
aber vielfach nicht verstanden und infolge dieses mangelhaften
Verständnisses, leider auch oft infolge von Untreue,
nicht praktisch verwirklicht wird.
Es ist in der Tat etwas unsagbar Großes, dem
Apostel nachsprechen zu können: „Denn das Gesetz des
Geistes des Lebens in Christo Jesu hat m i ch freigemacht"
— nicht „wird mich freimachen", sondern „hat mich
freigemach t", um fortan nicht mehr „dem Gesetz der
Sünde und des Todes" unterworfen zu sein, sondern in
der glückseligen Freiheit eines aus schweren Banden Erlösten
dem Herrn zu dienen in der Kraft des Heiligen
Geistes, als ein Mensch „in Christo". Unwillkürlich möchte
der Schreiber für sich und alle seine gläubigen Leser dem
Wunsche Ausdruck geben, daß wir den Inhalt unseres Verses
nicht nur als eine Sache kennen, die in Christo für
uns alle zur Wahrheit geworden ist, sondern daß wir auch
in praktischer Verwirklichung derselben das Fleisch in uns
im Tode halten und so beweisen, daß wir wirklich von
seiner Herrschaft freigemacht sind.
Die Grundlage von allem ist, wie schon so oft betont,
der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Dieses
herrliche Erlösungswerk wird im Z. Verse noch einmal der
ganzen Kraftlosigkeit des Gesetzes vom Sinai gegenübergestellt.
„Denn daö dem Gesetz Unmögliche, weil es durch
das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er, Seinen eige
— 41. —
nen Sohn in Gleichgestalt des. Fleisches der Sünde und
für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte."
Die völlige Unzulänglichkeit des Gesetzes, helfen zu können,
ist uns im 7. Kapitel in erschreckender Deutlichkeit
vor die Augen getreten. Das Gesetz konnte fordern, verurteilen,
verfluchen, aber nicht retten. Nun, was das
Gesetz nicht zu tun vermochte, das hat Gott getan. Er
ist ins Mittel getreten, indem Er Seinen eingeborenen
Sohn sandte, um die Frage der Sünde zu ordnen. Um
das aber tun zu können, mußte Christus'als ein wahrhaftiger
Mensch, nicht nur einem Menschen ähnlich,
nein, als ein Mensch in Fleisch und Blut, vom Weibe geboren,
selbst ohne Sünde, rein und heilig, aber in Gleichgestalt
des sündigen Fleisches, auf dieser Erde erscheinen.
Und das ist geschehen. „Das Wort ward Fleisch."
„Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum
Christum geworden."
Und nicht nur mußte Christus so erscheinen und
auf Seinem ganzen Wege hinsichtlich Seiner Vollkommenheit
als Mensch erprobt werden — die Frage der
Sünde konnte nur imTode entschieden, die Sünde selbst
nur durch ein heiliges Sündopfer entfernt werden.
Das sündlose, heilige Leben unseres Herrn konnte uns
nicht retten; es zeigte uns nur die ganze Größe unseres
traurigen, hoffnungslosen Zustandes. Das Weizenkorn
mußte in die Erde fallen und sterben; anders wäre es
auf ewig allein geblieben. (Joh. 42, 24.) So lesen wir
denn auch in Hebr. 9, 26, daß Er einmal in der Vollendung
der Zeitalter geoffenbart worden ist zur Abschaf-
fung der Sünde durch Sein Opfer. Einen anderen
Weg, die Sünde Hinwegzutun, gab es nicht. Aber
42
diesen Weg hat Gott betreten und so die anders unlösliche
Frage zu Seiner eigenen ewigen Verherrlichung gelöst. Die
Sünde im Fleische ist nach Wurzel und Zweig gerichtet,
mit dem alten Zustand ist für immer ein Ende gemacht
worden, und der Gläubige, von der Macht und Herrschaft
der in ihm wohnenden Sünde freigemacht, ist nun nicht
mehr gezwungen, „nach dem Fleische" zu leben, sondern
darf und soll „nach dem Geiste wandeln". (V. 4.) Die
Sünde ist freilich noch i n ihm, aber sie kann kein Gericht
mehr über ihn bringen, weil sie in Christo bereits gerichtet
ist; zugleich bezeugt der Gläubige dadurch, daß er selbst sie
in sich richtet, daß er mit Gott und nicht mit ihr eins ist.
Das Vorhandensein der Sünde in ihm an und für
sich kann ihn also nicht beunruhigen, noch ihn verhindern,
mit Gott in innigster Verbindung zu sein; erst wenn er
der Sünde zu wirken erlaubt und nach dem Fleische zu
wandeln beginnt, wird die praktische Gemeinschaft mit
dem heiligen Gott unterbrochen und bleibt es so lang, bis
er seine Sünde aufrichtig bekennt, und der Vater ihm
nach Seiner Treue und Gerechtigkeit wieder vergibt und
ihn von aller Ungerechtigkeit reinigt. (1. Joh. 1, y.)
Die Möglichkeit zu fehlen hat also nichts mit der
Stellungdes Gläubigen vor Gott zu tun. So schmerzlich
und demütigend es ist, wenn ein Christ sündigt, und
so ernst die daraus hervorgehenden Folgen sein mögen,
beides berührt nicht die Frage seiner Erlösung. Er ist
„in Christo", und weil er in Ihm ist, kann es ebensowenig
eine Verdammnis, ein Gericht für ihn geben, wie
für Christum selbst; in dem Auferstandenen befindet er
sich jenseit der Macht Satans, jenseit der Stätte, wo
das Fleisch für den Glauben im Gericht beseitigt worden
43
ist und der alte Mensch sein Ende gefunden hat. Als mit
Christo gekreuzigt, lebt nicht mehr er, sondern Christus
lebt in ihm. (Gal. 2, 20.)
Es ist höchst interessant, die Beziehung zu sehen,
in welcher die drei ersten Verse unseres Kapitels zu den
drei vorhergehenden Kapiteln des Briefes stehen. Belehrte
unö die erste Hälfte des 5. Kapitels über die Tatsache,
daß wir als aus Glauben Gerechtfertigte Vergebung der
Sünden, Frieden mit Gott usw. haben, so sagt uns
der erste Vers des 8. Kapitels, indem er noch einen bedeutsamen
Schritt weitergeht, daß wir in Christo Jesu
sind und als solche nicht nur keinen Zorn mehr zu fürchten
haben, sondern daß es überhaupt keine Verdammnis mehr
für unö gibt. Hörten wir dann weiter von dem sündigen
Zu stand, in welchem wir uns als Nachkommen des
ersten Adam befanden, und von der Herrschaft der Sünde
über uns, die in dem Tode Christi gebrochen worden ist
(Kap. 6), so lesen wir hier im 2. Verse, daß das Gesetz
des Geistes des Lebens in Christo Jesu mich freigemacht
hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Machte
uns endlich das 7. Kapitel mit den Erfahrungen eines
Menschen bekannt, der, die Gerechtigkeit Gottes nicht kennend,
eine gesetzliche Gerechtigkeit aufzurichten trachtet, so
weist uns der 3. Vers unseres Kapitels auf die Tatsache
hin, daß Gott das dem Gesetz Unmögliche durch die Sendung
Seines geliebten Sohnes pollbracht hat, indem der
Hochgelobte sich nicht nur mit den Früchten des faulen
Baumes beschäftigte, um es uns dann zu überlassen,
mit dem Baume selbst vor Gott fertig zu werden, sondern
indem Er für den ganzen Zustand eintrat, in welchem
wir uns von Natur befanden: der Baum ist ge
44
richtet, die Sünde im Fleische ist verurteilt und
für den Glaubenden auf immerdar aus Gottes Auge entfernt.
Fürwahr, der Gläubige darf jetzt getrost sein Haupt
erheben, aber er darf und soll auch den Trieben und Wirkungen
der in ihn gepflanzten neuen Natur, des Geistes
des Lebens in Christo Jesu, durch Gottes Gnade folgen.
Der 4. VerS leitet zu diesem praktischen Ergebnis über.
Indem der Christ weiß und im Glauben verwirklicht, daß
er in einer neuen Natur vor Gott steht, ist das neue „Ich"
in ihm frei (mag auch das alte Ich immer wieder seine
feindlichen Einflüsse geltend machen wollen), nach dem
Geiste und nicht mehr nach dem Fleische zu wandeln. Und
in demselben Maße, wie er das tut und die Ergebnisse des
Todes und der Auferstehung Jesu Christi in seinem Leben
zur Darstellung kommen läßt, wird das Recht (d. i.
die gcrc ste Forderung) des Gesetzes in ihm erfüllt. (V. 4.)
Solang ein Mensch praktisch unter Gesetz steht und sich
abmüht, das Fleisch zu bessern und die von ihm als gerecht
anerkannt:n Forderungen des Gesetzes zu erfüllen,
erlebt er nur bittere Enttäuschungen. Wenn aber die Seele
die Fülle der Gnade erkannt hat, die ihr in dem gestorbenen
und auferstandencn Heiland erschlossen ist, und ihr
Blick nun von dem armen alten Ich ab auf Christum
sich richtet, so erfüllt sie in der Kraft des Heiligen
Geistes nicht nur die Forderungen des Gesetzes Gott und
dem Nächsten gegenüber, sondern sie geht noch über dieselben
hinaus: der Gläubige vermag sich Gott darzustellen
als ein Lebender aus den Toten, seine Feinde
zu lieben, die ihm fluchen zu segnen usw. Der Charakter
Gottes, wenn auch selbstverständlich immer nur ganz
45
unvollkommen, kommt durch die Gnade in ihm zur Darstellung.
Gott selbst wird gesehen, oder, mit anderen Worten,
nicht nur das, was ein Mensch sein sollte, sondern
was Christus, der Mensch Gottes, hienieden war.
Sein Bild wird, wenn auch schwach und mangelhaft, in
ihn: gestaltet.
Im Anschluß an die letzten Worte des 4. Verses
entwickeln die nächsten vier Verse (5—8) noch näher den
Gegensatz zwischen den Menschen, die nach dem Fleische,
und denen, die nach dem Geiste wandeln. In beiden Fällen
ist eine Natur wirksam, die ihre besonderen Neigungen und
Ziele hat. „Denn die, welche nach dem Fleische sind, sinnen
auf das, was des Fleisches ist; die aber, welche nach
dem Geiste sind, auf das, was des Geistes ist." (V. 5.)
Es handelt sich hier nicht um ein größeres oder kleineres
Maß von Früchten, sondern um die grundsätzliche G e -
sinnung der beiden Naturen: jede sinnt auf das, was
ihr eigen ist, was sie (Fleisch oder Geist) kennzeichnet, und
liebt und haßt dementsprechend. Die neuen Grundsätze und
Kräfte, die in den Christen wirken, werden denen aller
anderen Menschen gegenübergestellt. Der natürliche
Mensch, die von Gott abgefallene und Ihm entfremdete
Natur, ist „nach dem Fleische" und folgt dessen bösen
Regungen und Lüsten; der Christ oder die ihm geschenkte
neue Natur ist „nach dem Geiste", unter dessen Einflüssen
er steht, ja, der in ihm wohnt. Eine völlig neue
Gesinnung ist in dem Gläubigen geweckt, die Gesinnung
einer Natur, die aus dem Geiste geboren ist und das
sucht, was des Geistes ist — eine heilige Natur, die
das Heilige liebt und, vom Joche der Sünde befreit, alledem
nachstrebt, was „geistlich" ist.
46
„Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die
Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden; weil die
Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn
sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag
es auch nicht." (V. 6. 7.) Fleisch und Geist sind und
bleiben einander entgegengesetzt. Fleisch kann niemals Geist
und Geist niemals Fleisch werden. Die Gesinnung des
Fleisches ist auf das Sichtbare gerichtet, bringt den Tod,
sowohl jetzt als auch ewiglich. „Kein Friede den Gesetzlosen!
spricht Jehova." Die Gesinnung des Geistes aber
ist Leben und Frieden, eine Quelle in uns, die ins ewige
Leben quillt und die Seele mit Friede und Freude erfüllt.
In Christo war es vollkommen so, bei dem Christen ist
die Verwirklichung, wie schon oft betont, unvollkommen;
aber davon redet der Apostel hier nicht, er entwickelt nur
Grundsätze.
Die Gesinnung des Fleisches ist aber nicht nur der
Tod, sie lehnt sich auch gegen Gott auf, erkennt Seine
Oberhoheit nicht an, ist mit einem Wort „Feindschaft gegen
Gott". Dem Gesetz, dem der Mensch naturgemäß
unterstellt ist, weil es die Richtschnur der Verantwortlichkeit
des Geschöpfes Gott gegenüber bildet, unterwirft sie
sich nicht. Sie ist „dem Gesetz Gottes nicht untertan,
denn sievermag es auch nicht". Welch ein niederschmetterndes
Urteil von feiten Dessen, der recht richtet! „Sie
vermag es nicht", so verderbt ist sie. Sobald Gott ein
Gebot gibt, regt sich in ihr der Geist der Empörung. Der
eigene böse Wille ist ihre Richtschnur; sie will unabhängig
sein und haßt alles, was Gott gefällt. Darum
bedarf eben der Mensch einer völlig neuen Natur, welche
Gott und die himmlischen Dinge liebt. „Was aus dem
47
Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste
geboren ist, ist Geist." (Joh. Z, 6.)
„Die aber, welche im Fleische sind, vermögen Gott
nicht zu. gefallen." (V. 8.) Wie wäre es möglich, daß
Gott mit Wohlgefallen auf Leute Herabschauen könnte,
wie wir sie soeben beschreiben hörten? Menschen „im Fleische"
oder „aus dem Fleische geboren", d. h. Menschen,
die als Nachkommen des gefallenen Adam sich in dessen
Stellung vor Gott befinden und in seinen Spuren, „nach
dem Fleische", wandeln. „Im Fleische sein" bedeutet also
nichts anderes als hoffnungsloses Verderben, verbunden
mit Auflehnung und Feindschaft gegen Gott. Gott sei
deshalb ewig dafür gepriesen, daß der Gläubige sich nicht
mehr in dieser Stellung befindet!
„I h r aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste,
wenn anders Gottes Geist in euch wohnt." (V. y.) Die
Jnwohnung des Heiligen Geistes in dem Gläubigen ist
der unwiderlegliche Beweis, daß er nicht mehr „im Fleische",
sondern „im Geiste" ist. Schon in Kap. 7, 5 lasen
wir: „Denn als wir im Fleische waren usw.", und
das ganze 6. Kapitel hat unö Menschen gezeigt, die, von
der Herrschaft der Sünde befreit, Gott leben und Ihm
ihre Glieder zu Werkzeugen der Gerechtigkeit darstellen
können. Der in der zweiten Hälfte des 7. Kapitels beschriebene
Mensch vermag das noch nicht. Er ist zwar,
wie der verlorene Sohn, umgekehrt und auf dem rechten
Wege, aber er hat noch nicht im Glauben erkannt, was
der Vater ist, und wie Er sich in Christo Jesu geoffenbart
hat. Das persönliche Bewußtsein der völligen Vergebung
und der Annahme bei dem Vater ist in der Seele noch
nicht vorhanden.
48
Dieses klare Bewußtsein kann nur in einem Menschen
leben, in welchem der Heilige Geist Wohnung gemacht
hat. Erst wenn man in den Armen des VaterS geruht
hat und sich mit dem besten Kleide bekleidet sieht,
hört man auf, sich selbst zu betrachten, von sich zu reden,
sich mit sich abzumühen; der Vater und das, was
Er ist und tut, füllt dann den ganzen Gesichtskreis der
Seele aus. Sie „danktGott durch Jesum Christum",
indem sie sich selbst völlig vergißt und in dem ruht, was
Jesus für sie getan hat; und nun ist sie passend für das
Vaterhaus und seine Freuden. Nicht so, als ob sie fernerhin
nicht verantwortlich wäre; sie bleibt das selbstverständlich
— aber ihre Verantwortlichkeit trägt einen ganz neuen
Charakter, ist von ganz neuer Art. Wir wollen es uns
immer wieder sagen: Der Gläubige ist ein Mensch „in
Christo" und ein Mensch „im Geiste", der nicht unter
Gesetz steht, aber auch nicht gesetzlos ist, sondern dem
dieGnade alles Nötige darreicht, um dieser seiner neuen
Stellung gemäß zu wandeln.
Auch dies sei noch einmal wiederholt: es handelt
sich in der vorliegenden Stelle nicht um einen veränderlichen
Zustand, um ein Zu- und Abnehmen, ein Auf- und
Niedergehen je nach der geistlichen Gesinnung und Treue
des einzelnen Christen, sondern um eine Sache, die jedem
wahren Gläubigen gehört, die nicht nur wahr ist von einigen
besonders bevorzugten Seelen, sondern von jedem,
der des Glaubens an Jesum ist, und zwar nicht nur zeitweilig
wahr, sondern auf seinem ganzen Wege bis ans
Ziel. Er war einst in der einen Stellung, „im Fleische",
und er i ft jetzt in der anderen, „im Geiste". Das findet
eine weitere Bestätigung in dem Schluß unseres Verses:
4tz
„Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist
nicht Sein", oder „der ist kein Christ", wenigstens nicht
in des Wortes wahrer Bedeutung. Wohl kann eine Seele
schon Leben aus Gott haben, ohne durch den Geist versiegelt
zu sein, wie der Mensch im 7. Kapitel; aber als
Regel gilt, daß Gott den Geist einem jeden gibt, der das
Wort der Wahrheit im Glauben aufnimmt. Wer heute das
Evangelium des Heils hört und daran glaubt, wird
nach Eph. t, 73 versiegelt mit dem Heiligen Geiste der
Verheißung. Zn einer nurerweckten Seele ist das göttliche
Werk noch nicht vollendet, sie glaubt noch nicht
wirklich.
Warum aber spricht der Apostel hier von Christi
Geist? Gibt es einen Geist Gottes und einen anderen
Geist Christi? Nein, der Geist ist nur einer, aber
doch ist der Wechsel im Ausdruck gewiß nicht bedeutungslos,
und wir dürfen nach der Ursache desselben forschen.
Liegt sie nicht darin, daß der Geist Gottes sich in Christo
in einem Leben geoffenbart hat, das bis zum letzten Atemzuge
Gott vollkommen geweiht war, sodaß wir in Ihm
sehen und beurteilen können, was ein solches Leben ist?
Und wer nun die Spuren dieses Lebens nicht offenbart,
keine Beweise gibt, daß derselbe Geist in ihm wirkt, der
einst in Christo war, der ist, trotzdem er das schönste
äußere Bekenntnis haben mag, nicht wirklich „Sein", ist
kein Christ. (Fortsetzung folgt)
Der Gläubige, der sich seiner Schwachheit bewußt ist, wagt
nicht einen Schritt ohne Gott zu tun.
Das wahre Kennzeichen einer Seele, die sich in der richtigen
Stellung Gott gegenüber befindet, ist bewußte Abhängigkeit.
so
Ein Brief Christi
Der Apostel Paulus nennt in 2. Kor. 3, 3 die Gläubigen
in Korinth einen „Brief Christi, angefertigt durch
uns im Dienst". Der Geist Gottes hatte auf ihre Herzen
Christum geschrieben, so wie Mose einst das Gesetz
auf zwei steinerne Tafeln schrieb. Wahre Christen sind
also Personen, die „auf fleischernen Tafeln des Herzens"
den Namen Christi tragen und nun auch Seine Gesinnung
offenbaren. Allerdings müssen wir von vornherein
bekennen, daß nicht alle Christen dieser Beschreibung entsprechen.
Es gibt manche Gläubige, die umgänglich, selbst
liebenswürdig sind und sich von anderen, weniger verträglichen
vorteilhaft unterscheiden. Aber so angenehm und
anerkennenswert natürliche Liebenswürdigkeit ist, „Christus,
ins Herz geschrieben", ist etwas anderes. Dazu ist die
Wirksamkeit des Heiligen Geistes nötig, der Christum in
die Gedanken, Worte und Wege eines Menschen einführt,
ähnlich wie das Gesetz durch den Finger Gottes in die Tafeln
eingegraben wurde. Nicht daß eö in dem Leben eines
Christen keine Mängel und Fehler mehr gäbe. Der redlichste
Geschäftsmann hat bekanntlich nicht immer Erfolg,
aber jedermann weiß, welche Grundsätze ihn leiten, und
welche Ziele er verfolgt. Ähnlich ist es mit einem Menschen,
wenn Christus der Gegenstand seines Lebens geworden
ist. Er mag Fehler machen, aber trotz derselben
weiß ein jeder, mit wem er zu tun hat.
Das Gesetz wurde gegeben, um dem Menschen seinen
traurigen Zustand zu zeigen und das Urteil des Todes über
ihn zu bringen. Der Apostel nennt es deshalb einen
„Dienst des Todes". Aber nachdem den Mensch das Ge
— S1 —
setz gebrochen hatte, sandte Gott Seinen Sohn in die
Welt, um ihr das Leben zu geben. Doch was tat die Welt?
Sie verwarf und tötete Ihn. Die Menschen können Jesum
heute zwar nicht mehr töten, aber ihre Herzen können
Ihn verwerfen, genau so wie die Juden es einst getan
haben; und ein aufrichtiger Weltmensch wird anerkennen
müssen, daß Christus vom frühen Morgen bis zum späten
Abend kein einziges Mal in die Gedanken seines Herzens
kommt. Der Name ist ihm gleichgültig, seine Erwähnung
ihm unangenehm, vielleicht gar verhaßt.
Wenn in früheren Zeiten ein Gläubiger seinen Wohnsitz
wechselte oder irgendwohin reiste, gab man ihm einen
Empfehlungsbrief an die Versammlung des neuen Aufenthaltsortes
mit. (Vergl. Apstgsch. 18, 27.) Nun, der
Apostel reiste fast unaufhörlich umher. Bedurfte er eines
solchen Empfehlungsbriefes an die Korinther oder von
ihnen? Wahrlich nicht! Konnte er doch überall auf sie
Hinweisen — denn sie waren damals in einem guten geistlichen
Zustand — und sagen: Seht, da ist mein Brief!
Und er konnte das tun, eben weil die Gläubigen in Korinth
der klare Ausdruck seiner Lehre waren, ein Brief
Christi, gekannt und gelesen von allen Menschen.
Ich überlasse es dem Leser, sich zu fragen, wie es in
dieser Beziehung mit ihm steht. Nicht daß irgend ein Christ
seinen Herrn so liebte, wie er Ihn lieben sollte — dazu
ist Jesus viel zu kostbar; aber ein rechter Christ ist bereit,
alles für Ihn aufzugeben, Christus ist der Gegen -
stand seines Herzens, der alles beherrscht.
Im weiteren Verlauf des Kapitels sagt der Apostel:
„Wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit". (V. 17.)
52
Solang ein Mensch bei dem Gedanken an Gott zittert,
kennt er diese Freiheit nicht. „Frei" sein, wirklich frei
sein heißt glücklich sein in der Gegenwart Gottes. Wenn
der Geist Gottes die Augen eines Menschen über seinen
natürlichen Zustand öffnet, ihn in das Licht Gottes bringt,
dann ist freilich nichts weniger als Freiheit die Folge. Der
Mensch sieht seine Sünden und beginnt zu zittern. Sobald
er aber die in Christo geoffenbarte Liebe Gottes kennen
lernt, wird es anders. Die vollkommene Liebe, die den
eingeborenen Sohn gegeben hat, treibt jede Furcht aus.
Das Gesetz bewirkt, wie gesagt, das Gegenteil. Anstatt
frei und glücklich zu machen, verdammt es. Daruin
ist es nicht nur ein Dienst des Todes, sondern auch der
Verdammnis. Es fordert Gerechtigkeit und verflucht
den, der keine hat. So bringt es das Herz unter Knechtschaft
und Furcht.
Wie ganz anders ist es mit dem Dienst des Geistes
und der Gerechtigkeit! Christus kam in diese Welt und
fand alle Menschen „unter der Sünde". Es gab keinen
„Schiedsmann", der, wie Hiob sagt, seine Hand sühnend
und schlichtend auf die beiden Parteien, Gott und Menschen,
hätte legen können. (Hiob y, 33.) Da wurde
Christus dieser Schiedsmann. Und welch ein Schiedsmann
war Er! Kein mühseliger und schuldbeladener Sünder kam
zu Ihm, den Er nicht mit offnen Armen ausgenommen
hätte. Er sagte nicht: Geh erst hin und erwirb dir Gerechtigkeit,
dann komm wieder. Nein, Er war ja gekommen,
um zu vergeben, um durch Seine Liebe unsere Herzen zu
gewinnen und uns vom Tode zu erretten. Deshalb warf
man Ihm auch vor, daß Er Sünder aufnehme und
mit ihnen esse. Ihr habt recht, antwortete Er den Tadlern;
53
aber ist nicht der Sohn des Menschen gekommen, um zu
suchen und zu erretten was verloren ist? Geht nicht der
gute Hirt dem verlorenen Schafe nach, bis er es findet?
Und freut sich nicht der Vater, den heimkehrenden Sohn
in seine Arme schließen zu können? Freilich ist es un
möglich, den Sohn in seinen Lumpen ins Haus zu führen.
Gott ist gerecht und heilig. Aber die Liebe des Vaters
kann ihm um Christi willen das vornehmste Kleid aus
Seinem Hause schenken, kann ihm das Kleid Seiner eigenen
Gerechtigkeit anziehen.
Wunderbare Wege der Gnade Gottes! Er will sich
in ihnen verherrlichen, und wer kann Ihn daran hindern?
Das Antlitz Moses strahlte, als er zum zweitenmal
vom Berge Sinai herabkam, wo Gott ihm Seinen
neuen Namen: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig
und gnädig, langsam zum Jörn und groß an Güte
und Wahrheit", geoffenbart hatte. Das erstemal hatte es
nicht gestrahlt. Das Gesetz kann niemals ein Menschenantlitz
zum Strahlen bringen. Aber diese Herrlichkeit verschwand
wieder, konnte nicht bleiben, weil die Gnade noch
mit Gesetz verbunden war. (2. Mose 34.)
Nachdem aber in Christo „Gnade und Wahrheit
geworden ist", dürfen wir mit aufgedecktem
Angesicht die völlig geoffenbarte Herrlichkeit des Herrn
anschauen, und zwar da, wo Er jetzt ist, in der Herrlichkeit
droben. Christus könnte nicht dort sein, wenn unsere
Sünden, die uns von Gott trennten, die Er aber in Gnaden
auf sich nahm, noch auf Ihm wären. Er hat am
Kreuze für sie gelitten und sie für ewig getilgt. Jetzt ist
der „Dienst des Geistes und der Gerechtigkeit"
an die Stelle des „Dienstes des Todes und der Verdamm-
54
ms" getreten, und Gott hat in unsere Herzen geleuchtet zum
Lichtglanz der Erkenntnis Seiner Herrlichkeit im Angesicht
Christi. (2. Kor. 4, 6.)
Das ist der Weg, auf welchem Christus auf die fleischernen
Tafeln unserer Herzen geschrieben worden ist, und
nun ist es unsere Sache, Ihn unverwandt anzuschauen.
Ihn immer besser kennen zu lernen und auf diesem Wege
mehr und mehr in Sein Bild verwandelt zu werden. Zu
diesem Zweck ist uns auf Grund der „durch den Gehorsam
des Einen" (Röm. 5, 'ld) vollkommen befriedigten
Gerechtigkeit Gottes auch der Heilige Geist gegeben worden,
dessen Dienst dahin geht, das Bild Christi immer
deutlicher in uns zur Gestaltung zu bringen. Der Gläubige,
der sich jetzt in glücklicher Freiheit in Gottes Gegenwart
bewegen kann, begehrt dasselbe. Wir singen oft,
und mit Recht:
O Jcsu, daß Dein Name bliebe
Im Grunde tief gedrücket ein!
Der Apostel Paulus begehrte seinerseits nur noch
eines: „Christum zu gewinnen und in Ihm erfunden zu
werden..., um Ihn zu erkennen und die Kraft Seiner
Auferstehung usw." Und weil das so war, konnte er den
Philippern zurufen: „Seid zusammen meine Nachahmer,
Brüder, und sehet hin auf die, welche also wandeln,
wie ihr uns zum Vorbilde habt". (Phil. Z.)
Auch den Korinthern konnte er das Zeugnis geben, daß
sie offenbar geworden waren, ein Brief Christi zu
sein. Jedermann kannte sie so.
Teure Leser! wie ist es mit uns heute? Auch wir
sind, ob als Versammlung oder als einzelne betrachtet,
Briefe Christi, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit
55
dem Geiste des lebendigen Gottes". Wir sollen nicht
Briefe sein, sondern wir sind es; aber die Frage ist,
ob wir als solche nun auch den Menschen um uns her
offenbar geworden sind, ob sie wirklich in uns Christum
erkennen und lesen können.
Droben ist dafür keine Gelegenheit mehr. Jetzt ist
die Zeit! Wollen wir sie nicht ausnutzen, treuer als
bisher?
Lichtblick
Fülle von Freuden
Wartet der Deinen,
Die hier durch Leiden,
Ost unter Weinen,
Dornige Wege der Trübsale gehn.
Sollten sic klagen,
Stille nicht tragen?
Mutlos und zagend
Niederwärts sehn?
Sind auch die Pfade,
Dis sie beschreiten.
Steil oft. — Die Gnade
Stützt sie in Zeiten
Drückender Sorge und wachsender Not.
Mühsal und Plage,
Schmerzreiche Tage
Weichen und fliehen
Beim Morgenrot.
D u kennst das Sehnen
Wartender Knechte,
Zählest die Tränen
Schlafloser Nächte,
Heimliche Tränen, rinnend im Streit.
Nach einer Weile
Führst Du in Eile
Jubelnde Scharen
Zur Herrlichkeit. R. H.
56
Kragen aus dem Leserkreise
Wie ist das Wort des Herrn in Ioh. 6, 40. 44. 54: „Ich
werde ihn auferwecken am letzten Tage" zu verstehen?
(Vergl. auch Ioh. 14, 24.)
In Ioh. b, 37—40 stellt der Herr dem Unglauben der Juden
und der Verwerfung Seiner Person als Messias (V. 36) das
gegenüber, was der Vater nunmehr tun wollte. Der Herr selbst
nimmt bereitwillig den Platz eines Dieners ein, der keinen eigene»
Willen hat, und offenbart den Willen des Vaters. (V. 38. 3d.)
Was aber war der Wille des Vaters? Daß alle, die den Sohn
sähen und an Ihn glaubten, ewiges Leben haben sollten, und
Er, der verworfene Messias, würde sic bei Seiner Rückkehr am
letzten Tage des Zeitalters des Gesetzes — denn der
Herr spricht hier zu Juden — auferwecken, um sie an der
Herrlichkeit Seines Reiches teilnehmen zu lassen. Die Juden wußten
nur von einer allgemeinen Auferstehung am Ende der Tage,
und der Herr stellt sich auf ihren Boden.
Jede Hoffnung auf eine gegenwärtige Befreiung durch einen
lebenden Messias war für Israel dahin. Es gab nur noch Hoffnung
in dem „Brote Gottes", d. h. in Ihm, der aus dem Himmel
hcrniedergekommen war, auf daß man davon esse und nicht sterbe.
In Verbindung damit sagt der Herr im 51. Vers: „Das Brot aber,
das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben
werde für das Leben der Welt". Der Sohn des Menschen mußte
sterben, mußte Sein Fleisch und Blut dahingeben. Nur so
konnte dem Glaubenden ewiges Leben geschenkt werden, und es
war der Wille des Vaters, daß der Sohn von allen, die Er Ihm
gegeben, keinen verliere, und das würde sich erproben, wenn Christus
sie auferwecken würde am letzten Tage.
Die Hoffnung auf diese Auferstebung war, wie gesagt, den
Juden nicht unbekannt. (Vergl. Apstgsch. 24, 15.) Darum sagt
Martha: „Ich weiß, daß er (Lazarus) auferstehen wird in der
Auferstehung am letzten Tage"; aber das war kein Trost für sie
in der Gegenwart. Deshalb die Antwort des Herrn: „Ich bin
die Auferstehung und das Leben; wer an mich
glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeder, der
da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit."
Damit offenbarte Er ihr etwas ganz Neues, bis dahin völlig Unbekanntes,
und fragte sie deshalb auch: „Glaubst du dies?"
„Sie wahre Gnade Gottes, in
weicher ihr stehet"
li. Petr. s. 12.1
Gott hat sich unö geoffenbart als der „Gott
aller Gnade", und wir stehen vor Ihm als solche,
die „geschmeckt haben, daß der Herr gütig ist". Aber
wie schwer wird es dem Menschenherzen zu glauben, daß
Gott gnädig ist! Das natürliche Gefühl unserer Herzen
ist vielmehr: „Ich kannte dich, daß du ein harter Mann
bist". Von Natur mangelt unö allen das Verständnis
für die Gnade Gottes.
Von dem Wesen der Gnade macht man sich manch-
mak ganz verkehrte Vorstellungen.. So denkt man, daß
Gnade ein Hi «Weggehen Gottes über die
Sünde bedeute. Daö ist ganz verkehrt. Die Gnade sieht
im Gegenteil in der Sünde etwas so furchtbar Schlechtes,
daß Gott es unmöglich hingehen lassen kann. Stünde es
in der Macht eines Menschen, seine Wege der Ungerechtigkeit
und Sünde zu bemänteln und sich selbst so weit zu
bessern, daß er vor Gott zu stehen vermöchte, dann bedürfte
es keiner Gnade. Aber gerade die Tatsache, daß
Gott gnädig ist, läßt die Sünde als eine so böse Sache
erscheinen. Der Zustand des Menschen, des Sünders, ist
völlig verderbt und hoffnungslos, und nur eine bedingungslose
Gnade kann da helfen, kann seinem Bedürfnis
entsprechen.
Wir müssen lernen, was Gott für uns ist, aber nicht
durch unsere eigenen Gedanken, sondern durch die Offen-
l.XXVIll s
58
barung, die Gott selbst von sich gegeben hat, und Er hat
sich geoffenbart als „der Gott aller Gnad e". In
dem Augenblick, da ich erkenne, daß ich ein sündiger Mensch
bin, und daß der Herr gerade deshalb sich mir zugewandt
hat, weil Er den vollen Umfang und die ganze Hassenswürdigkeit
meiner Sünde kannte, in demselben Augenblick
lerne ich auch verstehen, was Gnade ist. Der Glaube
läßt mich erkennen, daß Gott größer ist als meine Sünde,
und nicht daß meine Sünde größer ist als Gott.... Und
der Herr, welchen ich als Den kennen lernen durfte, der
Sein Leben für mich dahingab, ist derselbe Herr, mit
dem ich tagtäglich zu tun habe, und all Sein Tun, alle
Seine Führungen mit mir ruhen auf den stets gleichen
Grundsätzen der Gnade. Das große Geheimnis alles
geistlichen Wachstums liegt in dem Schauen auf Jesum
als den gnädigen Herrn. Wie kostbar und stärkend
ist es doch zu wissen, daß der Herr Jesus in diesem Augenblick
die gleiche Liebe zu mir hat und betätigt wie zur
Zeit, da Er am Kreuze für mich starb!
Diese Wahrheit sollte von uns in den allergewöhnlichsten
Umständen des täglichen Lebens in Anwendung
gebracht werden. Nehmen wir zum Beispiel an, daß ich
mich in einer schlechten Laune befinde, der ich schwer Herr
zu werden vermag. Was soll ich tun? Sie zu Jesu bringen
als meinem Freunde! Von Ihm geht Kraft aus, um
jedem meiner Bedürfnisse zu begegnen. So sollte der
Glaube stets Versuchungen gegenüber in Ausübung
kommen. Alte eigenen Anstrengungen, solche Versuchungen
zu überwinden, werden niemals zum Ziele führen. Die
Quelle wahrer Kraft liegt in dem Bewußtsein, daß der
Herr gnädig ist. Der natürliche Mensch in uns will
— zy —
immer etwas anderes an die Stelle Christi setzen, der
doch die einzige Kraft- und Segensquelle ist. Angenommen,
meine Seele hätte die Gemeinschaft mit Ihm verloren
— sofort ist das natürliche Herz bereit zu sagen:
„Ehe ich zu Christo kommen darf, muß erst die Sache in
Ordnung gebracht werden". Aber Er ist gnädig, und in
diesem Bewußtsein sollten wir sofort, so wie wir
sind, zu Ihm umkehren und dann uns tief vor Ihm
demütigen. Nur in Ihm und von Ihm empfangen wir,
was unsere Seelen wiederherzustellen vermag. Demut in
Seiner Gegenwart ist die einzig wahre Demut. Wenn
wir uns in Seiner Gegenwart geradeso geben, wie
wir sind, wird Er uns Gnade, und nichts als
Gnade zuteil werden lassen....
Jesus ist es, der unseren Herzen bleibende Ruhe
gibt, nicht aber das, was wir von und über uns selbst
denken. Der Glaube wird auch niemals das, was in uns
ist, als Grundlage der Ruhe betrachten. Er nimmt, schätzt
und erfaßt das, was Gott geoffenbart hat und was Seine
Gedanken über Jesum sind, in welchem Er selbst
ruht. Wenn wir Jesum wirklich als den kostbarsten
Schatz unserer Seelen kennen, wenn Augen und Herzen
auf Ihn gerichtet sind, so werden wir gerade dadurch aufs
wirksamste vor jeder Beschäftigung mit der Eitelkeit und
Sünde um uns her bewahrt bleiben; und dies wird wiederum
uns Kraft geben gegen die Sünde und die Verderbtheit
unserer eigenen Herzen. Was irgend ich in mir
entdecke, das nicht von Ihm ist, ist Sünde; aber nicht das
Nachsinnen über meine Sünden und meine Schlechtigkeit
und die Beschäftigung mit diesen Dingen wird mich in
den Staub beugen, sondern das Sinnen über den Herrn
60
Jesus, indem ich die Vortrefslichkeit anschaue, die in Ihm
ist. Es ist gut, mit sich selbst fertig geworden und mit
Jesu beschäftigt zu sein. Wir dürfen uns selbst, unsere
Sünden, ja, alles vergessen, nur nicht unseren Herrn
Jesus Christus.
Es gibt nichts, was unseren Herzen so schwer fiele,
wie bewußt an der Gnade festzuhalten, uns praktisch
bewußt zu bleiben, daß wir nicht unter Gesetz, sondern
unter Gnade sind. Daß das Herz durch Gnade „befestigt"
wird, wissen wir (Hebr. tL, 9), aber nichts wird
uns schwerer, als die Fülle der Gnade zu erfassen, jene
„Gnade Gottes, in welcher wir stehen", und
in der Kraft und dem Bewußtsein dieser Gnade zu wandeln.
...Nur in der Gegenwart Gottes können wir sie
erkennen, und dort zu weilen ist unser Vorrecht. In
dem Augenblick, da wir uns aus Gottes Gegenwart entfernen,
werden stets irgendwelche eigene Gedanken
in uns zur Geltung kommen, und unsere eigenen Gedanken
können niemals an Gottes Gedanken über uns,
an die „Gnade Gottes", heranreichen.
Alles, worauf ich meine irgend einen Anspruch erheben
zu können, kann nicht reine, freie Gnade, kann unmöglich
die „Gnade Gottes" sein.... Und nur, wenn
wir in Gemeinschaft mit Ihm sind, vermögen wir alles
und jedes an Seiner Gnade zu messen.... Wenn wir
bewußt in Gottes Gegenwart bleiben, so vermag nichts
uns zu erschüttern, es sei, was es wolle, selbst nicht der
traurige Zustand der Christenheit um uns her. Denn wir
rechnen dann auf Gott, und so werden alle Dinge zu
einer Gelegenheit und einem Bereich des Wirkens Seiner
Gnade.
61
Möglichst einfache Gedanken von der Gnade zu
haben, ist die wahre Quelle unserer Kraft als Christen;
und das bewußte Weilen in der Gnade, in der Gegenwart
Gottes ist das Geheimnis aller Heiligkeit, alles Friedens
und aller Ruhe des Geistes.
Die „Gnade Gottes" ist etwas so Unbeschränktes,
Völliges und Vollkommenes, daß wir, weichen wir auch
nur für einen Augenblick aus Gottes Gegenwart, uns
ihrer weder voll bewußt sein noch auch die Kraft haben
können, sie zu ergreifen; und versuchen wir, sie außerhalb
Seiner Gegenwart zu finden, so heißt das die Gnade in
Zügellosigkeit verkehren. Die Gnade in ihrem wahren Wesen
kennt weder Grenzen noch Schranken. Wir mögen
sein, was wir wollen (und wir können nicht schlechter sein
als wir sind), trotz alledem ist Gott uns gegenüber nur
Liebe. Weder unsere Freude noch unser Friede hangen
von dem ab, was wir für Gott sind, sondern davon, was
Er für uns ist, und gerade das ist Gnad e.
Die Gnade setzt all die Sünde und all das Böse,
das in uns ist, voraus und ist die gesegnete Offenbarung,
daß durch Jesum all diese Sünde und dieses Böse hinweggetan
ist. Eine einzige Sünde ist für Gott furchtbarer,
als tausend Sünden — nein, was sage ich? —
als alle Sünden in der Welt für uns sind; und den
noch, bei völligster Erkenntnis dessen, was wir sind, ist
alles das, was Gott gefallen hat für uns zu sein, Liebe.
In Römer 7 wird uns der Zustand eines erweckten
Menschen beschrieben, eines Menschen aber, dessen sämtliche
Erwägungen nur einen Mittelpunkt haben, und
dieser Mittelpunkt ist er selbst. ...Er macht halt vor
der Gnade, vor der einfachen Tatsache, daß, mag sein
62
Zustand, mag er selbst so schlecht sein, wie er will, Gott
Liebeist, und nur Liebe für ihn. Anstatt auf Gott zu
blicken, ist für diesen Mann alles nur „ich, ich, ich". Er
blickt auf sich, aber der Glaube schaut auf Gott, wie Er
sich in Gnade geoffenbart hat.... Und, so möchte ich fragen,
bin ich oder ist mein Zustand der Gegenstand des
Glaubens? Nein, niemals macht der Glaube das, was
in meinem Herzen ist, zu seinem Gegenstand. Er
beschäftigt sich vielmehr mit Gottes Offenbarung
Seiner selbst in Gnade.
Die Gnade steht in Beziehung zu dem, was Gott
ist, nicht zu dem, was wir sind, mit der alleinigen
Ausnahme, daß gerade die Größe unserer Sündenschuld
die Ausdehnung der „Gnade Gottes" nur umso herrlicher
erscheinen läßt. Zugleich dürfen wir nicht vergessen,
daß Zweck und notwendige Wirkung der Gnade die sind,
unsere Seelen in Gemeinschaft mit Gott zu bringen, uns
dadurch zu heiligen, daß die Seele dahin geführt wird, Gott
zu kennen und zu lieben. Darum ist auch die Erkenntnis
der Gnade die einzig wahre Quelle der Heiligung.
Den höchsten Triumph hat die Gnade gefeiert, als
des Menschen Feindschaft Jesum aus der Welt hinauswarf
und Gottes Liebe durch dieselbe Handlung die Errettung
einführte — einführte, um Sühnung zu tun für
die Sünde derer, die Ihn verworfen hatten. Angesichts
der schrecklichsten Auswirkung der Sünde des Menschen
schaut der Glaube die wunderbarste Entfaltung der göttlichen
Gnade....O die Gnade Gottes! Wie weit habe
ich mich von ihr entfernt, wenn ich auch nur den geringsten
Zweifel an Gottes Liebe hege! Meine Sprache wird
dann sein: „Ich bin unglücklich, weil ich nicht das bin.
6Z
was ich gern sein möchte". Aber darum handelt es sich
gar nicht. Die wirkliche Frage ist, ob Gott so ist, wie
wir Ihn gern haben möchten, und ob Jesus alles das
ist, was wir nur wünschen können. Wenn das Bewußtsein
von dem, was wir sind oder in uns finden (obwohl es
uns niederbeugt), eine andere Wirkung hat als unsere Anbetung
dessen, was Gott ist, zu erhöhen, so haben
wir den Boden der reinen Gnade schon verlassen....
Gibt es quälende Gedanken und Mißtrauen in deinem
Innern, dann sieh zu, ob nicht der Grund darin
liegt, daß du immer noch sagst: „Ich, ich, ich", und
Gottes Gnade aus dem Auge verlierst.
Es ist in der Tat besser, über das zu sinnen, was
Gott ist, als darüber, was wir sind. Dieses Blik-
ken auf uns selbst ist im Grunde genommen Hochmut;
es fehlt dann das wahre Bewußtsein, daß wir zu nichts
Gutem tauglich sind. Solang wir das nicht erkannt
haben, werden wir nie ganz von uns selbst ab- und
auf Gott Hinblicken.... Schauen wir aber auf Christum,
so ist es unser Vorrecht, uns selbst zu vergessen. Wahre
Demut besteht nicht so sehr darin, daß wir
schlecht von uns denken, sondern darin,
daß wir überhaupt nicht an uns denken.
Ich bin so schlecht, daß ich gar nicht wert
bin, an mich zu denken. Was uns not tut ist,
uns selbst zu vergessen und auf Gott zu blicken. Er ist
fürwahr aller unserer Gedanken wert. Und sollten wir
einer Demütigung im Blick auf uns bedürfen, so dürfen
wir versichert sein, daß gerade dieses Beschäftigtsein mit
Gott sie Hervorrufen wird.
Geliebte! wenn wir sagen können, wie es in Röm. 7
64
heißt: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts
Gutes", so haben wir lang genug über uns selbst nachgedacht.
Laßt uns dann lieber an Ihn denken, der Gedanken
des Guten und nicht des Bösen über uns hatte,
lang bevor wir überhaupt an uns denken konnten! Laßt
uns untersuchen, was Seine Gnadengedanken über uns
sind, und die Glaubensworte in unsere Herzen fassen:
„Wenn Gott für uns ist, wer wider
uns?" (Röm. 8, Zr.)
I. N. D.
Ser Brief an die Römer
Lapttel 8, i—it
(Fortsetzung)
„Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib
zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit
wegen." (V. 10.) Im ersten Verse hörten wir,
daß wir als Gläubige „in Christo" sind, hier, daß „Christus
in uns" ist, und aus dieser Tatsache wird die Folgerung
gezogen, daß der Leib zwar tot ist der Sünde
wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen. Der
Leib ist das irdene Gefäß, in welchem die Sünde wohnt
und wirkt. Lasse ich ihm seinen Willen, so wird nichts als
Sünde hervorkommen. Was habe ich nun zu tun als ein
Mensch, in welchem Christus ist, in dem Er lebt? Ich
bin berufen, das Todesurteil, das in Christo über mich
ergangen ist, stets auf mich anzuwenden, „nicht den Lüsten
meines sterblichen Leibes zu gehorchen", sondern „die
Handlungen des Leibes zu töten". (Vergl. Kap. 6, 12;
8, lZ.) In demselben Maße, wie ich das tue, wird die
65
Sünde ihre Kraft über mich verlieren, und der Geist ungehindert
in mir wirken können in einem Leben, das die
Früchte der Gerechtigkeit hervorbringt. Wenn Christus in
mir ist, so erhebt sich die Frage: Soll fortan mein Wille
gelten oder der Wille Christi? Das neue „Ich" antwortet
ohne Zögern: der Wille Christi. Gut, das kann aber
nur geschehen, wenn ich meinem Leibe nicht erlaube, sich
als lebend zu offenbaren, sondern indem ich dem nachstrebe,
was des Geistes Gottes ist, was Ihm gefällt. Vergessen
wir nicht, daß die Früchte praktischer Gerechtigkeit
nur da wachsen können, wo man sich selbst für tot hält,
Gott aber lebt in der Kraft des Heiligen Geistes.
Ist aber ein solches Leben nicht ein knechtisches
Leben? Im Gegenteil, es ist ein Leben der Freiheit,
des Nichtmehrgebundenseins an den Leib und seine Lüste,
ein Leben der beglückenden Nachfolge Christi, unter der
Leitung Seines Geistes. Möchte es Schreiber und Leser
mehr geschenkt sein, also zu wandeln, bis wir diesen Leib
der Niedrigkeit mit dem Leibe der Herrlichkeit vertauschen
dürfen, in welchem die Sünde nicht mehr wohnt! Auch
von dieser dritten und letzten Art der Befreiung redet
der Apostel in dieser wunderbaren Stelle.
„Wenn aber der Geist Dessen, der Jesum aus den
Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Er, der
Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen
Leiber lebendig machen wegen Seines in euch wohnenden
Geistes." (V. U.) Die Wirkung des Todes und
der Auferstehung Christi erstreckt sich also auch auf unsere
sterblichen Leiber. Nicht nur gibt es keine Verdammnis
mehr für mich, nicht nur darf sich meine Seeleder kostbaren
Befreiung von der Herrschaft der Sünde und des
66
Todes erfreuen, nein, auch mein armer Leib, dem die
Sterblichkeit anhaftet, der den Keim des Todes in sich
trägt, wird einmal die mächtigen Folgen des Erlösungswerkes
Christi erfahren. Er wird, wenn er ins Grab hinabsinken
sollte, wieder auferstehen. Jetzt schon ein Tempel
des Heiligen Geistes, wird er wieder hervorgerufen, wieder
lebendig gemacht werden, um dann der befreiten Seele
zur ewigen, herrlichen Wohnstätte zu dienen. Beachten
wir also wohl: es wird nicht, wie man oft sagen hört,
ein neuer Leib geschaffen und uns gegeben, sondern der
alte wird auferweckt, verwandelt. „Wir werden zwar
nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt
werden." (1. Kor. 15,51.) Der Heilige Geist, der ihn jetzt
schon bewohnt, weil der Gläubige in Christo des ewigen
Lebens teilhaftig geworden ist, wird Seine Ansprüche an
diesen Leib niemals fahren lassen. So gewiß Gott Jesum
aus den Toten auferweckt hat und der Geist Gottes infolge
dessen in uns wohnt, so gewiß werden auch unsere sterblichen
Leiber auferweckt werden. Satan hat keine Ansprüche
mehr an sie; auch sie sind um einen Preis erkauft und gehören
Christo. So wird unsere Befreiung eine vollständige
werden. Die Freiheit der Gnade ist durch den Heiligen
Geist heute schon unser Teil in der Stellung, die wir in
Christo haben; die Freiheit der Herrlichkeit ist noch
zukünftig, aber sie ist uns völlig gewiß, weil der Heilige
Geist in uns wohnt. Wie Er das Unterpfand unseres Erbe
s ist (Eph. 1, 14), so verbürgt Er uns auch die Auferstehung
unseres Leibes.
Im Vorbeigehen sei auf den Wechsel des Namens
unseres Herrn im 11. Verse aufmerksam gemacht. Zuerst
wird Sein persönlicher Name als Sohn des Menschen
67
genannt: Jesus; nachher Sein amtlicher Titel als der
Gesalbte Gottes: Christus, und zwar in Verbindung
mit dem in uns wohnenden Geiste. Der Heilige Geist kann
gleichsam nicht von Christo getrennt werden. Da wo die
Ergebnisse des Erlösungswerkes gefunden werden, da muß
auch der Geist sein, um die Herrlichkeit Christi zu verbürgen.
Indem wir jetzt zu der Betrachtung des nächsten
Abschnittes übergehen, wollen wir uns noch einmal der
drei verschiedenen Gesichtspunkte oder Charaktere erinnern,
unter welchen der Geist in dieser Stelle vor uns tritt. Er
ist zunächst der Geist Gottes, der in uns wohnt und
die kraftvolle Quelle alles Guten in uns ist, der uns ermuntert,
zurechtweist, mahnt, warnt usw. Dann ist Er
der Geist Christi, der sich in dem Leben und Wandel
Christi hienieden geoffenbart hat und nun unser Leben und
unseren Wandel kennzeichnen soll. Und drittens ist Er der
Geist „Dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt
hat" und nun dafür bürgt, daß dieselbe Macht, die sich in
der Auferstehung Christi erwiesen hat, auch unsere sterblichen
Leiber „umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit
Seinem Leibe der Herrlichkeit". (Phil. 3, 2k.)
Lapitel 8, 12—30
Der Apostel zieht in den folgenden Versen die praktische
Folgerung aus dem bisher Gesagten: „So denn,
Brüder, sind wir Schuldner, nicht dem Fleische, um nach
dem Fleische zu leben, denn wenn ihr nach dem Fleische
lebet, so werdet ihr sterben, wenn ihr aber durch den
Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr le
68
ben". (V. "l2. 1^3.) Als solche, die sich nicht mehr „im
Fleische" befinden, haben wir keinerlei bindende Beziehungen
mehr zu dem Fleische, können es vielmehr durch
den Geist überwinden, indem wir es als gerichtet kennen
und für tot halten.
„Wir sind Schuldner, nicht dem Fleische, um nach
dem Fleische zu leben." Unwillkürlich hat man das Gefühl,
es fehle etwas an dem Satze. Man erwartet einen
mit „sondern" eingeleiteten Nachsatz. Aber das Wort Gottes
ist immer richtig und vollkommen. Der Nachsatz würde
nach unserer Meinung etwa so lauten müssen: „sondern
wir sind Schuldner dem Geiste, um nach dem Geiste zu
leben". Ein solches Wort stände auch durchaus im Einklang
mit den gesetzlichen Neigungen unserer Herzen. Aber
der inspirierte Schreiber spricht nicht so. Es würde uns
ja die kostbare Freiheit, in die wir durch unseren Erlöser
gebracht sind, wieder rauben und uns, wenn auch in veränderter
Form, von neuem unter ein Gesetz stellen, dessen
Erfüllung uns genau so unmöglich wäre wie die des alten.
Aber gehen nicht aus unserer neuen Stellung ernste
Verpflichtungen hervor? Ist nicht eine heilige Verantwortlichkeit
mit ihr verbunden? Immer wieder antworten
wir: Ja, ganz gewiß! Aber diese Verpflichtungen
lasten nicht wie ein Gesetz auf uns, sondern ergeben sich
ganz von selbst aus dem neuen Leben, das uns geschenkt
ist, stehen in Übereinstimmung mit den Neigungen unserer
neuen Natur und werden in der Kraft des Geistes
erfüllt. Jakobus redet in dieser Beziehung von dem vollkommenen
Gesetz, dem der Freiheit, weil der
Wille des neuen Menschen in jeder Beziehung im Einklang
steht mit dem Willen Gottes. (Jak. r, 25.) Es
69
ist die Lust des neuen Menschen, diesen Willen zu tun.
Tatsächlich bleibt der schroffe Gegensatz zwischen den beiden
in uns wirkenden Grundsätzen, Fleisch und Geist,
stets bestehen; darum fügt der Apostel auch hinzu: „wenn
ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben,
wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen
des Leibes tötet, so werdet ihr lebe n".
In beiden Fällen ist das Ergebnis sicher, im ersten
als eine naturgemäße und notwendige Folge, im zweiten
als etwas von Gott selbst Verbürgtes. Im ersten Falle
ist der Tod, im zweiten Leben und Herrlichkeit
unser Los. Im Geiste höre ich hier den Leser einwenden:
„Dann kann ein Kind Gottes also doch noch verloren
gehen!" Ich antworte: Um diesen Punkt handelt es sich
hier gar nicht. Wir haben es hier nicht mit der göttlichen,
sondern mit der menschlichen Seite der
Frage zu tun. Gott hat uns ein neues Leben geschenkt,
und dieses Leben lebt nicht nach dem Fleische, kann gar
nicht danach leben. Wenn ich also trotzdem nach dem
Fleische lebe, so trete ich dadurch auf den Boden der alten
Natur, des Fleisches, zurück, und, soweit es an mir liegt,
werde ich sterben, denn die Frucht, der gerechte Lohn eines
Lebens nach dem Fleische ist der Tod. Unmöglich könnte
Gott mir sagen, daß ein solcher Weg im Leben ende.
Wenn ich aber durch den Geist die Handlungen des Leibes
töte, so werde ich leben, für immer leben vor und mit dem
Gott, der mir das Leben gegeben hat, und dessen Geist
in mir wohnt und in diesem Leben wirkt.
Die bedingungslose Errettung des Gläubigen auf
Grund des Werkes Christi ist eine Wahrheit, seine Verantwortlichkeit,
den Weg der Nachfolge Christi bis ans
70
Ende treu zu gehen, eine andere. Lassen wir jede da,
wo Gott sie hingestellt hat, so ist alles einfach und klar;
vermengen wir sie, wie man es leider so oft tut, so ist
Verwirrung die unausbleibliche Folge.
„Denn so viele durch Gottes Geist geleitet werden,
diese sind Söhne Gottes." (V. 14.) Damit kommen wir
zu dem wunderbaren Verhältnis, in welches wir als solche
gebracht sind, die nicht mehr durch das Fleisch geleitet
werden, die aber auch nicht, wie einst Israel, in der
Stellung von Knechten oder Sklaven stehen. Wir werden
heute durch den in uns wohnenden Geist Gottes nicht in
knechtischer Furcht, sondern in Frieden geleitet. Wenn
das aber so ist, dann ist der Beweis erbracht, daß wir
Söhne Gottes sind. Der Geist, den wir empfangen haben,
ist eben nicht „ein Geist der Knechtschaft, wiederum
zur Furcht", sondern „ein Geist der Sohn-
schaft, in welchem wir rufen: Abba, Vater!"
(V. 15.) Wo dieser Geist ist, da ist Freiheit. Unter dem
Gesetz gab es nur Knechtschaft und Furcht. Obwohl der
Heilige Geist in den Gläubigen des Alten Testaments
wirkte und sie als Zeugen und Boten der Wahrheit
benutzte, konnte Er doch in keinem von ihnen wohnen.
Selbst die Jünger konnten vor der Auferstehung und Himmelfahrt
ihres Herrn das bestimmte Bewußtsein, Söhne
Gottes zu sein, nicht haben, obwohl Er ihnen den Vaternamen
geoffenbart hatte. Dieses Bewußtsein ist jetzt aber
unser kostbares Teil, nachdem der Heilige Geist in Person
herniedergekommen ist und als der Geist der Sohnschaft
Wohnung in uns gemacht hat. Ähnlich schreibt Paulus
an die Galater: „Weil ihr Söhne seid, so hat Gott den
Geist Seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da
— 74 —
ruft: Abba, Vater!" (Gal. 4, 6.) Wir stehen nicht unter
einem Juchtmeister, sind nicht Unmündige, die den Geboten
eines Vormundes oder Verwalters zu folgen haben,
sondern werden als Söhne Gottes, die sich dieses Verhältnisses
bewußt sind, durch den Geist geleitet.
Welch ein Verhältnis, welche Beziehungen für solche,
wie wir einst waren! Und nun lesen wir weiter: „Der
Geist selbst zeugt mit unserem Geiste, daß wir Kinder
Gottes sind. Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben
Gottes und Miterben Christi, wenn wir anders mitleiden,
auf daß wir auch mitverherrlicht werden." (V. 46. 47.)
Aus dem Verhältnis, in das wir gebracht sind, entspringen
wunderbare Segnungen. Nicht nur hat der Geist uns
neues Leben mitgeteilt und die Gefühle und Zuneigungen
von Kindern in uns geweckt, sondern Er zeugt auch mit
unserem Geiste (eben diesem neuen, in uns gewirkten Leben),
daß wir Kinder Gottes sind, daß wir zu der Familie
Gottes gehören und darum an alledem teilhaben,
was diesem Verhältnis eigen ist. Es handelt sich hier also
nicht um das, von außen an uns ergehende Zeugnis Gottes
bezüglich unserer Errettung durch den Glauben an
Christum, sondern um ein Zeugnis in uns, um das
klare Bewußtsein der Seele, ein Kind Gottes zu sein.
Und ich möchte fragen: Haben wir dieses Zeugnis, dieses
Bewußtsein nicht? Rufen wir nicht mit Kindeszuversicht:
„Abba, Vater"? Und warum können wir so rufen? Weil
der Geist selbst mit unserem Geiste zeugt, daß wir Kinder
Gottes sind. Wir würden so nicht rufen können,
wenn das Zeugnis nicht in uns wäre.
Ehe wir weitergehen, noch ein kurzes Wort über die
Titel „Söhne" und „Kinder". Erinnert der Titel „Söhne"
72
mehr an unsere Stellung und an die mit ihr verbundenen
Vorrechte, im Gegensatz zu „Knechten" oder
„Sklaven", so weist der Name „Kinder" auf die innige
Beziehung hin, in welcher wir, als aus Gott
geboren, zum Vater stehen. Wir sind nicht nur als Söhne
angenommen, in die Stellung von Söhnen versetzt,
sondern sind auch als Kinder in die Familie Gottes
hineingeboren, um so jetzt schon die Freuden
dieses Verhältnisses zu genießen und bald mit Christo in
den Besitz alles dessen eingeführt zu werden, was Gott
selbst gehört. Wir sind Kinder Gottes mit all den wunderbaren
und ewigen Segnungen, die aus diesem Verhältnis
hervorgehen.
„Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben Gottes
und Miterben Christi." Israel war einst das Erbteil
Jehovas — ein gesegneter Platz! Aber unendlich höher
und herrlicher ist der unsrige: wir sind Erben Gottes,
Sein Besitz ist unser Besitz. Wie das möglich geworden
ist, zeigt uns der zweite Titel: „Miterben Christi".
Mit Ihm nur können und sollen wir alles teilen, mit
Ihm, der als der Erstgeborene aller Schöpfung und der
Erstgeborene aus den Toten, als Schöpfer und Erlöser
ein unbestrittenes Recht auf alle Dinge hat und uns nun
in wunderbarer Gnade an diesem Recht teilnehmen läßt.
Selbstverständlich gebührt Ihm als Mensch immer und
„in allem der Vorrang" (Kol. r, 1,8), und wenn wir
an Ihn als Gott denken, so ist es klar, daß wir an Seiner
Gottheit niemals teilhaben können, wiewohl wir als
Kinder der göttlichen Natur und als Söhne der ganzen
Segenöfülle teilhaftig geworden sind, die mit diesen Titeln
in Verbindung steht.
73
Der -Weg zu dem herrlichen Ziele, das vor uns liegt,
führt indes durch Leiden. Kein Christ kann ihnen entgehen;
darum der Nachsatz: „wenn wir anders
mitleiden, auf daß wir auch mitverherrlicht werden".
Diese Bedingung hat schon manchen Leser stutzig gemacht,
aber wohl nur deshalb, weil man nicht genau genug gelesen
hat. Es geht uns oft so mit dem Worte Gottes: wir
lesen zu schnell oder zu oberflächlich, tragen auch gern
unsere Gedanken in das Wort hinein, anstatt ohne Voreingenommenheit
und unter Gebet nach Gottes Gedanken
zu forschen.
So ist es gekommen, daß man, obwohl ganz deutlich
dasteht: „wenn wir anders mit- (also mit Christo) leiden",
an Leiden für Christum gedacht hat. Daß Leiden
für Christum, Leiden um des Namens unseres Herrn
willen, ein Vorrecht sind, das nicht jedem Christen
geschenkt wird, wissen wir aus Phil, t, 29 und auf Grund
unserer Erfahrung. Aber den Leiden mit Christo kann
kein wahrer Christ entgehen. Unser Herr und Heiland
war in der Welt, auch bevor Er zum Kreuze schritt, „ein
Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut". Eine
Welr der Sünde und des Todes, der Leiden und der Tränen,
wo die Gesinnung und die Grundsätze des Fleisches
herrschen, konnte für Seine heilige Natur und für
Sein liebendes Herz nur eine stete Quelle des Schmerzes
und der Trauer sein. Ganz allein, als ein einsamer Fremdling,
den selbst die Jünger so oft nicht verstanden und
durch Eigenliebe, Unglaube, Unverstand und ähnliche
Dinge in Seinen innersten Gefühlen verwundeten, schritt
Er einher. Was Er sah und hörte beleidigte Sein Auge
und Ohr, verwundete Sein Herz und erweckte zugleich
74
Sein inniges Mitgefühl. Dabei fand Er für sich selbst
kein Verstehen, kein Mitgefühl, keinen Tröster. Für Seine
Liebe erntete Er Haß, für Seine Hilfe Undank, für Seine
Güte Hohn und Spott.
So fühlt auch der geistliche Mensch auf seinem
Gange durch die Welt die Dinge, wie Christus sie fühlte,
wenn auch selbstverständlich nicht in der gleichen Kraft.
Auch seine Natur steht im Gegensatz zu allem, was ihn
umgibt, und so kann es nicht anders sein: er leidet da, wo
Christus gelitten hat; er ist beschwert, er leidet mit
Christo. Seine Liebe zu Gott und Menschen, seine Gefühle
für Reinheit und Heiligkeit, seine Ehrerbietung vor
dem Namen und den Rechten Gottes und Seines Gesalbten,
ja, alles, was in ihm als einem Teilhaber der
göttlichen Natur wohnt, wird zu einer Quelle der Leiden
für ihn. Die Folgen der Sünde um ihn her, verbunden
mit dem Unglauben, der Gleichgültigkeit und Halsstarrigkeit
der Menschen, bereiten ihm Schmerz, jede Verunehrung
Christi, jedes häßliche, unreine oder lästernde Wort
tut ihm weh. Selbst der Räuber am Kreuz verwies seinem
Genossen die Schmähung des Herrn; sie schmerzte
ihn. Aber Gott sei gepriesen! es wird nicht so bleiben.
Gerade dieses Teilnehmen an den Leiden Christi verbürgt
uns die Teilnahme an Seiner Herrlichkeit droben. Bald
werden alle, die hier mitleiden, dort mitverherr -
licht werden. Wer nicht in irgend einem Maße, und
sei es auch nur für Tage oder selbst Stunden (wie der
Räuber) mit leidet, beweist, daß er nicht aus Gott geboren,
daß er nicht ein Christ ist. Denn wie könnte der
Geist Christi erneuernd in einem Herzen wirken, ohne
die Gesinnung hervorzurufen, die in Christo selbst war?
75
Doch obwohl wir Kinder Gottes und darum auch
Erben Gottes und Miterben Christi sind, besitzen wir die
Erbschaft doch noch nicht, und zwar nicht nur aus dem
Grunde, weil wir noch in diesem Leibe sind, sondern auch
weil die Erbschaft selbst noch verunreinigt und dem Verderben
unterworfen ist. So wie die Schöpfung jetzt ist,
paßt sie nicht für die Erben, weder für den Herrn noch
für die Seinigen. Darum sitzt E r noch wartend zur Rechten
Gottes, und wir warten, bis die Stunde für die
Offenbarung der zukünftigen Herrlichkeit gekommen ist.
Im Blick auf diese Herrlichkeit konnte der Apostel, der
mehr als irgend einer von uns mit Leiden vertraut war,
den Römern schreiben:
„Denn ich halte dafür, daß die Leiden der Jetztzeit
nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen
Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll. Denn
das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die
Offenbarung der Söhne Gottes." (V. 18. Id.) Der Geist
Gottes, der unseren Mut beleben und uns zum Ausharren
ermuntern möchte, lenkt unseren Blick auf diese Herrlichkeit
und sucht die Überzeugung in uns zu wecken, daß die
Leiden, durch welche wir heute gehen, so drückend sie sein
mögen, nicht wert sind, irgendwie in Vergleich gestellt zu
werden mit der Herrlichkeit, die vor uns liegt. Inwieweit
es Ihm gelingt, Sein Ziel bei der einzelnen Seele zu erreichen,
ist ja eine zweite Frage, die mit der persönlichen
Herzensstellung zusammenhängt. Der Apostel konnte im
Blick auf sich selbst sagen: „I ch halte dafür". Erwußte
nicht nur, sondern war der vollen Überzeugung, erhielt
dafür. In Vers 22 u. 28, wo es sich um ein allen Gläubigen
gemeinsames Teil handelt, sagt er: „Wir wissen".
76
Unser Leben ist jetzt mit dem Christus verborgen in
Gott. Wenn aber der Christus, unser Leben, geoffenbart
wird, dann werden auch wir mit Ihm geoffenbart werden
in Herrlichkeit. (Vergl. Kol. 3, 3. 4.) Auf diese Offenbarung
der Söhne Gottes wartet die ganze Schöpfung
mit sehnsüchtigem Harren. Sie leidet und seufzt, denn
„sie ist der Nichtigkeit unterworfen worden, (nicht mit
Willen — sie hat ja keinen Willen —, sondern um deswillen,
der sie unterworfen hat — des ersten Adam) auf
Hoffnung, daß auch selbst die Schöpfung freigemacht werden
wird von der Knechtschaft des Verderbnisses zu der
Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir
wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und
zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt." (V. 20—22.)
Die Schöpfung seufzt unter den Folgen des Sündenfalles,
der sie unter die Knechtschaft des Verderbnisses
oder der Vergänglichkeit gebracht hat. Als der Mensch,
das Haupt der niederen Schöpfung, fiel, teilte die Schöpfung
sein Los. W i e herrlich sie vor dem Falle war, wissen
wir nicht. Wir wissen aber, daß nach dem Urteil Gottes
„alles sehr gut war", (b. Mose b, 34.) Die Sünde
des Menschen hat alles verdorben. Aber wie köstlich ist
der Gedanke, daß die Schöpfung, die durch unsere
Schuld der Knechtschaft des Verderbnisses verfallen ist,
nun auch auf unsere Verherrlichung wartet, um von
dieser Knechtschaft wieder befreit zu werden! Und wie wunderbar
sind die Wege und Ratschlüsse Gottes! In Seiner
unergründlichen Gnade beschäftigt Er sich zunächst mit
den Schuldigen, mit denen, die durch ihren Abfall von
Ihm all den Jammer herbeigeführt haben, und erwählt
sie zu solchen, an denen Er den ganzen Reichtum Seiner
77
Liebe und Barmherzigkeit groß machen will, um dann auch
die durch sie (ohne eigene Schuld) ins Verderben geratene
Schöpfung in den kommenden Zeitaltern an der Herrlichkeit
teilnehmen zu lassen! Von dieser „Wiederherstellung
allerDing e", der „Wiedergeburt", wie der Herr
sie in Matth, 19, 28 nennt, hat Gott durch den Mund
Seiner heiligen Propheten von jeher geredet. (Vergl.
Apstgsch. 3, 79—21.)
Auf dem Wege zur Offenbarung dieser Herrlichkeit
bilden wir, die wir durch unseren Leib noch zu dieser Schöpfung
gehören, gleichsam den Mund derselben. Wir geben
durch unser Seufzen dem Seufzen der leidenden Schöpfung
in Gott wohlgefälliger Weise Ausdruck, und wir
tun das umsomehr, jemehr wir erkennen, was die Sünde
ist, und praktisch abgesondert von ihr wandeln. Weil unser-
geliebter Herr völlig frei war von der Sünde, die alle
diese Leiden veranlaßt hat, war Sein Mitgefühl mit den
Folgen derselben auch vollkommen. Er seufzte tief im
Geiste, und Er erschütterte sich, als Er auf dem
Wege zum Grabe des Lazarus die Maria und die sie begleitenden
Juden weinen sah. Die Juden meinten, Er
vergieße Tränen, weil Er den Verstorbenen so lieb gehabt
habe. Ach! sie ahnten nicht, worin Seine Erschütterung
ihre wahre Ursache hatte.
(Fortsetzung folgt)
Isaak Newton, der große Mathematiker und Astronom, pflegte
zu sagen: ,,Wenn ich dereinst durch Gottes Gnade in Sein Reich eingehen
darf, werde ich mich über drei Stücke wundern. Zum ersten, viele
dort nicht zu sehen, von denen ick es hier erwartet; zum anderen, viele
dort zu sehen, von denen ich es hier nicht erwartet; und endlich das
größte Wunder, mich selbst dort zu sehen!"
78
Sie Gemeinschaft des Leibes
und Blutes Christi
lEin einfaches V?ort der Erinnerung,
DaS Abendmahl ist zunächst ein Gedächtnismahl. Unser
Herr sagte an jenem feierlichen Abend zu Seinen Jüngern:
„Dieses tut zu meinem Gedächtnis", und wer
an dem Mahle des Herrn teilnimmt, ohne dabei im Innersten
seines Herzens Seiner zu gedenken, tut es sicherlich
nicht nach den Gedanken des Herrn. Die Einsetzungsworte:
„Dieses tut usw." weisen zugleich mit aller Deutlichkeit
darauf hin, daß es ein gemeinsames Mahl
ist, bei dem es keinen besonderen Leiter der Feier, keinen
Austeiler des Mahles oder irgend etwas dergleichen gibt.
Alle solche Dinge sind menschliches Beiwerk, geradeso wie
die Lehre, daß das Abendmahl ein Gnadenmittel sei, uns
zur Stärkung oder gar zur Bergebung der Sünden gegeben,
eine rein menschliche Erfindung ist.
Das Abendmahl ist jedoch nicht ausschließlich eine
Gedächtnisfeier. Zott hat durch Seinen Apostel die Worte
für uns niederschreiben lassen: „Der Kelch der Segnung,
den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes
des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht
die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein
Brot, e i n Leib, sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen
teil an dem einen Brote." (7. Kor. 70, 76. 77.)
In diesen beiden Versen handelt es sich offenbar nicht um
Gedächtnis, sondern um den Ausdruck einer Gemeinschaft,
und zwar einer Gemeinschaft in zwiefachem
Sinne. Im 76. Verse ist es die Gemeinschaft mit dem
7Y
wirklichen Leibe und Blute unseres Herrn, mit dem
Leibe, der ans Kreuz geschlagen, und dem Blute, das dort
vergossen wurde zur Vergebung der Sünden. Im 1.7. Verse
ist eö Gemeinschaft mit dem geistlichen Leibe des
Herrn, der aus all den Seinigen, den Gliedern eines
Leibes besteht, die nach Kap. 12, 13 durch den Heiligen
Geist zueinem Leibe getauft sind. *) Obgleich wir viele
sind, sind wir doch alle nur e i n Leib, und dies wird dadurch
zum Ausdruck gebracht, daß alle von dem einen
Brote essen.
*) Diese „Einheit des Geistes", d. h. die Einheit, die der
Heilige Geist gemacht h at und die allezeit vor Gott besteht,
(mag der Mensch sie auch völlig vergessen haben) mit allem Fleiß festzukalten,
sic in dem Bande des Friedens zu bewahren, werden wir
in Eph. 4, I—ö so nachdrücklich ermahnt.
Im 18. Verse wird dann die Gemeinschaft, die zwischen
den Anbetern und dem Opfer besteht, aus dem Alten
Testament näher erläutert. Waren nicht in Israel die,
welche die Schlachtopfer aßen, in Gemeinschaft mit dem
Altar? (V. 18.)
Jur weiteren Erklärung des letzten Gedankens müssen
wir uns zu dem Z. Buch Mose wenden. Im 1. Kapitel
dieses Buches finden wir die Verordnung über das
Brandopfer. Dasselbe wurde ganz auf dem Altar
geräuchert, nichts durfte von dem Priester oder dem, der
das Opfer darbrachte, gegessen werden. Es liegt auf der
Hand, daß das nicht der Gesichtspunkt ist, unter welchem
der Tod des Herrn in unserem Kapitel betrachtet wird.
Das Brandopfer stellt Christum vor in Seiner Widmung
für Gott, wie Er durch den ewigen Geist sich selbst ohne
Flecken geopfert hat, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch.
80
Im 2. Kapitel finden wir das Speiöopse r. Davon
wurde ein Teil von Aaron und seinen Söhnen gegessen.
Aber in diesem Opfer gab es kein Blutvergießen,
es war kein Schlachtopfer, und „ohne Blutvergießung ist
keine Vergebung". Daö aus feinstem Mehl bereitete Speisopfer
stellt Christum als das vor, was Er in Seinem
Leben hienieden war, in Seiner heiligen menschlichen
Natur, bis zum äußersten erprobt durch das Feuer Gottes
— wiederum ein duftender Wohlgeruch für Gott,
jedoch nicht in dem obigen Sinne, sondern entsprechend
dem Worte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem
ich Wohlgefallen gefunden habe". — Dieses Opfer kann
für unsere Stelle also auch nicht in Betracht kommen.
Erst das im 3. Kapitel erwähnte Dank- oder
Friedensopfer liefert uns wertvolle Vergleichungspunkte,
indem es die beiden dafür nötigen Charakterzüge
trägt: neben dem Blutvergießen die Teilnahme des Opfernden
an dem Opfer, mit anderen Worten Gemeinschaft.
Der Gedanke der Gemeinschaft tritt in dem Umstand
besonders klar ans Licht, daß einzelne Teile des Opfertieres
auf dem Altar geräuchert werden mußten, während
andere von den Priestern und wieder andere von den
Opfernden gegessen wurden. Das Fett, die beiden Nieren
und das Netz über der Leber — Bilder von der Widmung
des Herzens und Willens für Gott — gehörten Jehova
als „eine Speise des Feueropfers zum lieblichen Geruch".
— Die Brust und die rechte Schulter waren das
Teil des Hohenpriesters und seiner Söhne. (Kap. 7,
3t—34.) Die rechte Schulter, daö Bild der Kraft, war
für den Priester, der daö Blut des Friedensopfers dar
— 87 —
brachte, die Brust, der Sitz der Zuneigungen, für die
Söhne Aarons, die priesterliche Familie, die übrigen Teile
des Tieres für die, welche das Opfer brachten. Heute gibt
es den Unterschied zwischen Volk und Priestern nicht mehr,
alle Gläubigen sind Priester.
In welch bewunderungswürdiger Weise bringt also
das Vorbild, welches uns die Anbetung der Gläubigen
vor Augen stellt, die „Gemeinschaft" zwischen Gott und
allen an dem Opfer Beteiligten zum Ausdruck, indem das
Opfer teilweise als Speise auf dem Altar Jehovas geräuchert,
teilweise von den Priestern und teilweise von den
Opfernden gegessen wurde! Auch mußte das Friedensopfer
am Tage seiner Darbringung gegessen werden, das
will sagen: in der ganzen Frische der Erinnerung und
Widmung. (Kap. 7, 75.) Ferner durfte an den Essenden
keinerlei Unreinigkeit gefunden werden; wer als ein
Unreiner von dem Fleische des Friedensopfers aß,
mußte aus seinen Völkern ausgerottet werden. (V. 20.)
So hat auch heute nicht nur niemand teil an dem Tische
des Herrn, der nicht durch das Blut Christi gereinigt ist,
sondern einem jeden Teilnehmer geziemt praktische
Heiligkeit. Niemand sollte es wagen, dem Tische des Herrn
mit unreinen Händen und belastetem Gewissen zu nahen.
Jeder wahre Christ hat das Vorrecht und ist würdig,
an dem Mahle des Herrn teilzunehmen, es sei denn, daß
ungerichtete Sünde, offenbar Böses in Wandel oder Lehre,
ihn davon ausschließe. Laßt uns darum stets der ernsten
Warnung eingedenk sein: „Wer irgend das Brot ißt oder
den Kelch des Herrn trinkt unwürdiglich, wird des Leibes
und Blutes des Herrn schuldig sein"! (7. Kor. 77, 27.)
Man kann zur Teilnahme berechtigt sein, und doch in un
82
würdiger Weise an dem Abendmahl teilnehmen; deshalb
fügt der Apostel hinzu: „Ein jeder aber prüfe
sichselbst, und also esse er von dem Brote und trinke
von dem Kelche". (V. 28.) Das hatten die Korinther
nicht beachtet. Darum war „Gericht" über sie gekommen:
viele unter ihnen waren schwach und krank, und ein gut
Teil war entschlafen. (V. 24. 30.)
O möchten wir es nie vergessen, daß in dem Abendmahl
die Gemeinschaft des wirklichen Leibes und Blutes
Christi, des für uns gestorbenen Herrn, zum Ausdruck
kommt und uns vergegenwärtigt wird! Möchten wir ferner,
so oft wir uns zum Brotbrechen zusammenfinden, alle
kommen in der Frische des göttlichen Lebens, indem wir
uns zugleich stets ins Gedächtnis rufen, daß wir nicht
als Einzelwesen anbeten, sondern in Gemeinschaft mit
den vielen Gliedern, die alle den einen Leib bilden, der
in dem einen Brote seine bildliche Darstellung findet!
Was könnte der Wichtigkeit eines solchen Beisammenseins
gleichkommen, wo wir, unter der Leitung und Jucht
des Geistes stehend, in heiliger Absonderung uns daran
erinnern, was es unseren hochgelobten Herrn gekostet hat,
uns in eine solche Gemeinschaft zu bringen! Eines Beisammenseins,
bei welchem wir, während unsere Handlung
Seinen Tod verkündigt, uns vergegenwärtigen dürfen,
daß Er jetzt zu dem höchsten Ehrenplatz droben erhöht
ist und doch sich herabläßt, das Fest durch Seine Gegenwart
zu verherrlichen (Matth. t8, 20) und in der
Mitte der Versammelten den Lobgesang zur Ehre Gottes,
des Vaters, anzustimmen! (Ps. 22, 22.)
83
N>le sollte Ich?
„Wie sollte ich dieses große Übel tun und wider
Gott sündigen?" (ft. Mose Zy, 9.)
Welch ein Gegensatz zwischen dem 39. Kapitel des
Buches Mose und dem vorhergehenden! Kapitel 38
ist ein dunkles Blatt aus der Geschichte Judas. Es berichtet
von ungezügelten Leidenschaften, von Dingen, die,
wie das Neue Testament sagt, nicht einmal unter uns
genannt werden sollten. Ach! Juda versäumte die bewahrende
Gnade Gottes.
Wie ganz anders Joseph! Da, wo der ältere Bruder
fiel, blieb der jüngere als Sieger stehen. Und unter welchen
Umständen! Wer wüßte nicht, was es heißt, mißverstanden,
falsch angeklagt, ungerecht bestraft zu werden?
Und dennoch wird Gott zu Seiner Zeit deine Gerechtigkeit
hervorbringen wie das Licht, und dein Recht wie den
Mittag.
Gott läßt zu, daß die Kraft geprüft
wird. Wir wissen nicht, wie es tatsächlich in und mit
uns steht, solang wir nicht vor eine entscheidende Wahl
gestellt werden. Auf unmerkliche Weise bildet sich unser
Charakter, wir müssen uns entschließen, Entscheidungen
treffen usw.; aber die Prüfungsstunde, die uns nötigt,
klar und offen Stellung zu nehmen, bringt unseren inneren
Zustand plötzlich ans Licht, sodaß wir in der Wahl,
die wir treffen, uns selbst erkennen können. Und wer
einmal das Gute und Reine erwählt hat, wird es ein
zweites Mal viel leichter wbeder tun, und durch jede neue
Entscheidung wird er stärker werden.
Gott läßt auch zu, daß die Tugend verdächtigt
wird. In ganz Ägypten gab es keine rei
84
nere Seele, als die Josephs, und doch lag gerade er unter
einer schrecklichen Beschuldigung. Aber er war still dem
Herrn und wartete auf Ihn. Er war gewiß, daß Gott ihn
nicht im Kerker lassen würde. Und es kam die Zeit, daß
des Königs Wort ihn lossprach. So stand er völlig gerechtfertigt
da.
Gott läßt auch zu, daß Gewissenhaftigkeit
schlecht belohnt wird. Was nützte es
jetzt, daß Joseph seines Herrn Sache so treu besorgt hatte?
— So schien es. Aber war nicht gerade der Kerker der
Weg für ihn zum Thron? Man preßte zwar seine Füße
in den Stock, und seine Seele kam in das Eisen, aber
„das Wort Jehovas läuterte ihn". (Ps. 405,
48. 49.)
Vertrauen
Lebe das Leben, das Gott dir gegeben.
Freu dich der Freude am sonnigen Tag.
Spende den Segen, mit dem du gesegnet,
Jedem, der irgend begegnen dir mag.
Liebe dein Schicksal! und scheint's dir auch trübe,
Weißt du gar manchmal nicht aus oder ein,
Schickt es zur Prüfung dein Gott doch aus Liebe,
Hilfreich will stets Er zur Seite dir sein.
Trau deinem Heiland, Er kennt deine Sorgen,
Nimmermehr stehst du im Kampfe allein;
Bist unter mächtigen Flügeln geborgen,
Sorglich und warm hüllt ihr Schatten dich ein.
Glaube und harre drum, leide und streite.
Wie auch dein Gott es klimmen dir mag;
Führt doch durchs Dunkel des Vaters Geleite
Sicher dich hin zu dem ewigen Tag. W. K.
Gericht und Segen
Es ist eine ernste und den meisten von uns wohlbekannte
Wahrheit, daß dem Hause Gottes Heiligkeit geziemt,
und daß, wenn Gott zu richten beginnt, Er „bei
Seinem Hause" anfangen muß. Auf den Erlösten des
Herrn ruht die schwerste Verantwortlichkeit; wie. könnte
der heilige Gott bei Seinen Kindern irgendwie Ungehorsam
gegen Seine Gebote und Seinen klar ausgesprochenen
Willen ungestraft lassen? Und wenn Er straft, wer wollte
nicht erschrecken? Dennoch liegt in den züchtigenden Wegen
Gottes sehr oft ein ungeahnter Segen für uns; sic
bezwecken schließlich doch nur, lösend und reinigend auf
unser inneres Leben zu wirken. Gott will uns durch sie
von all den Dingen befreien, von denen wir uns auf dem
Wege der Gnade nicht lösen ließen. Die Gnade möchte
uns ohne Gericht von allem freimachen, was sich eines
Tages als verderblich für uns auswirken würde. Gelingt
es aber dem Geiste Gottes nicht, uns auf diesem Wege zu
einem freiwilligen Aufgeben solcher Dinge zu führen, so
bleibt Gott nichts anderes übrig, als uns auf dem Wege
der Züchtigung dazu zu zwingen. Aber so ernst das ist, liegt
doch gerade in dem Gericht eine Gnade für uns.
Vielleicht kann uns ein bekannter Abschnitt aus dem
Leben des Königs David in dieser Beziehung zur Belehrung
und Ermunterung dienen. In 2. Sam. 6 und
b. Chron. lZ lesen wir, daß David sich aufmachte, die
l.XXVM 4
86
Bundeslade, welche durch die Untreue Israels in die
Hände der Philister gefallen und dann nach Baal-Juda
gekommen war, in die Stadt Jerusalem hinaufzubringen.
Nach Gottes Vorschrift mußte die Lade von den Leviten
auf der Schulter getragen werden, und niemand, selbst
die Leviten nicht, durfte sie anrühren; wer sie anrührte,
»rußte sterben. (Vergl. 4. Mose 4, 45; 7, d; 5. Mose
40, 8; 34, y. 25.) David wußte das (vergl. 4. Chrom
45, 2), aber trotzdem ließ er (gleich den Philistern) sie
auf einen neuen Wagen stellen, wohl in der törichten
Meinung, sie dadurch zu ehren. Das wurde dann zum
Anlaß des ernsten Gerichts, das Ussa, den Sohn Abi-
nadabs, traf. Hätte David nach der Vorschrift Gottes
gehandelt, so wäre die Lade nie ins Wanken gekommen.
So aber langte Ussa in bester Absicht nach ihr, faßte sie
an, und daö Gericht traf ihn in sofortigem Tod. David,
aufs tiefste betrübt und von Furcht erfüllt, sprach:
„Wie soll die Lade Jehovas zu mir kommen? Und David
wollte die Lade nicht zu sich einkehren lassen in die Stadt
Davids; und David ließ sie beiseite bringen in das Hauö
Obcd-Edoms, des Gathiters." Dort blieb sie drei Monate
und brachte Segen über Obed-Edom und sein ganzes
Haus.
Wir können zweierlei hieraus lernen. Zunächst, daß
man die Gebote Gottes nicht ungestraft übertreten darf,
und dann, daß die Gegenwart des Herrn in der Mitte der
Scinigen mit heiligem Ernst verbunden ist, was wir so
leicht vergessen. Wieviel Licht fällt durch das Erlebnis
Davids mit Ussa auch in unser persönliches Glaubensleben!
Wie oft ist auch bei uns das eigene Ich mit seinen
guten Meinungen und Absichten wirksam gewesen und
87
har uns, trotz unserer Kenntnis der Gedanken und des
Willens Gottes, auf Wege geführt, zu Handlungen verleitet,
die statt einer Anerkennung das ernste Mißfallen
des Herrn über uns brachten! Und wir sind dann vielleicht
auch durch ein unerwartetes Einschreiten Seinerseits erschrocken
gewesen und haben eine Zeitlang ganz mut- und
verständnislos dagestanden. Die Erinnerung an den Ernst
lind die Heiligkeit Seiner Gegenwart und an die unverbrüchliche
Wahrheit Seines Wortes ließ uns schließlich
aber Gericht üben an dem, was sich als Fleisch in unser
Tun und Lassen gemischt hatte.
Ussa meinte es gut, als er die Lade Gottes anfaßte,
um sie vor dem Sturz zu bewahren; dennoch wurde er
von Gott gerichtet. Gottes Gegenwart kann kein Fleisch
dulden. Alles Eigene und Fleischliche muß vor Ihm weichen.
Wo Gott wirkt, da gibt es keinen Raum für fleischliches
Meinen und Wirken, denn alles Fleischliche ist und
bleibt seinem Wesen und seiner Gesinnung nach Feindschaft
wider Gott. Gemeinschaft mit Gott liegt für uns,
solang wir in diesem Leibe sind, nur auf der Linie der
Absonderung von allerArt des Bösen. Unmöglich können
wir in einem wirklichen, innigen Gemeinschaftsverhältniö
zu Gott stehen und zu gleicher Zeit mit Dingen in Verbindung
bleiben oder Wege gehen, die vor Ihm verwerflich
sind. Und wer sich nicht durch Gottes Wort und Geist
von solchen Dingen lösen läßt, den muß der Herr, wie
bereits gesagt, auf dem Wege des Gerichts von ihnen befreien.
So schmerzlich es für Ihn sein mag, uns durch ein
solches Feuer gehen zu lassen. Er weiß, welch ein Segen
für uns damit verbunden ist. Und ist es nicht ungleich
besser, auf solchem Wege gereinigt und befreit zu werden.
88
als unrein zu bleiben und dereinst vielleicht fruchtleer vvr
Gott zu stehen und den erwarteten Lohn zu verlieren?
Doch kehren wir zu David zurück. Drei Monate lang
blieb der Vorsatz, die Bundeslade nach Jerusalem hinaufzubringen,
unausgeführt. Ähnlich ergeht eö manchen Gläubigen
heute. Wenn sie erkennen, daß der Weg der völligen
Absonderung gar eng und heilig ist, verlieren sie den Mut,
die Kosten der Scheidung zu tragen, die mit einem Leben
in der Gegenwart Gottes und auf dem schmalen Pfade
der Wahrheit verbunden sind. Wie David die Bundeölade
anderen überließ, überlassen sie dann auch das Leben vor
den Augen des Herrn, den Wandel im Lichte Seiner Gegenwart
anderen und bleiben untätig.
Doch was tat der Herr während der drei Monate,
in welchen die Lade Gottes im Hause Obed-Edoms war?
Jehova segnete ihn und sein ganzes Haus
durch Seine Gegenwart. Ussa wurde durch die
Gegenwart des Herrn gerichtet, David erschreckt
und verwirrt, und Obed-Edom und sein Haus wurden
durch dieselbe Gegenwart gesegnet. Welche Gegensätze!
Dort Tod und Verwirrung, hier Leben und
Segen! Gottes Gegenwart richtet das Fleisch, aber bringt
Segen über den geistlichen Menschen. Laßt uns deshalb
nicht zurückschrecken, wenn Gott in ernster Weise mit uns
redet! Das Feuer Seiner Gerichte reinigt uns nur von
den Schlacken unseres eigenen Lebens. Es wird unö nur
das genommen, was unsere Gemeinschaft mit Ihm hindert
oder trübt. Wer aufrichtig wünscht, daß in seinem Leben
und Zeugnis nichts zurückbleiben möchte, was nicht das
Licht Seines Angesichts ertragen kann, der wird sich nicht
nur nicht fürchten vor Seinem heiligen Auge, sondern be
89
gehren, daß es ihn bis ins tiefste Quellengebiet seines Lebens
hinein durchforsche. Nur wer mit Dingen nicht brechen
will, die der Herr durch Sein Wort und Seinen
Geist verurteilt, hat Grund, das Leben in Gottes Gegenwart
zu fürchten.
Wir wollen es unö immer wieder sagen, daß jede
Verbindung mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis,
ja, mit allem, was fleischlich genannt werden muß,
unvereinbar ist mit einer innigen Verbindung mit Gott.
Gott kann um unseres Heiles und um Seines Namens
willen, den Er mit dem unsrigen verknüpft hat, eine solche
Vereinigung nicht dulden. Die Worte: „Seid heilig, denn
ich bin heilig", und: „Jeder, der den Namen des Herrn
nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit" (t. Petr, 'l, rb;
2. Tim. 2, 1y), sind bleibende göttliche Grundsätze für
unsere Gemeinschaft mit Gott, in denen neben einer Forderung
an uns ein unberechenbarer Segen für uns
liegt. Haben wir es nicht mehr als einmal erlebt, daß ein
Gläubiger sich zurückzog, weil ihm die Kosten eines Wandels
mit Gott zu hoch und die durch das Wort gezogenen
Grenzen zu eng erschienen, und daß. dann innerliche Verarmung
und geistlicher Kräfteverfall eintraten, während
andere, die in der Gegenwart Gottes lebten und auf dem
Wege Seiner Gebote ausharrten, von Erkenntnis zu Erkenntnis,
von Sieg zu Sieg geführt wurden?
Vielleicht ist es dem Leser auch schon ähnlich ergangen.
In einem solchen Falle gibt es nur ein Mittel, nur
einen Weg der Heilung. Mache es wie David! Als ihm
berichtet wurde, daß Jehova Obed-Edom und sein ganzes
Haus um der Lade Gottes willen gesegnet habe, und ihm
so seine Torheit und sein Verlust zum vollen Bewußtsein
yo
kamen, da zögerte er keinen Augenblick länger, sondern
holte die Lade in seine Stadt herauf mit Freuden. Und
warum konnte er es jetzt mit Freuden tun? Weil es diesmal
unter genauester Beobachtung der göttlichen Vorschriften
geschah. „Die Priester und die Leviten heiligten
sich, um die Lade Jehovas, des Gottes Israels,
hinaufzubringen. Und die Söhne der Leviten trugen die
Lade Gottes auf ihren Schultern, indem sie die
Stangen auf sich legten, so wie Mose geboten hatte nach
dem Worte Jehovas." (1. Chron. 15, 14. 15.)
Es ist gewiß ein Verlust, wenn unser Weg der treuen
Nachfolge des Herrn Unterbrechungen erleidet. Aber sind
solche aus irgendeinem Grunde eingetreten, so können wir
nichts Besseres tun, als so schnell wie möglich jenen Weg
unter ernstem Selbstgericht wieder aufzusuchen. Es kann
nicht anders sein, als daß in solchen Fällen auch unser
Glaubens- und Gemeinschaftsleben mit dein Herrn eine
Unterbrechung erleidet. Die Freude am Herrn, unsere einzige
Stärke, nimmt ab, wir werden mutlos und verzagt
und bleiben da stehen, wo andere mutig weitergehen. Wer
anfängt, sich der Gemeinschaft mit Gott in seinem Leben
zu entziehen, der muß schwach und unglücklich werden.
Noch nie haben wir gefunden, daß Kinder Gottes glücklich
waren, die, dem empfangenen Licht ungehorsam, in ihrem
Wandel nachlässig wurden oder vor dem schmalen Pfade
der Wahrheit zurückschreckten. Wenn einmal jemand die
in der Gegenwart Gottes wehende reine Luft geatmet bat,
kann er sich nicht mehr wohl fühlen in der unreinen
Atmosphäre des Eigenwillens und Sichselbstlebens.
Laßt uns denn, wenn unser Weg Unterbrechungen
erlitten hat, nicht bei ihnen stehen bleiben! Wie bei David
— 9r —
«ach einer Zeit der Beschämung und Beugung die Stunde
des Sichzurechtfindens und der Umkehr zu Gott kam, so
sollte es auch bei uns sein. Gott möchte uns gern ganz
(nicht nur halb) glücklich vor Seinem Auge sehen; aber
das ist nur dann möglich, wenn wir bereit sind, die Kosten
einer inneren und äußeren Absonderung für Ihn zu tragen.
Das wird nicht immer leicht sein, aber es lohnt sich, diesen
gesegneten Weg zu gehen. Mag das -Gericht, das Gott
an unserem natürlichen Wesen übt, oft auch schwer erscheinen,
Seine Gegenwart wird das Darangegebene weit
mehr als ersetzen. Fürchten wir uns deshalb nicht, alles,
was aus dem Fleische ist, in den Tod zu geben. Jemehr
wir eö tun, desto reicher wird der Ersatz für uns sein.
Jedes Selbstgericht, das wir an unserem fleischlichen Wesen
vollziehen, mag es sich handeln, um was es will, bedeutet
Segen für uns. Gott wird dadurch in uns Raum
gemacht für Seine Kraft und Herrlichkeit.
Aber, höre ich den Leser einwenden, wird man mich
verstehen, werde ich die Anerkennung der Menschen haben,
wenn ich in allem den Weg der Gemeinschaft mit Gott
zu wandeln und ein Leben in Seinem Licht zu führen begehre?
Es ist oft gesagt worden: „Heilige Wege sind
einsame Wege". Und so ist es in der Tat. Je näher ein
Mensch Gott tritt, desto mehr wird er sich allein finden.
Wie einsam war der Pfad des einzig vollkommenen Dieners
Gottes auf dieser Erde! Wie einsam auch der Weg
Seines treuen Zeugen Paulus! Alle „wandten sich von
ihm ab", alle „verließen ihn" in der Stunde der Gefahr.
(2. Tim. t, 45; 4, 46.) Noch nie sind Kinder Gottes, die
aufrichtig danach strebten, gewissenhaft Gottes Wege zu
gehen, von denen verstanden worden, die in fleischlicher
42
Gesinnung das eigene Leben mehr liebten als die Gemeinschaft
mit Gott. Vor allem wird die große Menge solche
nicht verstehen. Als David vor der Lade Gottes hüpfte und
spielte, um die Freude seines Herzens zum Ausdruck zu
bringen, „da schaute Michal, die Tochter Sauls, durchs
Fenster; und sie sah den König David Hüpfen und spielen,
und sie verachtete ihn in ihrem Herzen". Obgleich
sie das Weib Daviös war, ihm also äußerlich so nahe wir
möglich stand, hatte sie doch keinerlei Verbindung mit seiner
Frömmigkeit. Es fehlte ihr jegliche Grundlage zum
Verständnis der Herzensfreude, die David in diesen Stunden
genoß, als er „eine Stätte für Jehova gefunden hatte,
Wohnungen für den Mächtigen Jakobs". (Pf. lZ2, S.)
Sie hatte die Abwesenheit der Lade des Herrn noch nie
als einen Verlust empfunden.
Auch in unseren Tagen gibt es Seelen, die innerlich
eine ähnliche Stellung einnehmen wie die Tochter Sauls.
Obwohl bekehrt, was Michal nicht war, und äußerlich mit
dem Volke Gottes verbunden, ist doch ihre innere Verbindung
mit dem Herrn äußerst mangelhaft. Von der
verborgenen Gemeinschaft mit Ihm wenig wissend, sind
sie blind über sich selbst und voll von Vorurteilen und
selbst Vorwürfen gegen andere Gläubige, die sich dieser
Gemeinschaft erfreuen und glücklichen Herzens mit Gott
wandeln. Aber wer einmal geschmeckt hat, welche Freuden
ein solcher Wandel mit sich bringt, der wird auch mit
David sagen: „Vor Jehova will ich spielen, und ich
will noch geringerwerden denn also und will niedrig
sein in meinen Augen". Man mag ihn vielleicht scharf
beurteilen und gelegentlich selbst verurteilen, aber er läßt
sich dadurch nicht beirren. In Demut vor Gott stehend.
— HZ —
hat er nur das eine Begehren, Gottes Anerkennung zu
haben und in den kostbaren Genuß Seiner Gemeinschaft
immer mehr hineinzuwachsen. Er singt und sagt nicht
nur: „Näher, mein Gott, zu Dir! näher zu Dir!", sondern
er lebt in der praktischen Verwirklichung dieses
Wortes, und -- sein Wunsch wird erfüllt.
9<rr Brief an dt«r Römer
(Fortsetzung)
Kapitel 8, 12—30
Der Apostel vergleicht die Schöpfung mit einem gebärenden
Weibe, das sehnsüchtig auf die durch die Wehen
angekündigte Geburt ihres Kindleins wartet. Sie kann
sie nicht beschleunigen, sie kann nur seufzen und harren.
So die Schöpfung. Sie seufzt und harrt auf die Offenbarung
der Söhne Gottes. Noch unterscheiden diese sich
äußerlich nicht von den übrigen Menschen, sie sind schwach,
vielleicht arm oder gar körperlich mißgestaltet, leiden und
sterben wie sie. Aber so wird es nicht bleiben. Bald werden
sie, aus den Toten auferweckt oder als Lebende verwandelt,
als Miterben Christi mit Ihm in Herrlichkeit
erscheinen, und dann wird auch die Schöpfung frcigemacht
werden zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder
Gottes. Ihre Befreiung von der Knechtschaft des Ver-
derbnisses hängt ab von dieser Offenbarung der Herrlichkeit,
wenn Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen
wird in Christo. (Eph. r, l0.)
Heute ist Gnadenzeit, und niemand kann in die Freiheit
der Gnade eintreten, es sei denn durch Glau
Y4
b e n. Auf diesem Boden kann es darum keine Verbindung
zwischen der Schöpfung und uns geben, einmal weil die
Schöpfung nur körperlich ist und keinerlei Einsicht besitzt,
dann aber auch weil sie nicht durch ihre Schuld in ihren
gegenwärtigen Zustand gekommen ist, also auch nicht der
Vergeb u n g bedarf. Wenn aber die Freiheit der H err -
lichkcit der Kinder Gottes erscheinen wird, dann werden
die gesegneten Folgen des ErlösungöwerkeS Christi auch
an der Schöpfung offenbar werden. War es doch das
Wohlgefallen der ganzen in Christo wohnenden Fülle,
„durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen, indem
Er Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes".
(Kol. 1, 20.) Die Dinge sind heute noch nicht
versöhnt, aber daö Sühnungsblut Christi, auf Grund
dessen sie der Versöhnung teilhaftig werden sollen, ist geflossen,
das dafür nötige Werk ist vollbracht.
Aber nicht nur seufzt die Schöpfung noch, „auch
wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch
wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschast:
die Erlösung unseres Leibes". (V. 23.) Wir seufzen nicht
etwa, weil das Schwinden und Vergehen der zeitlichen
Dinge uns drückt, sondern weil wir durch den Geist den
Gegensatz zwischen unserem gegenwärtigen Zustand und
der vor uns liegenden Herrlichkeit fühlen und durch unseren
noch nicht erlösten Leib fortwährend daran erinnert
werden. Denn „die Sohnschaft" in der vollen Bedeutung
des Wortes — dazu gehört auch ein verherrlichter
Leib, der die Kraft Christi an sich erfahren hat, — ist
uns noch nicht zuteil geworden. Wir „besitzen diesen Schatz
in irdenen Gefäßen" und „sehnen uns, mit unserer Behausung,
die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden".
95
(2. Kor. 4 u. 5.) Indem wir mit der Hoffnung der Herrlichkeit
erfüllt sind, werden wir durch das Anschauen der
Dinge um uns her zu jenem Seufzen gebracht, das der
Kanal des Seufzens der Schöpfung genannt werden kann.
Dieses Seufzen ist, wie bereits gesagt, nicht die Frucht
von Unzufriedenheit oder Ungeduld, sondern die Wirkung
des in uns wohnenden Heiligen Geistes, dessen „Erstlinge"
*) wir haben. Das Seufzen des Christen geschieht also
im Geist der Liebe, und jemehr er die in sein Herz ausgegossene
Liebe Gottes durch den Geist in sich wirken
läßt, jemehr er fühlt, wie alles um ihn her Gott entgegen
ist, umso tiefer und inniger wird sein Seufzen werden.
*) wohl so genannt im Blick auf di.' große „Ernte" am Ende
der Tage, wenn der Heilige Geist „über alles Fleisch" ausgegossen
werden wird. (Ivel 2, 28; Jes. 32, tS.) Ähnlich werden wir „eine
gewisse Ersilingssrucht der Geschöpfe Gottes" genannt. (Jak. t, 18.)
„Denn in Hoffnung sind wir errettet worden. Eine
Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung;
denn was einer sieht, was hofft er es auch? Wenn wir
aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit
Ausharren." (V. 24. 25.) In seinem Gewissen vollkommen
gemacht und durch die Kraft des Heiligen Geistes
geleitet, verwirklicht der Christ das vor ihm Liegende, noch
nicht zu Sehende in einer „Hoffnung, die nicht beschämt".
Er weiß zwar nicht, wann das Schauen kommen wird,
aber er weiß gewiß, daß es kommt, und so wartet er
mit freudigem Auöharren, indem die Hoffnung ihn das
Zukünftige gleichsam als schon gegenwärtig genießen läßt.
Auf Dinge, die man sieht, braucht man nicht mehr zu
hoffen, sie sind da.
„Desgleichen aber nimmt auch der Geist sich unserer
Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir bitten
96
sollen, wie sich's gebührt, aber der Geist selbst verwendet
sich für uns in unaussprechlichen Seufzern." (V. 26.)
Welch eine wunderbare Gnade! Wir haben früher gehört,
daß der Geist in uns wohnt, uns leitet und mit unserem
Geiste Zeugnis gibt, daß wir Kinder Gottes sind; hier
wird uns gesagt, daß Er sich dazu herabläßt, sich mit den
Gläubigen in ihrem gegenwärtigen Zustande der Schwachheit
einözumachen. Wir sind Menschen von Fleisch und
Blut, schwach, kurzsichtig, unterliegen gern den Einflüssen,
die von innen und außen her auf uns wirken, sind von
Natur vielleicht ängstlich und zaghaft, ermatten leicht und
lassen dann mutlos die Flügel sinken. Nun, während wir
so durch die Welt gehen und in Liebe derer gedenken, die
gleiche Erfahrungen machen wie wir, dürfen wir uns einerseits
des innigen Mitgefühls unseres Hohenpriesters droben
erfreuen, der einst in allem versucht worden ist wie
wir. Er freilich ohne Sünde, und haben anderseits in uns
den erhabenen göttlichen Gast, der sich allezeit für uns
verwendet in unaussprechlichen Seufzern.
In den Dingen, die mit dieser Schöpfung Zusammenhängen,
in den Versuchungen, Krankheiten, Schwierigkeiten
usw., die uns und unseren Geschwistern auf dem
Gange durch diese Welt begegnen, ja, selbst im Blick auf
die ganze Lage der Dinge um uns her wissen wir sehr
oft nicht, was wir bitten sollen, wie sich's gebührt. Wir
kennen weder ein Heilmittel für sie, noch den Willen
oder die Absicht Gottes in ihnen. Wir können dann nur
seufzen, aber der Geist, der dieses Seufzen selbst in uns
bewirkt, verbindet sich darin mit uns in Seufzern, die
sich in Worte nicht kleiden lassen, und unser Gott und
Vater droben, der uns sieht und hört, „weiß, was der
— Y7 —
Sinn des Geistes ist, denn Er verwendet sich für Heilige
Gott gemä ß". (V. 27.) Welch eine Gnade, daß wir
überzeugt sein dürfen, daß der Gott, „der die Herzen
erforscht" — ein wichtiger Zusatz! — in unserem Seufzen
die Gesinnung des Geistes entdeckt. Denn wenn unsere
Herzen aufrichtig sind vor Gott, dann ist es der Geist, der
unseren Gefühlen als Menschen, die noch dieser seufzenden
Schöpfung angehören und an ihren Leiden teilnehmen,
Ausdruck verleiht, und Gott versteht Ihn.
Aber nicht nur das. Wir wissen zu gleicher Zeit, „daß
denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken,
denen, die nach Vorsatz berufen sind". (V. 28.) Wir
wissen aus Mangel an Erkenntnis nicht immer, wie wir
gebührend beten sollen (denken wir z. B. an den Apostel
Paulus selbst in 2. Kor. 72), aber das eine wissen
wir, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken. Fürwahr, ein kostbarer Trost! Beachten wir
indes den Ausdruck: „denen, die Gott lieben". Es heißt
nicht, „die Gott lieb t", obwohl das selbstverständlich
immer wahr ist. Es handelt sich um Menschen in einer
von Gott entfremdeten Welt, auf denen Sein Auge mit
Wohlgefallen ruht, denen Er „das bereitet hat, was kein
Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen
Herz gekommen ist" (7. Kor. 2, y; vergl. Jak.
7, 72; 2, 5), um Menschen, die Er nach Seinem göttlichen
Vorsatz aus der Welt berufen und Seinem geliebten Sohne
geschenkt hat, die nun ihr Verhältnis als Kinder zum
Vater kennen. Mit anderen Worten, wenn Gottes Auge
auf diese Erde herabschaut, erblickt es inmitten der Kinder
dieser Welt, deren Gesinnung Feindschaft ist wider
Ihn, solche, die Ihn lieben, so schwach es sein mag. Daß
Y8
sie das nur deshalb zu tun vermögen, weil Er sie zuerst
geliebt hat, und daß ihre Liebe immer nur schwach und
gering bleiben wird, ändert nichts an der Tatsache, daß
sie die Gegenstände des liebenden Interesses Gottes sind,
zu deren Bestem Er alles, das Kleinste wie das Größte,
mitwirken läßt. Zu diesem kostbaren Bewußtsein kommt
noch hinzu, daß die Gläubigen schon vor Grundlegung
der Welt Gegenstände des Vorsatzes Gottes waren, daß
Er sie zuvorerkannt hat, ja, „zuvorbestimmt,
dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein". (V. 2d.)
Wunderbare Mitteilungen! Sie leiten hinüber zu der in
dem letzten Teil unseres Kapitels ganz bestimmt ausgesprochenen
Behauptung, daß Gott für uns ist, und daß
deshalb keine Macht in der Höhe oder in der Tiefe uns
von Seiner Liebe zu scheiden vermag.
„Denn welche Er zuvorerkannt hat, die hat Er auch
zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig
zu sein, damit Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
Welche Er aber zuvorbestimmt hat, diese hat Er
auch berufen; und welche Er berufen hat, diese hat Er
auch gerechtfertigt; welche Er aber gerechtfertigt hat, Biese
hat Er auch verherrlicht." (V. 29. 30.) In dieser herrlichen
Kette von Gedanken und Wegen Gottes, die, von
Ewigkeit zu Ewigkeit reichend, den göttlichen Vorsatz mit
unserer Verherrlichung im Vaterhause verbindet, erstrahlr
die Gnade Gottes in unvergleichlichem Glanze. Es ist die
einzige Stelle in unserem Briefe, die von dem Ratschluß
Gottes vor den Zeiten der Zeitalter redet, aber sie ist überwältigend
in ihrer Wirkung, und wir verstehen jetzt voll
und ganz den Ausruf des Schreibers: „Was sollen
wir nun hierzu sagen?"
99
Der Inhalt der beiden letztgenannten Verse (29 u. 30)
zeigt uns, daß Gottes Wirken hinsichtlich der von Ihm
Berufenen nimmer aufhört. Es beginnt in der Ewigkeit
und schließt mit der Ewigkeit. Welche Er zuvorbestimmt
hat, diese hat Er auch berufen, und welche Er berufen
hat, diese hat Er auch gerechtfertigt und ... bestimmt,
dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein — diese,
keine anderen, aber diese auch ausnahmslos. Seine Gnade
wird nicht ruhen, bis Seine Liebesabsicht erreicht ist, bis
Er alle diese Berufenen verherrlicht vor sich stehen
sieht, „dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig".
Gottes Auge ruht mit Wonne auf dem Manne Seiner
Rechten, auf dem in Auferstehungs-Herrlichkeit droben
thronenden Menschensohne, und zu der nämlichen Herrlichkeit
hat Er uns zuvorbestimmt. Nichts Geringeres als
das sollen diejenigen besitzen, die Er Ihm aus der Welt
gegeben hat. Schon hier auf Erden gibt es in geistlichem
Sinne, und je nach der Treue des einzelnen,
eine mehr oder minder große Gleichförmigkeit mit Christo;
aber als Söhne der Auferstehung und Söhne Gottes sollen
wir vor des Vaters Auge stehen in Leibern, die dem
Herrlichkeitsleibe des geliebten Sohnes gleichgestaltet sind.
Doch trotz der innigsten Verbindung mit Ihm werden wir
stets anbetend zu Ihm emporschauen und mit tiefer Freude
Ihn Herr nennen, der allein würdig ist, Ehre und Herrlichkeit
und Segnung zu empfangen. Obschon Er, der Heiligende,
und wir, die Geheiligten, alle „von einem"
sind, sodaß Er sich heute schon nicht schämt, uns Brüder
zu nennen (Hebr. 2, H), wird Er doch, zur Freude des
Vaters und in Erfüllung Seines Ratschlusses, in alle
Ewigkeit als „der Erstgeborene unter vielen Brü-
— roo —
dem" den strahlenden Mittelpunkt jener seligen
Scharen bilden, die, inSein Bild verwandelt, Ihn sehen
werden, wie Er ist. (k. Ioh. Z, 2.) Und sie? Jubelnd
werden sie niederfallen und ihre Kronen vor Dem niederwerfen,
der sie geliebt und sich selbst für sic hingegeben
hat.
Kapitel 8, 31—3Y
Es bleibt uns noch übrig, einen Blick auf den Schluß
unseres wunderbaren Kapitels zu werfen. Die eben betrachteten
Ausführungen des Apostels leiten ihn, in Verbindung
mit der ganzen Lehre des Briefes, zu der schon
erwähnten Folgerung, die er im Namen aller Gläubigen
zieht, daß Gott nicht nur durch Seinen Geist in uns
wohnt, sondern daß Er auch für uns ist, d. h. daß Er
Seine ganze Liebe uns zugewandt hat. Und ein Gott, der
so liebt, „ein solcher Gott versagt nichts mehr". So lesen
wir denn: „Er, der doch Seines eigenen Sohnes nicht
geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie
wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?"
Die Dahingabe des Sohnes ist eine Tatsache, und die
größte Gabe schließt alle kleineren von selbst mit ein.
Wenn Gott um unsertwillen Den nicht verschont hat, der
Seines Herzens Freude und Wonne, der der Mittelpunkt
aller Seiner Gedanken war, wenn Er Ihn für uns dahingab,
als wir noch Gottlose und Feinde waren, wie könnte
Er, nachdem wir Heilige und Geliebte geworden sind, lins
je etwas Gutes vorenthalten?
Und weiter, wenn Gott für uns ist, wer wider
uns? Wer will dem ewigen Gott entgegentreten, wer uns
Seinen allmächtigen Händen entreißen? Wer oder was
könnte uns Seine Gunst rauben oder Seine Liebesabsicht
101
mir uns durchkreuzen? Glückselig darum alle, die in kindlichem
Glauben sagen können: Gott ist für mich!
Abgesehen von dem schon früher Gesagten gibt uns
der Apostel hier drei Beweise für die Tatsache, daß Gott
wirklich für uns ist. Der erste ist eben die Dahingabe Seines
Sohnes, der zweite, daß Gott selbst uns rechtfertigt,
der dritte, daß nichts uns von Seiner Liebe zu
scheiden vermag. In dem ersten Beweis tritt uns vor
allem die Liebe Gottes entgegen. Sie ist die Quelle
von allem übrigen. Nicht alle Gläubigen verstehen das.
Viele sehen in Gott vornehmlich den gerechten Richter,
dessen Zorn durch das Werk Christi zwar abgewendet ist,
der aber doch stets wie ein kalter, strenger Richter auf
Seinem Richterstuhl sitzt. Daß Gott Liebe und darum
Ursprung und Grundlage unseres Heiles ist, kommt ihnen
nie klar zum Bewußtsein; sie sehen nur die Heiligkeit in
Gott und die Liebe in Christo. So war es fast allgemein
in den Tagen der Reformation, wie herrlich diese auch
anderseits waren, und so ist es vielfach noch in unserer
Zeit. Aber Gott sei gepriesen! nicht Gerechtigkeit
herrscht heute — sie wird einmal herrschen, wenn der
Tag des Gerichts gekommen ist, und wehe dann allen, die
ihr begegnen müssen! — nein, Gnade herrscht durch
Gerechtigkeit. (Kap. 5, 21.) Es ist von überaus großer
Wichtigkeit für den Frieden unserer Herzen, diesen Punkt
klar zu verstehen und so die richtigen Gedanken über Gott
zu haben. Es ist freilich wahr, daß Christus alles getan
hat, um die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen, aber es
ist ebenso wahr, daß die Liebe Gottes das „Lamm"
zuvorbestimmt hat, um für uns in den Riß zu treten.
Wir bedurften der Gerechtigkeit Gottes, um vor Ihm
102
stehen zu können, aber Seine Liebe war in Christo tätig,
um sie uns zu erwerben. „Gott war in Christo, die
Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen
nicht zurechnend." Und indem Er Christum für uns zur
Sünde machte, sind wir Seine Gerechtigkeit geworden in
Ihm. (2. Kor. 5, Id. 21.) Unser Glaube und unsere
Hoffnung gründen sich also auf Gott selbst. (Vergl.
1. Petr. 1, 21.) Auf Grund der ewigen, unveränderlichen
Gerechtigkeit Gottes wissen wir, daß Er nach
Seiner unendlichen Liebe für uns ist. Und nun dürfen wir
mit aller Zuversicht darauf rechnen, daß Er uns mit Christo
auf unserem Wege auch alles Gute und am Ende die
Herrlichkeit selbst schenken wird.
Bleibt aber Gott nicht stets der Heilige und Gerechte?
Ganz gewiß. W i r mögen uns verändern und dem,
was wir zu sein bekennen, untreu werden. E r aber bleibt
treu, immer sich selbst gleich, Er kann sich nicht verleugnen.
(2. Tim. 2,13.) Das ist gewiß eine ernste Wahrheit,
aber sind wir nicht Gottes Auserwählte,*) die
Er mit dem kostbaren Blute Seines fehl- und fleckenlosen
Lammes so teuer erkauft hat? Und wenn das so ist,
wer wird dann „wider Gottes Auserwählte Anklage erheben?
Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?
Christus ist eö, der gestorben, ja noch mehr, der
auch auferweckt, der auch zur Rechten Gottes ist, der
sich auch für unö verwendet." (V. 33. 34.)
*) Cs ist beachtenswert, wie der Geist Gottes in diesem Briefe
alle Gegenstände, die Er behandelt, unmittelbar mit Gott in Verbindung
bringt. Es ist Gottes Evangelium, das verkündigt wird,
Gottes Zorn, Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit, die geoffenbart
werden, es ist Gottes Herrlichkeit, deren wir uns rübmen, und
hier sind wir Gottes Auserwählte,Oott ist es, welcher rechtfertigt usw.
— tvz —
Wenn Gott selbst für unö eintritt, so dürfen wir
wahrlich getrost sein. Und warum kann Er für uns
eintreten und den Mund jedes Anklägers verschließen?
Die Antwort ist Christus, der gestorbene und auferstandene
und jetzt zur Rechten Gottes sitzende Menschensohn.
Vor dem Lamm auf Gottes Thron
Geht der Kläger stumm davon.
Satan wird der Verkläger der Brüder genannt (Offbg.
t2, tv), aber was kann er tun, wenn der Richter selbst
rechtfertigt? Er hätte seiner Zeit besser getan, den Hohenpriester
Josua, den Vertreter der sündigen Stadt Jerusalem,
nicht zu verklagen. (Sach. Z.) Sein Angriff endete
für ihn in einer völligen Niederlage und schlug aus zur
Verherrlichung der Gnade und Gerechtigkeit Gottes. So
wird es immer sein. Hatte Jehova Jerusalem nicht erwählt?
Und war Josua nicht wie ein Brandscheit aus dem
Feuer gerettet? Was wollte Satan darauf erwidern, was
sagen, als der Engel befahl, Josua die schmutzigen Kleider
auözuziehen, ihm Feierkleider anzulegen und einen
reinen Kopfbund auf sein Haupt zu setzen? Dabei ist
jener wunderbare Vorgang nur ein schwaches Vorbild von
der heutigen Wirklichkeit. Viel näher und inniger ist unsere
Beziehung zu Gott, als Israel sie je kennen wird,
und viel klarer und deutlicher treten Gottes Gnade und
Gerechtigkeit in unserem Falle ans Licht, nachdem Christus
gestorben und auferstanden ist und Seinen Platz zur Rechten
Gottes eingenommen hat.
Noch einmal denn: Gott selbst erscheint hier als
der Rechtfertigende, wir sind nicht nur durch Glauben
vor Ihm gerechtfertigt. Das was durch den Geist der
Prophezeiung von Christo selbst gesagt wird: „Nahe ist
ro4
der mich rechtfertigt: Wer will mit mir rechten? . . .
Siehe, der Herr, Jehova, wird mir helfen: wer ist es, der
mich für schuldig erklären könnte?" (Jes. 50, 8.. y) —
wird hier durch den Apostel den Gläubigen in den Mund
gelegt. Welch eine wunderbare, gesegnete Einsmachung!
Aber mehr noch. Nicht nur rechtfertigt uns Gott
auf Grund des Werkes Seines Sohnes, dieser Sohn selbst
verwendet sich als der Auferstandene und verherrlichte
Mensch allezeit für uns, solang wir in diesem Leibe sind.
Könnte es einen mächtigeren Trost geben? Hienieden
verwendet sich der Heilige Geist für uns, und droben
tut es der Sohn Gottes! In der Erkenntnis dieser beiden
Tatsachen verstehen wir gut, daß auch die Schwierigkeiten
des Weges das starke Band, das uns
mit Christo und durch Ihn mit Gott verbindet, nimmermehr
zu zerreißen vermögen.
„Wer wird uns scheiden von der Liebe
Christi? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot
oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?" (V. 35.)
Nicht daß diese Dinge nicht vorhanden wären. Sie sind
da und werden in ihrer ganzen Schwere von uns gefühlt.
Aber der Sohn Gottes selbst hat als Mensch alle diese
Prüfungen und Leiden durchlebt, hat alles das erfahren,
wodurch der Feind den Menschen Gottes auf seinem Wege
der Absonderung und des Gehorsams zu Fall zu bringen
sucht. Es gibt keine Leiden, keine Schmerzen, keine Glaubensprüfungen,
die Er selbst nicht durchgemacht hätte —
und Er fühlte sie alle unendlich tiefer, als wir es je vermögen
— aber aus allen ging Er siegreich als Überwinder
hervor.'Darum, mochte der Apostel und mögen andere die
Wahrheit des Wortes erfahren haben: „Um deinetwillen
— ros —
werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe
sind wir gerechnet worden", mochten und mögen alle die
Schwierigkeiten und Leiden, die im 35. Vers aufgezählt
werden, auf dem Wege gelegen haben oder liegen, der
Glaube konnte und kann todesmutig sagen: „Aber in diesem
allem sind wir mehr als Überwinder durch Den, der
uns geliebt hat". (V. 3b. 37.)
Die letzten Worte sind an dieser Stelle von besonderer
Kraft und Lieblichkeit. Was war es, das unseren
Herrn den schweren Weg durch diese Welt gehen ließ?
Warum hat Er neben den Leiden nur unserer Sünden
willen auch alle diese Drangsale und Leiden auf sich genommen?
War es nicht wunderbare, unvergleichliche Liebe,
die Ihn trieb? Liebe zu uns, den Armen und Hassenswürdigen?
Es ist also nicht nur Seine bewährte Kraft, die
in uns Schwachen mächtig ist und uns durch alles hindurchbringt,
es ist vor allem Seine Liebe, die uns trägt,
ermuntert, aufrichtet und unseren Blick auf die Herrlichkeit
richtet, deren Unterpfand gerade diese Leiden sind.
(Vergl. 2. Kor. 4, 47. 78.) Ja, wer wird uns scheiden
von dieser Liebe?!
Angesichts derselben schließt der Apostel mit dem
triumphierenden Jubelruf: „Denn ich bin überzeugt, daß
weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten,
weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein anderes Geschöpf
uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die
in Christo Jesu ist, unserem Herrn". (V. 38. 39.) Bisher
handelte es sich um Schwierigkeiten und Feinde in
dieser irdischen, sichtbaren Welt; nunmehr zählt der Apostel
alle jene unsichtbaren Mächte und Gewalten auf, die ge
— rotz —
eignet erscheinen könnten, uns von der Liebe zu trennen,
die uns zur Herrlichkeit führen will. Aber mag man sie
alte der Reihe nach aufzählen, Tod oder Leben, gegenwärtige
oder zukünftige Dinge, Gewalten in der Höhe oder
in der Tiefe, was sind sie alle? Nichts anderes als ge
schaffene Dinge, ein Nichts vor dem allmächtigen
Schöpfer und gegenüber Seiner nie endenden, alles überwindenden
Liebe.
Hörten wir in Verbindung mit den sichtbaren
Dingen von der Liebe Christi, hier, wo es sich um die
unsichtbaren handelt, wird unser Blick gelenkt aus
die Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn.
„Eine jede ist", wie ein anderer Schreiber gesagt hat,
„genau an ihrem Platze. Die Liebe Christi hat sich darin
geoffenbart, daß sie hienieden bis zum äußersten für uns
gelitten hat, und sie entfaltet sich heute droben in Seiner
Verwendung für uns, die jetzt noch da leiden, wo Er gelitten
hat; die Liebe Gottes, die uns zwar weniger sichtbar
entgegentritt, aber von derselben Unermeßlichkeit und
Unveränderlichkeit ist wie jene, hat alles für uns zuvorverordnet,
hat uns alles gegeben, alles in Gnaden vergeben,
erhält und umgibt uns auf dem Wege und wird
uns trotz aller feindlichen Mächte, die sich ihr entgegenstellen
mögen, zu jener Fülle von Liebe, Freude und Herrlichkeit
bringen, die allein einen solchen Gott befriedigen
und dem Erlösungswerke eines solchen Heilandes entsprechen
kann."
In der wenn auch schwachen Erkenntnis dieser Liebe,
mit diesem Schatz von unerschöpflichen Reichtümern im
Herzen, mögen wir wohl in die Siegesrufe des Apostels
einstimmen, mit denen er dieses Kapitel beginnt und
— ro7 —
schließt. Keine Verdammnis für die, welche in Christo
Jesu sind — kein Feind, keine Gewalt, die unö von der
Liebe Christi und von der Liebe Gottes zu scheiden vermag!
Mag auch alles um unö her in Staub zerfallen, mag alles
den Stempel der Sünde und der Entfremdung von Gott
tragen, der Glaube schaut über alles hinweg auf die un
sichtbaren Dinge, ruht in der Liebe Gottes und steht fest
in Kampf und Leid. Durch die Nebel, welche ihm die Aussicht
versperren wollen, blickt er hin auf Den, der, nach
vollendetem Werke mit Ehre und Majestät gekrönt, sich
gesetzt hat zur Rechten Gottes und nun die Seinigen dort
erwartet, um sie an Seiner Freude und Herrlichkeit
teilnehmen zu lassen mit Frohlocken.
O das wunderbare Wort: Gott ist für uns!
(Fortsetzung folgt)
Aus alten Briefen
E.—, 23. April 7857.
(An einen jungen Soldaten.)
... Wie geht eö Dir, lieber Bruder, in Deiner ver-
suchungsreichen Stellung? Wenn in solchen Zeiten das
Herz sich nicht ganz nahe an Jesum anschließt, wird es
leicht nach der einen oder anderen Seite hin fortgerissen.
Anderseits ist es wahr: je schwieriger und versuchungsvoller
die Stellung eines Christen ist, desto größer ist die
Ehre, nach Gottes Wohlgefallen sie auszufüllen. Ein leichtfertiges
Herz läßt sich in einer solchen Stellung leicht ablenken.
Ich erinnere mich oft mit Sorge der Brüder,
welche beim Militär sind, aber der Gedanke tröstet mich,
daß der treue Herr, der uns in jeder Lage bewahren kann,
108
auch unter den leichtfertigen Soldaten zu bewahren vermag.
Der „Gott aller Gnade" wird den, der sich Ihm
anvertraut, durch alle Schwierigkeiten sicher hindurchführen.
Ja, mein lieber Bruder, wir sind in guten und
treuen Händen. Das Vaterherz ist stets mit Liebe und
Gnade für uns erfüllt. Wenn unser Auge nur einfältig
ist, so werden wir Seiner Liebe in allen Dingen begegnen.
Doch erlaube mir einige Fragen: Welche Erfahrungen
machst Du augenblicklich? Vermag der Geist Gottes reichlich
in Deinem Herzen zu wirken? Solang das der Fall
ist, bleiben wir in Seiner Liebe und nehmen zu in allem
guten Wort und Werk. Was ich mir und anderen sehnlichst
wünsche ist, die Zeit unserer Fremdlingschaft hienie-
den zur Verherrlichung Gottes zuzubringen, indem wir
stündlich die Ankunft unseres geliebten Herrn erwarten.
Das ist Freude, wahre Freude, und so vollzieht sich das
Wachstum der Seele, des inneren Menschen. Aber wie
traurig ist es, wenn ein Christ seine himmlische Berufung
vergißt und sich in eitle, nichtige Dinge verliert! Wie
widerspruchsvoll ist es, wenn ein geistlicher und himmlischer
Mensch, ein Mensch, der mit Christo gestorben und
auferweckt ist, sich wieder in ungeistliche — irdische und
selbst fleischliche Dinge verliert! Deshalb ermahnt unö
der Apostel so ernstlich, uns der Lüste zu enthalten, die
wider die Seele streiten, und wiederum: „Wenn ihr mit
Christo auferweckt worden seid, so suchet was droben ist,
wo der Christus ist". Wir sind hier gelassen, um in jeder
Stellung, in jedem Stand und Verhältnis „die Tugenden
Dessen, zu verkündigen, der uns berufen hat aus der Finsternis
zu Seinem wunderbaren Licht".
Ja, mein lieber Bruder, es ist etwas Kostbares, un
— roy —
sere herrliche Berufung nach oben und in Verbindung damit
unsere leidende, dienende und kämpfende Stellung
hienieden zu verstehen. Ich bitte Dich herzlich, denke stets
an die Liebe, womit Du geliebt bist, an die Hand, die Dich
leitet, und an das Auge, das Dich bewacht! Wahrlich,
Du darfst allezeit getrost sein, und nicht mehr lang wird
die Wüstenreise dauern. Wir sind auf dem Wege zu Ihm,
und bald wird unser Auge Ihn schauen. Noch ein wenig
gilt es auszuharren in Kampf und Leiden, in Wachen und
Beten, Glauben und Hoffen, Lieben und Dienen. Und
nie sind wir allein, der Geist Gottes wohnt und wirkt in
uns, um alles Ihm Wohlgefällige in uns zu wecken und
zu beleben. Darum, getrost und mutig voran, unter Gebet
und Flehen, im Genuß der Gnade und Liebe unseres
Herrn!...
E.—, 12. Juni l86Z.
... Der Herr ist hier und in den umliegenden Versammlungen
wirksam. Seelen werden errettet, aber leider
gibt es auch Betrübendes unter den Gläubigen. Wie selten
findet man ein ganzes Herz für Jesum, und doch gibt
es nichts Schöneres und was mehr der Mühe wert wäre,
als ganz für den Herrn zu leben. Er mache auch Eure
Herzen wacker in Seinem Dienst! Er hat Euch dorthin gestellt,
um durch Wort und Wandel Seine Zeugen zu sein.
Sehen wir augenblicklich auch keine Frucht, so dürfen wir
doch versichert sein, daß unsere Mühe im Herrn nicht
vergeblich ist. — Hängt vor allem nicht Eure Herzen an
das Irdische! Die Gefahr ist groß. Jesus allein ist kostbar,
außer Ihm ist alles wertlos. Sich selbst zu leben und
seine Zukunft auf dieser Erde zu suchen, ist eine armselige
— 110 —
Sache. Des Herrn Gnade sei mit Euch und erhalte Eure
Herzen in Seiner Gegenwart!...
E.—, 14. Februar 1885.
. . . Seit «reinem letzten Briefe sind wieder an
mehreren Orten Seelen bekehrt worden, besonders in der
Gegend von D. Ein Bruder schreibt mir, daß das ganze
Dorf F. in Bewegung sei; in einem Hause würden die
Eltern, in einem anderen'die Kinder bekehrt, man wisse
nicht, was man sagen solle. In E., einem anderen in der
Nähe liegenden Dorfe, seien über 40 Seelen zu Buße und
Glauben gekommen. Der Herr sei gepriesen für alle Seine
Gnade! Er verlängert noch „die Zeit der Annehmung"
und entfaltet inmitten des zunehmenden sittlichen Verderbens
den Reichtum Seiner Gnade in wunderbarer
Weise. Möchten unsere Herzen immer mehr von Ihm,
„der Hoffnung der Herrlichkeit", erfüllt sein, damit wir
Ihn gerade da, wo Er uns hingestellt hat, zu verherrlichen
vermögen! Selbst den Sklaven schrieb der Apostel
einst, daß sie dem Herrn Christus dienten; so ist es auch
unser Vorrecht, Ihm zu dienen an jedem Ort und in
jedem Verhältnis.
In uns, d. i. in unserem Fleische, wohnt freilich
nichts Gutes. Von Satan beeinflußt und angereizt, ist
das Fleisch stets beschäftigt, uns von jenem gesegneten
Dienst fernzuhalten. Es sucht unö am Lesen des Wortes
Gottes und am Gebet zu hindern, uns den Besuch der
Versammlung zu verleiden und, wenn wir gegenwärtig
sind, uns zu zerstreuen. Was sollen wir demgegenüber
tun? Gegen das Fleisch ankämpfen oder es zu bessern
suchen? Ach! das wäre vergebliche Mühe, wie alle es er
— ru —
fahren haben, die im Laufe der Zeit diesen Weg einschlugen.
Was können und sollen wir tun? Uns der Sünde
für tot halten! Das ist der Rat, den das Wort Gottes
den mit Christo Gestorbenen in Röm. 6, lU gibt;
und wir können sicher nichts Besseres tun, als diesen Rat
befolgen.
Wo aber finden wir die Kraft dazu? Als solche, die
dem alten Menschen nach mit Christo gekreuzigt und gestorben
und in der Auferstehung mit Ihm lebendig gemacht
worden sind, besitzen wir jetzt ein neues Leben, das
durch den in uns wohnenden Heiligen Geist geleitet und
unterstützt wird, und in diesem neuen Leben haben wir
die Kraft, uns für tot zu halten. Wir betrachten das Fleisch
in uns als etwas, wovon der Tod Christi uns geschieden
hat, als unseren Feind, mit dem wir völlig gebrochen
haben, da wir wissen, daß er uns nur zu verderben und
zum Bösen zu verleiten trachtet. Durch das neue Leben,
das wir in Christo empfangen haben, sind wir von alledem,
womit wir früher verbunden waren und worin wir
festgehalten wurden, herausgenommen, für immer getrennt
worden. Der Gegenstand unseres Lebens, die Freude
und Wonne unserer Herzen ist jetzt Christus, nicht mehr
die Welt und was in ihr ist, oder die Erde und was auf
ihr ist.
Anstatt mit dem Fleische zu kämpfen, beschäftigen
wir uns mit Christo und, so viel wir irgend können, mit
Seinem teuren Wort. Durch diesen verborgenen Umgang
mit dem Herrn, der ohne anhaltendes Gebet nicht möglich
ist, verliert das Fleisch seine Kraft über uns. Der Friede
und die Freude in unserem Innern nehmen zu, und in
demselben Maße nehmen der Einfluß und die Wirksam
112
keil des Fleisches ab. Es bleibt freilich in sich selbst immer,
was es ist, aber indem es von uns im Tode gehalten wird,
vermag es nicht zu wirken. Auf diese Weise verwirklichen
wir dann auch die Ermahnung des Apostels: „Tötet nun
eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit,
Leidenschaft, böse Lust und Habsucht". (Kol. Z, 5.)
Empfangen diese Dinge durch unser Nachgeben Nahrung,
so üben sie je länger je mehr Einfluß auf uns aus; wird
ihnen aber die Nahrung dadurch entzogen, daß wir sie
verleugnen, so schwindet ihr Einfluß, sie verlieren ihre
Kraft. Der Kampf hört freilich nicht auf, solang wir in
dieser Hütte sind, wenn wir aber in Christo bleiben —
außer Ihm vermögen wir nichts —, so werden wir
mehr als Überwinder sein durch Den, der uns kräftigt. Wir
müssen nicht sündigen; aber sollte es geschehen sein,
sollten wir uns einmal vergessen und in die Sünde eingewilligt
haben, so brauchen wir deshalb nicht zu verzagen.
Es ist ernst, denn jede Sünde in Gedanken, Worten
oder Werken beraubt uns des Genusses der Gemeinschaft
mit dem Bater. Aber „wenn jemand gesündigt hat
— wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum
Christum, den Gerechten", der sich dort allezeit für uns
verwendet und hier in uns wirkt, daß wir in ernstem
Selbstgericht und aufrichtigem Bekenntnis zu dem Vater
zurückkehren und so praktische Vergebung und Reinigung
empfangen. (1. Joh. 1, 9; 2, 1.)
„Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt
viel Frucht." (Joh. 15, 5.)
Ein gereizter Geist
(Aus einer Ansprache über Ps. 406, 32. 33.)
-„Und sie erzürnten Ihn an dem Wasser von Meriba,
und es erging Mose übel ihretwegen; denn sie reizten seinen
Geist, sodaß er unbedacht redete mit seinen Lippen."
Was ist ein gereizter Geist? Ein Geist, der
sich durch verkehrte Dinge in verkehrte Bahnen hat leiten
lassen. Vielleicht gibt es für die Segenswirkungen des
Heiligen Geistes kein größeres Hindernis als das.
Die angeführten Verse fassen den Bericht von 4.
Mose 20, 1—43 in wenigen Worten zusammen. Das
Volk Israel war durstig und sprach vermessene Worte
gegen Gott und Seinen Knecht Mose. Gott trat ins Mittel
und bereitete einen Ausweg, aber der Geist Moses
und Aarons wurde gereizt. Und nun beachten wir die
weitere ernste Erklärung: „Eö erging Mose übel ihretwegen".
Wer war Mose? Wenige Menschen haben Vorrechte
besessen wie er. Auch war er treu in dem ganzen
Hause Gottes, und doch kam in dem vierzigsten Jahre der
Wüstenreise ein so großes Mißgeschick über diesen Mann.
Sind wir nicht auch oft aus ähnlichen, wenn auch
unwichtigeren Anlässen der gleichen Gefahr ausgesetzt? Es
erging Mose übel, und die Ehre, die seinem Leben die
Krone aufgesetzt haben würde, blieb ihm vorenthalten.
Aber, könnte gefragt werden, war denn das Volk nicht
sehr böse? Ja, über alle Maßen böse; „sie reizten seinen
I.XXVIII s
— 114 —
Geist", und dennoch war Mose im Unrecht. Und wer
kann den Verlust ausmessen, den dieser Fehler seinem Leben
eintrug?
Gute Leute (Kinder Gottes) reden oft von „gerechtem
Zorn"; sie fühlen verkehrte Dinge so besonders tief,
und der Teufel benutzt das, um ihren Geist zu reizen,
und sie erkennen nicht, daß gerade dies vor Gott
so hassenswürdig ist und eines der größten Hindernisse
für Gemeinschaft und Dienst bildet.
Wenn wir unö jetzt zu dem Bericht über den geschlagenen
Felsen in 2. Mose 17 wenden, so haben wir
ein Ereignis vor uns, das sich vierzig Jahre früher zutrug.
DaS Volk verlangte nach Wasser, aber es war kein Wasser
zum Trinken da; ein böser, murrender Geist offenbarte
sich, viele verkehrte Dinge, häßliche Vorwürfe grober
Undankbarkeit wurden laut. Aber das Böse erreichte
den Geist Moses nicht. Er legte den Fall in Gottes Hände,
und Gott trat ins Mittel und half. Ein nicht gereizter
Geist führt stets Gott in die Dinge ein, der g e -
reizteGeist schließt Gott aus. Darum ist der Feind so
bemüht, uns zu reizen. Er weiß sehr wohl: wenn ihm
das gelingt, so ist sein Triumph sicher. Wenn unser Geist
still bleibt in Gott, so vermögen wir auf Ihn und Sein
Einschreiten zu warten. In 4. Mose 20 lagen die Dinge
ganz ähnlich wie hier, und doch wie verschieden war das
Ergebnis! Zunächst ging alles gut. Mose und Aaron fielen
vor dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft auf
ihr Angesicht und riefen zu Gott, und Gott antwortete
ihnen. (V. 6—8.) Aber dann kam der verkehrte Geist
über Mose. Er schlug den Felsen zweimal mit seinem Stabe,
anstatt einfach zu ihm zu reden, wie Gott gesagt hatte,
— U5 —
und er schalt das Volk „Widerspenstige" usw. Ja, „er
redete unbedacht mit seinen Lippen".
Gott ist unendlich langmütig dem Bösen gegenüber.
Er wird nie gereizt. Seine Absicht war, daß Seine
Knechte Ih n vor dem ganzen Volke zur Darstellung bringen
sollten, aber die beiden Männer brachten durch ihren
gereizten Geist gleichsam eine Wolke über den Charakter
Gottes. So war es immer: wenn in dem Propheten die
Sünde wirkte, so verbarg sie vor den Übeltätern Gottes
Charakter der Langmut.
Im Neuen Testament werden uns ähnliche Vorgänge
berichtet. Lukas erzählt uns in seinem Evangelium
(Kap. 9, sr-55) von einem Dorf der Samariter, dessen
Bewohner sich weigerten, dem Herrn Jesus und Seinen
Jüngern Aufnahme zu gewähren. Hier kam der verkehrte
Geist über Jakobus und Johannes. Nicht der Geist der
Samariter war es, der den Herrn betrübte, sondern der
Geist Seiner eigenen Jünger. So bringen auch heute die
Offenbarungen eines gereizten Geistes unserseits die größte
Betrübnis über unseren Herrn. Wieviel Schaden ist schon
durch unseren Mangel an Geduld und Sanftmut geschehen!
Was wir so dringend bedürfen, ist die Gnade, uns
niemals im Geiste reizen zu lassen.
Wie daö geschehen kann, davon erzählt ein Diener
des Herrn ein einfaches, erläuterndes Beispiel. Er besuchte
seine Schwester, die über ihren Gatten in großer Erregung
war und ihren Bruder bat, für ihn zu beten. Die
Bibel werde nicht mehr gelesen, keine Andacht gehalten,
und alles im Hause gehe verkehrt. Der Bruder erwiderte,
es sei sicher Gottes Wille, daß niemand Verkehrtes oder
Böses tue, aber auch, daß Seine Kinder sich dem Bösen
— 116 —
gegenüber im rechten Geiste verhielten. Die Schwester
verstand ihn nicht. Alle Schuld lag auf feiten ihres
Mannes. Der Bruder kam nach drei Wochen wieder in
das Haus. Da sagte die Frau: „Gott hat sich mit mir
beschäftigt. Ich verstehe jetzt, was du mir gesagt hast."
Und siehe da, sobald bei ihr alles in Ordnung war, begann
der Geist Gottes in ihrem Manne zu wirken, und
alles im Hause kam zurecht. Ein gereizter Geist
hält Gottes Hand von den Dingen und Umständen fern,
die wir durch Ihn geordnet sehen möchten. Diese Ordnung
wird nie gelingen, solang wir uns mit einem gereizten
Geist damit beschäftigen. Gott hört wohl unser
Schreien und will gern helfen, aber Er kann es nur dann,
wenn wir jenen verkehrten Geist aufgeben.
Wenden wir uns jetzt zu Matthäus 26, 21 ff. Wir
erblicken den Herrn hier unter Umständen, die wohl geeignet
waren, Ihn aufs tiefste zu erregen. Und wie sehr
.offenbarte Petrus in Vers 51 den „gereizten Geist"! Er
konnte nicht länger an sich halten; sein Geist war aufs
höchste erregt, und so fuhr das Schwert aus der Scheide.
Aber es war nicht der Geist Christi, und Jesus konnte
das nicht ungerügt lassen. Petrus versagte völlig in dem,
was diese Stunde eigentlich von ihm verlangt hätte. „Ach,
Petrus! wenn es sich um eine Vergeltung an den Missetätern
handelte, so würden mir mehr als zwölf Legionen
Engel zur Verfügung stehen; ich habe wahrlich dein armseliges
Schwert nicht nötig." Aber müßte unser geliebter
Herr nicht auch heute oft ähnlich zu uns reden? Wieviel
geben wir Ihm zu tun, um all die Ohren wieder zu heilen,
die wir ab hau en! Wie wenig haben wir noch
von Ihm gelernt, dem Sanftmütigen und von Herzen De-
— 117 —
mutigen! Was Er von uns wünscht, ist mit Seinem
Geiste erfüllt zu sein. Sehen wir nur, wie Er Judas,
den Verräter, behandelt. „Freund", sagt Er zu ihm,
„wozu bist du gekommen!" (Matth. 26, so.) Wahrlich,
wunderbar ist dieser „nicht gereizte Geist" des Lammes
Gottes angesichts solcher Tiefen von Bosheit und Gemeinheit,
wie sie Ihm hier entgegentreten. Er spricht so
ruhig und gelassen, wie wenn Judas ein Himmelsbote
gewesen wäre. O das Lamm Gottes! Und wir, die
N a ch f o lg e r dieses Lammes?!
Doch hier möchte ein Einwurf gemacht werden:
„Soll ein Christ denn ganz ohne Rückgrat sein?" Ich
möchte darauf antworten: Betrachte Petrus am Pfingsttage!
War er da ein Mann ohne Rückgrat? Sein Verhalten,
als die Häscher kamen, um Jesum zu ergreifen,
war anscheinend Stärke; aber könnten wir uns vorstellen,
daß Petrus in jenem Augenblick den Malchuö
zu Jesu Füßen hätte bringen können? Jakobus und Johannes
handelten in tiefer, innerer Erregung, als sie Feuer
vom Himmel herabfallen lassen wollten; aber könnten
wir uns vorstellen, daß sie hätten hingehen können, um
jenen Samaritern das Evangelium zu predigen? Betrachten
wir dagegen Petrus und die „mit dem Geist erfüllte"
Schar am Pfingsttage. Ich wiederhole: Waren das Leute
ohne Charakter, ohne Rückgrat?
Nun, teurer Leser, welche Art von Kraft wollen
wir wählen? Vergessen wir es nie: „Das Schwache Gottes
ist stärker als die Menschen". Wenn der Geist Christi
in uns ist, werden wir gewiß das Böse nicht ungerügt
lassen, aber wir werden den lieben, der es tut. Darum noch
einmal: ein gereizter Geist ist eines der größten Hin
H8
dernisse für daö Wirken des Geistes Gottes. Möchten
wir alle lernen, die Dinge so zu nehmen, wie Gott sie
nimmt! Der Himmel wird in dieser Beziehung ein sehr
leichter und gesegneter Aufenthaltsort für uns sein. Aber
wir dürfen Gott danken, daß wir noch nicht dort
sind, da wir nur hienieden lernen können, gesinnt zu
sein, wie Christus es war, und in den Fußstapfen des
demütigen Jesus von Nazareth zu wandeln. Welch eine
herrliche Gelegenheit gibt uns unser Gott, um diese Lektion
zu lernen!
Haben wir schon einmal daran gedacht, daß Gott
das Böse in den Menschen um uns her benutzt, um unsere
Seelen von uns selbst zu leeren und so Platz zu schaffen
für das Wirken Seines Geistes? Haben wir es
genügend beherzigt, daß Er auf den nicht gereizten Geist
in den Seinigen rechnet, um ihn als Kanal in Seinem
Dienst benutzen zu können? Betrachten wir Jesum auf
dem Kreuze. Welches uns zugefügte Unrecht könnte auch
nur im entferntesten verglichen werden mit den Bosheiten
und Beschimpfungen, die auf Jesum Christum, den Sohn
Gottes, gehäuft wurden? Aber was sagte Er? „Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."
Daö ganze Erlösungswerk wurzelt in dem nie gereizten
Geiste, dem Geiste des Lammes Gottes. In diesem Geist
stieg der Herr des Himmels und der Erde in unser Elend
herab.
Ist es nicht so, daß Gott auch heute noch manches
erlaubt, um Seinen Kindern Gelegenheit zu geben, denselben
Geist zu offenbaren? Um die Herzen besonders böser
Menschen zu erreichen, scheint Er zuweilen zu sagen:
Ich will sie ihren bösen Willen tun lassen, damit sie in
— ll9 —
meinen Kindern meinen Geist wirken sehen können.
Aber wie schade, wenn dann unser Geist gereizt wird,
und wir in einer Weise reden oder handeln, die Gottes
Herrlichkeit verhüllt und Seine Hand aufhält! O wie
sollten wir Gott Raum machen, dem Geiste Seines Sohnes
Raum machen, damit Er von unserem Geiste Besitz
nehmen könne! Vielleicht haben wir schweres Unrecht
erlitten und meinen nun, uns mit vollem Recht beleidigt
fühlen zu dürfen; aber wenn der Herr Jesus in uns wohnt
und unseren Geist beherrscht, so werden wir die ganze
Kraft Gottes auf unserer Seite haben, um uns nicht von
dem Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit
dem Guten zu überwinden. (Vergl. Röm. l2, ld—21^.)
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel y—11
Wir sind an einem Wendepunkt in unserem Briefe
angelangt. Der Apostel hat uns bisher von den finsteren
Tiefen des menschlichen Verderbens bis zu den lichten
Höhen der göttlichen Gnade geführt. Das 8. Kapitel,
das in ergreifender Zusammenfassung die ganze christliche
Stellung, das Ergebnis des wunderbaren Wirkens Gottes
in Liebe und Gnade, uns noch einmal vor Augen
malte, schloß mit der Aufzählung all der Segnungen,
die dem Glaubenden heute in Christo zuteil geworden sind.
Gott hat Seines Eingeborenen nicht geschont, um uns
mit Ihm alles schenken zu können.
Die nächsten drei Kapitel (9—lb) leiten uns nun
auf ein neues Gebiet, auf dem wir nicht länger mit Din-
120
gen beschäftigt werden, die uns zu unserem Frieden und
ewigen Heil zu wissen nottun, sondern wo der Geist uns
in göttliche Gedanken und Ratschlüsse einführt. Wir betreten
jetzt den Pfad der „Weisheit" und der „Erkenntnis",
und so klingt denn auch dieser Abschnitt nicht aus
in einem Lobgesang zum Preise der Liebe Gottes, sondern
schließt mit den Worten: „O Tiefe des Reichtums,
sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis
Gottes! Wie unauöforschlich sind Seine Gerichte und
unausspürbar Seine Wege! Denn wer hat des Herrn
Sinn erkannt, und wer ist Sein Mitberater gewesen?"
(Kap. U, 33. 34.) Der Glaube blickt triumphierend
zurück auf die wunderbaren Wege Gottes, über
welche die Mitteilungen des Geistes ihn belehrt haben.
Ja, Gott will nicht nur, daß Seine Kinder in dem vollen
Heil ruhen, das ihnen in Seinem Geliebten geschenkt ist,
Er will sie auch zu Mitwissern Seiner Gedanken machen,
sie Seinen Sinn erkennen lassen. Wunderbare
Gnade!
Die Belehrungen des Apostels in der ersten Hälfte
seines Briefes, die in dem unterschiedslosen Verderben
von Juden und Heiden, aber auch in dem unterschiedslosen
Gnadenruf an beide gipfeln, mußten unwillkürlich
zu der Frage führen: Wenn Gott Juden und Heiden in
sittlicher Beziehung auf einen Boden stellt und nun
in der Macht Seiner Liebe und dem Reichtum Seiner
Gnade alle Glaubenden errettet und „in Christo" zur
Sohnschaft bringt, was wird dann aus den bedingungslosen
Verheißungen, die Er Seinem auserwählten Volke
gegeben hat? Wie sind diese mit der unterschiedslosen Berufung
von Heiden und Juden zu den neutestamentlichen
— —
Segnungen in Einklang zu bringen? Wenn Israel unter
dem Gesetz auch alle Ansprüche an die Segnungen, die
mit der Erfüllung des Gesetzes verbunden waren, verloren
hatte, waren jene Verheißungen doch vor dem
Gesetz und ohne Bedingung gegeben worden. (Vergl.
1. Mose 15. 17. 18.) Hatte Gott sie ganz vergessen?
Hatte Er Sein Volk für immer verstoßen?
Die Beantwortung dieser Fragen unter der Leitung
des Heiligen Geistes erfüllt das Herz des Schreibers selbst
mit solcher Bewunderung, daß er am Ende des 1. Kapitels
ganz hingerissen in die Worte ausbricht, die wir
bereits angeführt haben. Auch wir werden bei näherer
Betrachtung überwältigende Eindrücke empfangen, einerseits
von der Gerechtigkeit und dem heiligen Ernst der
Wege Gottes, anderseits aber auch von Seiner unwandelbaren
Treue und der unerschütterlichen Wahrheit Seines
Wortes. Laßt uns denn an der Hand des Geistes, der
„alles erforscht, auch die Tiefen Gottes" (1. Kor. 2,10),
mit Ehrfurcht diesen neuen Weg betreten!
Kapitel H
Ehe der Apostel in die eigentliche Behandlung seines
Gegenstandes eintritt, gibt er „seinen Verwandten nach
dem Fleische" einen ebenso rührenden wie ergreifenden
Beweis von seiner durch nichts auszulöschenden Liebe zu
Israel. Man warf ihm, dem Apostel der Nationen, vor,
daß er ein Abtrünniger sei, der aus unedlen Beweggründen
seine Beziehungen zu Israel abgebrochen habe
und nun, Gottes Gedanken in Verbindung mit dem
„Samen Abrahams" vergessend, sein eigenes Fleisch und
Blut verachte.
r22
O wie wenig kannten die Menschen, die also dachten
und redeten, das Herz dieses wunderbaren Mannes! Dieses
Herz, das im Anschauen des Zustandes seines geliebten
Volkes und der göttlichen Gerichte, die seines Unglaubens
und seiner Halsstarrigkeit wegen über Israel
gekommen waren, wie aus tausend Wunden blutete! Mit
Ausdrücken, wie sie stärker nicht gedacht werden können:
„Ich sage die Wahrheit in Christo, ich lüge nicht, indem
mein Gewissen mit mir Zeugnis gibt in dem Heiligen
Geiste" — versichert er seine Volksgenossen seiner unveränderten
glühenden Zuneigungen zu ihnen, und zwar
nicht etwa aus d e r Zeit, da er noch als eifriger, gesetzestreuer
Pharisäer in ihrer Mitte gelebt und gewirkt hatte,
sondern aus den Tagen nach seiner Berufung zum
Apostel Jesu Christi. Anstatt seine „Brüder" zu verachten
oder gar zu hassen, anstatt die ihnen von Gott geschenkten
Vorrechte aus dem Auge zu verlieren, war sein Herz
im Blick auf sie mit „großer Traurigkeit und unaufhörlichem
Schmerz" erfüllt. (V. 2.)
Ja, er hatte, ähnlich wie einst Mose gelegentlich
der Aufstellung des goldenen Kalbes Gott gebeten hatte,
seinen Namen aus Seinem Buche auszulöschen, gewünscht,
für seine Brüder „durch einen Fluch von Christo entfernt
zu sein". Jene große Traurigkeit und jener unaufhörliche
Schmerz hatten ihn einmal so überwältigt, daß
er einem Wunsche Ausdruck gegeben hatte, der garnicht
erfüllt werden konnte, dessen Erfüllung seinem Volke auch
nichts hätte nützen können (genau wie bei Mose), der aber
bewies, wie tief und innig er seine Verwandten nach dem
Fleische liebte. Es war göttliche Liebe, die sich selbst aufopfernde
Liebe Christi, die in ihm, wie einst in Mose,
123
wirkte und beide Männer bereit machte, alles, selbst daö
Unmögliche, zu tun, um ihren Gegenständen zu dienen.
Dieselbe Liebe läßt den Apostel dann alles aufzählen,
was er zum Vorteil seiner Volksgenossen sagen
konnte. Wer andere haßt, benutzt jede Gelegenheit, um
sie herabzusetzen und das Gute, das sie besitzen mögen,
zu verkleinern; die Liebe tut das Gegenteil. Zunächst waren
die „Brüder" des Apostels Israeliten, also Nachkommen
jenes Mannes, der mit Gott und Menschen gerungen
und obgesiegt hatte. (1. Mose 32, 28.) Ihnen
gehörte (selbstverständlich nicht in dem heutigen christlichen
Sinne) die Sohn schäft, denn Jehova hatte dem
Pharao entbieten lassen: „Mein Sohn, mein erstgeborener,
ist Israel", und: „Laß meinen Sohn ziehen!"
Ferner die Herrlichkeit (vergl. 2. Mose 2y, 43) und
die Bündnisse und die Gesetzgebung (wo war
ein Volk gleich ihm, das Gott „aus allen Geschlechtern
der Erde erkannt", und dem Er solch gute, gerechte Satzungen
gegeben hätte?) und der Dienst (zunächst in der
Stiftshütte und später im Tempel) und die Verheißungen
und die Väter! Und schließlich, als herrliche
Krone des Ganzen: aus Israel war, „dem Fleische nach,
der Christus (der Messias), welcher über allem ist,
Gott, gepriesen in Ewigkeit"!
Mit welch einer Wucht mußten solche Worte auf
die Herzen und Gewissen derer fallen, die dem Apostel
solch bitteres Unrecht taten! In der Tat, wenn es einen
Mann gab, der das irdische Volk Gottes liebte, so war
er es. Er war der letzte, dem man vorwerfen konnte, daß
er die Vorrechte Israels unterschätze. Viel eher stand es
ihm zu, einen solchen Vorwurf zu erheben, denn wer
124
von seinen ungläubigen Verwandten nach dem Fleische
kannte und erkannte das höchste aller ihrer Vorrechte,
nämlich daß Christus Jesus, „Gott, geoffenbart im
Fleische", „aus Israel" war? Wer von ihnen trug solches
Leid über die Verwerfung Israels, wie Paulus es tat?
Deshalb war er auch der Mann, der Israel darüber
belehren konnte, daß Gott Sein Volk nicht „verstoßen"
habe, wenn es auch unter den Schlägen Seiner Gerichte
so schwer litt und heute noch leidet; weiter aber auch, daß
nur die unumschränkte Gnade Gottes die Grundlage zu
ihrer Wiederherstellung bilden könne, dieselbe Gnade, die
den Heiden zuteil geworden war, und die sich ihnen zuwenden
wollte, um eine viel herrlichere Erfüllung der
ihnen gewordenen Verheißungen herbeizuführen, als sie
es je hätten erwarten können. In ihrem Streben, eine
eigene Gerechtigkeit aufzurichten, hatten sie die Gerechtigkeit,
die aus Glauben ist, nicht erlangt, sondern
waren zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke
geworden, nach welchem Gott Seine Hände umsonst ausstreckte.
(Kap. ro, Z. 24.)
Was konnte ihnen Hilfe bringen? Wir sagten es
schon: allein die Unumschränktheit Gottes, die trotz allem
in Gnaden handeln und einen „Überrest nach Wahl der
Gnade" erretten konnte. Mochte auch das Volk als Ganzes,
statt zu erlangen was es suchte, dem gerechten Zorn
anheimfallen, nach Gottes Vorsatz gab es doch noch eine
„Auswahl", die das Heil erlangte, während die übrigen
verstockt wurden. (Kap. 44, 3—7.)
Im weiteren Verlauf unseres Kapitels besteht dann
der Apostel immer wieder auf der Unumschränktheit
Gottes und beweist den Juden aus ihrer eigenen
Geschichte, daß Gott von jeher nach dieser Unumschränkt-
heit gehandelt hatte. Und wie gut für sie, daß es so gewesen
war, und daß Er es immer noch tat! Nur so gab
es noch eine Hoffnung für sie; anders wären sie rettungslos
verloren gewesen. War aber Sein Wort nicht dadurch
„hinfällig geworden" (B. b), daß Er den Heiden die
Gnadentür öffnete? War Er Seinen Verheißungen an
die Väter nicht untreu geworden? Nein, Gottes Wort hat
noch stets seine Kraft behalten und sich als zuverlässig
und treu erprobt; nur der Mensch, und vor allem der
Jude, hat sich als unzuverlässig erwiesen.
Ähnlich wie man es heute macht, suchten die Juden
aus den Verheißungen, die Abraham empfangen hatte,
eine „Verpflichtung" für Gott herzuleiten, die ganze
natürliche Nachkommenschaft des Patriarchen zu segnen
(der Ausschluß der Heiden war dabei selbstverständlich).
Aber, sagt der Apostel, „nicht alle, die aus Israel sind",
sind deshalb Israel, auch sind nicht alle deshalb
Kinder, weil sie „Abrahams Same" sind. (V. S. 7.)
Schon hatte der Herr selbst (vergl. Joh. 8, 37—39) die
Juden auf diesen ernsten Unterschied zwischen Abrahams
„Same" und Abrahams „Kindern" aufmerksam gemacht.
Die natürliche Abstammung von Abraham
gab niemand ein Anrecht auf die Verheißungen. Und
wenn die Juden dies dennoch festhalten wollten, dann
mußten sie auch die Wüstensöhne Arabiens, die B e du i -
nen, als gleichberechtigt anerkennen, denn sie waren
Söhne Ismaels, des Sohnes Abrahams. Und mit noch
größerem Recht die Edomiter, waren sie doch die Nachkommen
Esaus, des Zwillingsbruders Jakobs! Das aber
wollten sie natürlich nicht. Wie hätte ein Jude mit un
126
reinen Heiden, mit „Hunden", gemeinsame Segnungen
haben mögen? Das war völlig ausgeschlossen. Die Verheißungen
gehörten nur der Linie Isaaks bezw. Jakobs:
„In Isaak wird dir ein Same genannt werden". (V. 7.)
Wenn das aber so war, dann hatte die natürliche
Abstammung gar wenig Wert. Was zunächst Ismael angeht,
so war er wohl ein wirklicher Sohn Abrahams,
aber er war „nach dem Fleische geboren" (Gal. 4,23), und
das Fleisch nützt vor Gott nichts. „Nicht die Kinder des
Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder
der Verheißung werden als Same gerechnet."
(V. 8.) Ähnlich hatte der Apostel schon am Ende des
2. Kapitels gesagt: „Nicht der ist ein Jude, der es äußerlich
ist, noch die äußerliche Beschneidung im Fleische Beschneidung".
Nein, die Entscheidung steht Gott allein zu,
und es hat Ihm gefallen, Isaak zu berufen, nicht Ismael.
Die Berufung gründete sich auf einen freien Entschluß,
auf den „Vorsatz" Gottes, und war „nach Auswahl"
geschehen. „Denn dieses Wort ist ein Verheißungswort:
„Um diese Zeit will ich kommen, und Sara
wird einen Sohn haben"." (V. y.)
Der Kraft dieser Beweisführung konnte sich kein
Jude entziehen, er hätte denn, wie gesagt, die Nachkommen
Ismaels und Esaus als gleichberechtigt mit Israel
anerkennen müssen. Aber eine andere Einwendung konnte
gemacht werden. Die Mutter Ismaels war eine ägyptische
Magd, eine Sklavin; Isaak aber war von Sara, dem
rechtmäßigen Weibe Abrahams, geboren. Doch wie stand
es mit Rebekka? Sie war nicht nur keine Magd, sondern
entstammte der Familie Abrahams, und sie gebar ihrem
Manne Iwillingssöhne. Man könnte sich keinen Fall den
127
ken, der für die Beweisführung des Apostels passender
gewesen wäre. Esau und Jakob waren Söhne eines Vaters,
von derselben Mutter zu derselben Zeit
geboren — und doch sagt Gott zu Rebekka, noch ehe die
Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan
hatten, was einen Unterschied zwischen beiden hätte
errichten können: „Der Größere wird dem Kleineren dienen",
oder mit anderen Worten: das Erstgeburtsrecht
des älteren wird auf den jüngeren übergehen. Warum?
Weil Gott es so beschlossen hatte. Es war
Sein Vorsatz, Sein unumschränkter Wille bezüglich des
kleineren oder jüngeren, „auf daß", wie der Apostel ausdrücklich
hervorhebt, „der Vorsatz Gottes nach Auswahl
bestände, nicht aus Werken, sondern aus dem
Berufenden". (V. 11.) Die Werke der beiden Kinder
hatten gar nichts mit der Berufung zu tun; noch ehe
sie geboren waren, also bevor sie irgend etwas getan hatten,
was vielleicht den einen für den Empfang der Segnung
passend, den anderen unpassend hätte erscheinen lassen
können, traf Gott Seine Wahl.
Aber, könnte man einwenden, lesen wir nicht gleich
nachher, daß Gott den Jakob geliebt, den Esau aber
gehaßt habe? Ja, so steht geschrieben, und es steht
uns nicht zu, dieses Wort im geringsten abzuschwächen.
Es liegt aber auch gar kein Grund dafür vor. Beachten
wir zunächst, daß Gott jene Worte nicht (wie die anderen)
ausgesprochen hat, ehe die Kinder da waren, sondern
daß sie sich bei Maleachi, dem letzten aller alttesta-
mentlichen Propheten, finden, der etwa 1400 Jahre nach
der Geburt des Zwillingspaares lebte, zu einer Zeit also,
als Esau längst seine böse, „ungöttliche" Gesinnung, und
128
seine Nachkommen, die Edomiter, ihre unversöhnliche
Feindschaft gegen Israel geoffenbart hatten. Wenn Gott
also sagt, daß Er den Jakob geliebt, den Esau aber gehaßt
habe, so fand die Liebe ihre Quelle in Seinem Herzen
— sie war frei und unverdient —, während der Haß
seine Grundlage in dem sittlichen Verhalten Esaus hatte.
Beide Kinder waren in Sünde geboren und sind auch
zweifellos beide in Sünden aufgewachsen; aber an dem
einen erfüllten sich die Gnadenratschlüsse Gottes, während
der andere die gerechte Strafe für seine bösen Wege
fand.
Da der Ausspruch des Propheten Maleachi gerade
in der hier vorliegenden Verbindung manchem Leser
Schwierigkeiten bereitet und schon oft zu falschen Auslegungen
geführt hat, möchte ich nochmals ausdrücklich
betonen, daß er erst lange nach dem Tode der beiden
Söhne Isaaks gefallen ist. In 1. Mose 25 finden wir
nichts davon. Es kann also aus ihm nicht der Schluß
gezogen werden, daß Gott im voraus den einen Sohn
geliebt, den anderen gehaßt und so das ewige Los beider
von vornherein bestimmt habe; auch nicht, daß Er in Seiner
göttlichen Kenntnis vorausblickend so geredet
habe. Beides ist falsch; aber der Mensch schließt so gern
aus der Auswahl des einen die Verwerfung des anderen.
Nein, die Sache liegt so: wenn Gott von zwei Menschen,
die beide keinerlei Ansprüche an Ihn machen können, den
einen, wie es hier geschieht, zu einem bevorzugteren Platz
erwählt als den anderen, so ist das Sein unumschränkter
Wille, und wer kann zu Ihm sagen: „Warum tust du
also?" Wenn es Ihm gefällt, sich in Seiner Gnade an
einem Menschen zu verherrlichen, wer hat ein Recht, Ihm
129
einen Vorwurf daraus zu machen? — Zugleich bedingt
die Erwählung des einen keineswegs die Verdammnis des
anderen.
Aber nun wird ein zweiter Einwurf laut:
„Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit
bei Gott? Das sei ferne!" (V. 14.)
Der Mensch, die fleischliche Vernunft, fragt allerdings:
Wenn Gott von zwei gleich sündigen Menschen
den einen errettet, den anderen verloren gehen läßt, handelt
Er dann nicht ungerecht? Die Frage an und für
sich beweist schon die Überhebung des menschlichen Herzens,
indem sie für den Menschen das Recht in Anspruch
nimmt, Gott beurteilen und richten zu können, anstatt sich
von Ahm beurteilen zu lassen und sich Seinem Gericht zu
unterwerfen. Es kann nicht anders sein: sobald ich die Un-
umschränktheit Gottes in Frage ziehe, werfe ich mich zum
Beurteiler und Richter Gottes auf. Nicht Er richtet, sondern
ich richte. Die natürliche Gesinnung des Menschen
empört sich allerdings gegen eine Wahrheit, die gerade
der göttlichen Natur entspringt, sich auf sie gründet. Ist
Gott Gott, so muß Er souverän sein in all Seinem
Tun. Jede Lehre, die Gottes unumschränkte Majestät leug
net, oder Ihn als gleichgültig der Sünde und dem Elend
des Menschen gegenüber hinstellen will, ist der Wahrheit
entgegen und Gottes unwürdig. Gott ist Licht, und das
Licht kann sich unmöglich mit der Finsternis im menschlichen
Herzen vereinigen; Gott ist Liebe, und die Liebe ist
frei, in Heiligkeit ihrer Natur nach zu handeln.
Der Mensch, unwissend über sich selbst und Gott,
leugnet freilich sein völliges Verderben, lehnt sich auf
gegen Gottes Wort und kritisiert Seine Wege. Aber in
— 130 —
dem er das tut und sich Gott gegenüber sogar auf den
Boden der „Gerechtigkeit" zu stellen wagt, spricht er sich
selbst das Urteil und rechtfertigt Gott, wie wir es in
dem vorliegenden Falle in der Geschichte Israels sogleich
sehen werden. Auf die Frage der Juden: „Ist etwa Ungerechtigkeit
bei Gott?" und das „das sei ferne!" des
Apostels, folgt unmittelbar das Wort: „Denn Er sagt zu
Moses: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und
werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme"."
Auf den ersten Blick möchte uns diese Anführung
seltsam erscheinen, aber wenn wir uns ins Gedächtnis
rufen, bei welcher Gelegenheit die Worte gesprochen wurden,
werden wir (wie so oft bei der Betrachtung des Wortes)
die Entdeckung machen, daß gerade daö vermeintliche
Nichtangebrachtsein sich ins Gegenteil verwandelt. Der
scheinbare Mißklang wird zum herrlichsten Wohlklang. Je
näher wir die Umstände ins Auge fassen, die zu jenem
Ausspruch führten, desto klarer erkennen wir die schlagende
Beweiskraft der Antwort des Apostels. Wir erkennen,
daß in der ganzen Bibel sich keine Stelle findet,
die in diesem Falle mehr angebracht gewesen wäre, als
gerade diese.
Israel hatte am Berge Sinai, bis wohin Gottes
Gnade sie auf Adlers Flügeln getragen hatte, auf die von
Gott gestellte Bedingung: „Wenn ihr fleißig auf meine
Stimme hören und meinen Bund halten werdet", geantwortet:
„Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun".
Anstatt sich auch weiterhin jener Gnade anzuvertrauen,
maßten sie sich an, trotz all der beschämenden Erfahrungen,
die sie bereits gemacht hatten, in eigener Kraft die Gebote
Gottes zu erfüllen.
— rzz —
Die Folge war das Bündnis des Gesetzes, die Mitteilung
der gerechten und heiligen Forderungen Gottes
an den Menschen im Fleische. Damit begann die eigentliche
Geschichte Israels als Volk. Mose stieg auf den
Berg, um die Gebote Gottes entgegenzunehmen. Als er
verzog, wurde das Volk ungeduldig und veranlaßte Aaron
zur Anfertigung und Aufstellung des goldenen Kalbes.
Indem Israel so das erste und größte Gebot gröblich
brach, blieb nichts anderes als ein unmittelbares, vernichtendes
Gericht für sie übrig. Kaum hatte seine Geschichte
als Volk begonnen, so büßte es schon mit einem Schlage
alles ein, worauf es unter der Bedingung eines willigen
Gehorsams Anspruch hatte. Der Gott, der die Verheißungen
gegeben hatte und sie allein erfüllen konnte, war
aufs schwerste beleidigt worden. Sein Bund war gebrochen.
Was blieb für Israel übrig? Wenn Gott mit
Seinem Volke in Gerechtigkeit handeln wollte, und auf
dem Boden des Gesetzes konnte Er nicht anders, so mußten
alle getötet werden. Ein Entrinnen war unmöglich.
Alle Juden, die die Geschichte jener Tage kannten,
mußten die Richtigkeit der Beweisführung zugeben. Wollten
sie also auf „Gerechtigkeit" Gott gegenüber bestehen,
so wäre das Los Israels damals für immer entschieden
gewesen, wie Gött denn auch zu Mose sprach: „Ich habe
dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges
Volk; und nun laß mich, daß mein Zorn wider sie
entbrenne und ich sie verni ch te". (2. Mose 32, y. lü.)
Wahrlich, nicht „um ihrer Gerechtigkeit willen" hatte Gott
ihnen das gute Land gegeben (5. Mose y, 6), sondern weil
Er der Fürbitte Moses (eines Vorbildes von Christo) Gehör
schenkte und sich auf den Boden Seiner unum
— 132 —
schränktenGnade zurückzog: „Ich werde alle meine
G ü t e vor deinem Angesicht vorübergehen lassen... und
ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde usw."
(2. Mose 33, 19.) Nur so konnte Er sich des Übels gereuen
lassen, das Er geredet hatte (Kap. 32, 14), nur
so die Missetat vergeben. Ja, mehr noch; gerade in der
Hartnäckigkeit des Volkes, die auf dem Boden der Gerechtigkeit
das Gericht herbeiführte, konnte die Gnade einen
Beweggrund für Gott finden, in der Mitte des Volkes
hinaufzuziehen: „Wenn ich doch Gnade gefunden habe
in deinen Augen, Herr", so betete Mose in Kap. 34, 9,
„so ziehe doch der Herr in unserer Mitte; denn es ist
ein hartnäckiges Volk".
Wie wunderbar ist das alles! Wenn der Mensch
hoffnungslos verloren ist auf Grund seines Tuns, wenn
die Gerechtigkeit Gottes nur Zorn und Gericht über ihn
bringen kann wegen seines Ungehorsams und seiner
Sünde, wenn das Gesetz ihn verfluchen und zum Tode
verurteilen muß, hat Gott doch noch Hilfsquellen in sich,
zu denen Er Zuflucht nehmen kann. Vorausblickend auf
den kommenden großen Mittler, der hier in Mose ein so
liebliches Vorbild findet, konnte Gott Gnade und Erbarmen
üben, und zwar, beachten wir es wohl, an wem
Er wollte, nach dem Vorsatz Seiner freien, bedingungslosen
Gnade.
„Also nun liegt es nicht an dem Wollenden noch
an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden
Gott." (V. 1b.)
(Fortsetzung folgt)
— 1ZZ —
ich lebe, werdet auch
ihr leben"
In den Worten des Herrn Jesus, die obiger Erklärung
vorangehen, werden die Gläubigen in bemerkenswerter
Weise von der Welt unterschieden. „Noch ein Kleines,
und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber
sehet mich", sagt der Herr und zieht so auch in dieser
Hinsicht eine scharfe Trennungslinie zwischen der Welt
und denen, die Ihm angehören. Für die Welt, d. h. für
alle Ungläubigen, ist Christus heute nicht mehr vorhanden.
Sie betrachten Ihn nicht als eine wirkliche, lebende
Person. Als Er auf Erden wandelte, sahen sie Ihn; aber
nach Seinem Leiden und Sterben, mit anderen Worten,
nach Seiner Verwerfung durch die Welt, entzog Er sich
ihren Blicken, um ihr nicht eher wieder zu erscheinen,
als bis sie Ihn,,kommen sehen wird auf den Wolken
des Himmels". In der Zwischenzeit ist Er dem Gedächtnis
der Menschen dieses Zeitkaufs entschwunden. Soweit
sie überhaupt an einen Heiland denken, gehen ihre Gedanken
in die Vergangenheit zurück. Der Name „Jesus"
klingt ihrem Ohr fern und fremd, wie ein schwaches Echo
aus längst vergangener Zeit. Sie gedenken Seiner nur als
eines Gestorbenen.
Wie ganz anders ist es bei den Gläubigen! Sie
sehen Ihn noch. „Das Kleine" oder die kurze Weile,
von der der Herr sprach, war bald verstrichen; aber während
damit für die Welt jede Erinnerung an Ihn erlosch,
schauten die Seinen Ihn fort und fort, und zwar nicht
als einen Gestorbenen, Weitentfernten oder eine nur ge
134
schichtliche Persönlichkeit, sondern nahe und wirklich. Auch
heute noch schauen sie Ihn mit dem Auge des Glaubens
und dürfen die Wahrheit des Wortes erfahren: „Weil
ich lebe, werdet auch ihr leben". Es ist ein Verheißungswort,
dessen Erfüllung längst begonnen hat und ewig
fortdauern wird.
Wir leben auf Grund der innigen Beziehung, in
die wir zu dem Herrn gebracht sind. Durch den Glauben
auf unserer Seite und die Gabe des Geistes auf Seiner
Seite sind wir aufs engste mit Ihm verbunden, mit Ihm
einsgemacht. Wir stehen zu Ihm in dem Verhältnis von
Gliedern eines Leibes zum Haupt oder von Zweigen zum
Stamm. Und diese nahe, persönliche Verbindung mit Ihm
muß vorhanden sein, wenn ein Mensch fähig sein soll, die
Segnungen Seiner Gnade wirklich zu genießen. Die Seele
muß gleichsam mit Seiner Seele zusammengetroffen, das
Herz mit Seinem Herzen in Verbindung gekommen sein,
ähnlich wie ein Fluß ins Meer mündet, um für immer
in ihm aufzugehen.
„Weil ich lebe, werdet auch ihr leben." Das Leben
Jesu ist die Quelle und erhaltende Ursache des geistlichen
Lebens in den Seinigen. Sein Leben stellt das unsrige
sicher. Er weilt als unser Hohepriester im Himmel droben,
um sich allezeit für uns zu verwenden. Sein ununterbrochenes,
lebendiges Wirken im Heiligtum sichert unsere
Verbindung mit Gott und erhält uns auf dem Pfade, der
im Vaterhaus endet. So ist jeder einzelne Gläubige allezeit
von dem Leben des Heilandes abhängig, um in
geistlicher Beziehung Fortschritte zu machen. Nur die innige
Verbindung mit Ihm sichert das Wachstum des neuen
Menschen.
— rzs —
Der Tod des Herrn gehört der Vergangenheit an. Er
war das außerordentlichste Schauspiel, das die Welt je
gesehen hat, und sollte in den Herzen der Gläubigen stets
in anbetungsvoller Erinnerung stehen. Aber es ist nicht
der Tod Christi, der das geistliche Leben in uns erhält
und fördert. Ich brauche nicht zu sagen, daß er unendlich
kostbar, ja, unumgänglich notwendig war, um daö zu beseitigen,
was uns von dem heiligen Gott trennte und Ihn
verhinderte, Seine Segnungen über uns auszuschütten.
Der Tod Christi machte den zunichte, der die Macht des
Todes hat, nahm den Fluch hinweg, der auf uns lastete,
wandte den göttlichen Zorn wider die Sünde von uns ab
und wurde für uns das Tor, durch welches gehend wir
von jeder Todesfurcht befreit und aus der Sklaverei der
Sünde herausgeführt werden. Doch hätte das Werk der
Errettung mit dem Kreuze seinen Abschluß gefunden, so
wäre es gleichsam bloß negativer Art gewesen. Aber Gott
sei gepriesen! unmöglich hätte der Heiland im Grabe bleiben
können, unmöglich konnte Christus vom Tode behalten
werden. Als Sieger über Tod und Grab ist Er aus
den Toten auferstanden, zum ewigen Zeugnis dafür, daß
Sein Erlösungswerk vollbracht und Gott im Blick auf
die Sünde vollkommen verherrlicht ist. Das Grab war
leer, als die Weiber kamen, um den Leib des Herrn einzubalsamieren,
und die Engel riefen ihnen zu: „Was
suchet ihr den Lebendigen unter den Toten?" (Luk.
24, 5.) Der Tod war zunichte gemacht und Leben und
Unverweslichkeit ans Licht gebracht. (2. Tim. t, 40.) War
der gute Hirt nicht gekommen, auf daß Seine Schafe
Leben, ja „Leben in Überfluß" hätten? Darum, weil Er
lebt, leben auch wir. Sein Leben ist unser Leben.
— rzb —
Was könnte unseren Seelen mehr Friede, Freude und
Trost geben, als die Tatsache, daß Christus nicht nur
für uns gestorben, sondern auch auferstanden ist, und
daß wir nun einen lebendigen Heiland im Himmel haben?
Er ist nicht mehr am Kreuze, nicht mehr im Grabe, Er
weilt im Himmel! Es ist ein lebender Heiland, ein
verherrlichter Mensch, zu dem wir aufschauen, der
als unser barmherziger Hoherpriester und gerechter Sachwalter
sich allezeit droben für uns verwendet, und durch
den wir dem Vater nahen.
Möchte der Gedanke, daß Er lebt, zur Rechten
Gottes droben lebt, dein ganzes Herz erfassen, lieber gläubiger
Mitpilger! Es würde für dich eine unversiegbare
Quelle des Trostes werden, würde deinen Gebeten eine
Lebendigkeit, Kraft und Wirklichkeit verleihen, die dir bis
heute vielleicht unbekannt geblieben sind. Die Verwirklichung
Seiner persönlichen Gegenwart beim Vater, verbunden
mit dem Bewußtsein, daß du in Seinem
Namen vor den Vater hintreten kannst, wird dich befähigen,
mit aller Freimütigkeit, in der bestimmten Sprache
des Glaubens eines Jairus oder eines Bartimäus dem
Vater zu nahen.
Die eigentliche und charakteristische Art des Betens
eines Christen ist das Beten im Namen Jesu. Von
ihr konnten die Jünger, solang der Herr bei ihnen war,
naturgemäß nichts wissen. Wohl kannten sie den Namen
des Vaters, „ihres Vaters in den Himmeln", aber sie
beteten nicht in dem Namen des Sohnes zu Ihm. Der
Herr selbst sagt ihnen deshalb auch: „Bis jetzt habt ihr
nichts gebeten in meinem Namen", und vorher
schon: „Was irgend ihr bitten werdet in meinem
— 137 —
Namen, das werde ich tun, auf daß der Vater verherrlicht
werde in dem Sohne. Wenn ihr etwas bitten werdet
in meinem Namen, so werde i ch es tun." (Kap.
16, 24; 14, 13. 14.) Vater und Sohn sind heute sozusagen
gleichsehr an der Erhörung unseres gläubigen Betens
beteiligt. In den Tagen des Fleisches des Herrn
Jesus richteten sich, wie schon gesagt, die Bitten der Jünger,
neben dem Beten des „Unser Vater", naturgemäß
an Ihn als eine wirkliche, lebende und gegenwärtige Person.
Ist eö heute anders? In einem Sinne ja, in einem
anderen nicht. Oder haben die Gläubigen es heute nicht
mehr mit einer wirklichen, lebenden und gegenwärtigen
Person zu tun? Nach der Art ihres Betens will es freilich
manchmal so scheinen, als weile ihr Herr in weiter
Ferne, oder als sei Er ihrem Verlangen und ihren Anliegen
gegenüber taub und gleichgültig. Zu anderen Zeiten
hat man den Eindruck, daß sie wenig von dem Vorrecht
verstehen, im Namen des Sohnes Gottes chem Vater
nahen zu dürfen. Wie groß ist in beiden Fallen der Ver
lust! Was den Herrn betrifft, so ist Er den Seinen so nahe
wir immer und umgibt sie mit nie abnehmender Liebe,
Sorgfalt und Treue. Anderseits dürfen wir jederzeit
mit aller Freimütigkeit dem Gnadenthron nahen, auf welchem
ein Vater sitzt, dessen Ohr für das Rufen Seine«
Kinder stets geöffnet ist. Und zur Rechten dieses Thrones
weilt unser treuer und barmherziger Hohepriester, der in
allem versucht worden ist wie wir, ausgenommen die
Sünde, um uns allezeit Gnade zuzuwenden zur rechtzeitigen
Hilfe. (Hebr. 4.)
Wenn du denn zum Herrn Jesus betest, teure Seele,
so suche dir Ihn stets so zu vergegenwärtigen, suche so zu
— rzs —
Ihm zu reden, als stehe Er in Seiner huldreichen Person
unmittelbar vor dir. Und wenn du zu dem Vater redest, so
nahe Ihm stets in dem Bewußtsein der Kostbarkeit des
Namens Jesu, aber auch mit dem aufrichtigen Verlangen,
nichts vom Vater zu erbitten, wozu Jesus nicht Sein
Amen sprechen könnte. Es wird dich zu einem wahrhaften,
erfolgreichen und glücklichen Beter machen. Nahe
niemals in dem erkältenden Gefühl, daß der Vater oder
der Sohn fern von dir seien. In Wahrheit ist Gott nicht
einmal „fern von einem jeden von uns", d. i. von jedem
Menschen (Apstgsch. 77, 27), geschweige denn von Seinen
Kindern; und der Herr ist dir Ebenso nahe, wie Er es
jenen war, die, als Er auf ErdÄt wandelte, mit ihren An
liegen zu Ihm kamen.
Welch einen Trost verleiht uns auf dem Gang durch
die Gefahren und Versuchungen dieser Welt auch daö
Bewußtsein, daß wir für Iöit und Ewigkeit durch
Sein Leben ^'chergestellt sind! Wäre unsere Sicherheit auch
nur für einen Augenblick von uns abhängig, so könnten
wir uns nie freuen. Aber nein- ein göttlicher, allmächtiger
Heiland hat unsere Sache zu Seiner eigenen gemacht.
Jesus lebt, und darum leben auch wir.
Jesus lebt, mit Ihm auch ich.
Nie kann ich verlassen stcbcn;
Er, der mich erwarb für sich,
Läßt nur Lieb' und Gnad' mich sehen.
Ob der Feind sein Haupt erhebt—
Dieses bleibt: Mein Jesu's lebt!
Fürwahr, gesegnet ist das Teil derer, die so in Christo
geborgen sind! Mit Ihm, dem Lebenden, aufs innigste
verbunden, werden sie bewahrt und aufrecht gehalten inmitten
all der Versuchungen, durch die sie gehen, und der
— IZY —
zahlreichen Feinde, die sie umringen. Nichts kann ihr ewiges
Heil in Frage stellen, nichts ihren Frieden und ihre
Sicherheit erschüttern.
Für alle, die in Christo sind, die da „leben, weil Er
lebt", hat selbst der leibliche Tod, wenn er auf ihrem
Wege liegen sollte, keine Schrecken mehr. Wohl verläßt
der Gläubige, gleich anderen Menschen, diese Welt, solang
der Herr Sein Kommen noch verzieht; aber erstirbt
nicht wie sie. Er ents ehläft, er geht hinüber, um „bei
Christo" zu sein, was für ihn weitaus daö Beste ist. Wenn
ein Gläubiger abgerufen wird, so mag es denAnschein
haben, als stände auch er noch unter dem gegen Sünde
und Übertretung ausgesprochenen Fluch, unter der Erfüllung
des göttlichen Wortes: „Die Seele, welche sündigt,
die soll sterben". Aber nachdem der Sohn Gottes
diesen Fluch für die Seinen getragen und den Tob als
den bitteren Lohn der Sünde erlitten hat, ist der Stachel
des Todes für die Gläubigen gewichen. Der Herr selbst
sagt: „Wenn jemand mein Wort bewahren wird, so wird
er den Tod nicht sehen ewiglich". (Joh. 8, 51.) Leben,
ewiges Leben ist das Teil der Gläubigen. „Alles ist euer",
schreibt Paulus an die Korinther, „es sei Welt oder Leben
oder T o d". (1. Kor. 3, 22.)
Noch einmal denn: „Weil ich lebe, werdet auch ihr
leben", jetzt und ewiglich. Triumphierend dürfen die
Gläubigen deshalb äusrufen: „„Wo ist, o Tod, dein
Stachel? wo ist, o Tod, dein Sieg?" — Der Stachel
des Todes ist "die Sünde, die Kraft der Sünde das Gesetz.
Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren
Herrn Jesus Christus!"
r4v
Kragen aus dem Leserkreise
Wie ist das Wort des Apostels in 2. Kor. 4, Z u.4 zu verstehen:
„Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist, so ist es in denen
verdeckt, die verloren gehen, in welchen der Gott dieser Welt den
Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nickt ausstrahlc
der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit usw."?
Die Stelle muß in Verbindung mit dem vorhergehenden Kapitel
betrachtet werden. Mose verhüllte einst sein Angesicht mit einer Decke,
als er zum zweitenmal vom Berge herabsticg (2. Mose Z4), damit
die Kinder Israel das Ende dessen nicht anschauen mochten, was
hinweggetan werden sollte. Sein Angesicht strahlte die Herrlichkeit der
Gnade zurück, die er diesmal geschaut hatte. Aber es war nur eine
vorübergehende Herrlichkeit; sic konnte nicht bleiben, weil nur
eine bedingungslose Gnade zum Ziele führen kann.
Im Anschluß daran sagt der Apostel dann weiter, daß dieselbe
Decke, die in Christo wcggetan wird, noch heute beim Lesen des Alten
Bundes auf den Herzen der Juden liege. Sie wird einmal weggcnom-
men werden, wenn Israel zum Herrn umkehren wird. (Kap.
15-lS.) Inzwischen aber ist indem Evangelium die ganze Herrlichkeit
Gottes unverhüllt und bleibend geoffenbart worden. Und „das
Bleibende wird in Herrlichkeit bestehen". An die Stelle des Dienstes
„des TodeS und der Verdammnis" ist der Dienst „des Geistes und der
Gerechtigkeit" getreten. Darum gebrauchte der Apostel bei der Verkündigung
des Evangeliums große Freimütigkeit. Er tat nicht wie Mose,
der sein Angesicht mit einer Decke verhüllte, sondern predigte das Wort
vom Kreuz mit einer solchen Klarheit und Bestimmtheit, daß cs für
keinen Menschen eine Entschuldigung geben konnte. Menn das Evangelium
in irgend einem Herzen verdeckt war, sodaß sein Lichtglanz
nicht auszustrahlen vermochte, dann lag die Schuld nicht an dem
Evangelium oder an dem, der es brachte, sondern einzig und allein an
dem durch Satan, den Gott dieser Welt, verblendeten Sinn der Ungläubigen.
Es war in denen verdeckt, „die verloren gehen" (vergl.
I. Kor. l, 18), während cs im Innern der Glaubenden hell und klar
leuchtete, „zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im
Angesicht Christi". (Kap. 4, S.)
Ser hebräische Lnecht
„So du einen hebräischen Knecht kaufst, soll er
sechs Jahre dienen, und im siebenten soll er frei ausgehen,
umsonst. Wenn er allein gekommen ist, soll er
allein ausgehen; wenn er eines Weibes Mann war, soll
sein Weib mit ihm ausgehen. Wenn sein Herr ihm ein
Weib gegeben und sie ihm Söhne oder Töchter geboren
hat, so sollen das Weib und ihre Kinder ihrem Herrn
gehören, und er soll allein ausgehen. Wenn aber der
Knecht etwa sagt: Ich liebe meinen Herrn, mein Weib
und meine Kinder, ich will nicht frei äusgehen, so soll
sein Herr ihn vor die Richter bringen und ihn an die
Tür oder an den Pfosten stellen, und sein Herr soll ihm
das Ohr mit einer Pfrieme durchbohren; und er soll ihm
dienen auf ewig." (2. Mose 2t, 2—6; vergl. 5. Mose
15, 12—18.)
Unter den „Rechten", die Mose einst dem Volke Israel
vorlegen mußte, nimmt die Verordnung über den
hebräischen Knecht, der sich aus Armut seinem Bruder
als Leibeigener verkauft hatte, den ersten Platz ein. Schon
dieser Umstand beweist, wie wichtig sie nach Gottes Gedanken
war. Eindrucksvoller als alles andere aber ist der
Wortlaut der Verordnung. Er zeigt uns Gottes Herz,
das voll Gnade und Erbarmen ist für alles Arme und
Niedrige und selbst in dem Zeitalter des Gesetzes liebende
Gefühle für die Bedrängten hatte.
l-XXVIII 6
142
Nicht für immer galt der Kauf. Nm sechs Jahre
währten die Rechte des Käufers an seinen Bruder; auch
durfte er während der Dienstzeit nicht „mit Härte über
ihn herrschen" (3. Mose 25, 43), sondern mußte ihn
wie einen Tagelöhner oder Beisassen betrachten und im
Beginn des siebenten Jahres ihn frei entlassen. Der Käufer
war ferner gehalten, dem Ausziehenden „reichlich aufzuladen
von seinem Kleinvieh, seiner Tenne und seiner
Kelter, von dem, womit Jehova ihn gesegnet hatte". Denn
das Doppelte des Lohnes eines Tagelöhners hatte er
ihm sechs Jahre lang gedient; als Leibeigener hatte er
ihm Tag und Nacht zu Diensten gestanden. (5. Mose
45, 14. 18.)
Wie lieblich ist also diese Verordnung! Wie ganz
entgegengesetzt dem Eigennutz und der Selbstsucht des
Menschen! Leider ist sie, wie so viele andere ähnliche Satzungen
Gottes, wohl nur selten gehalten worden. In
Jer. 34, 13 ff. erinnert Jehova Sein Volk daran, daß
Er bei ihrem Auszug aus Ägypten einen Bund mit ihren
Vätern gemacht und ihnen die Verpflichtung auferlegt
habe, am Ende von sieben Jahren ihre Brüder, die sich
ihnen verkauft hätten, zu entlassen. Aber ihre Väter hätten
nicht auf Ihn gehört, und auch sie selbst wären zwar
für einen Augenblick, dem Gebot ihres Königs Jedekia
folgend, umgekehrt, um ein jeder seinem Bruder und ein
jeder seinem Nächsten Freiheit auszurufen, aber dann
hätten sie sich wieder umgewandt und ihre Knechte und
Mägde wiederkommen lassen, um sie von neuem zu Sklaven
und Sklavinnen zu machen. So werde denn auch Er
ihnen Freiheit ausrufen für das Schwert, für die Pest
und für den Hunger und sie zur Mißhandlung hingeben
143
allen Königreichen der Erde. Dies zeigt unö wiederum,
welch einen Wert Gott auf die Beobachtung dieser Verordnung
legte, und wie ernst Er ihre Vernachlässigung
ahndete.
Für den Fall daß der betreffende Israelit zur Zeit
seines Verkaufs schon verheiratet war, bestimmte Gott,
daß sein Weib mit ihm frei ausgehen solle. Hatte aber
sein Herr ihm während der sechs Jahre ein Weib gegeben
(er hatte ja als Leibeigener keinerlei Verfügungsrecht
über sich selbst), und aus dieser Ehe waren Kinder hervorgegangen,
so sollten das Weib und die Kinder ihrem
Herrn gehören, und er sollte allein ausgehen. Sprach er
aber: „Ich liebe meinen Herrn, mein Weib und meine
Kinder, ich will nicht frei ausgehen", so sollte sein Herr
ihn in Gegenwart der Richter an die Tür des Hauses
bringen und sein Ohr mittelst einer Pfrieme an die Tür
oder an einen Pfosten derselben heften, um dadurch festzustellen,
daß er auf immerdar mit diesem Hause als
gehorsamer Knecht in Verbindung bleiben wolle. „Und
er soll ihm dienen auf ewig." Aus Liebe zu seinem Herrn,
zu seinem Weibe und seinen Kindern verzichtete er freiwillig,
solang er lebte, auf seine Freiheit und seine Mannesrechte.
In der Tat, diese Verordnung ist an und für sich
schön und lieblich, aber wahrhaft bedeutungsvoll wird sie
erst, wenn wir sie in vorbildlichem Sinne betrachten. Es
gibt wohl kaum eine eindrucksvollere Erläuterung der
Wahrheit, daß die Person unseres geliebten Herrn der
beständige Gegenstand des Heiligen Geistes ist, als gerade
die Tatsache, daß Gott es selbst in solch zeitlichen
Verordnungen nicht unterlassen konnte, auf Seinen Sohn
144
hinzuweisen. Selbstverständlich handelt es sich nur um
eine Verordnung für diese Erde; überdies war Sklaverei
nichts weniger als wohlgefällig vor Gott. Trotzdom weist
uns alles mit Macht darauf hin, daß Christus vor den
Augen Gottes stand, als Er diese Verordnung gab.
Gerade die W a h l, von der uns hier erzählt wird,
hat Jesus getroffen. Er war freilich nicht, wie jener Israelit,
durch die Verhältnisse gezwungen, ein Knecht zu
werden. Freiwillig, aus Gnaden, ist Er, der da rei ch
war, um unsertwillen arm geworden. Aus freiem Liebesentschluß
hat Er sich bereit erklärt, zu kommen und den
Willen Seines Vaters zu tun und, obwohl Er Sohn war,
„an dem, was Er litt, den Gehorsam zu lernen". (Hebr.
5, 8.) Ja, mehr als das: nachdem Er die Ihm vom Vater
bestimmte Zeit hienieden gedient und, in allem erprobt,
sich als der vollkommene Diener erwiesen
hatte, und nun hätte Seinen Dienst niederlegen können,
hat Er aus Liebe zum Vater und zu denen, die der Vater
Ihm aus der Welt gegeben hatte, erwählt, ewigli ch
Diener zu bleiben. Er tat das als Mensch, aber indem
Er Mensch wurde und hienieden wandelte, hörte Er nicht
auf, Gott zu sein. Er war und ist stets Gott, eine göttliche
Person, der eingeborene Sohn, sowohl in den Tagen
Seiner Erniedrigung als auch jetzt droben als der zur
Rechten Gottes mit Herrlichkeit und Ehre Gekrönte. Aber
gerade diese Tatsache läßt Seinen Entschluß, auf immerdar
Diener zu bleiben, in umso herrlicherem Licht erstrahlen.
Betrachten wir Ihn in Ev. Ioh. 13. Schon die
Eingangsworte des Kapitels bewegen unsere Herzen: „Vor
dem Feste des Passah aber, als Jesus wußte, daß Seine
145
Stunde gekommen war, daß Er aus dieser Welt zu dem
Vater hingehen sollte". Die Erwähnung des nahenden
Passahfestes läßt uns eigentlich an eine andere Stunde
denken, an die Stunde Seines Leidens und Sterbens.
Aber obwohl Er wußte, daß diese schreckliche Stunde zunächst
kommen mußte, ja, daß „der Teufel es schon dem
Judas, Simons Sohn, dem Jskariot, ins Herz gegeben
hatte, daß er Ihn überliefere", ist Er in Seiner unbegreiflichen
Liebe doch nicht damit beschäftigt, sondern
nur mit der Veränderung, die durch Seinen Weggang
aus dieser Welt für die Seinigen entstehen würde. Es sieht
fast so aus, als ob Er nicht einmal daran gedacht Habe,
was es für Ihn bedeutete, diese böse Welt, das Reich des
Fürsten der Finsternis, den Schauplatz Seines eigenen
leidensvollen, versuchungsreichen Dienstes, mit der unmittelbaren
Gegenwart des Vaters im Himmel zu vertauschen.
Wir lesen vielmehr: „Da Er die Seinigen, die
in der Welt waren — und die Er jetzt dort zurücklassen
mußte — geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende".
Achl nur sie stehen vor Seinen Blicken. Er wußte,
daß unausbleibliche Verunreinigungen auf dem Wege ihrer
warteten. Er kannte die Gefahren, die ihnen drohten, sowie
ihre ganze Hilflosigkeit der Macht und Lift des Feindes
gegenüber. Bisher hatte Seine Liebe sie umgeben,
Seine treue Sorge sie bewahrt. Sollte ihnen beides fortan
fehlen? Nein, „Er liebte sie bis ans Ende", und
diese Seine Liebe fand einen Ausweg. Er sagte gleich jenem
Israeliten: Ich will nicht frei ausgehen, ich will Knecht
bleiben auf ewig. Und siehe da, in dem Bewußtsein, „daß
der Vater Ihm alles in die Hände gegeben habe, und
daß Er von Gott auögegangen war und zu Gott hingehe",
— 146 —
also in dem vollen Bewußtsein der Herrlichkeit Seiner
Person, steht Er von dem Abendessen auf und legt Seine
Oberkleider ab, nimmt ein leinenes Tuch und umgürtet
sich. (V. Z. 4.) Auf einem Polster zu liegen — man
lag ja damals auf Polstern zu Tische — paßt nicht für
einen Knecht. Die Oberkleider waren hinderlich für körperliche
Arbeiten; der Knecht erschien deshalb in aufgeschürztem
Unterkleide, an den Lenden gegürtet. Wenn wir
an alles das denken, wie ausdrucksvoll und ergreifend
wird dann das Tun des Herrn! Der Sohn Gottes,
dem der Vater alles in die Hände gegeben hatte, und
der auf dem Wege war, zu dem Gott zurückzukehren,
von welchem Er ausgegangen, nimmt inmitten Seiner
Jünger den Platz eines Dieners, ja, eines gewöhnlichen
Sklaven ein; denn das Reinigen der Füße war allgemein
Sklavenarbeit.
Wir fragen mit Recht: Warum diese Erniedrigung?
Petrus versteht sie nicht, und anstatt still und
dankbar anzunehmen, was sein Herr und Meister an ihm
tun will, fragt er in seiner raschen Art ganz entrüstet:
„Herr, du wäschest meine Füße?!" Inwieweit die anderen
Jünger ihren Herrn verstanden haben, wissen wir
nicht; wahrscheinlich kaum mehr als Petrus, aber sie
machen doch keine Einwendungen. Aber verstehen wir
das Tun des Herrn? Wahrlich, wir könnten und
sollten es verstehen. Aber wie gering ist in der Christenheit
im allgemeinen das Verständnis über diesen Vorgang
und seine bildliche Bedeutung! Zu welch törichten
Auslegungen hat er Anlaß gegeben! Wasser ist ein Reinigungsmittel
und wird in der Schrift immer wieder als
Bild des Wortes Gottes benutzt, das, in der Kraft des
r47
Heiligen Geistes auf Herz und Gewissen angewandt, reinigend
wirkt, sei es bei der ersten und nie wiederholten
ganzen Waschung des Menschen, der Wiedergeburt,
oder bei den späteren, sich immer wiederholenden Waschungen
der Füße.
Johannes schreibt: „Dieser ist es, der gekommen ist
durch Wasser und Mut, Jesus, der Christus; nicht durch
das Wasser allein, sondern durch das Wasser und das
Blut". (1. Joh. 5, 6.) Das Wasser reinigt, das Blut
sühnt. Wir bedurften beides: Reinigung und Süh-
nung. In dem uns beschäftigenden Abschnitt ist nur von
Wasser die Rede, nicht von Blut, mit anderen Worten,
nur von Reinigung, nicht von Sühnung. Nun waren die
Jünger, mit alleiniger Ausnahme von Judas Jskariot,
schon gebadet oder ganz gewaschen, sie waren rein um
des Wortes willen, das Jesus zu ihnen geredet hatte (vergl.
V. ko und Kap. kS, 3), aber sie bedurften für ihren praktischen
Wandel der täglichen Reinigung ihrer Füße. Sie
hatten schon teil a n Jesu als ihrem Herrn und Heiland,
aber um auf ihrem Wege durch eine unreine Welt m i t
Ihm da teilhaben zu können, wohin Er jetzt ging, in dem
vollen Lichte der Gegenwart Gottes, mußten sie von dem
Schmutz gereinigt werden, der sich auf diesem Wege unaufhörlich
an ihre Füße hängen würde.
Bemerkenswert ist, wie der Herr alles tut. Er
steht von dem Abendessen auf, legt die Oberkleider ab,
nimmt ein leinenes Tuch und umgürtet sich; dann gießt
Er Wasser in das Waschbecken, bückt sich herab zu den
Füßen der Jünger und fängt an, sie zu waschen und mit
dem leinenen Tuche, mit welchem Er umgürtet war, abzutrocknen.
Ohne jetzt weiter auf die geistliche Be
148
deutung der einzelnen Vorgänge einzugehen, müssen wir
sagen: Lauter charakteristische Handlungen eines Dieners,
der zu jedem Dienst bereit ist! Zu dienen war der
Herr in diese Welt gekommen, und als Er im Begriff
stand, zum Vater zurückzukehren, gefiel es Ihm, Seinen
Jüngern ein Beispiel dienender Liebe zu hinterlassen,
das sie erst später, nach dem Herniederkommen
des Heiligen Geistes, ganz verstanden, aber gewiß auch
mit anbetender Bewunderung sich immer wieder ins Gedächtnis
gerufen haben.
Ach, was wäre aus Simon Petrus geworden, was
würde aus uns werden, wenn unser teurer Herr nicht
bereit gewesen wäre. Seinen Dienst der Liebe fortzusetzen,
wenn Er die Seinen, die in der Welt waren und sind,
nicht bis ans Ende liebte! Wenn Er nicht für Seinen
auf eigene Kraft vertrauenden Jünger gebetet hätte und
noch heute allezeit als unser treuer Hoherpriester und gerechter
Sachwalter unaufhörlich bei Seinem Gott und
Vater für uns tätig wäre! Und wie mühsam und verleugnungsvoll
ist der Dienst, den Er an jedem einzelnen der
Seinigen ausüben muß, weil sonst keiner von uns Gemeinschaft
mit Ihm droben haben könnte. Aber Sein
Name sei ewig gepriesen! Er liebt die Kinder, die Gott
Ihm gegeben hat, und Er liebt sie bis ans Ende.
Bis ans Ende? Will das sagen, daß Seine
Liebe oder der Dienst Seiner Liebe einmal aufhören
könnte? Daß diese Liebe, wenn die Welt einmal hinter
uns liegt und wir die Herrlichkeit erreicht haben, sich nicht
mehr um uns bemühen würde? Unmöglich! Die Liebe
hört nimmer auf, und wie könnte sie je aufhören, zu
dienen? Das hieße ja, sich selber untreu werden! Wohl
— 149 —
mag sie sich in anderer Weise, je den Verhältnissen entsprechend,
offenbaren, aber sie endet und ruht nie.
Hören wir nur die Verheißung, die der Herr Seinen
Knechten gibt, welche Er bei Seiner Rückkehr wachend
finden wird. „Wahrlich", ruft Er ihnen zu, „Er wird
sich umgürten und sie sich zu Tische legen lassen
und wird hinzutreten und sie bediene n". (Luk.
12, 37.) Also genau dieselben Ausdrücke wie in Joh. 13,
nur mit dem Unterschiede, daß der Dienst einen anderen
Charakter angenommen hat. Die Wüstenwanderung ist
beendet, der Schauplatz der Sünde verlassen, Mühe und
Kampf sind vorüber, jede Möglichkeit einer Verunreinigung
ist für immer ausgeschlossen, und die Liebe findet
ihre ewige Befriedigung darin, die teuer erkauften und in
der Zeit bewahrten Gegenstände in den Vollgenuß der
ewigen Segnungen droben einzuführen.
Ja, Er wird sich umgürten und sie sich zu
Tische legen lassen und wird hinzutretrn und sie
bedienen. Wunderbare Worte! Wahrlich, so etwas hätte
niemals in das Herz eines Menschen kommen können!
Es ist Seiner würdig, der da kam, um zu dienen und
Sein Leben als Lösegeld zu geben für viele. Da, wo alles
vollkommen ist, darf wohl ein Vergleich überhaupt nicht
gezogen werden. Sonst möchten wir versucht sein, zu denken,
daß unter den mannigfaltigen Herrlichkeiten der Person
unseres hochgelobten Herm die des Dieners eine der
lieblichsten und anziehendsten ist.
Und Er sagt: „Lernet von mir!" Und: „Ich habe
euch ein Beispiel gegeben, auf daß, gleichwie ich euch getan
habe, auch ihr tue t".
— 150 —
Ser Brief an die Römer
Lapitel y
(Fortsetzung)
Doch wenn Gott begnadigen will, wie groß wird
dann die Sünde eines Menschen, der sich diesem Begnadigungswillen
widersetzt und Gottes Absichten zu
durchkreuzen sucht! Auch diese Seite muß hervorgehoben,
und es muß gezeigt werden, wie Gott mit einem solchen
Menschen handelt. Gott muß auf der ganzen Erde bekannt
werden als der Gott, der sich nicht ungestraft
spotten läßt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, verstehen
wir gut das nun folgende Wort: „Denn die Schrift
sagt zum Pharao: „Eben hierzu habe ich dich erweckt,
damit ich meine Macht an dir erzeige, und damit mein
Name verkündigt werde auf der ganzen Erde". So denn,
wen Er will begnadigt Er, und wen Er will verhärtet
Er." (V. 17. 18.)
Der Pharao sollte für alle Zeiten als ein Beispiel
dafür dastehen, was Jehova, der Gott Israels, mit einem
Menschen zu tun vermag, der auf Sein Gebot: „Laß
mein Volk Israel ziehen, daß sie mir ein Fest halten in
der Wüste", in maßloser Überhebung zu sagen wagte:
„Wer ist Jehova, auf dessen Stimme ich hören soll?
. . . Ich kenne Jehova nicht, und ich werde Israel
nicht ziehen lassen", und der im Anschluß an diese
lästerlichen Worte befahl, den ohnehin schon so harten
Dienst der Israeliten noch zu erschweren und Unmögliches
von ihnen zu fordern. (2. Mose 5, 1 ff.) In dem an
und für sich schon hochmütigen und grausamen Menschen
— rsr —
rief Gottes Botschaft nur den Entschluß wach, sich dem
Willen Gottes zu widersetzen und Seine Pläne zunichte
zu machen. Beachten wir zugleich, daß sein Zustand
immer böser wurde, je länger Gott mit ihm redete.
Siebenmal lesen wir: „Das Herz des Pharao verhärtete
(oder verstockte) sich", oder: „Der Pharao verstockte sein
Herz"; schließlich erst, nachdem die schwersten Plagen
über ihn gekommen waren, und sogar seine eigenen Weisen
und Zauberkünstler hatten eingestehen müssen: „Das
ist Gottes Finger!" wird gesagt: „Und Jehova verhärtete
das Herz des Pharao". Und als er endlich seine Zustimmung
zum Auszug Israels gegeben hatte, offenbarte
sich die unverbesserliche Bosheit seines Herzens wiederum
darin, daß er wutschnaubend mit einem gewaltigen Heere
dem Volke nachzog, immer noch wähnend, Jehovas erhobenem
Arm widerstehen zu können. Jst's ein Wunder,
daß Gott ihn endlich in richterlicher Weise verhärtete und
für alle Zeiten als ein warnendes Beispiel hinstellte? Gott
bestimmt nie einen Menschen zur Verhärtung, Er
macht nie einen Menschen böse, nein, der Mensch, durch
seinen Fall unter die Gewalt der Sünde gekommen, schreitet
von Bösem zu immer Böserem.
Was hat also Gott in dem Falle des Pharao getan?
Er hat diesen Mann zu der gewaltigen Höhe, auf der er
stand, emporsteigen lassen, damit sein kläglicher Untergang
im Schilfmeere für alle Zeiten kundtue, was es ist, seinen
Stacken gegen Gott zu verhärten. Seine Geschichte redet
heute noch zu den Gewissen der Menschen.
Ganz ähnlich wie dem Pharao ist es dem Volke
Israel ergangen, nur mit dem Unterschied, daß dieses
Volk hier und so oft in späteren Tagen der Gegenstand
152
der errettenden oder wiederherftellenden Gnade Gottes
gewesen ist. Diese Tatsache macht seine Verantwortlichkeit
umso größer und seinen Fall umso tiefer. Anstatt
auf die ernsten Mahnungen Gottes zu hören, „empörten
sie sich gegen Ihn, warfen Sein Gesetz hinter ihren
Rücken und verübten große Schmähungen". Ja, sie „verspotteten
die Boten Gottes und verachteten Seine Worte
und äfften Seine Propheten (geradeso wie der Pharao),
bis der Grimm Jehovas gegen Sein Volk stieg, daß keine
Heilung mehr war". (Vergl. Neh. y, 26—2Y; 2. Chron.
36, 14—16.) Wieder möchten wir fragen: Ist es ein
Wunder, wenn Gott endlich Seinem Propheten Jesajas
die Worte zuruft: „Mache das Herz dieses Volkes fett,
und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen:
damit eö mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen
Ohren nicht höre und sein Herz nicht verstehe und es
nicht umkehre und geheilt werde"? Geistliche Verblendung
und Verhärtung, kam von feiten Gottes über ihre
bösen, widerspenstigen Herzen, und als der Herr Jesus
später in ihre Mitte trat, da „glaubten sie nicht an Ihn",
ja,sie„konnten nicht glauben,weil Jesajas gesagt hat:
„Er hat ihre Augen verblendet usw."." (Jes. 6, 8—10;
Ioh. 12, 37—40.) In ähnlicher Weise schreibt der Apostel
Petrus von den „Ungehorsamen" unserer Tage, daß
sie gesetzt worden sind, sich an dem Worte zu stoßen.
(1. Petr. 2, 7. 8.) Gott hat diese hochmütigen Menschen,
gleich dem Pharao vor alters, gesetzt, um als warnende
Beispiele für andere zu dienen. Er hat sie nicht
ungehorsam gemacht, aber Er hat sie, vielleicht nach
zahlreichen vergeblichen Mahnungen, der Härte ihrer Herzen
hingegeben.
r53
So liegt denn in beiden Fällen, ob Gott den Menschen
begnadigt oder verhärtet, die Ungerechtigkeit nicht
auf Gottes, sondern auf des Menschen Seite, der, soweit
es ihn betrifft, unverbesserlich böse und verderbt ist; und
in beiden Fällen, sei es in Gnade oder in Gericht, handelt
Gott zur Verherrlichung Seines großen Namens. Alle,
die auf Gottes Wort achten und geistliches Verständnis
haben, werden hierin auch kaum eine Schwierigkeit finden;
nur die menschliche Vernunft zieht immer wieder
ihre verkehrten Schlüsse. Indem der Apostel, durch den
Geist Gottes geleitet, diese Schlüsse einen nach dem anderen
aufzählt, begegnet er ihnen zugleich in einer Weise,
die unsere ungeteilte Bewunderung wachruft.
Wir kommen jetzt zu dem letzten derselben:
„Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt Er
noch? Denn wer hat Seinem Willen widerstanden?"
(V. ry.) Mit anderen Worten: Wenn Gott begnadigt,
wen Er will, was kann ich dann dazu beitragen? und
wenn Er verhärtet, wen Er will, was kann ich dagegen
tun? Ist Er der unumschränkte Gott, so bleibt
mir nichts anderes übrig, als mich Seinem Willen zu
unterwerfen.
Der Einwand scheint begründet zu sein. Warum
tadelt Gott noch? Wenn alles sich schließlich Seinem
Willen und Ratschluß unterwerfen muß, so kann der
Mensch für das Endergebnis doch nicht verantwortlich gemacht
werden! Der Ausgang des Weges seines Lebens
steht ja bei Gott! Daö erinnert uns unwillkürlich an die
Entschuldigungen des ersten Menschenpaares nach dem
Sündenfall. Auch damals suchten Adam und Eva die
Verantwortlichkeit für das Geschehene Gott zuzuschieben.
rs4
Warum hatte Er der Schlange den Zugang zu dem Garten
Eden gestattet? Warum dem Manne das Weib gegeben,
das ihn betrügen sollte? — In Römer y lauten die Fragen
ja anders, aber der Grundsatz ist derselbe: Gott ist
schuldig, nicht der Mensch. Warum errettet Er den einen
und verwirft den anderen? Was kann der Mensch dazu,
wenn Gott ihn verhärtet?
Noch einmal sei es gesagt, daß alle diese Fragen
und Schlußfolgerungen einerseits die Herrlichkeit Gottes
außer acht lassen und anderseits die Verantwortlichkeit
des Geschöpfes vergessen. Gottes unumschränkter Vorsatz
— und wie wäre Er Gott, wenn Er nicht unumschränkt
wäre? — hebt die Verantwortlichkeit des Menschen
nicht auf. Nehmen wir als erläuterndes Beispiel
das Kreuz. Der bestimmte Ratschluß, daß der Geliebte
Gottes leiden sollte, war schon vor Grundlegung der Welt
gefaßt; Gott hatte Jesum nach Seiner Vorkenntnis zuvorbestimmt,
das Lamm zu werden, das die Sünde der Welt
wegnimmt. Aber verminderte das irgendwie die Schuld
des Menschen? Nicht im geringsten! Juden und Heiden
fanden sich an jenem Tage zusammen und wurden
Freunde in ihrer gemeinsamen Feindschaft gegen Gott und
Seinen Gesalbten; und obwohl ihr Tun die Stimme der
Propheten erfüllte und Gott Gelegenheit gab, Sein heiliges
Urteil über die Sünde zu vollziehen und das wunderbare
Werk Seiner Gnade auszuführen, waren und
blieben sie doch schuldig der Verwerfung und Ermordung
des Sohnes Gottes. (Vergl. Apstgsch. 2, 22. 2Z.) Beide
Dinge gingen nebeneinander her.
Die Schlußfolgerung, aus welcher die Frage: „Warum
tadelt Er noch?" herauswächst, ist also durchaus trüg-
15S
lich. Wenn Gott in der Größe Seiner Weisheit und dem
Reichtum Seines Erbarmens das böse Tun des Menschen
zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse ausschlagen läßt, so ist
das eben Sein unumschränktes Walten, läßt aber den
Willen des Menschen immer als das bestehen, was er ist:
böse und unentschuldbar. Freilich, wenn es wahr wäre,
was die streng kalvinistische Theologie lehrt, daß Gott
die, welche verloren gehen, zur Verdammnis zuvorbestimmt
habe, so läge der Fall schwierig. Aber Gott sei
gepriesen! Es ist nicht wahr. Die Schrift redet niemals
so, wenngleich es einige Stellen geben mag, die jene Meinung
zu stützen scheinen.
Wie liegen denn die Dinge? Ehe der Apostel dazu
übergeht, die gestellte Frage zu beantworten, betont er,
wie schon wiederholt bemerkt, die Unumschränktheit Gottes,
das erste Seiner Rechte, und zeigt dem Fragenden
die Verkehrtheit seines Herzens. Würde wohl ein Mensch,
dessen Gewissen irgendwie wach und tätig ist, so reden
können, wie es hier geschieht? Nimmermehr wird eine
bußfertige Seele Gott Ungerechtigkeit zuschreiben oder Ihn
beschuldigen, Er sei verantwortlich für das Verlorengehen
eines Menschen. Wer eine solch böse Sprache führt, beweist
damit nur die natürliche Blindheit und den Hochmut
seines Herzens. „Ja, freilich, o Mensch, wer bist
du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa
daö Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du
mich also gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über
den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und
ein anderes zur Unehre zu machen?" (V. 20. 21.) Wenn
aber das Geschöpf schon solche Macht hat — und wer
will das bestreiten? — wieviel mehr dann der Schöpfer!
15b
„Warum hast du mich also gemacht?" Diese Frage,
im Munde eines Menschen Gott gegenüber, sagt letzten
Endes nichts anderes als dies: Gott hat kein Recht, das
Böse zu richten, und wenn Er nicht alle begnadigen und
retten will, so darf Er wenigstens niemand bestrafen.
Jede gerechte Regierung und Vergeltung ist damit beseitigt,
und Gott ist gezwungen, das Böse in einer Weise
zu dulden, wie es kein ehrbarer Mensch in seinem Hause
oder in seiner Umgebung dulden würde. Daß Gott den
Menschen gut und aufrichtig geschaffen und ihn ernst und
eindringlich vor der Sünde und ihren Folgen gewarnt
hat, daß aber der Mensch der Versuchung unterlegen ist
und nachher Sünde auf Sünde, Gewalttat auf Gewalttat
gehäuft hat — alles das wird absichtlich übersehen oder
entschuldigt.
Aber man könnte fragen: Liegt in den Worten des
Apostels, daß der Töpfer nach seinem Belieben aus demselben
Ton ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre
zu machen vermag, nicht doch eine Bestätigung dessen,
was man Gott zum Vorwurf macht? Tatsächlich ist die
Sprache des Apostels kühn, und selbst verständige Männer
und einsichtsvolle Ausleger des Wortes Gottes sind an
dieser Stelle irre geworden, indem sie vergaßen, daß dem
Schreiber zunächst nur daran lag, die Unumschränktheit
Gottes in ihrer ganzen Unverletzlichkeit aufrecht zu halten,
und es weiter übersahen, daß Gott von Seinem Rechte
garnicht in der Weise Gebrauch gemacht hat, wie man
es nach dem Bilde von dem Töpfer erwarten sollte. Die
beiden nächsten Verse werden uns darüber belehren, w i e
Gott gehandelt hat; aber es war Gott gegenüber geziemend
und für den Menschen nützlich, vorher die unumschränk
1,57
ten Rechte Gottes festzustellen. Wie selten denken gerade
solche, die immer wieder von „Rechten" reden, daran,
daß Gott auch Rechte hat! Ja, wenn es überhaupt Rechte
gibt, so müssen die Seinigen als Schöpfer die höchsten,
ja, unumschränkt sein, vor allem wenn wir uns daran
erinnern, daß wir nicht nur Geschöpfe, sondern gefallene
Geschöpfe, Sünder, sind, die notwendigerweise die
Früchte ihres bösen Tuns ernten müssen.
Doch hören wir, wie der Apostel die schwierige Frage
beantwortet: „Wenn aber Gott, willens. Seinen Zorn
zu erzeigen und Seine Macht kundzutun, mit vieler Langmut
ertragen hat die Gefäße des Zorns, die zubereitet sind
zum Verderben, — und auf daß Er kundtäte den Reichtum
Seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung,
die Er zur Herrlichkeit zuvorbereitet hat...? uns,
die Er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern
auch aus den Nationen." (V. 22—24.)
Wir haben weiter oben schon darauf aufmerksam
gemacht, daß Gott notwendigerweise einmal Seinen Zorn
über all das Böse, das in dieser Welt geschehen ist und
geschieht, erweisen und an den hochmütigen, eigenwilligen
Menschen Seine Macht kundtun muß, wenn Er anders
Seinen Charakter als der heilige Gott aufrecht halten
will. Wie nun, wenn Er bis heute diesen Zorn und diese
Macht nicht kundgetan, sondern statt dessen „mit vieler
Langmut" die Gefäße des Zorns ertragen hat — kann
man Ihm dann mit irgendwelchem Recht den Vorwurf
der Unbarmherzigkeit oder der Ungerechtigkeit machen?
Könnte der dreimal heilige Gott dem Bösen gegenüber
gleichgültig bleiben oder gar Gemeinschaft mit ihm haben?
Unmöglich! Und doch hat Er, trotzdem der Mensch, so
— 158 —
lang seine Geschichte währt, nicht aufgehört hat, Ihn
durch die Verachtung aller Seiner Rechte zu reizen und
Ihn durch seinen unglaublichen Hochmut, durch Sittenlosigkeit,
Götzendienst, Fluchen und Lästern herauözufor-
dern, bis heute gezögert, das tausendfach verdiente Gericht
auszuführen. Wie gnädig und langmütig ist Er also
gewesen! Er hat „die Gefäße des Zorns", d. h. die
Menschen, an denen Er Seinen Zorn erzeigen will, in
wunderbarer Güte und Nachsicht getragen, ja, hat ihnen
nichts als Gnade erwiesen, indem Er immer wieder zu
ihnen redete, „früh sich aufmachend", wie einst bei Israel.
Aber was haben sie demgegenüber getan? Sie
„haben all Seinen Rat verworfen und Seine Jucht nicht
gewollt"! Tut Er recht, wenn Er sie „essen läßt von
der Frucht ihres Weges und sie sich sättigen läßt von
ihren Ratschlägen"? (Vergl. Spr. 1, 24—Z3.)
Der Apostel nennt diese Menschen, im Anschluß an
das Bild von dem Töpfer, „Gefäße des Zorns", wie
er auf der anderen Seite diejenigen, welche sich Gott unterwerfen
und Seinem Worte glauben, als „Gefäße der
Begnadigung" bezeichnet. Beide sind aus dem Wege zu
ihrem endlichen Ziele, zum Verderben oder zur Herrlichkeit.
Beide sind dazu „bereitet". Aber übersehen wir nicht
den großen Unterschied in der Art der Zubereitung! Viele
haben ihn übersehen und dadurch den Sinn oder doch
die Kraft der Beweisführung des Apostels nicht erfaßt.
Von den Gefäßen des Zorns sagt er nur: „zubereitet
zum Verderben", von den Gefäßen der Begnadigung aber:
„die Er (Gott) zur Herrlichkeit zuvorbereitet hat".
Von den Gefäßen des Zorns wird weder hier noch an
irgend einer anderen Stelle gesagt, daß Gott sie zum
— rs9 —
Verderben zubereitet habe; nein, sie selbst haben es
getan durch ihre Sünden und vor allem durch ihren Unglauben
und ihre Auflehnung gegen Gott. Die Gefäße
der Begnadigung aber hat Gott bereitet, und zwar z u -
vorbereitet und zur Herrlichkeit bestimmt. Sie haben
nichts dazu beigetragen, alles ist Gottes Werk, ausgeführt
„nach Seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die
uns in Christo Jesu vor den Zeiten der Zeitalter gegeben
worden ist". (2. Tim. r, 9.)
So ist denn wiederum das Böse nur auf des Menschen,
nicht auf Gottes Seite, und anderseits kommt das
Gute nur von Gott, nicht von uns. Ferner bestätigt sich
wieder, daß der Vorsatz Gottes nach Auswahl besteht,
nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden.
(V. U.) Die Gefäße der Begnadigung sind nicht etwa
zur Herrlichkeit bestimmt, weil sie sich vor anderen durch
besondere Vorzüge oder geistliche Tugenden ausgezeichnet
haben, sondern Gott hat sie nach Seiner unumschränkten
Auswahl, „nach Wahl der Gnad e", bedingungslos
zur Herrlichkeit zuvorbereitet. Daß sie im Laufe der Zeit
berufen, gerechtfertigt usw. werden mußten (vergl. Kap.
8, 29. 30), und daß Gott das eine Gefäß mit mehr geistlichen
Kräften und Gnadengaben füllt, als das andere,
ist gewiß so, aber alle sind von Ihm zuvorbereitet worden,
ehe eines von ihnen da war, und zwar bereitet für
Seine eigene Herrlichkeit. Darum, wie wir schon wiederholt
betonten, werden sie alle dereinst nur Gottes unergründliche,
nie fehlende Gnade rühmen. Voll und ganz
wird das Wort in Erfüllung gehen: „Wer sich rühmt,
der rühme sich des Herrn!"
— 4bv —
Wenn diese Fülle der Gnade vor die Seele des
Apostels tritt, kann er nicht anders, als auf ihre herrlichste
Darstellung hindeuten, wie sie sich in der Berufung
der Gläubigen „nicht allein aus den Juden, sondern auch
aus den Nationen" (V. 24) erwiesen hat. Hat die Erprobung
des meistbegünstigten Volkes dieser Erde nur in
hoffnungsloser Verschuldung und unheilbarem Verfall geendet,
sodaß nichts anderes als Zorn und Gericht übrigblieb,
so haben sich die Schleusen der göttlichen Barmherzigkeit
geöffnet, um aus Juden und Heiden ein
Volk für die himmlische Herrlichkeit zu berufen. Je größer
die Not, je tiefer das Verderben, desto weiter öffnet
sich daö Feld für Gott, um die Herrlichkeit Seiner Gnade
zu offenbaren.
Der Apostel führt jetzt zwei Stellen aus dem Propheten
Hosea an, Kap. 4, 40 und 2, 23, um zu zeigen,
daß Gott schon in jenen alten Tagen durch Seinen Geist
auf diese Dinge hingewiesen hatte. Petrus, der ausschließlich
an Gläubige aus Israel schreibt, beschränkt sich auf
die Anführung der zweiten Stelle. (4. Petr. 2, 40.) In
Verbindung mit dem Gedanken an die Einführung der
Heiden, nennt der Apostel der Nationen beide. Im
25. Verse betont er zunächst, daß Gott Seines Ratschlusses
im Blick auf Israel gedenken und das Volk, das jetzt
den Namen „Nicht-mein-Volk" trägt, am Ende der Tage
wieder „Mein Volk" und „die Nicht-Geliebte Geliebte"
nennen wird. Im 2b. Verse lenkt er dann unsere Aufmerksamkeit
auf die Tatsache, daß die zweite angeführte
Stelle eine Anspielung auf die Heiden enthält: „Und es
wird geschehen, an dem Orte, da zu ihnen gesagt
wurde: Ihr seid nicht mein Volk, daselbst werden sie
— rbi —
Söhne des lebendigen Gottes genannt werden".
Dieser Titel ist das besondere Vorrecht der Gläubigen
aus den Nationen, nicht der Juden als des irdischen
Eigentumsvolkes Gottes.
Die Beweisführung des Apostels ist also einfach und
klar. Die im 23. Verse ausgesprochene Gnadenberufung
Gottes aus Juden und Heiden war nicht ein neuer, dem
Alten Testament völlig fremder Gedanke, sondern stimmte
mit dessen Belehrungen durchaus überein. Schon durch
Hosea hatte Gott davon gesprochen, daß Er sich Seiner
unumschränkten Gnade zu Gunsten von Juden und Heiden
bedienen wolle.
Aber auch andere Propheten hatten Ähnliches bezeugt.
So hatte Jesajas mit der Ankündigung der ernsten
Gerichte, die über Israel kommen sollten, den Ruf verbunden,
daß ein Überrest errettet werden würde. Denn
Gott würde eine abgekürzte Sache auf Erden tun und die
Sache vollenden in Gerechtigkeit. Ja, schon in Kap. t, y
hatte Jesajas geweissagt: „Wenn nicht der Herr Zebaoth
uns Samen übriggelassen hätte, so wären wir wie Sodom
geworden und Gomorra gleich geworden". Auf Grund
Seiner Gerechtigkeit hätte Gott das ganze Volk vernichten
müssen, aber hinblickend auf Seine bedingungslose
Verheißung konnte und kann Er in Gnaden mit ihm handeln
und ihm „einen Samen übriglassen". Die Barmherzigkeit
rühmt sich wider das Gericht.
Ach, wenn Israel nur auf diese mit der Androhung
vernichtender Gerichte verbundenen Hinweise auf Gottes
Handeln in Gnade gehört hätte! Aber sie hatten ihre Ohren
verschlossen und ihre Herzen verhärtet und taten es
immer noch.
— 162 —
„Was wollen wir nun sagen?" Oder: Zu welchem
Ergebnis sind wir gelangt? Zu dem, „daß die von den
Nationen, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, Gerechtigkeit
erlangt haben, eine Gerechtigkeit aber, die aus Glauben
ist; Israel aber, einem Gesetz der Gerechtigkeit nachstrebend,
nicht zu diesem Gesetz gelangt ist." (V. 30. 31.)
Die vergangene Geschichte Israels und die Lage des Volkes
in jenen Tagen bewiesen deutlich, wie wahr die Propheten
geredet hattey. Warum war Israel nach Assyrien
und Babel weggeführt worden? Weshalb standen sie zur
Zeit unter der Herrschaft eines heidnischen Tyrannen?
Und mehr noch: was war in sittlicher Beziehung aus ihnen
geworden? Auf dem Boden des Gesetzes stehend, hatten
sie nach einer äußeren, gesetzlichen Gerechtigkeit gestrebt
und keine Gerechtigkeit erlangt. Dagegen war auf gerechter
Grundlage die Gnade Gottes gegen solche überströmend
geworden, die fern von Gott in der Finsternis ihrer
Herzen dahingingen. Heiden, die „ohne Hoffnung" in der
Welt standen und der Gerechtigkeit nicht nachstrebten,
hatten umsonst Gerechtigkeit erlangt, und zwar eine Gerechtigkeit
aus Glauben, erreichbar also für alle, die
ohne Gesetz lebten, aber auch für alle aus Israel, die in
der Erkenntnis ihres traurigen Zustandes bereit waren,
zu der Gnade ihre Zuflucht zu nehmen.
Und warum waren die Juden nicht zur Gerechtigkeit
gelangt? Eben weil sie ihr „nicht aus Glauben, sondern
als aus Werken" nachgestrebt hatten. (V. 32.) In
ihrem Hochmut wähnend, den heiligen Gott mit ihren
gesetzlichen Werken befriedigen zu können, ja, stolz auf
ihre nationalen Vorzüge und ihre vermeintliche Gerechtigkeit,
hatten sie sich an Christo, dem Stein, den Gott
— 163 —
in Gnaden in Zion gelegt hat, gestoßen. Hätten sie nicht
einen solchen Heiland dankbar begrüßen sollen? Statt
dessen war Er ein „Stein des Anstoßes" für sie geworden.
Anstatt an Ihn zu glauben und so Seiner „Kostbarkeit"
teilhaftig zu werden, hatten sie sich an Ihm geärgert,
wie geschrieben steht: „Siehe, ich lege in Zion
einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses,
und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden".
Es ist interessant zu sehen, wie der Heilige Geist durch
den Apostel die beiden Aussprüche des Propheten Jesajas
in Kap. 8, 14 und 28, 1b hier miteinander verbindet.
(Fortsetzung folgt)
„Es war um die sechste Stunde"
Immer wieder wird gefragt, wie die Zeitangabe in
Joh. Id, 14: „Es war um die sechste Stunde", in Einklang
zu bringen sei mit den Berichten der übrigen Evangelisten,
die übereinstimmend erzählen, daß die Kreuzigung
des Herrn schon zur dritten Stunde stattgefunden habe und
die Verfinsterung der Sonne um die sechste Stunde eingetreten
sei.
Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs hat von
jeher die Erklärer viel beschäftigt, und man ist zu den
verschiedensten Ergebnissen gekommen. Indem wir einerseits
bedingungslos daran festhalten, daß die Evangelisten
alle unter der Leitung des Heiligen Geistes geschrieben
haben, und anderseits die Echtheit der Lesart „sechste
Stunde" nicht ernsthaft bestritten werden kann (einige
Handschriften lesen „dritte Stunde", wodurch die Schwierigkeit
aber auch nicht beseitigt wird), bleibt als einzige
164
Erklärung nur die Annahme übrig, daß Johannes, nicht
wie die drei übrigen Evangelisten mit jüdischer, sondern
mit römischer oder bürgerlicher Zeit gerechnet habe. Der
jüdische Tag währte von Abend bis Abend, *) bezw. von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang (Nacht) und von
da bis wieder Sonnenuntergang (Tag). Eine Stunden-
zählung kannte man anfänglich nicht; sie ist wohl erst
nach der babylonischen Gefangenschaft allgemein angenommen
worden. Doch gab es schon vorher Wasser- und
Sonnenuhren. (Vergl. Jes. 38, 8.) Die dritte Tagesstunde,
von Sonnenaufgang an gerechnet, wäre also ungefähr
unser „9 Uhr", die sechste unser „12 Uhr" usw.
Die Römer rechneten, obwohl zur Zeit des Herrn
noch nicht allgemein, den Tag, wie wir es heute tun,
von Mitternacht bis Mitternacht. Unter Zugrundelegung
dieser Zeitrechnung wäre also die sechste Stunde 6 Uhr
morgens, was die Angaben der anderen Evangelisten mit
der des Johannes in Einklang bringen würde. Nach dem
johanneischen Bericht war nicht nur die erste Verhandlung
vor Pilatus, sondern auch die Geißelung des Herrn
und Seine Verspottung durch die Kriegsknechte (Dornen-
Das Wort des Herrn: „Gleichwie Jonas drei Tage und
drei Nächte in dem Bauche des großen Fisches war, also wird der
Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen
der Erde sein" (Matth. >2, 40), bietet darum keine Schwierigkeit.
In Wirklichkeit kann der Leib des Herrn noch nicht vierzig Stunden
in der Gruft gelegen haben, da er kurz vor Anbruch des Sabbaths,
an unserem Freitag Nachmittag, zu Grabe getragen wurde und
bald nach dem Sabbath, in der Dämmerung des ersten Wochentages,
wieder aufcrstand. Weil die Tage nach jüdischem Brauch
von Abend zu Abend gerechnet wurden, beginnt die Zählung schon
an unserem Donnerstagabend und geht durch bis Sonntagabend:
Freitag-Nachmittag und der am Abend des Sabbathtages beginnende
erste Wochentag werden für je einen vollen Tag gerechnet.
Daher drei Tage und drei Nächte.
— Ibs —
kröne usw.), also auch die Sendung zu Herodes, schon
vorüber, als Pilatus sich auf den Richterstuhl setzte, um
die Sache endgültig zur Entscheidung zu bringen. Die bis
9 Uhr noch bleibenden drei Stunden genügten also völlig,
um das Verhör zu beendigen, die Kreuzigung vorzubereiten
und den Herrn nach Golgatha zu führen.
Die Frage, ob Johannes in seiner Stundenangabe
sich immer der römischen Zeitrechnung bedient habe
oder nur an dieser Stelle ihr gefolgt sei, bleibt dabei allerdings
offen. Obwohl an und für sich von keiner großen
Bedeutung, hat man doch von jeher viel für und wider
gestritten. Es ist durchaus möglich, daß die erste Annahme
richtig ist. Dann würden die sechste und siebente Stunde in
Kap. 4, 6 u. 52 und die zehnte Stunde in Kap. 1, 39
unserem „vormittags sechs, sieben und zehn Uhr" entsprechen,
der Herr wäre also mit den Jüngern in der
Kühle der Nacht gewandert und am frühen Morgen, statt
am Mittag, am Zakobsbrunnen bei Sichar angelangt. Die
übliche Zeit, Wasser zu schöpfen, war der Abend. (Vergl.
r. Mose 24, ii; r. Sam. 9, ii.)
Die zweite Annahme, daß also Johannes nur im
19. Kapitel der römischen Zeitrechnung gefolgt sei, hat
aber auch manches für sich. So z. B. das Wort des Herrn
in Kap. 11, 9: „Sind der Stunden des Tages nicht
zwölf?" Diese Worte scheinen auf den jü dischen Tag
hinzudeuten, mögen aber auch wohl nur den Arbeitstag
bezeichnen sollen, ohne an eine genaue Zeitbestimmung
zu denken. Ist die Annahme richtig, dann läßt sich die
Sache vielleicht so erklären, daß Johannes im 19. Kapitel
die römische Zeit deshalb benutzt hat, weil die ganze
Verhandlung unter der Leitung des römischen Landpflegers
166
stattfand und Johannes durch diese Äußerlichkeit dessen
besondere Verantwortlichkeit betonen wollte. Übrigens
macht es, wie schon gesagt, nicht viel aus, ob die Frage,
so oder so beantwortet wird.
Die Nacht war bei den Juden ursprünglich in drei
'Nachtwachen eingeteilt: in die Abend-, die mittlere und
die Morgenwache. (Klaget. 2, 19; Richt. 7, 19; 2. Mose
14, 24 u. 1. Sam. 11, 11.) Erst als das Volk unter die
Herrschaft der Römer und damit unter die Beeinflussung
durch ihre Sitten und Gebräuche geriet, kam die Einteilung
in vier Nachtwachen (eine jede zu drei Stunden)
allgemein auf. Dieser Einteilung begegnen wir deutlich
in Mark. 13, ZS in der damals gebräuchlichen Bezeichnungsweise:
„Ihr wisset nicht, wann der Herr des Hauses
kommt, des Abends (1.) oder um Mitternacht
(2.) oder um den Hahnenschrei (3.) oder frühmorgens
(4. Nachtwache)". In Luk. 12, 38 wird die
zweite und dritte, und in Matth. 14, 25 und Mark.
6, 48 die vierte Nachtwache erwähnt. So finden wir
auch in Apstgsch. 12, 4 vier Wachen oder Kommandos
von je vier Kriegsknechten zur Bewachung des von Hero-
des gefangen gesetzten Apostels Petrus.
Sie Macht des Glaubens
sLies i. Sam. i, 24—2, io.j
Nur insoweit wir in der Zukunft leben, besitzen wir
die Kraft, in der Gegenwart den Pfad des Glaubens mit
Entschiedenheit zu verfolgen. Nicht das Zeitliche, sondern
das was jenseits des Gegenwärtigen liegt, muß das Herz
erfüllen und die Grundlage unserer geistlichen Kraft bil
— 167 —
den. Dieser Ersahrungssatz kommt wunderschön in dem
Lobgesang Hannas, der Mutter Samuels, zum Ausdruck.
Er enthält ähnliche Ausdrücke wie der Lobgesang der Maria
in Luk. 1. In beiden Fällen haben wir es mit Gefäßen
zu tun, die die Schrift uns ausdrücklich als „schwächer"
bezeichnet; aber welch eine Macht und Kraft verleiht den
beiden Frauen der Glaube, der sie über das Gegenwärtige
erhob! Beide versenkten sich in das, was die göttlichen
Verheißungen ihrem Volke zusagten, und fanden darin
den rechten Halt für ihren Weg.
Das Gebet der Hanna ist ein Lobgesang in des Wortes
vollster Bedeutung. Es kommt zugleich eine erstaunliche
geistliche Erkenntnis darin zum Ausdruck. Wir finden
in ihm das Psalmwort bewahrheitet: „Das Geheimnis
Jehovas ist für die, welche Ihn fürchten, und Sein
Bund, um ihnen denselben kundzutun". (Ps. 25, 14.)
Gottes Herrlichkeit sollte bald aus der Mitte des Volkes
weichen und „Jkabod" auf Israel geschrieben werden.
(1. Sam. 4, 21. 22; Ps. 78, 60. 61.) Aber wir begegnen
hier einem Weibe, das einen ganz persönlichen Glauben
hatte; weder Elkana, ihr Mann, noch Eli, der Hohepriester,
unterstützten sie darin. Hannas Glaube schaute weit über
den Verfall des Volkes hinaus. Der wahre Grund ihrer
Freude lag nicht in der Geburt ihres Knaben, so froh
sie dieselbe begrüßte, sondern in der Zuversicht, daß Gott
eine Befreiung für Sein Volk, ja, für die ganze Erde
bewirken werde. „Es frohlockt mein Herz in Iehov a",
sagt sie. Sie stützt sich nicht auf die sichtbaren Umstände.
Ihr Psalm geht sogar bis zu den letzten Tagen und berührt
Gottes Vorsätze betreffs der ganzen Schöpfung.
Unsere Gedanken sollten nicht beschränkt werden durch
rb8
die kleinen Verhältnisse, in denen wir leben. Sie sollten
sich hinaufschwingen zu Gottes herrlichen Ratschlüssen in
bezug auf die Kirche, auf Israel und alle „Enden der
Erde", ja, auf die neue Schöpfung, den „Tag der Ewigkeit".
Es gibt nicht eine einzige Verheißung in Gottes Wort,
die in Christo Jesu nicht auch unser wäre. Und was könnte
uns besser instandsetzen, „das Wort Seines Ausharrenö
zu bewahren", als die Gewißheit, daß alle diese Dinge
schon unser sind? Wir hoffen nicht auf irgend etwas Unbestimmtes,
nein, wir haben die Bestätigung aller Verheißungen
in der Person unseres Herrn Jesus Christus.
Wie wenige mögen den jungen Samuel, der im
Hause des Herrn aufwuchs und diente, in jener Zeit auch
nur beachtet haben! Wer wird seine Person mit einem
zukünftigen Siege Israels über die Philister, oder mit der
Ausführung der Ratschlüsse Gottes verbunden haben? Und
später, als Simeon den Herrn auf seine Arme nahm, wer
brachte wohl damals den kommenden Tag der Herrlichkeit
mit diesem kleinen Kinde in Verbindung? Nur der
Glaube. Das Geheimnis des Herrn ist für die, welche
Ihn fürchten — und wunderbar ist es, in Seine der Welt
verborgenen Ratschlüsse eingeweiht zu sein. Möge der Herr
es uns schenken, sie zu kennen und zu lieben! Wenn wir
um uns her blicken, so könnten wir oft ganz entmutigt
werden. Aber betrachten wir Hannas Glauben, Marias
Glauben, der so herrlich in ihren Lobgesängen zum Ausdruck
kam, als sie das anschauten, was nach Gottes Verheißung
geschehen sollte! Laßt uns an den einfachen
Grundsätzen des Glaubens festhalten, mögen auch die
Umstände sein, wie sie wollen! Wir besitzen den im Heiligtum
weilenden, zu Gottes Rechten erhöhten Christus als
sicheren und festen Anker der Seele, und können eindringen
in das Geheimnis des Herrn, d. h. in Seine Gedanken
und Ratschlüsse. Möchten wir daher den kleinlichen Umständen
des Lebens nicht erlauben, unsere Sinne einzuschläfern
und unsere Blicke zu trüben!
„Kraft, dl<r In Schwachheit
vollbracht wird"
lLles Luk. y, 10—5S.I
Nur die Kraft Gottes kann den Menschen aus seinem
traurigen Zustand herausführen und etwas ganz Neues
aus ihm machen. Menschliche Kraft vermag wohl bereits
Vorhandenes weiter zu entwickeln, aber nichts Neues zu
schaffen, und furchtbar wird diese Entwicklung einmal sein.
Wenn der Antichrist, der Mensch der Sünde, dereinst im
Tempel Gottes stehen und von sich sagen wird, daß er
Gott sei, so wird gesehen werden, was menschliche Kraft,
durch Satan angeleitet und unterstützt, tun kann und tun
wird. Wir können das Ende dieses Weges schon in seinem
Anfang erkennen. Am Kreuze Christi hat sich gezeigt, was
die Macht des Menschen, wenn ihr erlaubt wird, bis zum
Äußersten zu gehen, in ihrem Haß gegen Gott zu tun vermag.
Das Kreuz Christi ist der Maßstab, den Gott uns
von der Kraft des ersten Adam gegeben hat.
Ja, es bedurfte göttlicher Kraft, um uns aus dem
Zustand, in welchem wir von Natur lagen, zu befreien
und dann völlig Besitz von uns zu nehmen. Die Kraft
Gottes bringt den Glaubenden in eine ganz neue Stellung
vor Gott, und zwar in Übereinstimmung mit der Person,
welche die Grundlage zu dieser Befreiung gelegt hat. Die
Größe und Würde des Erlösers verleiht dem Erlösungswerke
seine Vollkommenheit, und dieses Werk bringt uns
in Gottes Gegenwart, wo wir alles finden, was wir
nötig haben.
ÜXXVII! 7
170
Die Jünger vermochten von der Macht, die in Christo
bei ihnen war, keinen Gebrauch zu machen. Wie kam das
wohl? Forderte der Herr etwas Unmögliches von ihnen,
als Er sagte: „Gebet ihr ihnen zu essen"? Oder machte
Er ihnen einen ungerechten Vorwurf, als Er auörief: „O
ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, bis wann soll ich
bei euch sein und euch ertragen?"? (V. 41.) Keineswegs.
Sie versagten in beiden Fällen, weil sie die Macht nicht
kannten, die in ihrem Herrn gegenwärtig war. Sie waren
noch nicht mit sich selbst zu Ende gekommen, um allein
von dem Gebrauch zu machen, was in I h m war. Erst
wenn wir mit uns selbst zu Ende gekommen sind, gelangen
wir an den Punkt, wo göttliche Kraft uns begegnen
und sich uns zur Verfügung stellen kann.
Ich möchte dies durch ein kleines Beispiel erläutern.
Vor einigen Wochen wurde ich gebeten, eine arme, leidende
Frau zu besuchen, die die Gewohnheit hatte, sich als die
schlechteste Frau auf Erden zu bezeichnen. Sie erinnerte
mich an Leute, die, solang man ihnen nur zuhört, von
nichts anderem als von sich und ihren Leiden sprechen.
Nicht daß sie sich über die Leiden freuten, aber sie lieben
es, von sich selbst zu reden.
Nachdem auch Frau T. eine Weile von sich und ihrer
Schlechtigkeit gesprochen hatte, fragte ich sie:
„Sagen Sie mir einmal, würden Sie wohl dem
Sohne Gottes, wenn Sie damals gelebt hätten, einen
Backenstreich gegeben haben?"
„O nein, nein", rief sie entsetzt. „Ich weiß wohl,
daß ich die schlechteste Frau in der Stadt bin; aber das
würde ich doch nicht getan haben. S o schlecht bin ich doch
nicht!"
— —
Ich las ihr darauf verschiedene Schriftstellen vor, um
ihr zu zeigen, was das Herz des Menschen nach Gottes
Urteil ist, und sagte dann:
„Glauben Sie nach dieser Beschreibung, die Gott in
Seinem Worte von Ihnen gibt, immer noch, daß der
Teufel Sie nicht hätte veranlassen können, den Heiland
ins Angesicht zu schlagen?"
Sie stutzte, brach dann in Tränen aus und schluchzte:
„O ich wußte, daß ich schlecht war; aber daß ich s o
schlecht bin, das wußte ich nicht. Welch eine Liebe muß
daö sein, die für ein solch elendes Geschöpf sterben
konnte!"
Mit einem Schlage war alles bei ihr verändert. Sie
sprach nicht mehr von sich und ihrer Schlechtigkeit, sondern
nur noch von ihrem Heiland und Seiner Liebe.
Gibt es nicht manche Kinder Gottes, die, wie diese
Frau, viel und gern von ihrer Schlechtigkeit reden? Sie
gefallen sich darin, und doch, wenn sie einmal auf die
Probe gestellt werden, streiten sie es ab, so hoffnungslos
schlecht zu sein, wie Gottes Wort sie schildert. Aber,
erst dann, wenn man sich unverhüllt in dem Lichte
Gottes sieht, ist man da angekommen, wo man einerseits
die Gnade in ihrer ganzen Größe erkennen, und
wo anderseits eine außer uns liegende Macht von uns
Besitz nehmen kann.
Der Herr Jesus tadelt die Jünger, weil sie mit sich
selbst beschäftigt waren. Sie wünschten in sich Kraft zu
verspüren, selbst etwas zu tun. Sie wollten selbst kraftvoll,
stark sein. Der Herr konnte darum nicht anders, als
sie tadeln, aber Seine wunderbare Liebe versagte dennoch
keinen Augenblick. „Bringe deinen Sohn her", fügte Er
172
dem Tadel hinzu. So bleibt Sein Herz auch für uns
immer dasselbe. Wir verurteilen vielleicht die Jünger als
töricht; aber sind nicht vielmehr wir die Törichten, die
wir den Herrn heute besser kennen, als sie es vermochten,
und dazu den Heiligen Geist haben, den sie noch nicht
hatten? Ach! wie oft wenden wir uns von Seiner Kraft
weg, um bei uns selbst Kraft zu suchen und dann schmählich
zuschanden zu werden!
Doch nun entsteht die Frage: Wie kann ich mir
die Kraft Gottes zunutze machen? Zunächst muß ich gleich
den Jüngern lernen, wie arm und schwach ich in mir
selbst bin. Auf diesem Wege komme ich dahin, mich nach
einer Kraft außer mir umzusehen. So begegne ich Gott.
Schwachheit ist passend für Kraft, und Kraft passend
für Schwachheit. Wie der Hunger mich treibt, nach Speise
Umschau zu halten, so leitet das Gefühl meiner Schwachheit
mich an, nach göttlicher Kraft auszuschauen. Gottes
Kraft ist gerade das, was meiner Schwachheit entspricht,
und meine Schwachheit gerade das, was der Kraft Gottes
entspricht.
Wir lesen in unserem Kapitel, daß alle „sehr erstaunten
über die herrliche Größe Gottes". (V. 43.) Aber
über die Macht des Teufels verwunderten sie sich gar
nicht. Wie oft gleichen wir diesen Menschen! Wir verwundern
uns über die Größe der Gnade Gottes, aber
übersehen die Größe der Macht Satans und unseres Verderbens.
Gott gibt uns in diesem Kapitel drei besondere Gründe
an, weshalb die Jünger von der Kraft, die ihnen zur
Verfügung stand, nicht Gebrauch machen konnten,
selbst wenn sie sie verstanden hätten. Den ersten finden
— r7Z —
wir im 46. Verse: „ES entstand aber unter ihnen eine
Überlegung, wer wohl der Größte unter ihnen wäre".
Diese Frage offenbarte ihre Selbstsucht. Ihre eigene Größe
war ihnen wichtiger als ihr gegenwärtiger Herr. Es wird
immer so sein im Blick auf Gegenwart und Zukunft, solang
wir nicht im Kreuze Christi unser Ende gefunden
haben. Hier nur ein Beispiel: Ist nicht, wenn wir uns
mit der zukünftigen Herrlichkeit beschäftigen, schon die
Frage in uns aufgestiegen, was wir wohl dort empfangen
werden, statt daß wir an die Herrlichkeit des
Herrn und an Seine Freude gedacht hätten, wenn
Er die Seinen einmal alle um sich haben wird? Haben
wir nicht nach einem guten Platz im Himmel für uns getrachtet,
anstatt daran zu denken, was Christus dann
in den Seinigen haben wird? Ach, daß wir mehr mit dem
Apostel sagen könnten: „Ich bin mit Christo gekreuzigt,
und nicht mehr lebe i ch, sondern Christus lebt in mir"!
Statt uns mit dem verhaßten Ich zu beschäftigen, würde
Er, der erhabenste Gegenstand des Himmels, unser ganzes
Sinnen ausfüllen. Wir würden dann auch wohl, wenn
auch in geringerem Maße als der Apostel, hinzufügen
können: „Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich
durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der
mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat".
Den zweiten Grund zu der Unfähigkeit der Jünger,
den Dämon aus dem zu ihnen gebrachten Kinde auszutreiben,
finden wir in Vers 49: „Johannes antwortete
und sprach: Meister, wir sahen jemand Dämonen auö-
treiben in deinem Namen, und wir wehrten ihm, weil
er dir nicht mit uns nachfolgt". Drehten sich die Gedanken
der Jünger im ersten Falle um ihr persönliches
174
Ich, so offenbaren sie hier die gleiche Selbstsucht in gemeinsamem
oder korporativem Sinne. Da war jemand,
der im Namen Christi, obgleich er Ihm nicht mit den
Jüngern nachfolgte, böse Geister austrieb, der also
gerade jene Macht auöübte, deren die Jünger sich nicht
zu bedienen wußten, weil sie Den nicht erkannten, der
bei ihnen war. Das verdroß sie sehr. Ihre Gefühle waren
parteiisch, sektiererisch. Gottes Wort spricht aber nicht von
„wir" und „ihr", sondern nur von „Brüdern", indem
es alle Gläubigen ohne Unterschied einschließt. Ja, der
Herr nennt diese in Ioh. 20 sogar „Seine Brüder".
Er hat uns alle, so verschieden das Maß der Erkenntnis
auch sein mag, in Seine Gegenwart gebracht, um uns den
Vater zu offenbaren und uns in den gleichen Genuß und
die gleichen Beziehungen zu bringen, in denen Er selbst
steht. Und wenn wir an den Leib Christi, die Versammlung
des lebendigen Gottes, denken, wer ist das Haupt,
wer der Mittelpunkt aller Gläubigen? Sind sie nicht alle
durch einen Geist zu einem Leibe getauft? Wer sind
also „wir"? Was bedeutet die Frage: „mit uns"?
Die Antwort des Herrn: „Wehret nicht, denn wer
nicht wider euch ist, ist für euch", scheint zwar in Widerspruch
zu stehen mit Seinem Wort in Matth. 12, 30:
„Wer nicht mit mir ist, ist wider mich, und wer nicht
mit mir sammelt, zerstreut". In Wirklichkeit aber stimmen
beide Stellen genau überein. Hier bei Lukas handelt
es sich um einen Mann, der seiner Erkenntnis gemäß
wandelt. Er treibt Dämonen aus im Namen Christi und
übt so die Macht aus, welche die Jünger vernachlässigt
hatten. Bei Matthäus aber wird der Herr persönlich angegriffen.
Sobald das geschieht, ist der Beweis erbracht,
175
daß der Redende oder Handelnde wider Christum ist, und
jede Rücksichtnahme ist ausgeschlossen. Ich darf nicht Leute,
die also handeln, und wenn sie auch als „Christen" gelten
mögen, an die erste und Christum an die zweite Stelle
setzen. Christus muß immer den ersten Platz haben, Sein
Name muß über alles gehen, und wir dürfen versichert
sein: wenn das so bei uns ist, wird unsere Liebe anderen
gegenüber sich nur umso wahrer und echter offenbaren.
Nicht sektiererische und parteiische Gefühle werden uns
leiten und uns verhindern, das, was Gott durch andere
wirkt, anzuerkennen, auch wenn sie nicht „mit uns"
dem Herrn nachfolgen; aber wir werden anderseits auch
nicht mit jemand Gemeinschaft machen, der die Wahrheit
verfälscht und unserem Herrn und Haupte nicht die
Ehre gibt, die Ihm gebührt.
Im 54. Verse finden wir wohl den dritten Grund,
weshalb die Jünger von der herrlichen Kraft, die ihnen
zu Gebote stand, keinen Gebrauch machen konnten. Hier
fragen zwei von ihnen: „Herr, willst du, daß wir Feuer
vom Himmel herabfallen und sie verzehren heißen,
wie auch Elias tat?" Menschliche Kraft und Energie
möchten hier für Christum handeln. Wo aber diese am
Werke sind, mag man auch für Christum eintreten
wollen, können nicht die Werke Christi geschehen.
So war auch Petrus voll eigener Kraft, traute sich mehr
zu als all den anderen Jüngern und zog das Schwert
für Christum. Aber wie tief fiel er! Hier wollen die
Jünger für Christum Feuer vom Himmel herabfallen
lassen. Der Herr aber belehrt sie eines Besseren,
und was wir später von den beiden Jüngern hören, ist,
daß der eine um Christi willen des Märtyrertodes ster
776
ben durfte (Apstgsch. 72), und der andere, anstatt Feuer
vom Himmel herabfallen zu lassen, in der gleichen Stadt
(Samaria) den Heiligen Geist auf deren gläubige Bewohner
herabflehte. (Apstgsch. 8.)
Noch einmal möchte ich zum Schluß wiederholen,
weil viele von uns es so schwer zu lernen scheinen: Niemals
wird ein Mensch sein Ich gänzlich aufgeben, solang
er nicht herausgefunden hat, daß es das hassenswürdigfte
Ding ist, das es in der Welt gibt. Hat er aber das einmal
erkannt, dann zögert er nicht länger, sich von der Herrschaft
desselben loszumachen, und zwar auf die möglichst
einfache Weise, indem er das Höchste und Herrlichste, den
Sohn Gottes, an die Stelle des Ichs setzt, von Ihm sein
Herz erfüllen und im Anschauen Seiner Person sich in
Sein Bild verwandeln läßt.
Ach, daß wir alle besser verstehen möchten, was
Christus für uns getan hat und was Er für uns ist!
Sein Werk ist auf immerdar für uns vollbracht, und
i n Ihm stehen wir nun da als eine neue Schöpfung, in
welcher das Alte vergangen und alles neu geworden ist.
Gott sei gepriesen, daß die Kraft und der Wert dieses
Werkes stets unvermindert dieselben bleiben! Aber soll
die Kraft in mir vollbracht, soll der Vater in einer Welt
verherrlicht werden, die Christum immer noch verwirft,
so bedarf ich des völligen Aufgebens meiner selbst
und des Bleibens in Ihm. Zn dem verborgenen Umgang,
in der innigen Gemeinschaft mit Ihm werde ich
immer mehr meine Schwachheit, aber auch Seine Kraft,
ja, Ihn selbst kennen lernen. Christus wird dann in mir
gestaltet und gesehen werden.
— 177 —
Ser Brief an die Römer
Kapitel 10
(Fortsetzung)
Der Apostel setzt in diesem Kapitel die Behandlung
der angeregten Frage fort. Wenn die Masse des jüdischen
Volkes dem Gericht verfallen war und nur ein Überrest
mit den Gläubigen aus den Nationen gesegnet werden
sollte, lag dann vielleicht eine endgültige Verwerfung Israels
in Gottes Gedanken? Hatte Er gar Sein Volk verstoßen?
Indem er die eingehende Beantwortung dieser
Frage erst im nächsten Kapitel bringt, betont der Apostel
hier, wie im Anfang des 9. Kapitels, zunächst seine eigene
Stellung zu diesem Volke. Die ernsten Wege Gottes mit
Israel hatten nicht etwa seine Gefühle für seine Brüder
erstickt, sie hatten im Gegenteil dazu gedient, in seinem
Herzen ein heißes, dringendes Flehen für sie wachzurufen,
„ein Flehen zu Gott um ihre Errettung". Die Liebe läßt
sich nicht erbittern. Sie sucht nach Gründen, um das
Tun des anderen im mildesten Licht darzustellen, und
handelt so in Übereinstimmung mit Gott, der „den ganzen
Tag Seine Hände ausbreitet zu einem widerspenstigen
Volke". (Jes. 65, 2.)
„Brüder! das Wohlgefallen meines Herzens und
mein Flehen für sie zu Gott ist, daß sie errettet werden.
Denn ich gebe ihnen Zeugnis, daß sie Eifer für Gott
haben, aber nicht nach Erkenntnis." (V. 1. 2.) Danach
waren also nicht Unglaube und Bosheit die Ursache ihres
traurigen Zustandes, nein, die Liebe erkennt in ihrem
Tun einen Eifer für Gott, der allerdings nicht mit Erkenntnis
verbunden war. Und gerade dieser Eifer verdop
178
pelte die Gefühle des Apostels für sie und vertiefte seine
um sic sorgende Liebe. „Denn da sie Gottes Gerechtigkeit
nicht erkannten und ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten
trachteten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht
unterworfen." (V. 3.) Wie wunderbar sind doch die
Wege, welche die Liebe findet! Wie zart ist sie bei aller
Treue und Wahrheit!
Doch der Apostel geht hier einen Schritt weiter als
am Ende des vorigen Kapitels. Hörten wir dort, daß Israel
vergeblich nach Gerechtigkeit gestrebt habe, so wird
uns hier gesagt, daß sie Gottes Gerechtigkeit
nicht erkannt und sich ihr nicht unterworfen hätten. Wir
haben uns in den früheren Kapiteln mit der Gerechtigkeit
Gottes, dem großen Thema unseres Briefes, schon so
eingehend beschäftigt, daß ich hier wohl nur kurz zu wiederholen
brauche: diese Gerechtigkeit hat sich darin geoffenbart
und erwiesen, daß Gott Christum, nachdem Er
am Kreuze zur Sünde gemacht war, und Gott im Blick
auf Seine eigene Person, auf die Sünde und das Verhältnis
des sündigen Menschen zu Ihm völlig verherrlicht
worden ist, aus den Toten auferweckt, mit Herrlichkeit
und Ehre gekrönt und uns Ihm geschenkt hat als
Frucht der Mühsal Seiner Seele. Wir erinnern uns auch
an das Wort: „Den, der Sünde nicht kannte, hat Er
für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit
würden in Ihm". (2. Kor. 5, 21.)
Indem die Juden nun eine eigene, menschliche
Gerechtigkeit aufzurichten trachteten, hatten sie bewiesen,
daß sie mit der Gerechtigkeit Gottes völlig unbekannt
waren und sich nicht vor ihr gebeugt hatten. Sich stützend
auf eine Religion des Fleisches, auf äußere Vorzüge als
— r7y —
Gottes irdisches Volk, gründeten sie ihre Hoffnungen auf
eigenes Verdienst und verwarfen damit den einzigen Weg,
auf welchem Gott gerecht sein und sich doch als der errettende
und rechtfertigende Gott dem verlorenen Sünder
gegenüber offenbaren kann. Der törichte, ruhmsüchtige
Mensch gefällt sich darin, einer eigenen Gerechtigkeit
nachzustreben, sich mit selbstverfertigten Lumpen
zu behängen, anstatt das ihm von Gott umsonst angebotene
herrliche Kleid der göttlichen Gerechtigkeit anzunehmen
und sich so Seiner Gerechtigkeit dankbar und
willig zu unterwerfen.
„Denn Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden
zur Gerechtigkeit." (V. 4.) Christus hat mit dem
Gesetz als einem Mittel, Gerechtigkeit zu erlangen, ein
für allemal ein Ende gemacht. Dem Glaubenden
wird sein Glaube zur 'Gerechtigkeit gerechnet. Bis „der
Sohn" (Christus) kam und das ganz neue, auf den rechtfertigenden
Glauben an Ihn gegründete Verhältnis zu
Gott einführte, war der „Juchtmeister" oder „Vormund"
durchaus am Platze für alle, die seiner Sorge anvertraut
waren. (Vergl. Gal. Z u. 4.) Nachdem nun aber Christus
an die Stelle des Gesetzes getreten ist und die Ansprüche
Gottes, das was Sein Gesetz gerechterweise über uns bringen
mußte, Tod und Verdammnis, auf sich genommen
hat, ist Er zugleich für jeden, der von Herzen an Ihn
glaubt, „Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung" geworden.
Welch ein Wechsel! Gerechtigkeit hat den Platz
des Gesetzes eingenommen, „Gerechtigkeit aus Glauben
an Christum". Der Grundsatz der Verantwortlichkeit des
Menschen im Fleische Gott gegenüber hat im Tode Christi
sein Ende gefunden. Obwohl das Gesetz als solches seine
— rso —
Gültigkeit nicht verloren hat, nicht verlieren kann,
konnte es doch nicht länger als Regel und Maßstab der
Gerechtigkeit für den Menschen festgehalten werden.
Naturgemäß weiß das Gesetz von Glauben nichts.
Moses beschreibt vielmehr die Gerechtigkeit, die aus dem
Gesetz ist, also: „Der Mensch, der diese Dinge getan
hat, wird durch sie leben". (V. 5.) Das Gesetz
kennt nur ein Tun, ein Erfüllen seiner Gebote. Und es
ist recht so; denn „das Gesetz ist heilig, und das Gebot
heilig, gerecht und gut". (Kap. 7, 72.) Jeder Mensch ist
verpflichtet, die Gebote des Gesetzes zu halten, und wer
eines von ihnen übertritt, macht sich der Übertretung des
ganzen Gesetzes und damit des Todes schuldig.
Wie ganz anders aber spricht die Gerechtigkeit, die
aus Glauben ist! Indem der Apostel das näher ausführt,
bezieht er sich auf eine Stelle im 5. Buche Mose, mit der
wir uns ein wenig näher beschäftigen müssen. In den
Kapiteln 28 und 2y dieses Buches kündigt Moses dem
Volke Israel an, welch reiche Segnungen Jehova über
sie kommen lassen wolle, wenn sie fleißig Seiner Stimme
gehorchen würden, aber auch welch ernste Gerichte sie treffen
müßten, wenn sie nicht darauf achten würden, alle
Seine Gebote und Satzungen zu tun. Die Geschichte Israels
ist uns bekannt. Das Volk hat der Stimme Seines
Gottes nicht gehorcht, hat infolge seines Ungehorsams sein
Land verloren und ist unter die Völker der Erde zerstreut
worden. Und nun beschreibt Moses im 30. Kapitel in
prophetischem Vorausblick das, was Gottes Barmherzigkeit
tun würde, wenn einmal die Gnade sie zur Umkehr
und Buße geleitet hätte. Die Erfüllung des Gesetzes ist
für Israel in einem fremden Lande nicht möglich, aber
181
deshalb sind die Hilfsquellen der Gnade nicht erschöpft.
Wenn das Volk mit seinem ganzen Herzen und seiner
ganzen Seele zu Jehova umkehren würde (V. 10), so
sollten ihm Vergebung und Segen zuteil werden, nicht
auf Grund seines Tuns, sondern auf dem Boden des
Glaubens. Die damals noch verborgenen Wege
der Gnade Gottes (Kap. 29, 29) sollten sich an ihnen
erfüllen, „Jehova würde sich wieder über sie freuen zum
Gute n". „Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete,
ist nicht zu wunderbar für dich und ist nicht fern. Es ist
nicht im Himmel, daß du sagen könntest: Wer wird für
uns in den Himmel steigen und es uns holen und es uns
hören lassen, daß wir es tun? Und es ist nicht jenseit des
Meeres, daß du sagen könntest: Wer wird für uns
jenseit des Meeres hinüberfahren und es uns holen und
es uns hören lassen, daß wir es tun? sondern sehr nahe
ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem
Herzen, um es zu tun." (5. Mose 30, tt—t4.)
Israel mag noch so weit von Gott entfernt sein,
eö darf wieder zu Ihm zurückkehren. Das Gebot ist nicht
zu wunderbar, nicht zu fern von ihm. Sie brauchen es
nicht aus dem Himmel herabzuholen oder es jenseit des
Meeres zu suchen, es ist ihnen sehr nahe, in ihrem Mund
und ihrem Herzen. Auf dem Boden des Gesetzes ist freilich
nur Gericht ihr Teil, aber auf dem Boden der Gnade
gibt es mittelst des Glaubens noch Hoffnung für sie.
Trotz ihrer Untreue, trotz des gebrochenen Gesetzes will
Gottes Güte sich ihnen zuwenden, sobald ihr Herz aufrichtig
zu Ihm umkehrt. Doch wie kann Gott so handeln?
Weil Sein Auge allezeit aus Christum blickt, dessen
Person auch hier unter den Schatten des Gesetzes ver
782
borgen liegt. In Ihm, dem Gerechten, ist Hoffnung für
Israel, auch wenn es, fern von seinem Lande, fern von
Tempel und Altar, die Frucht seiner Sünde erntet.
Das Wort nun, das dem Überrest aus Israel am
Ende der Tage so nahe sein wird, war, wie der Apostel
im 8. Verse sagt, das Wort des Glaubens, das er predigte;
und anknüpfend an die Mitteilungen Gottes in den
Tagen Moses' und dem „Buchstaben" seine wahre geistliche
Bedeutung gebend (vergl. 2. Kor. 3, 6), schreibt er:
„Die Gerechtigkeit aus Glauben aber sagt also: Sprich
nicht in deinem Herzen: „Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?"
das ist, um Christum herabzuführen; oder:
„Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?" das ist, um
Christum aus den Toten heraufzuführen." (V. 6. 7.)
Dem Menschen ist beides unmöglich. Und wenn er es tun
könnte, würde es doch weder die Gerechtigkeit Gottes befriedigen,
noch seinen eigenen Bedürfnissen entsprechen.
Nein, hier konnte nur die Fülle der Gnade helfen. Der
Vater mußte den Sohn herabsenden, und die Herrlichkeit
des Vaters mußte Ihn aus den Toten auferwek-
ken. Beides ist, Gott sei gepriesen! geschehen, und die
Kunde davon wird uns in dem Evangelium nahe gebracht.
Denn was sagt die Gerechtigkeit aus Glauben weiter?
„Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und
in deinem Herzen; das ist das Wort des Glaubens, welches
wir predigen, daß, wenn du mit deinem Munde Jesum
als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben
wirst, daß Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat, du
errettet werden wirst." (V. 8. y.) „E rrettet" — nicht
nur der Vergebung teilhaftig, nein, für immer und ewig
errettet. (Vergl. Kap. 5, ro.)
— rsz —
Es bedarf keiner großen Anstrengungen oder umfassenden
Vorkehrungen, nicht mühsamer Reisen und dergleichen,
um Christum zu finden. Das Wort vom Kreuz
wird allen umsonst gepredigt, wird uns sozusagen ins
Haus gebracht, und es fragt sich nur, ob wir es gläubig
aufnehmen wollen oder nicht. Irgendwie Rühmenswertes
kommt dabei für den Menschen allerdings nicht heraus.
Es bedarf keines großen Verstandes oder Wissens,
keiner hervorragenden Eigenschaften oder Fähigkeiten, um
mit dem Munde Jesum als Herrn zu bekennen und im
Herzen zu glauben, daß Gott Ihn aus den Toten
auferweckt hat. Das vermag selbst der Einfältigste und
Schwächste, ja, ihm wird es meist leichter als dem Begabten
und Geistesstärkeren. Aber um errettet zu werden,
gibt es für alle nur den einen Weg, den Gottes Liebe
bereitet hat. „Ich bin der Weg", sagt Jesus; nicht einer
von vielen, sondern der eine, der einzige! Glücklich ein
jeder, der diesen Weg betreten hat!
Beachten wir die beiden hier genannten notwendigen
Stücke: Bekenntnis und Glaube! Im d. Verse
wird das Bekenntnis zuerst genannt, nicht weil es das
Wichtigste wäre, sondern wohl deshalb, weil es für die
Verherrlichung des Herrn Jesus zunächst in Betracht
kommt. Ein bloßes Lippenbekenntnis ohne wahren Herzensglauben
ist selbstverständlich für den Menschen weniger
als wertlos, denn es vermehrt nur seine Verantwortlichkeit;
darum fügt der Apostel, die beiden Dinge
umstellend, im bo. Verse sogleich hinzu: „Denn mit dem
Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit dem
Munde wird bekannt zum Heil". Der Glaube des Herzens
muß dem Bekenntnis des Mundes vorangehen. Der
184
Mensch muß aus seinem Todesschlafe aufgeweckt werden,
das wirksame und lebendige Wort Gottes muß unter der
Wirkung des Heiligen Geistes sein überführendes und reinigendes
Werk in der Seele tun, ehe sie in Wahrheit zu
Gott schreit. Aber dann wird ihr Blick auf das Kreuz gelenkt;
sie hört und ergreift im Glauben die erlösende Botschaft,
nicht nur daß Jesus für sie in den Tod gegangen,
sondern auch, daß Er durch die Herrlichkeit des Vaters
aus den Toten auferweckt worden ist. Und indem sie nun
„mit dem Herzen" zur Gerechtigkeit glaubt, lernt sie
Christum kennen als Den, der im Tode war, aber nun
lebt zur Rechten Gottes, Ihn, „des Gesetzes Ende, jedem
Glaubenden zur Gerechtigkeit".
Jetzt darf sie Ihn dankbar und freudig mit ihrem
Munde bekennen „zum Heil". Inwiefern „zum Heil"?
Ist es nicht so, daß jedes Bekenntnis Seines Namens,
wenn es auf den Glauben im Herzen gegründet ist, die
innere Freudigkeit, das Glück des Herzens, bewirkt und
vermehrt? Der Glaube offenbart sich in einem solchen Bekenntnis,
beweist dadurch seine Aufrichtigkeit und wird
wiederum selbst belebt und gestärkt. Solang eine Seele
sich scheut, Christum als ihren Herrn zu bekennen, solang
sie zögert, sich auf Seine Seite zu stellen, bleibt sie ängstlich
und verzagt. Schon mancher Gläubige hat die Erfahrung
machen müssen, daß erst mit dem offenen Bekenntnis
des Namens Jesu wahre Freudigkeit und Heilsgewißheit
in sein Herz einzogen.
Damit nun aber niemand mit der Frage sich beschäftige,
ob er auch wohl den rechten Glauben oder
Glauben genug habe, wie wir es so gern tun, indem
wir in un 6, in unseren Gefühlen, in unserer Liebe
t8S
usw. eine Heilsgrundlage suchen, fügt der Apostel hinzu:
„Denn dieSchrift sagt: I e d er, der an Ih n glaubt,
wird nicht zuschanden werden". Ja, mein Leser, so steht
geschrieben! Darum darf jeder, der im Lichte Gottes
sein natürliches Verderben erkannt und seine Zuflucht zu
Jesu genommen hat, seiner Errettung gewiß sein. Sie
gründet sich nicht auf irgend etwas i n oder von ihm,
sondern einzig und allein auf das Werk Christi und auf
das Zeugnis Gottes, und wahrlich, da ruht sie auf sicherer
Grundlage.
Wenn das aber so ist, wenn diese wunderbare Segnung
einem jeden gehört, der an Jesum glaubt, dann
muß sie auch für alle Menschen, ob Juden oder Heiden,
da sein. Und so ist es in der Tat: „Denn es istkein
Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe
Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen".
(V. r2.) Tat der Apostel nun unrecht, wie die Juden ihn
beschuldigten, wenn er die frohe Botschaft von Jesu aller
Welt verkündigte? Nein, schon die Schriften des Alten
Testaments rechtfertigten ja, wie wir gesehen haben, seinen
Dienst, wieviel mehr das Zeugnis des Herrn selbst! Schön
ist es, hier demselben Wort zu begegnen, das im Z. Kapitel
gebraucht wird, um das Verlorensein aller Menschen
zu bezeugen. „Es ist kein Unterschied", lasen wir
dort, „denn alle haben gesündigt und erreichen
nicht die Herrlichkeit Gottes". Hier heißt es: „Es ist
kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn
derselbe Herr von allen ist reich für alle,
die Ihn anrufen". So ernst und niederdrückend die Ursache
des „kein Unterschied" in dem ersten Falle ist, so
herrlich und erhebend ist sie in dem zweiten. Der in dem
486
Evangelium geoffenbarte Reichtum der Gnade ergießt sich,
alle Folgen der Sünde überströmend, unterschiedslos zu
allen hin, die sich zu Jesu, dem reichen Herrn, wenden.
Eine Anführung aus dem Propheten Joel bezüglich der
Tage, in welchen ganz Israel errettet werden wird, beschließt
dann triumphierend das Ganze. „Denn jeder,
der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird
errettet werden." (V. 43.)
Als die glücklichen Gefäße dieser reichen Gnade werden
in jenen Tagen die Bewohner Jerusalems samt den
über die ganze Erde hin zerstreut wohnenden gläubigen
Israeliten die gute Botschaft des Friedens überallhin tragen,
und das Wort des Propheten Jesajas wird sich erfüllen:
„Wie lieblich sind die Füße derer, welche das
Evangelium des Friedens verkündigen, welche daö Evangelium
des Guten verkündigen!" (V. 45.) Aber glücklicherweise
sollen nicht erst dann diese Segensströme
fließen, der Heilige Geist wendet die Stelle aus Jesaja 52
(indem Er den Schluß: „der zu Zion spricht: Dein Gott
herrscht als König!" wegläßt) schon auf unsere Tage an,
auf die Zwischenzeit, in welcher die Gemeinde, das Weib
des Lammes, aus allen Völkern der Erde gesammelt wird.
Alle, die zu dieser bevorzugten Schar gehören, müssen
auch durch die Verkündigung des Evangeliums dahin gebracht
werden, den Herrn anzurufen. Denn „wie werden
sie Den anrufen, an welchen sie nicht geglaubt haben? Wie
aber werden sie an Den glauben, von welchem sie nicht
gehört haben? Wie aber werden sie hören ohne einen
Prediger? Wie aber werden sie predigen, wenn sie nicht
gesandt sind?" (V. 44. 45.)
Unter dem Gesetz, „der Handschrift in Satzungen,
187
die wider uns war" (Kol. 2, 14), konnten unmöglich
solche Friedensboten zu den Völkern der Erde ausgehen.
Israel wird erst dann ein Missionsvolk werden, wenn
es für sich selbst die heilbringende Gnade Gottes in Dem
kennen lernt, den es ans Kreuz geschlagen hat. Hat aber
einmal das Licht der Gnade in diese finsteren Herzen
hineingeleuchtet, so werden die Sendboten aus Israel,
die „Brüder" des Herrn (Matth. 25, 40), einen Eifer
in der Verkündigung des Evangeliums entfalten, wie er
nie vorher gesehen worden ist. Was die christliche Kirche
während ihres Jahrtausende alten Bestehens nicht zu tun
vermocht hat, wird in verhältnismäßig kurzer Zeit durch
diese „Geringsten" zur Ausführung kommen: „Das
Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem
ganzen Erdkreis, allen Nationen zum Zeugnis".
(Matth. 24, 14.) Die ganze Erde wird so voll werden
von der Erkenntnis des Herrn, daß nicht ein Fleckchen
unberührt und ungesegnet bleiben wird. (Vergl. Jes. 11,9;
Hab. 2, 14.)
Der Gnadenratschluß Gottes hat also schon für unsere
Tage die Verkündigung der guten Botschaft vorgesehen,
und zwar nicht des Evangeliums „des Reiches",
sondern des Evangeliums „der Gnade Gottes" und „der
Herrlichkeit des Christus". (Apstgsch. 20, 24; 2. Kor.
4, 4.) Und wie die Träger der Heilsbotschaft am Ende der
Tage, so werden auch heute die wahren Prediger des
Evangeliums von dem Herrn selbst ausgesandt. „Wie
werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?"
fragt der Apostel. Mögen auch in bester Meinung und
guter Absicht überall Missionsgesellschaften für das Jn-
und Ausland errichtet werden, so liegt doch in ihnen
488
allen letzten Endes eine Einmischung des Menschen
in die unumschränkten Rechte des Herrn, der allein Evangelisten,
Hirten und Lehrer zu geben vermag und zu geben
verheißen hat. (Eph. 4, 44—44.) Ihn, den Herrn der
Ernte, sollen wir bitten, Arbeiter in Seine Ernte auszusenden;
wir sollen aber nicht selbst Hand anlegen, um
solche für ihren Dienst vorzubereiten, auszurüsten und
schließlich auch zu bevollmächtigen. Das Wort und der
Wille des Herrn sind in dieser wie in jeder anderen Beziehung
klar genug; was wir bedürfen, ist ein einfältiges
Auge und ein unterwürfiges Herz. Daß Menschen die
Boten des Evangeliums sein sollen, ist offenbar, aber es
ist nicht unsere Sache, sie auözuwählen, ebensowenig wie
es in unserer Macht steht, ihnen die nötigen Fähigkeiten
dazu darzureichen.
Wenn nun aber Gott in Seiner Gnade Seine gute
Botschaft verkündigen läßt, so ist jeder, der sie hört, verantwortlich,
sie aufzunehmen und dem Evangelium zu
gehorchen. Aber geschieht das? Hat vor allem Israel
es getan? Ach nein! schon Jesajas ruft klagend: „Herr,
wer hat unserer Verkündigung geglaubt?" — „Also ist
der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber
durch Gottes Wort." (V. 4b. 47.) Und diese Verkündigung
war an Israel ergangen. Die Juden hatten das
Wort Gottes gehört, aber nicht angenommen; sie waren
also ohne Entschuldigung.
„Aber ich sage: Haben sie etwa nicht gehört? Ja
freilich. „Ihr Schall ist ausgegangen zu der ganzen Erde,
und ihre Reden zu den Grenzen des Erdkreises."" (V. 48.)
Wieder entnimmt der Apostel den Beweis für seine Behauptung
den eigenen Schriften der Juden, auf die sie so
— 189 —
stolz waren. Der 19. Psalm, in welchem die angeführten
Worte sich finden, redet von zwei Zeugnissen Gottes, von
Seiner Schöpfung und von Seinem Wort; das eine äußerlich
und allgemein, das andere innerlich und für die
bestimmt, welche das Wort, die Gebote Jehovas, besaßen.
Israel hatte beide Zeugnisse nicht angenommen. Indes
ist das nicht der Hauptpunkt, den Paulus hier hervorheben
will. Die Heiden besaßen das Wort Gottes nicht,
aber das Zeugnis Gottes in der Schöpfung ist auch für
sie bestimmt. Der Himmel, der die Herrlichkeit Gottes
erzählt, wölbte sich nicht nur über Kanaan; Sonne, Mond
und Sterne samt den anderen Wundern der Schöpfung
waren nicht nur für ein Volk bestimmt. Das in der
Schöpfung und durch sie abgelegte Zeugnis war ganz
allgemein, galt Juden und Heiden. (Vergl. Kap.
1, 20; Apstgsch. 14, 17.) Mochte Israel auch die heidnischen
Völker verachten, Gott hatte von jeher bewiesen,
daß Er in Seinem Erbarmen auch ihrer gedenken und
von ihnen erkannt werden wollte.
„Aber ich sage: Hat Israel eö etwa nicht erkannt?"
Wahrlich, sie hätten es erkennen können, es hätte kein
Geheimnis für sie zu sein brauchen. Denn Gott hatte,
wie der Apostel weiter zeigt, noch viel deutlicher zu ihnen
geredet, als durch den 19. Psalm. „Zuerst spricht Moses:
„Ich will euch zur Eifersucht reizen über ein Nicht-
Volk, über eine unverständige Nation will ich euch erbittern"."
(V. 19.) Ihr hochgeachteter Gesetzgeber hatte
also schon von der Absicht Gottes geredet, durch Seine
Gnadenwege mit einem „Nicht-Volk" und einer „unverständigen
Nation" — nicht mißzuverstehende Anspielungen
auf die Heiden — Sein Volk Israel zur Eifersucht
— 4Y0 —
zu reizen. Aber noch mehr. Jesajas, der größte ihrer Propheten,
hatte sich sogar erkühnt zu sagen, daß Gott
sich finden lassen wolle von denen, die Ihn nicht suchten,
und sich offenbaren wolle denen, die nicht nach
Ihm fragten, während er von Israel gesagt hatte: „Den
ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem
ungehorsamen und widersprechenden Volke". (V. 20. 2t.)
So war denn aus dem Gesetz, aus den Psalmen und den
Propheten, den drei großen Teilen des Alten Testaments,
der Beweis erbracht, daß Israel sich verhärten würde, und
daß Gott von jeher beschlossen hatte, den Heiden gnädig
zu sein. Der Beweis war unwiderleglich. Kein aufrichtiger
Jude konnte sich der Kraft desselben entziehen.
Was aber folgte daraus? Hatte Gott sich von Seinem
Volke endgültig abgewandt? Die ausführliche Beantwortung
dieser Frage bringt uns das tt. Kapitel.
(Fortsetzung folgt)
Ein eifersüchtiges und heuchlerisches
Herz
Ein mit Eifersucht und Neid erfülltes Herz
ist ein großes Übel, viel größer, als wir es nur ahnen.
Die Weisheit sagt: „Grimm ist grausam, und Jörn
eine überströmende Flut; wer aber kann bestehen vor der
Eifersuch t!" (Spr. 27, 4.) Saul ergrimmte sehr über
die Worte: „Saul hat seine Tausende erschlagen, und
David seine Jehntausende". Er sah von jenem Tage an
scheel auf David und suchte ihn zu töten. Ach! er dachte
nicht an das Wohl des Volkes Gottes, sondern nur an
seine eigene Ehre. Anstatt sich zu freuen, daß der Feind
— ryr —
geschlagen war, mochte das nun durch einen unscheinbaren
Jüngling geschehen sein, oder durch einen Mann,
der das ganze Volk um eines Hauptes Länge überragte,
ward er David feind alle Tage. (7. Sam. 48.) Auch die
Söhne Jakobs waren eifersüchtig auf ihren Bruder Joseph
(4. Mose 37, kl), und wie schrecklich war das Ende:
sie verkauften ihren Bruder als Sklaven an die Midia-
niter und brachten namenloses Leid über ihren alten Vater!
Wie traurig sah es ferner aus in den Herzen der
Rotte Korah! 250 Fürsten der Gemeinde, Männer von
Namen, waren eifersüchtig auf Mose und Aaron; aber
Gott war wider sie, und die Erde tat ihren Mund aus und
verschlang sie mit all ihrer Habe. (4. Mose 46.) Noch
schrecklicher war der Herzenszustand der Leiter des jüdischen
Volkes zur Zeit des Herrn Jesus. Sie überlieferten
den Heiligen und Gerechten aus Neid, und brachten Sein
Blut über sich und ihre Kinder.
Wie wahr ist das Wort, daß alle Mühe und alle
Geschicklichkeit in der Arbeit Eifersucht des einen gegen
den anderen ist! (Pred. 4, 4.) Ach! die Natur des
Menschen ist selbstsüchtig und begehrt immer mit Neid
betreffs anderer. Wie sollten wir deshalb wachsam und
nüchtern sein! Gottes Gesinnung und Tun ist ganz
anders. Seine Freude ist, zu geben und immer „größere
Gnade" zu geben. (Vergl. Jak. 4, 5. 6.) Wenn jemand
zufrieden ist, klein und demütig zu sein, so ist die
Kraft Gottes in ihm wirksam. Aber wie leicht kann der
böse Einfluß des Neides auch das Herz eines Mannes
Gottes aus seiner richtigen Stellung herausbringen! „Ich
beneidete die Übermütigen, als ich sah die Wohlfahrt der
Gesetzlosen", sagt Asaph. (Ps. 73, 3.) Aber da war er
1S2
dumm und benahm sich wie ein Tier, das keinen Verstand
hat.
Auch die Geschichte der Kirche ist reich an trauriger
Beispielen des Neides und der Eifersucht. Darum „laßi
uns nicht eitler Ehre geizig sein, indem wir einander her-
auöfordern, einander beneiden". (Gal. 5, 26.) Der Apostel
konnte an die Korinther schreiben: „Wir freuen uns,
wenn w i r schwach sind, i h r aber mächtig seid". (2. Kor.
13, y.) Das war ein liebliches Zeugnis. Ähnlich sprach
einst Gideon, „der tapfere Held", wie Gott ihn nannte.
Als die Männer von Ephraim kamen und heftig mit ihm
zankten, daß er sie nicht eher gerufen habe, sprach er zu
ihnen: „Was habe ich nun getan im Vergleich mit euch?
Ist nicht die Nachlese Ephraims besser als die Weinlese
Abieserö?" (Richt. 8, 1—3.) Diese bescheidene, edle Gesinnung
Gideons, des Helden des Tages, beschwichtigte
den Zorn der Männer und verhütete den drohenden Ausbruch
eines Bruderkrieges.
Wie ein eifersüchtiges Herz, so ist auch das Herz des
Heuchlers Gott ein Greuel, und Unaufrichtigkeit ist
Ihm verhaßt. Ernste Worte hat Er aufzeichnen lassen
über solche, die sich Ihm nahen mit ihrem Munde, während
ihr Herz fern von Ihm ist. So lesen wir im Blick
auf Israel: „Sie heuchelten Ihm mit ihrem Munde, und
mit ihrer Zunge logen sie Ihm; denn ihr Herz war nicht
fest gegen Ihn". (Ps. 78, 36. 37.) Oder: „Sie tun
was ihrem Munde angenehm ist, ihr Herz geht ihrem
Gewinne nach". (Hes. 33, 31.) Und an einer anderen
Stelle: „Sie reden Falschheit ein jeder mit seinem Nächsten;
ihre Lippen schmeicheln, mit doppeltem Herzen reden
— ryz —
sie". (Ps. 72, 2.) Za, die Heuchler „verstellen ihre Angesichter",
um vor den Menschen etwas zu scheinen; aber
der Herzenskündiger schaut durch diesen äußeren, trügerischen
Firnis hindurch. Er kennt die geheimsten Gedanken
von ferne, vor Ihm ist alleß bloß und aufgedeckt. Er ist
Licht, und gar keine Finsternis in Ihm; es ist deshalb
wohl zu verstehen, wie unerträglich alle Art von Heuchelei
vor Ihm sein muß.
Auch der Gläubige ist in Gefahr, in Heuchelei zu
fallen; sogar hochbegnadete Diener Gottes sind nicht sicher
vor ihr, wie uns Gal. 2, 1Z lehrt. Der Apostel Petrus
ermahnt deshalb die Gläubigen so ernst, „alle Bosheit und
allen Trug und Heuchelei abzulegen". (1. Petr.
2, 7.) Der Herr Jesus selbst warnt wiederholt vor denr
Sauerteig der Heuchelei und spricht ein siebenfaches Wehe
über die heuchlerischen Pharisäer aus; denn das Tun des
Heuchlers ist nicht nur verhängnisvoll für ihn selbst, sondern
auch verderblich für andere. Darum wird Gott auch
aller Heuchelei und Verstellungskunst mit schonungslosem
Gericht begegnen. Ach! Er „hat den Menschen aufrichtig geschaffen;
sie aber haben viele Ränke gesucht". (Pred. 7,29.)
Wie sollten wir auf der Hut sein vor aller Heuchelei,
vor allem Scheinwesen, vor aller eingebildeten Frömmigkeit!
Paulus wünschte, daß niemand höher von ihm
denke, als was er an ihm sah oder von ihm hörte. Wir
möchten oft so gern in einem besseren Licht erscheinen, als
wir wirklich vor Gott dastehen, möchten treuer, frommer
aussehen, als wir sind. Das ist das Herz des Heuchlers!
Vergessen wir es nicht — ein Greuel vor Gott!
Die Aufrichtigen dagegen haben köstliche Verheißungen
von Gott. „Er bewahrt klugen Rat auf für die Auf
744
richtigen." (Spr. 2, 7.) Gott bahnt den Weg des Aufrichtigen,
und Er gibt dem Aufrichtigen Gnade. „Licht
ist gesät dem Gerechten, und Freude den von Herzen Aufrichtigen."
(Ps. 47, 77.) „Den Aufrichtigen geht Licht
auf in der Finsternis." (Pf, 772, 4.) „Der Verkehrte
ist Jehova ein Greuel, abekWein Geheimnis ist bei (eig.
Sein vertrauter Umgang ist mit) den Aufrichtigen." (Spr.
3, 32.) „Das Opfer der Gesetzlosen ist Jehova ein Greuel,
aber das Gebet der Aufrichtigen Sein Wohlgefallen."
(Spr. 75, 8.) Das sind herrliche Worte; möchten sie uns
zur Aufrichtigkeit ermuntern und einen tiefen Abscheu gegen
alle Heuchelei in uns wachrufen! „Die Liebe sei ungeheuchelt.
Verabscheuet das Böse, haltet fest an.
Guten!" (Röm. 72, 4.)
Hohe Augen, eine Lügenzunge und ein Herz, welches
böse Anschläge schmiedet, gehören zu den Dingen, die Jehova
haßt und die Seiner Seele ein Greuel sind. (Spr.
6, 76—78.) Aber Er ist mit denen, deren Herzen aufrichtig
und ungeteilt auf Ihn gerichtet sind. „Siehe, wahrhaftig
ein Israelit, in welchem kein Trug ist", sagte Jesus
von Nathanael, und dann redete Er freundlich mit ihm
und belehrte ihn. Anderen aber vertraute Er sich nicht,
weil Er sie durchschaute und wußte, daß ihre Herzen voll
Trug waren. (Joh. 7, 47; 2, 24. 25.) Er wird nicht getäuscht
durch äußeren Schein, durch ein gefälliges Wesen,
oder durch liebliche Worte. Er sieht auf das Her z.
(7. Sam. 76, 7.) „Der Hasser verstellt sich mit seinen
Lippen, aber in seinem Herzen hegt er Trug...sieben
Greuel sind in seinem Herzen." (Spr. 26, 24. 25.) Dem
Menschen mögen sie verborgen sein, aber Gott sieht sie.
— zys —
Aus alten Briefen
E.—, y. Januar 1883.
.... Am Samötag bin ich von B. zurückgekehrt, wo,
wie gewöhnlich um diese Jahreszeit, eine größere Zusammenkunft
zur gemeinsamen Betrachtung des Wortes Gottes
stattfand. Sie war gut besucht, ebenso die Versammlungen
an den Abenden. Einige jüngere Leute fanden
Frieden. Ein alter Bruder, der erst seit kurzem in unserer
Mitte ist, rief wiederholt am Ende der Betrachtung unter
Tränen aus: „O Gott, welch ein Gott bist Du! Wie
wenig habe ich Dich und Dein köstliches Wort bisher gekannt!"
Er verschlang das Wort, wie ausgedörrtes Land
den Regen.
R. ist gestern aus der Gegend von D. zurückgekommen,
wo viel Bewegung herrscht. Überall sind die Räume
zu klein, um die Menschen zu fassen, die zusammenströmen,
um daö Wort zu hören, Gläubige und Unbekehrtc.
Unter anderen ist dort kürzlich ein großer Spötter und
Feind der Wahrheit zum Herrn bekehrt worden. In H.
wurde R. der Rathaussaal geöffnet, und über vierhundert
Seelen aus allen Schichten der Bevölkerung kamen.
In O. stellte man ihm das Gemeindehaus zur Verfügung,
und der Bürgermeister ließ durch den Polizeidiener im
ganzen Dorfe ausrufen, daß am Abend im Gemeindehaus
das Evangelium verkündigt werde, wozu jedermann
cingeladen sei. — In S. und Umgegend ist auch eine
große Bewegung entstanden, und viele bekennen Frieden
gefunden zu haben.
So gibt der Herr unö viel Ursache, Ihn für Seine
große Gnade zu preisen. Sie erweist sich besonders groß
in diesen letzten, bösen Tagen. Wohl nie ist Sein Name
— r96 —
in der Christenheit so verunehrt worden, noch nie ist der
antichristische Geist so offen und frech hervorgetreten wie
gegenwärtig *), aber anderseits sind auch noch nie so viele
Seelen bekehrt worden. Vielleicht war auch noch nie die
Verwirrung und Trennung so groß, noch nie die geliebte
Versammlung Gottes in so viele Parteien gespalten wie
in unseren Tagen, und doch, was hat der Herr getan?
Anstatt uns zu züchtigen, hat Er durch Seinen Geist Tausende
aus der Verwirrung herausgeführt und sie wieder,
wie in den ersten Tagen, mit den herrlichen Gedanken
und Ratschlüssen Gottes bekannt gemacht. Anstatt Verfolgungen
über uns kommen zu lassen, hat Er überall
die Türen geöffnet, und wir können ungehindert hindurchgehen.
Aber ach! wiederum gibt es unter diesen Tausenden
viele, die schlaff und träge geworden sind . . .
*) Was würde der Schreiber wohl heute sagen, wenn er noch
lebte?
Was ist doch der Mensch! Er verdirbt alles, was
Gott ihm anvertraut. Welch ein Trost und welch ein Glück,
daß Gottes Liebe zu uns sich trotzdem nie verändert, und
daß wir eingeführt sind in Seine Gemeinschaft und in
die des Sohnes! Hast Du je einmal darüber nachgedacht,
lieber H., was es ist für solch arme Geschöpfe, wie wir
sind, in diese Gemeinschaft eingeführt zu sein, dieselben
Gefühle und Interessen zu haben wie der Vater und der
Sohn? Dieselbe Freude an Christo zu haben (wenn auch
in unendlich geringerem Maße), wie der Vater sie hat,
dieselbe Liebe und denselben Gehorsam gegen den Vater
zu offenbaren, wie sie in Christo hienieden gefunden wurden?
Du wirst fragen: Wie ist das aber möglich? Nur
der dauernde, verborgene Umgang mit Christo, verbunden
mit dem anhaltenden Forschen in Seinem Wort unter
Gebet und Flehen, macht uns dazu fähig. Darum bitte
ich Dich und alle, die bei Dir sind, diese Dinge nicht zu
versäumen. Dann wird der Name des Herrn durch Euch
verherrlicht werden, und Euer Weg wird gesegnet sein....
Barnabas
Gottes Wort sagt uns nicht viel über Barnabas, aber
das Wenige ist reich an lieblichen und ernsten Unterweisungen.
Barnabas begegnet uns zum erstenmal in Apostelgeschichte
4, 36. 37, in der Frühlingszeit der Kirche. Wir
hören hier, daß Barnabas (Sohn des Trostes) nur ein
Zuname ist, der ihm von den Aposteln gegeben wurde, und
daß sein eigentlicher Name Joseph war. Über seine Bekehrung
wird uns nichts berichtet. Vielleicht war er unter
denen, die zum Pfingstfest nach Jerusalem hinaufgezogen
waren, und deren Herz von der Ansprache des Petrus
durchbohrt wurde, sodaß sie bußfertig fragten: „Was
sollen wir tun, Brüder?" (Apstgsch. 2, 37.) Die erstgenannte
Stelle (Kap. 4, 36. 37) zeigt unö ihn schon als
einen Mann, der in Treue und im Segen seinen Platz
unter den anderen eingenommen hatte und durch sein Verhalten
Mitarbeiter an ihrer Freude geworden war, sodaß
ihm von den Aposteln der schöne Name „Sohn des Trostes"
beigelegt werden konnte.
Barnabas wird später „ein guter Mann" genannt.
Wir können daraus wohl entnehmen, daß die Niedergebeugten
und Trauernden vielfach durch ihn getröstet und
ermuntert worden sind, was wiederum auch das Herz der
Apostel erquickte. Wie lehrreich ist das für alle Zeiten!
Nicht alle von uns haben besondere Gaben, aber sich zum
Trost für andere verwenden zu lassen, das vermag ein
I^XXVIII 8
ry8
jeder von unö. Dazu ist nicht große Erkenntnis nötig, sondern
nur ein Herz, daö in dankbarer Liebe für den Herrn
und Seine Geliebten schlägt. Wer einen innigen Herzensumgang
mit dem Herrn pflegt, erfährt Seine Tröstungen
und kann dann durch den Trost, mit welchem er selbst getröstet
worden ist, andere trösten, die in Drangsal sind.
(2. Kor. 1, 4.) Welch ein Segen in unseren Tagen ernster
Prüfungen und schweren Druckes Brüder und Schwestern
sind, die es sich angelegen sein lassen, die Bedrängten aufzurichten,
das haben manche unserer Leser gewiß schon erfahren.
Wie gern sieht man sie kommen, und wie dankbar
gedenkt man ihrer! Der Herr wolle ihre Zahl in unserer
Mitte vermehren!
Barnabas war ein Levit. Ob und wie er seinen
Dienst vor seiner Bekehrung ausgeführt hat, wissen wir
nicht, aber nach seiner Bekehrung hat er als ein wahrer
Levit (Diener) seinen Platz treu auszufüllen gesucht. Um
durch nichts darin aufgehalten zu werden und sich mit all
dem Seinen dem Herrn zur Verfügung zu stellen, verkaufte
er seinen Acker und legte das erlöste Geld zu den
Füßen der Apostel nieder. Vielleicht war es ein geschätztes
Erbstück im Lande der Väter, wie einst bei Naboth. Aber
wenn man mit einem verherrlichten Christus in Verbindung
kommt, lernt man alles neu einschätzen und an seinen
richtigen Platz stellen. Im Lichte der himmlischen Dinge
lernt man die irdischen umwerten. So wie Barnabas
machten eö viele andere Gläubige jener Tage; sie verkauften
ihren Besitz zu Gunsten der Bedürftigen. Die Freude
an dem, was droben ist, machte sie so los von dem, was
auf der Erde ist, „daß auch nicht einer sagte, daß etwas
von seiner Habe sein eigen wäre". Wenn auch dieser Zu
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stand nicht bleiben konnte und sollte, war und ist eine
solche Gesinnung doch überaus wohlgefällig vor dem Herrn
und des Nacheiferns wert.
Die zweite Stelle, die von Barnabas redet, finden
wir in Apstgsch. 9, 26. 27. Hier sehen wir, wie er selbst
für Saulus von Tarsus ein Sohn des Trostes wurde. Dieser,
auf dem Wege nach Damaskus zur Umkehr gebracht
und, nach einem dreijährigen Aufenthalt in Arabien, nach
Jerusalem gekommen (Gal. 1, 15—18), suchte sich den
Jüngern anzuschließen. Aber man hatte kein Vertrauen
zu ihm; man glaubte nicht, daß er ein Jünger sei. Wir
dürfen wohl annehmen, daß das für einen Mann wie
Saulus keine geringe Seelenübung war. Aber der Herr
hatte Seine Augen auf ihn gerichtet und leitete Barnabas
an, sich in Liebe seiner anzunehmen. Er ging mit ihm zu
den Aposteln, und durch seine Vermittlung wurde Saulus
in die Mitte der Jünger eingeführt. Ob Paulus sich später
nicht wohl noch manchmal an den Liebesdienst des Barnabas
erinnert und dem Herrn dafür gedankt hat?
In Kap. 11, 22 wird Barnabas von der Versammlung
ausgesandt, um das neu entstandene Werk, das sich
bis nach Antiochien ausgedehnt hatte, näher kennen zu
lernen. Als „ein guter Mann, voll Heiligen
Geistes und Glaubens", war er den Jungbekehrten
ein Segen und eine große Hilfe. Hocherfreut über
das Wirken der Gnade Gottes, ermahnte er alle, „mit Herzensentschluß
bei dem Herrn zu verharren". Er wußte
aus eigener Erfahrung, daß das das einzige Mittel ist,
um vor den listigen Anläufen des Feindes bewahrt zu
bleiben. Und was damals nötig war, ist es sicherlich auch
heute noch.
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Das fortwährende Wachsen des Werkes erweckte in
diesem treuen Mann, dem Gott „immer größere Gnade"
geben konnte, das Gefühl, daß er für die Arbeit nicht
ausreiche, und so erinnerte er sich des Saulus von Tarsus,
suchte ihn in seinem Wohnort auf und brachte ihn
nach Antiochien. Er selbst ein Mann „voll Heiligen Geistes",
dachte gering von sich. Nur die Verherrlichung des
Herrn und das Wohl der Seelen lag ihm am Herzen.
Sollten nicht auch wir begehren, den Heiligen Geist Gottes
in uns nicht nur nicht zu betrüben, sondern mit
dem Geiste auch erfüllt zu sein? Die gesegneten Folgen
davon würden auch heute wahrgenommen werden.
Am Ende unseres Kapitels werden Barnabas und
Saulus mit der Aufgabe betraut, die Liebesgabe der jungen
Christen in Antiochien an die Brüder in Judäa zu überbringen.
Die Treue und Hingabe beider Männer hatten
ihnen auch in Antiochien das Vertrauen gewonnen, und sie
selbst haben es gewiß als ein Vorrecht betrachtet, die Gabe
den Ältesten in Jerusalem überbringen zu dürfen.
Im kZ. Kapitel, bei der Aufzählung der dortigen
Propheten und Lehrer, steht Barnabas gleichsam als Anführer
an erster Stelle. Sicherlich hat er diesen Platz nicht
gesucht, aber der Heilige Geist und die Gläubigen haben
ihm denselben eingeräumt.
So wird es immer sein. Gott belohnt die Treue, indem
Er dem Treuen selbst immer mehr anvertraut und
bei anderen das Vertrauen zu ihm weckt. Wie dürfen auch
wir dem Herrn dankbar sein für den Dienst hingebender,
selbstloser Männer, wenn wir auch wiederum darüber
wachen müssen, daß sie in unserem Herzen nicht den Herrn
verdrängen.
201
Schließlich wird uns berichtet, wie der Heilige Geist
die Diener des Herrn klar bestimmte und die Gläubigen
aufforderte, sie abzusondern zu dem Werke, zu welchem
Er sie berufen hatte. Ein neuer, überaus lehrreicher
Abschnitt in der Geschichte des Barnabas! Wie ganz anders
handelt man in unseren Tagen! Nach eigenem Ermessen
und Gutdünken bestimmt, bildet man Arbeiter aus
für das Werk des Herrn. Wie selten mag heute gesagt
werden können: „Sie nun, ausgesandt von demHei-
ligen Geiste, gingen usw."! (V. 4.) Wieviel menschliches
Meinen und Tun verdrängt da das Leiten und Wirken
des Geistes Gottes! Ach, wenn die Gläubigen solche
Schriftstellen doch genauer lesen und treuer nach den darin
niedergelegten Grundsätzen handeln wollten!
In Seiner „Bestimmung" stellt der Heilige Geist
den Namen des Barnabas auch wieder an die erste Stelle,
obwohl Saulus für eine ganz besondere Ausgabe berufen
und ausgerüstet worden war. (Vergl. Kap. y, 15.) Erst
später sehen wir Paulus nach und nach mehr hervortreten,
entsprechend seiner Berufung als „Apostel der Nationen".
Die bisherige Geschichte des Barnabas weckt unwillkürlich
in unseren Herzen den Wunsch, ihn bis ans Ende
seiner Laufbahn so vom Herrn geehrt zu sehen. Leider ist
es nicht so. Ach! der Feind schläft nie, und selbst für den
Treuesten gilt es, zu aller Zeit zu wachen und nüchtern
zu sein.
Es war ein gesegneter Weg, den Barnabas mit Paulus
gehen durfte. Viele kostbare Seelen wurden für den
Herrn gewonnen, und Gläubige empfingen Unterweisung
und Ermunterung. Der Herr bekannte sich wunderbar zu
202
dem Zeugnis Seiner beiden Knechte, und nur mit tiefer
Wehmut wendet man sich zu der letzten Stelle in dem
15. Kapitel der Apostelgeschichte, die uns etwas über Barnabas
berichtet. Infolge eines Zwiespalts, der nach der
Rückkehr der Apostel nach Antiochien in der dortigen Versammlung
über die Frage der Beschneidung entstand, ordneten
die Brüder an, „daß Paulus und Barnabas und
etliche andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten
nach Jerusalem hinaufgehen sollten dieser Streitfrage
wegen". (V. 2.) Bei der Gelegenheit hören wir noch einmal
von dem gesegneten Wirken des Paulus und Barnabas,
dieser „Männer, die ihr Leben hingegeben hatten für
den Namen unseres Herrn Jesus Christus"; aber schon
das Ende des Kapitels berichtet von einer „Erbitterung"
zwischen diesen geehrten Knechten des Herrn. Und von da
gehen ihre Wege auseinander. Die Heilige Schrift berichtet
uns nichts mehr von Barnabas, dem guten Manne, voll
Heiligen Geistes, wenn auch Paulus seinen Namen noch
einige Male kurz erwähnt. (1. Kor. 9, 6; Gal. 2,1. 9.13;
Kol. 4, 10.)
Welchen Grund gab es denn für eine solche Erbitterung?
Barnabas wollte seinen Neffen Johannes, genannt
Markus, mitnehmen, was Paulus für unbillig hielt, weil
Markus sich seinerzeit von dem Dienst zurückgezogen (Kap.
13, 13) und anscheinend seine Handlungsweise bis dahin
nicht als unrichtig erkannt und verurteilt hatte. War dieses
Iurückweichen an und für sich auch keine Sünde, so hielt
Paulus es doch für ernst genug, um die fernere Begleitung
des Markus abzulehnen. Auch das hat uns viel zu
sagen hinsichtlich solcher, die im Werke sich zu bemühen
begehren.
20Z
Es ist betrübend zu sehen, wie scheinbar die verwandtschaftlichen
Beziehungen hier auf Barnabas einen
so folgenschweren Einfluß ausübten. Diesmal konnte
nicht von ihm, wie einst von Levi, gesagt werden: „Der
von seinem Vater und von seiner Mutter sprach: Ich
sehe ihn nicht; und der seine Brüder nicht kannte, und
von seinen Söhnen nichts wußte". (S. Mose ZZ, y.) Don
der Heimat angezogen, begab sich Barnabas nach Cypern.
Alles scheint darauf hinzudeuten, daß er nicht mehr auf
der Höhe stand, auf der wir ihn früher gesehen haben. So
ist der Mensch! Nachdem er im Geiste begonnen hat, ist
er in Gefahr, im Fleische zu vollenden. Laßt uns denn aus
der Geschichte des Barnabas auch dies noch lernen, uns
nicht durch die Bande der Natur beeinflussen zu lassen,
zu unserem eigenen und zu anderer Schaden! Was uns
geziemt ist, treu und entschieden auf der Seite desHerrn
zu stehen. Nur so kann Er mit uns sein, und nur so werden
wir in vorkommenden Fällen unseren Verwandten
dienen und zugleich unseren Brüdern ihre nicht immer
leichte Aufgabe erleichtern.
Weiter aber schenke uns der Herr, daß unser Ausharren
in Seinem Dienst ein vollkommenes Werk
habe, damit wir nicht beschämt dastehen bei Seiner Ankunft!
Wenn di? gläubige Seele sich in einer Prüfung befindet, so
geht der natürliche Zug ihres Glaubens dahin, sich zu Gott zu
wenden als ihrer Zuflucht und ihrer Hoffnung. Für die Seele, die
Ihm wirklich vertraut, gibt es keine lieblichere Zeit als die Prü-
fungszcit. I. N. D.
204
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel i i
„Ich sage nun: Hat Gott etwa Sem Volk verstoßen?
Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Israelit aus dem
Samen Abrahams, vom Stamme Benjamin. Gott hat
Sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat."
(V. 4. 2.) Wie in den ersten Versen der beiden vorhergehenden
Kapitel, so weht uns auch hier wieder der warme
Hauch der Liebe des Apostels zu seinen Volksgenossen
wohltuend entgegen. War Israel trotz all seines Unglaubens
nicht das von Gott zuvorerkannte Volk? Gehörten
ihm nicht die Verheißungen, die Abraham, ihrem Vater,
im Anfang gemacht worden waren? Und als Gott Israel
„zuvorerkannte", waren Ihm da nicht alle die bösen Wege,
die das Volk gehen würde, all seine Halsstarrigkeit und
Bosheit bekannt gewesen? Gewiß! Trotzdem hatte Er eö
erkannt und berufen und wohl oft und ernst gezüchtigt,
aber nie verworfen. Sollte Er es nun jetzt verstoßen
haben?
Unmöglich! Für diese Unmöglichkeit führt der
Apostel drei Beweise an. Der erste war er selbst. Denn
auch er war „ein Israelit aus dem Samen Abrahams,
aus dem Stamme Benjamin". In vermeintlichem Eifer
für Gott hatte er sogar die Versammlungen verfolgt und
die Gläubigen gezwungen, zu lästern. Und doch hatte Gott
den ganzen Reichtum Seiner Gnade und Langmut an ihm
erwiesen und ihn, „den Lästerer und Verfolger und Gewalttäter",
den bittersten Feind des Namens Jesu, er
205
rettet und in Seinen Dienst gestellt. Hatte Gott Sein
irdisches Volk verstoßen, so hätte dieses Gericht zuallernächst
ihn treffen müssen.
Aber Paulus war nicht das einzige Denkmal der
göttlichen Gnade. Schon in früheren Zeiten hatte Gott
ähnlich gehandelt. „Oder wisset ihr nicht, was die Schrift
in der Geschichte des Elias sagt? wie er vor Gott auftritt
wider Israel: „Herr, sie haben deine Propheten getötet,
deine Altäre niedergerissen, und ich allein bin übriggeblieben,
und sie trachten nach meinem Leben". Aber
was sagt ihm die göttliche Antwort? „Ich habe mir übrigbleiben
lassen siebentausend Mann, welche dem Baal das
Knie nicht gebeugt haben"." (V. 2—4.) Der entmutigte
Prophet hatte damals auch gemeint, Gott habe Sein Volk
dahingegeben, und er sei als der einzige und deshalb bis
zum Tode verfolgte Anbeter Jehovas übriggeblieben. Aber
wie rührend war die göttliche Antwort! Gerade das Zeugnis
des Propheten gegen das Volk rief das Zeugnis
Gottes für Israel wach. Noch sieben tausend Mann,
eine vollkommene Zahl, hatte Gott übrigbleiben lassen,
die ihre Kniee vor den Götzen nicht gebeugt hatten. Seine
Liebe und unumschränkte Gnade hatten diesen vollzähligen
Überrest bewahrt.
Und so wie es in den Tagen einer Jsebel gewesen,
so war es heute: „Also ist nun auch in der jetzigen Zeit
ein Überrest nach Wahl der Gnade". (V. S.)
Mochte der allgemeine Zustand des Volkes heute wie damals
der der Verhärtung und Verblendung sein, dennoch
gab es einen Überrest, „die Auswahl", wie der Apostel
ihn im 7. Verse nennt. Israel als solches hatte das, was
es suchte, nicht erlangt (vergl. Kap. 9, Zt), die Masse
206
des Volkes war verstockt, aber ein von Gott erwählter
Überrest hatte es erlangt; freilich nicht auf dem Boden
eigenen Tuns, gesetzlichen Wirkens — der Apostel benutzt
jede Gelegenheit, um den Gegensatz zwischen Gesetz und
Gnade zu betonen — sondern auf dem Grunde freier,
bedingungsloser Gnade. „Wenn aber durch Gnade, so
nicht mehr aus Werken; sonst ist die Gnade nicht mehr
Gnade." (V. 6.)
Von dem Gericht der Verhärtung, das über Israel
als Volk kommen sollte, hatte Mose schon am Ende der
Wüstenwanderung gezeugt. Der Apostel verbindet hier anscheinend
ein Wort des Propheten Jesaja (Kap. 2y, tO)
mit 5. Mose 29, 4, wenn er sagt: „wie geschrieben steht:
„Gott, hat ihnen einen Geist der Schlafsucht gegeben,
Augen, um nicht zu sehen, und Ohren, um nicht zu hören,
bis auf den heutigen Tag"," und fügt dann in den beiden
nächsten Versen noch einen überaus ernsten Ausspruch
Davids über die Gottlosen in Israel hinzu. Es ist beachtenswert,
daß wir so wiederum ein dreifaches göttliches
Zeugnis (aus dem Gesetz, den Psalmen und den
Propheten) über Israels traurigen Zustand vor unö haben,
umso beachtenswerter, als der Apostel im Begriff steht,
in dem Folgenden die unausspürbaren Wege Gottes mit
Seinem irdischen Volke zu beschreiben.
Doch bevor er dazu übergeht, macht er uns mit dem
zweiten der oben erwähnten Beweise bekannt. „Ich
sage nun: Haben sie etwa gestrauchelt, auf daß sie fallen
sollten? Das sei ferne! sondern durch ihren Fall ist den
Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu
reizen." (V. 44.) Während der ganzen Dauer der Geschichte
des Volkes Israel wechselten lange dunkle Zeiten
207
mit kurzen Wiederbelebungen, ernste Züchtigungen mit
Gnadenerweisungen ab, bis endlich Gott Seinen geliebten
Sohn sandte. Aber ach! Der, den Er als einen kostbaren
Eckstein in Zion legen wollte, wurde zu einem Stein des
Anstoßes und zu einem Fels des Strauchelns für
die beiden Häuser Israels. Die prophetische Ankündigung,
daß viele unter ihnen straucheln würden, war in Erfüllung
gegangen. Aber war dieses Straucheln etwa deshalb erfolgt,
damit sie fallen sollten, um nicht wieder aufzustehen?
War das die Absicht Gottes im Blick auf sie gewesen?
Nein, Gott hatte auf diesem Wege andere Gnadenratschlüsse
ans Licht gebracht. Der Fall Israels war zum
Anlaß geworden, den Heiden das Heil zuzuwenden. Wiederum
aber sollte diese Begnadigung der Nationen die
Juden zur Eifersucht reizen. (Vergl. 5. Mose Z2, 75—2t.)
Der Gedanke an den Verlust des bevorzugten Platzes, den
sie einst eingenommen und nun an die Nationen verloren
hatten, sollte das eifersüchtige Verlangen in ihnen wecken,
diesen Platz wieder zu erlangen.
Wird das denn geschehen? Wird Israel je wieder
„das Haupt" und die Nationen „der Schwanz" sein? Ja,
„der Überrest wird umkehren", und dann „wird ganz
Israel errettet werden". Wenn nun aber ihr Fall (Fehltritt)
zum Reichtum der Welt und ihr Verlust zum
Reichtum der ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt
lebenden Nationen ausgeschlagen ist, was wird dann erst
ihre Vollzahl bewirken! (V. t2.) Was wird geschehen,
wenn Gott einmal Sein Antlitz Israel wieder zuwenden
und Seine Herrlichkeit über Zion aufgehen lassen
wird! Dann werden „alle Enden der Erde Jehova fürchten",
und „alles Fleisch wird kommen, um vor Ihm
208
anzubcten". „Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung
der Welt ist, was wird die Annahme anders
sein, als Leben aus den Toten?" (V. 15.)
So groß und herrlich heute, infolge der Verwerfung
des Messias durch Israel, die Gnade Gottes sich erweist
in der Anbietung des Heils an die ganze Welt, an alle
Menschen ohne Ausnahme, noch reichere Segensströme
werden fließen, wenn „die Wiederherstellung aller Dinge"
kommen^, wenn Israel unter dem Zepter seines Friedenö-
fürsten wieder im Lande wohnen und „die ganze Erde"
auffordern wird, „Jehova mit Freuden zu dienen, vor
Sein Angesicht zu kommen mit Jauchzen, in Seine Tore
mit Lob, in Seine Vorhöfe mit Lobgesang"! (Vergl. Ps.
100.) Ja, dann wird „nichts anders als Leben aus
den Tote n" gesehen werden, wie der Apostel in bewunderndem
Vorausblick sich ausdrückt.
Da Paulus an die Gläubigen in Rom schrieb, die der
Mehrzahl nach aus den Heiden gesammelt worden waren,
fügt er, gewissermaßen zu seiner Rechtfertigung, daß er
sich so weit über die Wege Gottes mit Israel verbreitet
hat, die Worte hinzu: „Denn ich sage euch, den Nationen:
Insofern ich nun der Nationen Apostel bin, ehre
ich meinen Dienst, ob ich auf irgend eine Weise sie, die mein
Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und etliche aus ihnen
erretten möge." (V. 13.14.) Paulus war als der Apostel
der Nationen vom Herrn unmittelbar zu diesen gesandt
worden, um ihre Augen aufzutun, aus daß sie sich bekehrten
von der Finsternis zum Licht usw. (Vergl. Apstgsch.
2b, 17. 18.) Ehrte er nun seinen Dienst nicht gerade dadurch,
daß er durch die Bekehrung so vieler Heiden sie,
die sein Fleisch waren — wie hätte er das je ver
20Y
gessen können? — zur Eifersucht zu reizen suchte, damit
auch etliche aus ihnen errettet werden möchten?
Geleitet durch den Geist und in Verfolgung der bisher
behandelten Gedanken bedient sich der Apostel in der
zweiten Hälfte unseres Kapitels des Bildes eines Ol-
baumes, der „Zweige" hat, und zwar Zweige, die auf
Grund ihrer natürlichen Verbindung mit der „Wurzel"
der Fettigkeit des ganzen Baumes teilhaftig waren, aber
infolge ihres Unglaubens ausgebrochen worden sind, um
anderen Zweigen Platz zu machen, die von Natur gar
keine Verbindung mit dem Olbaum hatten, aber aus Gnaden
eingepfropft werden. Von vornherein sei darauf hingewiesen,
daß wir es hier nicht mit Gottes ewigenRat-
schlüssen bezüglich der Versammlung, des Leibes
Christi, zu tun haben, sondern mit Seinen Negiern
n g s w e g e n in Verbindung mit Seinem Zeugnis auf
dieser Erde. Der Olbaum, ein Bild der Fettigkeit, ist der
Baum der Verheißungen Gottes, die einst dem Abraham,
dem „Erstling" der Masse oder der „Wurzel" dieses
Baumes, geschenkt wurden. In dem Leibe Christi kann es
nie Glieder geben, die entfernt werden, um für andere
Raum zu machen. In ihm gibt es auch keinen Unterschied
zwischen Jude und Heide — alle sind einer in Christo.
Ebensowenig wie um den Leib Christi, handelt es
sich hier um die Wege der errettenden Gnade, um den
Besitz des Lebens oder um die Frage der Echtheit des persönlichen
Bekenntnisses. Indem man diese und ähnliche
Fragen in dieses Kapitel einzuführen suchte, hat man die
ganze Belehrung des Apostels verwirrt, der nur die Stellung
von Juden und Heiden hinsichtlich der Linie der Ver
210
heißung und des Zeugnisses Gottes in dieser Welt darstellen
will.
Doch dies bedarf noch einer näheren Erläuterung.
In den Tagen nach der großen Flut, als die Menschen
infolge ihres vermessenen Hochmuts über die ganze
Erde hin zerstreut worden waren und sich nun, Gott immer
mehr vergessend, dem schändlichsten Götzendienst Hingaben,
berief Gott den Abraham von jenseit des Euphrat, wo auch
er mit seinen Vätern anderen Göttern diente, und brachte
ihn in das Land, das Er ihm und seinem Samen geben
wollte. In Kanaan angelangt, wurde Abraham der Vater
einer Familie, welcher dem Fleische nach die Verheißungen
Gottes gehörten, die später in besonderer Weise durch die
in Christo geoffenbarte Gnade dem ganzen Samen
zugewandt werden sollten. War Adam der Vater des sündigen
Menschengeschlechts gewesen, so wurde Abraham der
Vater des Samens Gottes in der Welt, d. h. zunächst
Israels und dann, im weiteren Sinne, aller in und mit
ihm Gesegneten. In Abraham ließ Gott zum erstenmal die
kostbaren Wahrheiten von der Auserwählung, Verheißung
und Berufung oder Absonderung ans Licht treten, zunächst
in ihm persönlich, aber dann auch in ihm als Erstling der
späteren „Masse", als Wurzel des Baumes der Verheißungen.
Abraham war, wie schon gesagt, beides: Erstling
und Wurzel. Der Stamm des Baumes, oder „die
natürlichen Zweige", wie der Apostel sie nennt,
war Israel. Von diesen Zweigen mögen nun wohl einige
auögebrochen und andere an ihre Stelle eingepfropft werden,
aber der Baum als solcher, die ursprüngliche Stätte
der dem Abraham gegebenen Verheißungen, erleidet keine
Veränderung; er bleibt, und mit ihm seine Fettigkeit.
- 2rr —
Wenn daher Paulus auch hier von einem „Geheimnis"
spricht (V. 25), so ist daö nicht etwa „das Geheimnis
des Christus, das in anderen Geschlechtern den Söhnen
der Menschen nicht kundgetan worden ist". (Vergl. Eph.
Z u. a. St.) Dieses, den Aposteln und Propheten des
Neuen Testaments geoffenbarte und der besonderen Verwaltung
des Apostels Paulus anvertraute Geheimnis muß
bestimmt und klar von dem hier entworfenen Bilde des
Olbaumes unterschieden werden, anders ist Verwirrung
unausbleiblich.
Betrachten wir jetzt die Einzelheiten des Bildes ein
wenig näher.
„Wenn aber der Erstling heilig ist, so auch die Masse;
und wenn die Wurzel heilig ist, so auch die Zweige."
(V. b6.) Abraham wurde, wie wir bereits gehört haben,
von Gott berufen und abgesondert, um fortan als Sein
Zeuge und als der Träger Seiner Verheißungen hienieden
zu wandeln. Abraham hat das getan. Der Erstling, die
Wurzel war heilig; man hätte deshalb erwarten können,
daß auch die „Masse", von welcher der Erstling abgehoben
war, *) die „Zweige", die der Wurzel entsproßten,
heilig gewesen wären. Die Fortsetzung hätte dem A n -
fang entsprechen sollen. Aber ach, was war geschehen!
Unglaube und hartnäckige Bosheit hatten Israel gekennzeichnet
und in der Verwerfung des Messias ihren Gipfelpunkt
erreicht, und so hatte Gott in ernster Vergeltung
einige der Zweige ausgebrochen. Mit anderen Worten, das
^') Bekanntlich 'mußten^dic Israeliten'von dem Ertrag ihrer
Felder, Weinberge,'Gärten 'usw. . Jehova eine Crstlingsgabe darbringen,
als Hebo'pfcr für die Priester, sei es in natürlichem, sei
es in schon zum Genuß zubereitetem Zustand als Most, Ol, Teig,
Brot usw. (Vergl. 4. Mose 18 u. a. St.)
212
in Abraham gesegnete, aber ungläubige Israel war beiseite
gesetzt worden, und „ein wilder Dlbaum", die Nationen
oder Heiden, war an seiner Stelle in „den edlen Llbaum"
cingepfropft und der Wurzel und Fettigkeit desselben mitteilhaftig
geworden. (V. 17.) Sie, die bis dahin „wild",
fern von jeder Verbindung mit dem Baum der Verheißung,
gewachsen waren, genossen jetzt die Segnungen dieses
Baumes. Der Segen Abrahams war in Christo Jesu
zu den Nationen gekommen. (Gal. Z, 1.4.) Hatten diese
deshalb Ursache, „sich wider die Zweige zu rühmen"?
In keiner Weise. Die Juden, die Nachkommen Abrahams
dem Fleische nach, befanden sich auf Grund ihrer Geburt
in dem Baume der Verheißung und hatten diesen Platz
durch den Unglauben verloren. Als ihnen die Erfüllung
der Verheißungen in Christo angeboten wurde,
wiesen sie dieselbe zurück und verachteten, gestützt auf ihre
vermeintliche eigene Gerechtigkeit, die Güte Gottes.
Daraufhin hatte Gott die Heiden an ihren Platz gestellt.
Sollten diese sich nun besser dünken als die ausgebrochenen
Zweige und sich wider sie rühmen? Nein, zunächst sollten
sie bedenken, daß die Wurzel s i e trug, nicht etwa sie die
Wurzel (V. 18), mit anderen Worten, daß nur Gottes
bedingungslose Gnade sie an diesen Platz geführt hatte.
Wohl konnten sie dagegen einwenden, daß die natürlichen
Zweige ausgebrochen worden seien, um sie einpfropfen zu
können; aber lag darin ein Verdienst für sie? Diese Einpfropfung
war doch nicht geschehen auf Grund irgendwelchen
Tuns ihrerseits, sondern einzig und allein auf
Grund ihres Glaubens an den von Israel verworfenen
Christus. Nur der unumschränkten Güte Gottes hatten sie
diesen neuen Platz zu verdanken, sie standen durch
— 2ÜZ — i
den Glauben. Von einem Anlaß, sich zu rühmen,
konnte also gar keine Rede sein. Darum schließt der Apostel
diesen Abschnitt mit den Worten: „Sei nicht hochmütig,
sondern fürchte dich; denn wenn Gott der natürlichen
Zweige nicht geschont hat, daß Er auch deiner etwa
nicht schonen werde". (V. 20. 2t.) Nicht törichte Ruhm-
rederei, sondern Furcht, heilige Furcht geziemte sich für
sie, damit es ihnen nicht ähnlich erginge, wie es Israel ergangen
war. Denn würde Gott etwa ihrer, der nachträglich
ein gepfropften Zweige, schonen, nachdem Er
der natürli ch e n nicht geschont hatte?
„Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes: gegen
die, welche gefallen sind, Strenge; gegen dich aber Güte
Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst wirst auch du
ausgeschnitten werden. Und auch jene, wenn sie nicht im
Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn
Gott vermag sie wiederum einzupfropfen." (V. 22. 23.)
Wie eindringlich redeten diese Worte zu den Herzen der
Gläubigen aus den Nationen! Die Güte und die Strenge
Gottes stand vor ihnen. Güte hatten sie erfahren, Strenge
war Israel zuteil geworden. Jetzt galt es für sie, an der
Güte zu bleiben, damit nicht auch sie das Los Israels
teilten.
Ist die ernste Ermahnung beachtet worden? Sind
die heidnischen Pfropfreiser an der Güte Gottes geblieben?
Die Blätter der Kirchengeschichte beantworten diese Frage
in erschütternder Weise. Was wird nun das Ende sein?
Auch s i e werden ausgeschnitten werden, genau so wie eö
mit den Juden geschehen ist.
Aber obwohl der Olbaum so im Laufe der Zeit seine
äußere Gestalt, sein Aussehen ändern mag, er selbst bleibt,
214
was er ist, und „auch jene — die natürlichen Zweige —
wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft
werden; denn Gott vermag sie wiederum einzupfropfen".
(V. 23.) Gottes Ratschlüsse werden durch die Untreue des
Menschen nicht beeinflußt oder gar aufgehoben. Seine
Gnadengaben und Seine Berufung sind unbereubar.
(V. 29.) Israel wird auf völlig neuer Grundlage wieder
an seinen alten Platz zurückgeführt werden — ich betone
noch einmal, an seinen alten Platz, nicht etwa in die christliche
Kirche eingefügt, denn da waren die Juden nie. Die
Bildung der Versammlung (Gemeinde) war im Gegenteil
gleichbedeutend mit dem Abbruch der Beziehungen Israels
zu Gott. „Denn wenn d u aus dem von Natur wilden
Llbaum ausgeschnitten und wider die Natur in den
edlen Llbaum eingepfropft worden bist, wieviel mehr werden
diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Llbaum
eingepfropft werden!" (V. 24.) Das Gericht über die
heidnischen Zweige, um mich kurz auözudrücken, wird der
Wicdereinpfropfung der Juden in den Llbaum Bahn machen;
denn sie werden nicht im Unglauben bleiben, und
der Baum ist und bleibt, was so vielfach von den Erklärer»
übersehen wird, „ihr eigener Llbaum". So
wie einst das jüdische System zu seinem gerichtlichen Abschluß
gekommen ist, um die Heiden zuzulassen, so wird
auch das heidnische System, die Christenheit, auf gerichtlichem
Wege zu seinem Ende kommen, um dem Volke Israel
die Rückkehr zu dem verlorenen Platz der Verheißung
und des Segens zu ermöglichen.
„Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis
unbekannt sei, auf daß ihr nicht euch selbst klug
dünket: daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren
215
ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird;
und also wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben
steht: „Es wird aus Zion der Erretter kommen, Er wird
die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für
sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen
werde"." (V. 25—27.)
Damit sind wir zu dem dritten und wohl auch schlagendsten
Beweise von der Tatsache gekommen, daß Gott
Sein sündiges Volk nicht verstoßen hat, sondern eö in
Seinem Erbarmen am Ende der Tage zu sich zurückrufen
und ihm tiefe Buße und wahre Herzensumkehr zu dem
einst verworfenen Messias schenken wird. Auch das hier
Gesagte gehört zu den vielen im Neuen Testament geoffenbarten
„Geheimnissen". Israel ist zum Teil Verstockung
von feiten Gottes widerfahren als Gericht über seine Sünde
und Treulosigkeit, aber diese Verstockung soll nicht immerdar
währen. Wenn einmal „die Vollzahl der Nationen",
d. h. alle, die aus den Völkern der Erde durch das Evangelium
in wahre, lebendige Verbindung mit Christo kommen
sollen, eingegangen sein wird, mit anderen Worten,
wenn daö letzte Glied der Versammlung oder Gemeinde,
die vor der über den ganzen Erdkreis kommenden Stunde
der Versuchung in den Himmel entrückt werden soll, hin-
zugcfügt ist, dann wird ganz Israel, d. h. Israel als
Volk, das dann freilich nur aus einem Überrest besteht,
errettet werden. Solang die Geschichte der wahren Kirche
hicnieden fortdauert, solang der Leib Christi, in welchem
es weder Jude noch Grieche gibt, gesammelt wird, kann
so etwas selbstverständlich nicht geschehen. Ja, selbst n a ch
der Entrückung der wahren Gläubigen wird Gottes Langmut
noch eine Zeitlang zusehen, bis die bekennende
216
Christenheit voll und ganz bewiesen hat, daß sie nicht an
der Güte geblieben ist, und daß nichts anderes für sie
übrigbleibt als ein erbarmungsloses Gericht, d. h. die endgültige
Entfernung des ganzen verderbten Systems von
dem Platze der Segnung und des Zeugnisses, den eö so
viele Jahrhunderte eingenommen hat.
Wieder sehen wir deutlich, daß es sich in unseren:
Kapitel nicht handelt um Gottes Gnadenwege mit Seinem
himmlischen Volke, sondern um Seine irdischen
Regierungswege mit denen, die nacheinander an den Platz
der Verheißung und Segnung geführt werden — zunächst
Israel, dann die Nationen und schließlich wieder Israel.
Alle, welche — ganz abgesehen von der Frage der persönlichen
Errettung oder des Besitzes des Lebens aus Gott —
diesen Platz einnehmen, sind verantwortlich für das, was
sie zu besitzen bekennen. Bleiben sie an der Güte Gottes,
gut; wenn nicht, so werden sie abgeschnitten werden.
Auch die Masse deö jüdischen Volkes wird in den
Gerichten am Ende der Tage umkommen, aber „ein Überrest
nach Wahl der Gnade" wird dastehen, und für ihn
wird der Erretter aus Zion kommen, nicht aus dem Himmel,
um ihn (wie die Gläubigen der Jetztzeit) in den
Himmel zu versetzen, sondern aus Zion, um die Gottlosigkeiten
von Jakob abzuwenden und das um der Väter
willen geliebte Volk in die Segnungen des Reiches einzuführen.
Denn der Bund Gottes, um Israels Sünden
wegzunehmen, ruht auf sicherer Grundlage, auf der bedingungslosen
Gnade, die sich in dem „Erretter aus Zion"
offenbaren wird. Ihn, den ihre Väter einst ans Kreuz
gescblagen haben, wird der Überrest kommen sehen, und
zwar mit den Wundenmalen ii: Seinen Händen, die ihnen
— 217 —
Frieden und Vergebung verkündigen. Und so wird ganz
Israel errettet werden und die unbereubaren Gnadengaben
Gottes genießen; denn Israel als Volk ist für immer
Gottes Eigentum auf Grund Seiner Berufung und der
den Vätern gegebenen Verheißungen.
„Hinsichtlich des Evangeliums" hatten die Juden sich
freilich als Feinde erwiesen. Sie hatten die frohe Botschaft
feindselig zurückgewiesen und damit den Heiden eine Tür
der Begnadigung geöffnet. „Hinsichtlich der Auswahl aber
waren sie Geliebte um der Väter willen." (V. 28.) Als
Same Abrahams blieben sie Gegenstände der unveränderlichen
Liebe Gottes, nicht etwa auf Grund des Bundes
am Sinai — auf diesem Boden war alles für sie verloren
—, sondern in Verbindung mit ihren Vätern, Abraham,
Isaak und Jakob. Diese hatte Gott einst aus Gnaden
berufen, ihnen hatte Er bedingungslose Verheißungen
gegeben. Diese Berufung und die damit verbundenen
Gnadengaben sind deshalb unbereubar. (V. 2d.)
Am Ende der Tage wird Er sich ihrer erinnern, und die
in der Auswahl der Väter kundgegebene Liebe wird sich den
Söhnen gegenüber als treu erweisen. Indem Er das steinerne
Herz aus ihrem Innern wegnimmt und ihnen ein
fleischernes Herz gibt, wird Er sie für den Empfang Seiner
unumschränkten Gnade zubereiten.
In diesem allen offenbart sich neben der unwandelbaren
Treue Gottes auch Seine unergründliche Weisheit,
und diese entfaltet der Apostel in den nächsten Versen.
Israel besaß Verheißungen, wenn sie ihm auch aus
Gnaden geschenkt worden waren; wäre das Volk nun
auf Grund dieser Verheißungen wieder zu den Segnungen
zugelassen worden, so hätte man gewissermaßen von
218
einem berechtigten Anspruch seinerseits reden können. Doch
was war inzwischen geschehen? Die Juden hatten Den,
in welchem die Verheißungen allein Ja und Amen für
sie werden konnten, verworfen und waren damit aus einen
Boden gekommen, auf welchem ihnen nur noch Gnade
helfen konnte, also genau dahin, wo auch die Nationen
standen. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen ihnen
und den Nationen. „Denn gleichwie auch i h r (Nationen)
einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung
gekommen seid durch den Unglauben dieser, also
haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt,
auf daß auch sie unter die Begnadigung kommen. Denn
Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen,
auf daß Er alle begnadige." (V. 30—32.)
Die Heiden hatten einst in Finsternis, fern von Gott
gelebt. Sie hatten Gott nicht geglaubt, waren aber jetzt
durch den Unglauben der Juden unter die Begnadigung
gekommen. Eine Gnade, auf welche sie keinerlei Anspruch
hatten, war ihnen zuteil geworden. Ähnlich stand es mit
den Juden: ungläubig wie die Heiden, hatten sie selbst die
Gnade verworfen und wiesen auch den Gedanken, daß sie
sich jetzt den Heiden zugewandt habe, mit Abscheu zurück.
Infolge dessen hatten sie alle Ansprüche an die Erfüllung
der Verheißungen verloren, und gleich den Heiden konnte
auch sie nur eine bedingungslose Gnade retten. Für beide
blieb nur noch das freie Erbarm en Gottes übrig.
Jeder Ruhm, jedes Vertrauen auf eigenes Tun war ausgeschlossen.
Alle (Juden wie Heiden) standen auf demselben
Boden, alle zusammen waren von Gott in den
Unglauben eingeschlossen, und Gott hatte das getan, auf
daß Er all e n (Juden wie Heiden) Seine Gnade zuwende.
— 2ry —
Fürwahr, es ist mehr als verständlich, wenn der
Apostel am Ende seiner Behandlung der wunderbaren
Wege Gottes in Gnade und Gericht, angesichts der unwandelbaren
Treue, Weisheit und Heiligkeit Gottes, die
sich in ihnen kundgeben, den Gefühlen seines Herzens in
der ergreifenden Lobpreisung Ausdruck gibt, mit welcher
unser Kapitel schließt. „O Tiefe des Reichtums, sowohl
der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unaus-
forschlich sind Seine Gerichte und unausspürbar Seine
Wege: Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer
ist Sein Mitberater gewesen? Oder wer hat Ihm zuvorgegeben,
und es wird ihm vergolten werden?" Ja, wo
ist ein Gott wie unser Gott? Wie unausspürbar sind Seine
Wege! Wer hat Ihm beratend zur Seite gestanden, als
Er sie in Seinem Herzen erwog und feststellte? Wege,
auf welchen Er die Treue Seiner Verheißungen denen
gegenüber aufrecht halten konnte, die alle Ansprüche an
dieselben verloren hatten und nun mit anderen, die solche
Ansprüche nicht besaßen, auf dem gleichen Boden der
Reichtümer Seiner Gnade gesegnet werden. Ja, wer hätte
des Herrn Sinn erkannt? Und doch sind schwache, sterbliche
Wesen, wie wir sind, eingeführt in das Erkennen
dieses Sinnes und der unausspürbaren Wege Dessen, von
dem und durch den und f ü r den alle Dinge sind. O Tiefe
des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis
Gottes!
Ihm fei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.
(Fortsetzung folgt)
220
„Alles geschehe
anständig und in Ordnung" *!
II. Lor. 14, 40.I
I.
Um mehrseitig geäußerten Wünschen zu entsprechen,
will ich versuchen, in Nachstehendem einige das Gemeinschaftsleben
der Gläubigen betreffende Punkte, über welche
bei manchen der geliebten Kinder Gottes keine Klarheit zu
herrschen scheint, an der Hand des Wortes Gottes zu beleuchten.
Ich möchte indes von vornherein darauf aufmerksam
machen, daß wir nicht über jede Einzel-
tz e i t, die im christlichen Leben oder auf dem Gebiet des
Gemeinschaftslebens vorkommen kann, bestimmte Anweisungen
im Worte erwarten dürfen. Aber das Wort gibt
uns für unser Verhalten in allen Verhältnissen eine göttliche
Richtschnur an die Hand, und der Heilige Geist,
der in jedem einzelnen Gläubigen wie in der Versammlung
Gottes wohnt, wird da, wo ein aufrichtiges Verlangen,
sich Seiner Leitung zu unterwerfen,
vorhanden ist, auch zu einem, dieser Richtschnur entsprechenden
Verhalten leiten. Ein gehorsames Kind, das
die Gesinnung seiner Eltern kennt, wird nicht zweifelhaft
Bergt. Jahrgang 18-5. — Da immer wieder Fragen über
das richtige, Gott wohlgefällige Verhalten in Versammlungs-Angelegenheiten
anftauchen, wird es für wünschenswert gehalten, die
seiner Zeit von unserem im Jahre 1907 entschlafenen, den älteren
Lesern des „Botschafter" wohlbekannten Bruder Jul. Löwen darüber
niedergeschriebenen Gedanken in etwas abgekürzter Form noch
einmal wiederzubringen. Wir hoffen, damit sowohl unseren Lesern
im allgemeinen einen Dienst zu erweisen, als auch zu möglichster
Gleichmäßigkeit in der Behandlung vorkommender Schwierigkeiten
in den Versammlungen beizutragen.
221
sein, wie es sich ihrem Willen gemäß zu verhalten hat,
selbst in den zahlreichen Fällen, für welche ihm keine besondere
Vorschrift von feiten der Eltern gegeben worden ist.
Zunächst ein kurzes Wort über das, was die Versammlung
oder Gemeinde nach den Gedanken Gottes ist.
Wir können uns in unseren Tagen des Verfalls und der
allgemeinen Verwirrung nicht zu oft die einfachen göttlichen
Grundwahrheiten ins Gedächtnis rufen, die, mag
auch alles um uns her zu wanken und zu stürzen scheinen,
stets unveränderlich dieselben bleiben.
Nach Eph. 1, 23, Kol. 1,18. 24 und anderen Stellen
ist die Versammlung (Gemeinde) der Leib Christi,
und Er selbst ist das Haupt dieses Leibes. Auch ist sie das
Haus Gottes, die Versammlung des lebendigen Gottes,
und berufen, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit
zu sein. (1. Tim. 3, 15.) Von Christo, dem Haupte,
geht nach Eph. 4, 7—16 alles aus, was zur Sammlung,
Auferbauung und Pflege Seines Leibes gehört und notwendig
ist. Zu diesem Zwecke hat Er auch jedem einzelnen
Gliede einen Platz zum Dienst angewiesen, wodurch der
ganze Leib, wohl zusammengefügt, wächst und seine Selbstauferbauung
in Liebe bewirkt.
Die Trennung der Christen in Sekten und Parteien
ist ein Werk des Feindes, dessen Anfänge bis in die apostolische
Zeit zurückreichen. Der Herr hat dem Feinde erlaubt,
schon damals mit seinen Zerstörungsplänen hervorzutreten,
damit Er durch Seine Apostel ein klares und
für die Christen aller Zeiten bestimmtes Zeugnis dagegen
ablegen könne. Der Apostel Paulus behandelt diesen Gegenstand
in 1. Kor. 1, 10—13 und in Kap. 3 desselben
Briefes in so entschiedener, nicht mißzuverstehender Weise,
222
daß Gläubige, welche das geschriebene Wort wirklich als
ihre einzige Richtschnur anerkennen, (der sie, allen menschlichen
Überlieferungen zum Trotz, unbedingt zu folgen
haben) nicht zweifelhaft darüber sein können, daß ihr
Gott wohlgefälliger Platz nicht in einer christlichen Par -
t c i sein kann, und wäre es auch die älteste, angesehenste
und bestverteidigte. Diesen Platz werden sie nur da finden,
wo Gläubige außerhalb aller Parteiensich einfach
als Glieder des Leibes Christi im Namen Jesu versammeln,
ihrer Einheit mit allen Gläubigen auf der Erde
Ausdruck geben und der Leitung des Heiligen Geistes die
einzige Autorität in ihrer Mitte einräumen.
Eine große Airzahl von Gläubigen hat durch Gottes
Gnade in unseren Tagen den bezeichneten schriftgemäßen
Platz eingenommen und gibt dadurch dem Charakter der
Versammlung Gottes Ausdruck, so schwach und unvollkommen
es auch sein mag. Es ist wichtig für sie, in jeder
Beziehung jenem Charakter gemäß zu handeln, und vor
allem wachsam und nüchtern, demütig und klein in ihren
Augen zu bleiben; sonst wird Gott ihren Leuchter von
seiner Stelle hinwegtun. Sobald sie anfangen, von sich
und ihrem Zeugnis etwas zu halten, sich selbst zu erheben,
werden sie, wie die Erfahrung in schmerzlichster Weise gelehrt
hat, nur ein Zeugnis ihrer Schwachheit sein. An jedem
Orte, wo sie sich um den Tisch des Herrn versammeln,
haben sie, in Abhängigkeit von der Leitung des Heiligen
Geistes, nach den Unterweisungen des Wortes die
Versammlung Gottes an diesem Orte (4. Kor. 4, 2; Kol.
4, 45. 4b) darzustellen, d. h. die den örtlichen Versammlungen
im Worte gegebenen Anweisungen in ihrer
Mitte zur Ausführung zu bringen. Für alle anderen etwa
22Z
noch an diesem Orte wohnenden Gläubigen bleibt der Platz
am Tische des Herrn offen; denn sie gehören als Glieder
des Leibes Christi auch zu der Versammlung Gottes an
diesem Orte. Sehr ist darüber zu wachen, daß es dem
Feinde nicht gelinge, das Gefühl der Zusammengehörigkeit
mitallen Gläubigen zu schwächen oder gar ganz zu
zerstören. Sollte ihm dies gelingen, so würde es nur eine
Fortsetzung seiner bisherigen erfolgreichen Tätigkeit sein,
und auch diese, dem Parteiwesen eben entronnenen Gläubigen
würden (wenigstens ihren Gefühlen nach) zu einer
neuen Partei werden. Nicht alle Gläubigen haben ein Verständnis
für das, was das Wort sagt über die Einheit des
Leibes und den Platz, den jedes Glied darin einnimmt. Indes
sind sie alle verantwortlich, „der Berufung würdig zu
wandeln, mit welcher sie berufen sind". (Eph. 4.)
Um mancher irrigen Auffassung zu begegnen, wiederhole
ich noch einmal, daß alle Gläubigen an einem Orte
die Versammlung Gottes an diesem Orte bilden, sodaß
diejenigen unter ihnen, welche ihren schriftgemäßen Platz,
außerhalb der Parteien, am Tische des Herrn einnehmen,
nicht eigentlich die Versammlung genannt werden können,
da sie ja nur einen Teil (in vielen Fällen nur einen ganz
geringen Bruchteil) derselben auömachen. Wohl aber
stellen sie die Versammlung Gottes an dem betreffenden
Orte dar und haben deshalb die damit verbundene
Verwaltung dem Worte Gottes gemäß auszuüben. Es ist
dabei wichtig, festzuhalten, daß alle, die sich so im
Namen Jesu an einem Orte versammeln, für die Verwaltung
ihrer Angelegenheiten verantwortlich sind und diese
Verantwortlichkeit nicht einem kleineren oder größeren
Ausschuß von Gliedern übertragen können.
224
Sehr bemerkenswert in dieser Beziehung ist es, daß
der Apostel Paulus, wie aus 1. Kor. 5, 3—5 hervorgeht,
seine Macht über den der Zucht verfallenen Sünder
nur in Verbindung mit der Versammlung ausüben
wollte. Ebenso später, nachdem die Zucht die gewünschte
Wirkung hervorgebracht hatte, führte Paulus den bußfertigen
Sünder nicht etwa in eigener Machtvollkommenheit
wieder in die Gemeinschaft zurück, sondern er forderte dazu
die Versammlung auf. (2. Kor. 2, 6—40.) Auch
sind alle Briefe des Apostels Paulus, sofern sie nicht an
einzelne Personen (Timotheus, Titus, Philemon) geschrieben
sind, an die Versammlunge n und nicht an einzelne
Glieder derselben (Aufseher, Älteste usw.) gerichtet.
Aus allem diesem geht hervor, daß nur eine Versammlung
in ihrer Gesamtheit berufen ist, ihre Angelegenheiten
nach Gottes Gedanken zu ordnen.
Die örtliche Versammlung in Korinth wird, trotzdem
so viel an ihr zu tadeln war, in 4. Kor. 3, 46 der
Tempel Gottes und die Wohnung des Geistes Gottes genannt.
Das berechtigt uns, jede örtliche Versammlung
in dieser hochbegnadigten Stellung zu sehen. Der Herr in
ihrer Mitte, der Heilige Geist ihr Leiter! — welch ein
Vorrecht, aber auch welch eine Verantwortlichkeit für jede
Versammlung! Jedes Glied derselben sollte es fühlen und
deshalb mit heiligem Interesse teilnehmen an allen ihren
Angelegenheiten, aber auch mit heiliger Scheu sich davor
hüten, eine eigenmächtige, willkürliche Tätigkeit in der
Versammlung auszuüben, oder sich mit einer Autorität zu
bekleiden, die nur der Herr selbst besitzt oder die Er nur
auf die Versammlung als solche übertragen hat.
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel 12—15
Mit Kapitel 1t. schließt der belehrende Teil unseres
Briefes. Es folgen Ermahnungen, die sich auf das bisher
Gesagte stützen und den Gläubigen durch die Erbarmungen
Gottes zu einem Wandel in hingebender Treue Gott
und Menschen gegenüber auffordern. Demut und Liebe,
verbunden mit einer Gnade, die sich in praktischer Gerechtigkeit
offenbart, sollen ihn kennzeichnen. Der Christ ist
ein Mensch unter Menschen, aber, entsprechend dem Charakter
des Briefes, ein erlöster, befreiter, von der Welt
abgesonderter Mensch, der sich als solcher nach Gesinnung
und Wandel offenbaren soll in den verschiedenen Beziehungen,
in denen er gefunden werden mag, sei es im Hause
Gottes oder in der Welt. Was ihm geziemt ist Einfalt,
eine friedliebende Gesinnung, die dem anderen entgegenkommt,
nie sich selbst sucht oder gar rächt, sondern das
Böse mit dem Guten zu überwinden trachtet.
Während das 12. Kapitel den Gläubigen mehr in
seiner Stellung als Glied des Leibes, als Kind im Innern
des Hauses betrachtet, zeigt uns das 13. Kapitel ihn
gleichsam außerhalb des Hauses, in seiner Beziehung zu
den Regierungen dieser Welt, zu den obrigkeitlichen Gewalten,
die von Gott verordnet sind. Worin sie auch be-
I^XXVIII 9
226
stehen oder welche Form sie annehmen mögen, der Christ
soll sich ihnen nicht widersetzen, sondern ihnen untertan
sein und einem jeden die Ehre geben, die ihm gebührt; und
das umsomehr, weil die Nacht weit vorgerückt und der
Tag nahe ist, in dessen Licht er wandeln soll, und der
einmal alles ans Licht bringen wird.
Im 44. Kapitel folgen dann Ermahnungen zu brüderlicher
Geduld und Tragsamkeit, die für die Empfänger
des Briefes von besonderer Bedeutung waren, da in Rom
sich stets viele Christen aus Juden und Heiden zusam-
menfanden, und Fragen über Speisen und Getränke, Halten
von Tagen und dergleichen wohl immer wieder auftauchten.
Das Gewissen des einzelnen mußte berücksichtigt
werden, und der „Starke" sollte nicht den „Schwachen"
verachten, noch umgekehrt der „Schwache" den
„Starken" richten. Diese im Anfang des 45. Kapitels
(V. 4—7) noch weitergeführten Ermahnungen schließen
mit dem Hinweis auf Ihn, der nie sich selbst gefallen,
sondern die Schmähungen derer, die Ihn schmähten, auf
sich genommen hat. In den Versen 8—42 desselben Kapitels
faßt der Apostel dann die Wege Gottes im Evangelium,
die durch Anführungen aus dem Alten Testament
gerechtfertigt werden, noch einmal kurz zusammen. Schließlich,
in der letzten Hälfte des Kapitels, redet er von seinem
Dienst unter den Nationen, sowie von einigen Reisen in
den Westen, die er, nach einem Besuch in Jerusalem, noch
hoffte ausführen zu können.
Lrpttel 12
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen
Gottes, eure Leiber darzustellen als ein leben-
227
digeö, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches
euer vernünftiger Dienst ist." (V. 1..) Unwillkürlich
erinnern uns diese Worte an daö 6. Kapitel unseres Briefes,
wo wir aufgefordert werden, uns selbst Gott darzustellen
als Lebende aus den Toten und unsere Glieder
Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. (V. 73.) Dort
hörten wir zum erstenmal davon, daß wir als mit Christo
Gestorbene nun auch in Neuheit des Lebens wandeln sollten.
In den späteren Kapiteln sind wir dann mit den
Tiefen und Höhen der Erbarmungen Gottes bekannt gemacht
worden. Auf Grund derselben ermahnt uns nunmehr
der Apostel, unsere Leiber als ein lebendiges, heiliges,
Gott wohlgefälliges Schlachtopfer Gott darzustellen.
Er nennt das unseren „vernünftigen" (logischen) oder einsichtsvollen,
den Belehrungen des Heiligen Geistes entsprechenden
„Dienst" (Gottesdienst). Nicht nur unsere
Seele" ist erlöst und gehört Gott an, auch unser Leib ist
teuer erkauft, und wenn wir seine „tatsächliche" Erlösung
auch noch erwarten (Kap. 8, 23), so ist doch schon jetzt
„unser ganzer Geist und Seele und Leib" Gott zur tadellosen
Bewahrung anvertraut, (t. Thess. 5, 23.)
Nicht gesetzliche Gebote oder Forderungen sind also
der Boden, auf den wir gestellt sind. Auf ihm würde heute
wie immer ein völliges Mißlingen das Endergebnis sein.
Nur Gnade und göttliches Erbarmen sind imstande, den
Gläubigen innerlich und äußerlich umzugestalten; nur
durch sie vermag er seinen Leib mit Herzensentschluß Gott
darzustellen, heute, morgen, ja, bis an das Ende seines
Lebens. Der Apostel nennt diese Darstellung ein lebendiges,
heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer — lebendig
im Gegensatz zu den Schlachtopfern im Alten
228
Bunde, die getötet wurden, heilig im Vergleich mit
dem weltlichen und gesetzlichen Charakter jener Opfer, und
Gott wohlgefällig, weil Gott Seinen wahren Platz
darin empfängt und auch der Mensch den seinigen nach
Gottes Gedanken einnimmt. Daß ein solcher Gottesdienst,
der mit allen Übungen einer menschlichen Religion, der
Beobachtung fleischlicher Satzungen und Gebräuche für
immer abgeschlossen hat, unser vernünftiger (folgerichtiger)
Dienst genannt wird, ist verständlich.
„Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern
werdet verwandelt durch die Erneuerung eures Sinnes,
daß ihr prüfen möget, was der gute und wohlgefällige
und vollkommene Wille Gottes ist." (V. 2.) In diesen
Worten fügt der Apostel der persönlichen Weihung für
Gott noch ein zweites Element hinzu, ein Sichbewahren
vor den bösen Einflüssen der Welt, des gewaltigen Systems,
das Satan aufgerichtet hat, und das wir durchschreiten
müssen. Es genügt nicht, äußerlich von der Welt
getrennt zu wandeln, wir bedürfen der fortwährenden Erneuerung
unseres Sinnes (vergl. Eph. 4, 23), indem
wir uns unbefleckt erhalten von dem Geist unserer Tage,
von den Gewohnheiten und herrschenden Meinungen der
Menschen, die Gott nicht kennen und in der Finsternis
ihrer Herzen dahinleben. Nur so können wir in die Erkenntnis
des „guten und wohlgefälligen und vollkommenen
Willens Gottes" hineinwachsen, wie sie uns im Christentum
dargeboten ist. Abgesehen von der Steigerung, die
offenbar in den drei Worten liegt, erkennen wir in ihnen
sogleich den großen Unterschied zwischen der Stellung eines
Christen und der eines religiösen Menschen, sei er Jude
oder Namenchrist. Wie in allem anderen, so ist auch hier
229
unser hochgelobter Herr unser vollkommenes Vorbild. Er
kam in diese Welt, um den Willen Gottes zu tun, und
in all den Widerwärtigkeiten und Prüfungen Seines mühevollen
Pfades tat Er allezeit „das dem Vater Wohlgefällige",
indem Er in dem, was Er litt, den Gehorsam
lernte. So sind auch wir berufen, in einer Welt, in welcher
alles Gott entgegen ist, den Willen Gottes zu tun,
und indem unser geistliches Verständnis in der steten Erneuerung
unseres Sinnes wächst, prüfen wir, was der
gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes
ist. Das Ergebnis dieser geistlichen Energie ist eine stets
sich vertiefende Absonderung von den Grundsätzen der
Welt. Wir machen Fortschritte. Indem das eigene Ich
immer klarer erkannt und gerichtet wird, tritt der vollkommene
Weg des himmlischen Menschen auf Erden
immer deutlicher vor unser Auge, und wir vernehmen
Seinen Ruf: „Komm, folge mir nach!"
In dieser Nachfolge, die eine stete Selbstverleugnung
unserseits in sich schließt, kommt eine hohe Meinung von
der eigenen Person nicht auf. Zufrieden mit dem Platz,
den Gott zuteilt, mit dem Wege, den Er anweist, bemüht
man sich, „nicht höher von sich zu denken, als zu denken
sich gebührt, sondern so zu denken..., wie Gott einem
jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat". (V. 3.) Der
Unglaube trachtet immer nach hohen oder großen Dingen
und übersieht dabei gerade das, was am Wege liegt
und was Gott anweist. Das Bewußtsein, von Gott selbst
einen Auftrag empfangen zu haben, verleiht dem Herzen
Festigkeit und weckt das Gefühl der Verantwortlichkeit,
diesen Auftrag nun auch nach bestem Vermögen auszuführen.
Obwohl man den Bruder und das ihm Anver
230
traute freudig anerkennt, sucht man den selbst empfangenen
Dienst zu tun in dem süßen Bewußtsein, darin
Gotteö Willen zu folgen.
Dies leitet den Apostel dahin, zum ersten und einzigen
Male in diesem Briefe von dem „Leibe" zu reden,
einem Gegenstand, der uns aus dem b. Korintherbrief
und aus den Briefen an die Epheser und Kolosser so gut
bekannt ist. Er tut es hier auch nur unter einem praktischen
Gesichtspunkt, um die Wichtigkeit des Verhaltens
der verschiedenen Glieder zueinander zu beleuchten.
„Denn", so beginnt er, „gleichwie wir in einem Leibe viele
Glieder haben, aber die Glieder nicht alle dieselbe Verrichtung
haben, also sind wir, die Vielen, ein Leib in
Christo, einzeln aber Glieder voneinander." (V. 4. 5.)
Das ist alles, was er an dieser Stelle als Lehre
von Christo, dem Haupte, und Seinen Gliedern sagt. Er
geht dann unmittelbar zu den Pflichten über, die auf
den einzelnen Gliedern des Leibes als solchen ruhen. Wir
sind nicht nur Gläubige, die da, wo Gott einem jeden
persönlich seinen Platz in dieser Welt angewiesen hat, als
Lebende aus den Toten Ihm dienen, sondern wir, die
Vielen, gehören auch zusammen, bilden in Christo einen
Leib, ja, sind „einzeln Glieder voneinander" Es
würde etwas fehlen in unserem Briefe, wenn nicht auch
von diesem Verhältnis und von der Verantwortlichkeit
geredet wäre, die wir als Ganzes, als ein Leib, im Zeugnis
auch der Welt gegenüber tragen; denn der Leib ist in
dieser Welt.
„Da wir aber verschiedene Gnadengaben haben" —
betreffs der Frage, w i e diese Gaben uns mitgeteilt worden
sind, müssen wir andere Stellen zu Rate ziehen —
— 231 —
„nach der uns verliehenen Gnade: es sei Weissagung,
so laßt uns weissagen nach dem Maße des Glaubens".
(V. 6.) Dem letzten Ausdruck begegneten wir
schon einmal im 3. Verse. Alles ist „verliehene Gnade",
nichts ist aus uns, alle Gaben sind „Gnaden gaben",
und doch liegt uns die Gefahr so nahe, mehr von uns
zu halten, als recht ist, und über das zugeteilte Maß des
Glaubens hinauszugehen. Vor allem ist dies bei dem
Dienst am Worte der Fall. Weissagung war nach 1. Kor.
14, 1 die begehrenswerteste aller Gaben zur Erbauung,
denn sie war es, die den Hörer am unmittelbarsten mit
Gott in Berührung brachte. Aber was wurde daraus, wenn
der Redende über das hinausging, was Gott ihm gegeben
hatte, wenn er die Leitung des Geistes nicht beachtete?
Und was wird heute daraus, wenn der Mensch auf den
Schauplatz tritt? —
Doch es gibt verschiedene Gnadenaaben, und
alle sind nötig. Kein Glied kann zu dem anderen sagen:
„Ich bedarf deiner nicht". Da hat einer die Gabe des
Dienstes, ein zweiter die der Lehre, ein dritter die
der Ermahnu n g. (V. 7. 8.) Alle sind nötig „für das
Wachstum des Leibes, zu seiner Selbstauserbauung in
Liebe", alle sind nützlich und den Gliedern dazu gegeben,
sich gegenseitig damit zu dienen. Der Apostel redet selbst
von einer Gabe des Mitteilens, des Vorstehens
(vergl. 1. Thess. S, 12; 1. Tim. 5, 17), ja, des Übens
von Barmherzigkeit. (V. 8.) Der da mitteilt wird
ermahnt zur Einfalt, der da vorsteht zum Fleiß, der Barmherzigkeit
übt zur Freudigkeit. Die Ermahnungen sind so
einfach, daß sie keiner Erklärung bedürfen; was unö nottut
ist unö zu prüfen, inwieweit wir ihnen nachkommen.
232
ein jeder an seinem Teile und Platze. Wie zeigt uns diese
Stelle auch wiederum die Torheit des schon so bald aufgekommenen
und in seinen Auswirkungen so verhängnisvollen
Priester- und Laientums!
In den jetzt folgenden Ermahnungen betritt der Apostel
einen breiteren Boden, indem er alle Arten von christlichen
Verpflichtungen berührt, und das nicht nur im Blick
auf daö uns darin geziemende äußere Verhalten, sondern
auch auf den Geist und die Gesinnung, die uns dabei
beseelen. Zwei können dasselbe tun, und doch ist es
nicht dasselbe. Die Art des einen wirkt wohltuend, die des
anderen abstoßend.
Den ersten Platz, allen anderen voran, hat die Ermahnung:
„Die Liebe sei ungeheuchelt". Die Liebe ist aus
Gott, darum sollte sie stets echt und ungeheuchelt sein.
Wer aus Gott geboren ist, ist der göttlichen Natur teilhaftig
geworden und kann als solcher ermahnt werden,
ein „Nachahmer Gottes" zu sein. Liebe ist, wie schon oft
gesagt wurde, die Tätigkeit der göttlichen Natur in Güte,
und sic soll in den aus Gott Geborenen in dieser Welt
zur Darstellung gebracht werden. Ohne Liebe haben die
schönsten Gaben wenig Wert.
Aber welch eine Aufgabe! Ach, wie leicht kann ein
schöner, täuschender Schein als Wirklichkeit erscheinen wollen!
Wie nötig ist da Aufrichtigkeit, verbunden mit einem
steten Selbstgericht!
Und siehe da, als zweite Ermahnung folgt deshalb
unmittelbar: „Verabscheuet das Böse, haltet fest am Guten".
Gott ist Liebe, aber die erste Botschaft, die Er uns
hören läßt, lautet, „daß Er Licht ist und gar keine
2Z3
Finsternis in Ihm ist". (1. Ioh. k, 5.) Wie reden solche
Worte besonders ernst zu uns in Tagen des allgemeinen
Sichgehenlassens, laodicäischer Sattheit und Lauheit! Freilich,
da wo ein Herz in wahrer Liebe für Gott schlägt,
wird auch diese entschiedene Absonderung von allem Unreinen,
dieses Verabscheuen alles Bösen gefunden
werden. Eine solche Seele wandelt im Licht, gleichwie Gott
im Licht ist. Mit Geringerem kann sie sich nicht zufrieden
geben.
„In der Bruderliebe seid herzlich gegeneinander, in
Ehrerbietung einer dem anderen vorangehend; im Fleiße
nicht säumig, inbrünstig im Geist; dem Herrn dienend.
In Hoffnung freuet euch; in Trübsal harret aus; im
Gebet haltet an; an den Bedürfnissen der Heiligen nehmet
teil; nach Gastfreundschaft trachtet." (V. tv—73.) Bruderliebe
ist nicht dasselbe wie Liebe. (Vergl. 2. Petr, t, 7.)
Man kann sagen, daß sie in der Liebe ihre Quelle hat.
Aber der Kreis oder Bereich ihrer Ausübung ist enger gezogen;
es ist die Familie Gottes oder die Versammlung.
Nichts könnte lieblicher sein als innige Bruderliebe; aber
sie kann erkalten, kann an Herzlichkeit verlieren, nicht nur
weil w i r schwach sind, sondern auch weil es in unseren
Geschwistern das eine und andere gibt, das unsere Liebe
auf ermüdende Proben stellen kann. Darum: „In der Bruderliebe
seid herzlich gegeneinander!" Petrus spricht von
einer ungeheuchelten Bruderliebe, (k. Petr. 8, 22.)
Aber nicht nur das, geht in der Demut, die den anderen
höher achtet als sich selbst, einander voran, gebt
den übrigen ein gutes Vorbild, indem ihr allen Fleiß beweiset
und, geleitet durch den Geist, dem Herrn dienet in
Treue und Ausharren!
2Z4
Das erinnert den Schreiber an die herrliche Zukunft,
die vor dem Gläubigen liegt: „in Hoffnung freuet euch",
sowie an die auf dem Wege dahin liegenden Beschwerden:
„in Trübsal harret aus", und schließlich an das
große, nie versagende Hilfsmittel: „im Gebet haltet an".
Dabei werden wir niemals, wie der Apostel selbst es nicht
tat, an anderer Not gefühllos vorübergehen, sondern mit
offener Hand „an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmen",
auch etwa bei uns einkehrende Gäste nicht nur
„ohne Murren" bewirten, sondern „nach Gastfreundschaft
trachten". — Damit schließt dieser Teil der Ermahnungen,
und unser Blick wird darauf gelenkt, wie Christus
selbst hienieden gehandelt hat: „Segnet die euch verfolgen,
segnet und fluchet nicht. Freuet euch mit den sich
Freuenden, weinet mit den Weinenden". (V. 44. 45.)
Ein welch vollkommenes Beispiel hat unser hochgelobter
Herr uns in diesem allen gegeben! Er vergoß Tränen tiefsten
Mitgefühls über die Stadt voller Mörder, betete für
Seine Feinde, und Seine Liebe war groß genug, um Ihn
an den Freuden und Leiden der Menschen um Ihn her
innig Anteil nehmen zu lassen. Machen wir es auch so,
entgegen unserer so leicht erregbaren und selbstsüchtigen
Natur!
„Seid gleichgesinnt gegeneinander; sinnet nicht auf
hohe Dinge, sondern haltet euch zu den niedrigen; seid nicht
klug bei euch selbst." (V. 46.) Auch alle diese Dinge stehen
in unmittelbarem Gegensatz zu unserer natürlichen, hochmütigen
Gesinnung, die so leicht böse Unterschiede macht.
Wie sehen wir sie wiederum in solch herrlicher Entfaltung
auf dem Pfade des Hohen und Erhabenen, der sich
herabließ zu den Ärmsten dieser Welt, ja, der selbst der
235
Ärmste und Niedrigste unter ihnen wurde! Und wenn
Sein Knecht Paulus später an die Philipper schrieb: „Diese
Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war", so
dürfen wir gewiß sein, daß er selbst als Borbild für alle
in dieser Gesinnung wandelte. Nur so konnte er sagen:
„Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi".
(1. Kor. 11, 1; vergl. Phil. 3, 17.) Gott schenke uns, ihm
nachzueifern! Er bewahre uns auch in Gnaden vor allem
Vertrauen auf Klugheit und Verstand! Wie manchem ist
es ergangen wie einst der stolzen Stadt der Chaldäer,
die da sprach: „Ich bin'ö, und gar keine sonst", und
deren „Weisheit und Wissen sie irregeführt hat"!
(Zes. 47, 10.)
Der Schluß unseres Kapitels zeigt uns noch einmal
in ergreifenden Zügen das Bild des zweiten Menschen und
die Gesinnung, die sich für uns, Seine Jünger, geziemt.
Nie vergalt Er Böses mit Bösem, nie wurde Trug in
Seinem Munde erfunden; gescholten, schalt Er nicht wieder,
leidend, drohte Er nicht, sondern übergab sich Dem,
der recht richtet. (1. Petr. 2, 22. 23.) Das ist auch der Weg
Seiner Jünger, indem sie zugleich vorsorglich sind für
alles, was ehrbar ist vor den Menschen, oder, wie Paulus
an die Philipper schreibt, alles erwägen, was rein und
lieblich ist, was wohllautet und irgendwie eine Tugend
oder ein Lob genannt werden kann. So wandelnd werden
sie, soviel an ihnen ist, mit allen Menschen in
Frieden leben, indem sie nicht das Ihrige suchen, sondern
das, was der anderen ist. (V. 17. 18.)
Vor allem geziemt es sich für die Geliebten Gottes,
nie sich selbst zu rächen, denn Zorn und Rache gehören
Gott. Zu Seiner Zeit wird Er vergelten. Unsere Sache
2Z6
ist es, wenn der Zorn der Menschen sich wider uns erhebt,
ihm Raum zu geben, d. h. seinen Ausbrüchen nicht
die Stirn zu bieten, sondern still den Sturm über uns ergehen
zu lassen und alles Gott anheimzustellen. „Denn
cs steht geschrieben: „Mein ist die Rache; ich will vergelten,
spricht der Herr"." (V. ty.) Was Gott von uns
erwartet, ist, nicht nur allen Menschen unsere Gelindigkeit
kundwerden zu lassen, sondern auch, von Christo lernend,
unseren Feinden Liebe zu beweisen, den Hungrigen
zu speisen, den Durstigen zu tränken. Vielleicht gelingt
cs uns auf diesem Wege, sein Herz und Gewissen zu erreichen:
„denn wenn du dieses tust, wirst du feurige Kohlen
aus sein Haupt sammeln". (V. 20.) Läßt er sich
nicht beschämen, umso schlimmer für ihn! In jedem
Falle soll der Christ, seiner neuen Natur folgend, sich
nicht von dem Bösen überwinden lassen, sondern sich befleißigen,
das Böse mit dem Guten zu überwinden.
(V. 2t.) So erweist er sich als ein Nachahmer des Gottes,
der in Christo all das Böse in uns mit tausendfachem
Guten überwunden hat, und dessen Freude es ist, solang
die Zeit der Gnade noch währt, unaufhörlich nach diesem
Grundsatz zu handeln.
Wie groß die Freude ist, auf solchem Wege einen
Feind zu überwinden und vielleicht eine Seele vom Tode
zu erretten, daö vermag nur der zu fühlen, dem es vergönnt
ist, einen derartigen Sieg zu erringen. Freilich, es
kostet etwas, sich geduldig Übervorteilen, schmähen, niedertreten,
als „Auskehricht" behandeln zu lassen, aber der
Lohn ist umso süßer, je teurer er errungen wird.
(Fortsetzung folgt)
237
„Alles geschehe
anständig und in Ordnung"
ii.
Wenn ich mich jetzt anschicke, auf einzelne Fälle und
Fragen bezüglich des Gemeinschaftslebens der Gläubigen,
wie sie in den örtlichen Versammlungen vorkommen, einzugehen,
liegt mir der Gedanke völlig fern, eine menschliche
Richtschnur für das Verhalten des Gläubigen in dieser
Beziehung aufstellen zu wollen. Unsere einzige Richtschnur
ist, wie schon wiederholt gesagt, hier wie überall
das Wort Gottes. Mein Wunsch ist nur, einem Bedürfnis
zu begegnen, das sich immer wieder kundgibt, indem
ich versuche, die am häufigsten vorkommenden Verwaltungsfragen
im Lichte des göttlichen Wortes zu besprechen.
Vielleicht wird der eine oder andere Leser manches
als selbstverständlich bezeichnen; allein man wolle bedenken,
daß der Grad der Erkenntnis verschieden ist, und
daß es nicht nur „Väter", sondern auch „Jünglinge" und
„Kindlein in Christo" gibt. Ferner wird das Gesagte hie
und da (besonders hinsichtlich der Fälle, über welche das
Wort keine unmittelbare Vorschrift gibt) als eine
persönliche Meinung betrachtet werden können, die man
annehmen kann oder nicht. Indes hoffe ich mich in jeder
Beziehung auf die Belehrungen des Wortes über das
Wesen der Versammlung Gottes zu gründen. Und mögen
auch über einzelne unwesentliche Punkte immer Meinungsverschiedenheiten
bestehen bleiben, so werden wir doch,
wenn wir anders aus dem Worte Gottes allein die Richtschnur
für unser Verhalten herleiten, in allen wichtigeren
238
Fragen einig gehen. Möchte deshalb stets auch in den
Fällen, die hier nicht besprochen sind, diese Richtschnur
als die allein maßgebende treu befolgt werden! In unseren
Tagen der Verwirrung und des Verfalls mag es oft
schwierig erscheinen, daß alles anständig und in
Ordnung geschehe; allein einem einfältigen Herzen und
einem aufrichtigen Sinn wird der Herr stets zu Hilfe
kommen. „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung,
sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen der
Heiligen." (4. Kor. 44, 33.)
4. Der Tisch des Herrn ist der Sammelpunkt der
Gläubigen, an welchem sie ihrer Einheit mit dem Haupte
und untereinander, also der Einheit des Leibes, Ausdruck
geben. Er erinnert vor allem an die Liebe Dessen, der als
Haupt sich selbst für Seinen Leib, d. i. die Versammlung,
hingegeben hat (Eph. S, 23—32), zugleich aber auch an
den ganzen Inhalt der göttlichen Wahrheit hinsichtlich der
Versammlung. Er kann deshalb der Mittelpunkt der Verwaltung
aller Versammlungs-Angelegenheiten genannt
werden.
Die Teilnahme an dem Tische des Herrn ist, dem
ganzen Charakter desselben gemäß, ausschließlich das Vorrecht
der lebendigen Glieder des Leibes Christi. Daß außerdem
weder sittlich Böses noch böse Lehre zu diesem Tische
passen, braucht kaum betont zu werden. Denn wenn das
Wort den Gläubigen gebietet, keine Gemeinschaft mit
offenbaren Sündern zu haben (4. Kor. 5, 44), noch mit
solchen, die einer falschen Lehre *) anhangen (Tit. 3, 40;
*) Wir haben unter „falscher Lehre" vor allem solche Lehren
zu verstehen, welche die Person Christi und Sein Versöhnungswerk
nicht in ihrem vollen, göttlichen Werte bestehen lassen.
2ZY
2. Joh. ro), so dürfen sie dieselben sicher nicht zum Tische
des Herrn, dem Mittelpunkt aller christlichen Gemeinschaft,
zulassen. Sie haben diejenigen zuprüfen, welche
darum bitten. In den Tagen der ersten Kraft und Frische,
als der Herr täglich zu der Versammlung Hinzutat, kam
eine solche Prüfung gar nicht in Betracht. Wenn kein falsches
Geld im Umlauf ist, braucht man die einzelnen
Stücke nicht auf ihre Echtheit hin zu prüfen.
Darum, alle Glieder einer örtlichen Versammlung
sind verantwortlich dafür, nur mit solchen sich am Tische
des Herrn zu vereinigen, die wahre Glieder am Leibe
Christi und in Wandel und Lehre unanstößig sind. Jeder,
der am Brotbrechen teilzunehmen begehrt, muß diesen
notwendigen Bedingungen entsprechen. Vielleicht sind,
namentlich bei größeren Versammlungen, nicht alle in der
Lage, zu prüfen, ob dies der Fall ist, und müssen die Beschäftigung
mit dieser Frage einer Anzahl von Brüdern
überlassen. Diese haben indes das Ergebnis ihrer Untersuchungen,
falls daraufhin die Zulassung empfohlen werden
kann, der ganzen Versammlung mitzuteilen, weil, wie
gesagt, alle Glieder derselben verantwortlich für die Entscheidung
sind. Ganz unstatthaft würde es sein, wenn jene
wenigen Brüder oder gar nur einer, ohne eine solche Mitteilung,
auf eigene Hand eine Entscheidung treffen wollten.
Das würde eine Verkennung des Wesens der Versammlung
und der Rechte des in ihrer Mitte anwesenden
Herrn in sich schließen.
Wenn nun urteilsfähige Brüder für sich die Überzeugung
gewonnen haben, daß der, welcher am Tische
des Herrn teilzunehmen wünscht, die dazu erforderlichen
Eigenschaften besitzt, so ist die Zulassung desselben der
240
Versammlung, wenn sie als solche versammelt ist, vorzuschlagen,
damit jeder einzelne (auch die Schwestern),
falls ihnen etwas bekannt sein sollte, was gegen die Zulassung
spricht, bis zu einem näher zu bezeichnenden Tage
Einspruch dagegen erheben kann. Erfolgt ein solcher Einspruch
nicht, mit anderen Worten, steht somit das Urteil
der ganzen Versammlung fest, so wird wohl als Regel
bei der nächsten Gelegenheit den um den Tisch des Herrn
Versammelten mitzuteilen sein, daß sie mit dem Vorgeschlagenen
in die Gemeinschaft des Brotbrechens ein
treten.
Beiläufig sei noch bemerkt, daß die Tauffrage, die
vielfach bei Gelegenheit der Zulassung zum Tische des
Herrn erhoben wird, nicht Sache der Versammlung ist.
Sicherlich sollte kein Ungetaufter zum Brotbrechen
zugelassen werden, und nur in dieser Beziehung kann
die Frage der Taufe die Versammlung berühren. Die
Taufe an und für sich aber ist in keiner Weise eine Ver
sammlungs-Angelegenheit oder Gemeinschaftsfrage. Da
wo sie zu einer solchen gemacht wird, entstehen bei der
herrschenden Verschiedenheit der Ansichten über dieselbe
notwendig Spaltungen — das gerade Gegenteil von der
Einheit, welche die Versammlung Gottes darstellen soll.
Das würde heißen, den Einigungspunkt in derTaufe zu
suchen, anstatt in Christo, die Taufe an die Stelle
Christi zu setzen.
Auch entspricht es wohl nicht der geziemenden Ehrfurcht,
Kinder am Tische des Herrn teilnehmen zu lassen,
die, infolge ihrer Jugend, die hohe Bedeutung des Brotbrechens
noch nicht in dem Maße zu erfassen vermögen,
daß eine wirklich würdige Feier des Abendmahls von ihnen
241
erwartet werden kann. Gewiß gehören gläubige Kinder
ebenso gut zur Familie und zur Versammlung Gottes, wie
die erwachsenen Gläubigen. Aber obwohl die Kinder einer
irdischen Familie alle an den Familientisch gehören,
wird man sie doch bei Anwesenheit eines hohen Gastes nur
insoweit an einem demselben zu Ehren bereiteten Mahle
teilnehmen lassen, als man von ihnen ein Benehmen erwarten
kann, das der dem Gaste gebührenden Auszeichnung
entspricht. — Und wieviel höhere Ehre sind wir
dem Herrn schuldig, als dem höchstgestellten Menschen!
2. Wie bei der Zulassung eines Gläubigen zur Teilnahme
am Tische des Herrn, so ist auch bei der durch
das Wort vorgeschriebenen Ausübung der Jucht die
ganze Versammlung beteiligt. Das in ihrer Mitte ver
kommende und Zucht erfordernde Böse ist ihr Böses;
denn „wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder
mit". (1. Kor. 42, 26.) Nur dann, wenn eine ganze Versammlung
sich über das vorliegende Übel richtet und de
mütigt, ist sie fähig, die Zucht im „Hause Gottes" in
demselben Sinne auszuüben, wie Gott selbst Seine Kinder
und Hausgenossen züchtigt und richtet. Die Liebe
ist die Quelle Seiner Jucht. (Hebr. 42, 6; 4. Kor. 44,32.)
Wenn das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem, der
gefehlt hat, nicht vorhanden ist, so wird die Jucht leicht
den Charakter eines kalten Richterspruchö annehmen. Die
Liebe zu dem fehlenden Gliede, verbunden mit der vollen
Entschiedenheit g eg en das Böse und für die Aufrechthaltung
der Reinheit des Hauses Gottes, wird allein zu
einer gottgemäßen Ausübung der Jucht in der Versammlung
befähigen.
242
Jeder, der am Tische des Herrn teilnimmt, stellt
sich dadurch unter die Aufsicht und Ermahnung, oder,
wenn nötig, die Jucht der Versammlung. (Röm. 46, 47;
4. Kor. 5; Gal. 6, 4. 2; Eph. 5, 2t; t. Thess. 5, t4. tS;
2. Thess. Z, 6—t5; Hebr. to, 24.) Wie nun die Versammlung
darüber zu wachen hat, daß niemand zum Brotbrechen
zugelassen wird, der in Wandel, Gesinnung
und Lehre nicht zu der Heiligkeit des Tisches des Herrn
und in die Gemeinschaft der Gläubigen paßt, ebenso ist sie
auch verantwortlich dafür, daß solche, die in dieser Gemeinschaft
sind, aber in den bezeichneten Punkten fehlen,
unter Ermahnung und Zucht gestellt, ja, nötigenfalls wie
der entfernt werden.
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, den Gegenstand
der Aufsicht und Jucht ausführlich zu behandeln. Es soll
hier nur darauf hingewiesen werden, daß die Ausübung
der Jucht ebenso Sache der ganzen Versammlung ist,
wie die Zulassung zum Tische des Herrn. Wenn deshalb
nach der Überzeugung derjenigen Brüder, welche sich eingehend
mit einem dahin gehörenden Falle beschäftigt haben,
die Anwendung irgend einer Jucht, nach den Vorschriften
des göttlichen Wortes, notwendig erscheint, so wird dies
der ganzen Versammlung mitzuteilen sein, und die Jucht
kann erst in Kraft treten, wenn von keinem Gliede der
Versammlung eine begründete Einwendung dagegen
gemacht worden ist. Dadurch wird die Zucht zu einem
Versammlungs beschluß, welcher wiederum als solcher
in der Versammlung mitzuteilen ist, damit alle ein
der Zucht entsprechendes Verhalten gegen den, über welchen
sie ausgesprochen ist, beobachten und auf diese Weise
praktisch an der Ausübung der Zucht teilnehmen können.
243
Indem so die ganze Versammlung dem Bösen gegenüber
in Tätigkeit tritt, reinigt sie sich von dem in ihr vorhanden
gewesenen „Sauerteig". (1. Kor. 5; 2. Kor. 7, 44.)
Nur durch ein solch einmütiges Verhalten gegen den
der Jucht Verfallenen wird das ernste Handeln der Versammlung
bestätigt. Wenn z. B. die Jucht im Ausschluß
vom Tische des Herrn oder im Abbruch der brüderlichen
Gemeinschaft (2. Thess. 3, 6. 44. 45) besteht, so würde
jeder, der weiterhin noch christliche Gemeinschaft mit dem
Betreffenden machen würde, seinerseits die Jucht der Versammlung
wirkungslos machen. Ja, er würde dadurch
auch praktisch die Einheit des Leibes leugnen, indem
er eigenmächtig, im Widerspruch mit der Versammlung
handelte. Die schließliche Folge eines solchen, trotz wiederholter
Ermahnungen fortgesetzten Verkehrs würde die sein,
daß die Versammlung auch gegen ihn Jucht ausüben
müßte. Denn eine Handlungsweise, die im Widerspruch
mit der Versammlung steht, ist auch im Widerspruch mit
dem Herrn selbst, der das, was sie in Seinem Namen
und in Übereinstimmung mit Seinem Worte tut, mit
Seiner eigenen Autorität bekleidet; denn Er selbst ist in
der Mitte der zu Seinem Namen hin Versammelten.
(Matth. 48, 47—20.) Wie ernst ist es daher, wenn jemand
aus irgendwelchen falschen Rücksichten oder Beweggründen
einen christlichen Verkehr mit solchen beibehält
oder anknüpft, die unter Jucht gestellt werden
mußten!
Trifft der Ausschluß ein Familienglied von Gläubigen,
so können allerdings die Familienbeziehungen nicht
abgebrochen werden. Aber die christliche Gemeinschaft
kann auch in diesem Falle nicht aufrecht erhalten bleiben;
244
andere würden die irdischen Beziehungen über die himmlischen
gestellt werden. Außerdem aber würde auch dem
Ausgeschlossenen geschadet werden, indem die Wirkung
der Jucht, die doch nur seine Wiederherstellung bezweckt,
dadurch gehindert würde.
z. Es kommt leider vor, daß Gläubige, die ihren
Platz am Tische des Herrn eingenommen haben, eine große
Gleichgültigkeit gegen denselben an den Tag legen, indem
sie ohne triftige Gründe oft längere Jeit von ihm fern
bleiben. Wenn man bedenkt, welch eine Liebe zu den Sei-
nigen der Herr dadurch geoffenbart hat, daß Er ihnen
für die Zeit Seiner sichtbaren Abwesenheit einen Tisch
bereitet hat, an dem Er sie als Seine teuer Erkauften
mit glücklichem Herzen versammelt zu sehen wünscht, um
Seiner zu gedenken und Seinen Tod, den höchsten
Beweis Seiner Liebe zu ihnen, zu verkündigen, — so
wird man ein willkürliches Fernbleiben von diesem Tische
als eine Mißachtung Seiner Liebe und als einen Mangel
an Liebe zu Ihm bezeichnen müssen. Nun sagt der
Herr in Ioh. 44, 24: „Wer mich nicht liebt, hält meine
Worte nicht", und das legt uns den Schluß nahe, daß
die, bei welchen ein solcher Mangel an Liebe zu Ihm hervortritt,
es auch nicht genau nehmen werden mit dem
würdigen Wandel, wie er in Übereinstimmung ist mit
der Heiligkeit des Tisches des Herrn.
Was ist nun in einem solchen Falle zu tun? Zunächst
werden wohl treue, nüchterne Brüder, denen die
Ehre des Herrn am Herzen liegt, sich in geeigneter Weise
mit dem, der eine solch strafbare Nachlässigkeit offenbart,
in liebevoller Belehrung, Zurechtweisung und Ermahnung
245
zu beschäftigen haben, um ihn womöglich zu einem gesunden
Zustand zurückzuführen. Sollten aber alle Bemühungen
in dieser Hinsicht fruchtlos sein, so wird die
Versammlung die geeignete Stellung zu dem Betreffenden
einzunehmen haben, die wohl darin besteht, daß sie
die Gemeinschaft mit demselben am Tische des Herrn so
lang als aufgehoben betrachtet, bis er in unverkennbarer
Sinnesänderung mit Aufrichtigkeit begehrt, seinen Platz
am Tische des Herrn auf geziemende Weise wieder
einzunehmcn. Sollte diese Aufhebung der Gemeinschaft
für nötig erachtet werden und eine diesbezügliche
Mitteilung in der Versammlung ohne berechtigten Einspruch
bleiben, so wird das als die Entscheidung der ganzen
Versammlung zu betrachten sein. Unstatthaft wäre es
sicher auch in diesem Falle, wenn eine solche Entscheidung
nur von einzelnen Brüdern getroffen würde. Die Würdigung
dessen, was die Versammlung ist, in deren Mitte
der Herr wohnt, unter dessen Autorität sie ihre Angelegenheiten
ordnen soll, wird treue und gewissenhafte Brüder
vor jedem eigenmächtigen Handeln bewahren.
Der in vorstehendem Abschnitt besprochene Fall ist
selbstverständlich etwas ganz anderes als ein Ausschluß,
ein Hinaustun aus der Mitte der Gläubigen, wovon
vorhin die Rede war. Während bei einem Ausschluß jeder
Verkehr auf dem Boden der christlichen Gemeinschaft abzubrechen
ist, liegt diese Notwendigkeit in dem letzteren
Falle nicht vor. Der betreffende Bruder (oder die Schwester)
tritt, hinsichtlich des Verkehrs mit ihm, in die Stellung
zurück, die er vor seiner Zulassung einnahm und in
welcher alle Gläubigen sich befinden, die nicht außerhalb
der Parteien sich um den Tisch des Herrn versammeln.
246
Es kommt auch vor, daß jemand sich vom Tische
des Herrn zurückzieht und auf eine, dieserhalb an ihn
gerichtete Ermahnung erklärt, daß er überhaupt nicht mehr
am Brotbrechen teilnehmen wolle. Dies wird dann ebenfalls
der ganzen Versammlung mitzuteilen sein.
Es gibt auch Fälle, daß unlautere Glieder, welche
der Zucht der Versammlung verfallen sind, sich dieser
Jucht dadurch zu entziehen suchen, daß sie erklären, sie
würden fortan nicht mehr kommen. Eine Versammlung
aber, die ihre Verantwortlichkeit kennt, wird sich dadurch
nicht beirren lassen und gegen solche handeln, wie die
Ehre des Herrn und Seines Tisches, an welchem sie bis
dahin ihren Platz hatten, es erfordert.
„Vater, die Stunde ist gekommen" *!
Hoh. 17, 1.1
Es ist bekannt, daß der Herr Jesus in Seinen letzten
Reden an Seine Jünger (Joh. 43—46) sich gleichsam
schon jenseit des Kreuzes stellt, als wenn daö Werk auf
Golgatha bereits vollbracht gewesen wäre. So ist es auch
in Seinem wunderbaren Gebet zum Vater (Kap. 47), das
die Jünger damals hören dursten, und daö uns durch den
Heiligen Geist aufbewahrt worden ist, damit wir „S eine
Freude völlig in uns haben" möchten. (V. 43.)
Die „Stunde", von welcher der Herr redet, ist also
nicht etwa die Stunde Seines Leidens, wie in Kap. 42,27,
auch nicht eigentlich die Stunde Seiner Verherrlichung als
Sohn des Menschen nach den Ratschlüssen Gottes,
In Beantwortung einer Frage: „Wie ist Joh. 17,1 zu
verstehen: „Vater, die Stunde ist gekommen usw."? - - Womit
wollte der Solin jetzt den Vater verherrlichen?"
247
sondern die Stunde der Rückkehr des Sohnes zum
Vater. Überhaupt kennzeichnet der Vatername den
Inhalt des ganzen 1.7. Kapitels. Der Sohn erhebt Seine
Augen auf gen Himmel, wie Er es bei früheren Gelegenheiten
wiederholt getan hatte, und spricht: „Vater, die
Stunde ist gekommen; verherrliche deinen Sohn, auf
daß dein Sohn dich verherrliche". Obwohl Er Sohn war
und als solcher in dem ganzen Evangelium nach Johannes
vor unsere Augen gestellt wird, verließ Er nie, auch hier
nicht, den Platz des Dieners, den Er freiwillig eingenommen
hatte. In Seinem ganzen Leben hienieden war der
Vater durch Ihn verherrlicht worden. Er hatte das Werk
vollbracht, welches der Vater Ihm gegeben hatte, daß Er
es tun sollte. (V. 4.) Und wenn Er nun, nachdem Er als
Mensch den Vater vollkommen geoffenbart und verherrlicht
hatte, in die Herrlichkeit zurückkehrte, die Er beim
Vater hatte, ehe die Welt war, ja, wenn Er diese als
Mensch vom Vater erbat, tat Er es doch nur, um den Vater
auch in dieser neuen Stellung zu verherrlichen: „auf
daß dein Sohn dich verherrliche".
Vers 2 kennzeichnet die neue Stellung, in die Er als
der Mensch gewordene Sohn Gottes jetzt eingeführt werden
sollte. Gott hat Ihm Gewalt gegeben über alles
Fleisch (Juden und Heiden). Zu welchem Zweck? Um diese
Gewalt zu Seiner Verherrlichung zu benutzen? Nein,
sondern um allen, die der Vater Ihm gegeben,
ewiges Leben zu geben, mit anderen Worten, um alle diese
Ihm Gegebenen in die Gemeinschaft mit dem Vater und
dem Sohne einzuführen; denn, so lesen wir weiter, „dies
ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott,
und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen".
248
So wie Er nie, selbst nicht in der Herrlichkeit droben,
aufhören will, den Seinigen zu dienen, so will
Er auch dem Vater gegenüber diese dienende Stellung
nie aufgeben. Des Vaters Gedanken der Liebe sind mit
denen verbunden, die Er Seinem Sohne aus der Welt
gegeben hat. Er will sie bei sich haben in der Herrlichkeit.
Und was tut der Sohn? Er gibt ihnen ewiges Leben, sendet
ihnen den Heiligen Geist, macht sie passend für die Gegenwart
und Natur Gottes, für Seine Herrlichkeit, ja,
für alles das, was der Vater für sie bestimmt hat.
Wunderbarer Herr! Er ist Mensch und hat als
solcher den Vater verherrlicht. Er ist Sohn; aber wenn
Er nun als solcher droben verherrlicht ist, will Er wiederum
nur den Vater verherrlichen in der Ausführung all
Seiner Gedanken und Ratschlüsse betreffs unser!
Markus
Der Name des Markus wird in der Apostelgeschichte
zum erstenmal in Kap. 42, 42 erwähnt. Wie es scheint,
haben in dem Hause seiner Mutter Maria Zusammenkünfte
der Gläubigen stattgefundeir. Unsere Stelle teilt
uns mit, daß viele dort versammelt waren, um für den
Apostel Petrus zu beten. Daß dieser nach seiner Befreiung
sich zuerst dahin wandte, scheint auch darauf hinzudeuten.
So stand Markus, dessen eigentlicher Name „Johannes"
war, nicht nur unter dem gesegneten Einfluß
einer gläubigen Mutter, sondern kam auch wohl früh unter
den Schall des Wortes Gottes, das er in den Zusammenkünften
der Gläubigen und bei den Besuchen der Brüder
hörte. Wir dürfen auch vielleicht annehmen, daß, ähn
24Y
lich wie Paulus dem Timotheus dienen durfte, der Apostel
Petrus diesem Jüngling gedient hat, obwohl die Annahme,
daß Petrus am Schlüsse seines 1. Briefes von
ihm rede, unsicher ist. Daß sein Name in Kap. 42, 12
so ausdrücklich erwähnt wird, weist ohne Frage darauf
hin, daß er nicht nur ein Eigentum des Herrn war, sondern
sich auch als solches erprobt hatte. Welch eine Freude
wird es für seine Mutter gewesen sein, als sie in ihrem
Johannes das Wirken des Geistes Gottes so deutlich wahrnehmen
durfte! Mag sie nicht auch wohl, so wie einst die
fromme Hanna ihren Samuel dem Herrn für Seinen
Dienst bestimmte, in ihrem Herzen den Wunsch gehegt
haben, daß ihr Johannes Markus sich auch völlig dem
Herrn zur Verfügung stellen möchte?
Und siehe da, schon bald wird uns berichtet, daß
Barnabas und Paulus auf ihrer ersten Missionsreise „Johannes
zum Diener hatten". (Kap. 13, 5.) Wie die
Sache zustande gekommen ist, wissen wir nicht; jedenfalls
aber hielt Johannes es für ein Vorrecht, diesen geschätzten
Knechten des Herrn auf ihren Reisen dienen zu dürfen.
Wir haben auch keinen Grund zu der Annahme, daß
er eö nicht aufrichtig und treu gemeint habe. Aber wie es
so manchmal geht: die Absicht ist gut, man überschlägt
aber die Kosten nicht und meint, Kraft genug zu besitzen,
um die übernommene Aufgabe auszuführen. Mittlerweile
aber stellen sich Schwierigkeiten und Proben aller
Art ein, mit denen man nicht gerechnet hat. Die vermeintliche
Kraft versagt; man ist den Proben nicht gewachsen,
und es gibt einen kläglichen Zusammenbruch.
Ähnlich erging eö dem Johannes Markus. Frohen Mutes
ist er mit hinausgezogen.
250
Als aber der Entbehrungen und Übungen viele wurden,
machte er es wie der Mann, der seine Hand an den
Pflug legt und dann zurückblickt. Auch er wandte sich um
und kehrte in die Heimat zurück, zur Enttäuschung für
die Apostel und gewiß auch für seine Mutter und alle
Gläubigen, die ihn kannten. So brachte er sich selbst um
das Vorrecht, im Weinberge des Herrn mittätig sein zu
dürfen. Wer kann die Größe eines solchen Verlustes ermessen?
Ja, welch eine Warnung ist sein Beispiel für alle,
die irgendwie vom Herrn gebraucht zu werden wünschen!
Die Schrift stellt uns manche solcher ernsten Beispiele
vor, wo es dem Feinde gelungen ist, einem Knechte des
Herrn Schaden zuzufügen und ihn für das Werk Gottes
unfähig zu machen. Da gilt es mehr als irgendwo sonst,
das Wort des Apostels zu beachten: „Habe acht auf
dich selbst!"
Bei einer früheren Betrachtung der Geschichte des
Barnabas sahen wir bereits, daß dieser, als Paulus ihn
aufforderte, mit ihm die Brüder in den verschiedenen
Städten aufzusuchen, gern auch den Johannes Markus
wieder mitgenommen hätte. Man darf annehmen, daß
Paulus in diesem Falle klarer sah als Barnabas. Wahrscheinlich
erkannte er, daß Markus noch nicht gelernt hatte,
was er lernen mußte, und das bestimmte ihn, an seinem
Entschluß festzuhalten, selbst auf die Gefahr hin, Barnabas
als seinen Begleiter zu verlieren.
Welch eine Gnade ist es, daß der Herr nicht aufhört,
sich um einen jeden der Seinigen trotz all ihrer Untreue
zu bemühen! Dieselbe Liebe, die einen Petrus zurechtbrachte,
überließ auch einen Markus nicht sich selbst.
Sein Name sei dafür gepriesen!
251
Die späteren, allerdings spärlichen Notizen der Schrift
über Markus zeigen uns, daß der Herr mit ihm zu Seinem
Ziele gekommen ist, und daß Markus unter Seiner
Erziehung gelernt hat, und so wieder ein brauchbares
Werkzeug in Seiner Hand wurde. So nennt ihn der Apostel
in dem Brief an Philemon seinen Mitarbeiter
(V. 24), und in dem Brief an die Kolosser empfiehlt
er ihn warm und hebt hervor, daß er der Neffe des Barnabas
sei. In dem 2. Brief an Timotheus fordert er diesen
auf, den Markus mitzubringen, denn er sei ihm
„nützlich zum Dienst". (2. Tim. 4, 11.) Jegliche
Trübung war beseitigt, und nun diente Markus nicht mehr
in eigener Kraft, sondern in der Kraft des Herrn. Sicher
ist er später dem treuen Apostel für sein entschiedenes
Verhalten dankbar gewesen, wenn er es auch seinerzeit
nicht verstanden haben mag. Und nun schrak er nicht
einmal vor Rom mit seinem grausamen Kaiser Nero zurück.
So hat die Gnade den einst zaghaften und wankelmütigen
Diener zurechtgebracht und erzogen, sodaß er dem
treuen Knechte des Herrn in Rom und dem Herrn selbst
wertvolle Dienste leisten konnte.
Ja, nicht das allein. Dem nun völlig zurechtgebrachten
Markus wurde noch die große Aufgabe zuteil, den
wahren und vollkommenen Diener vor unsere Augen
zu führen, wie er es unter der Leitung des Heiligen Geistes
in dem nach ihm genannten Evangelium getan hat.
Welch wunderbare Wirkungen, ja, welch ein Triumph
der Gnade! So wollen denn auch wir nicht mutlos und
verzagt bei unserem Fehlen und Zukurzkommen stehen
bleiben, sondern unter dem ernsten Bekennen und Richten
alles Verkehrten uns vom Herrn bilden lassen nach
252
Seinen Gedanken! In Seiner Schule lernen wir Ihn:
vertrauen und in Seiner Kraft in Wachsamkeit vorangehen,
und Er kann uns dann gebrauchen zu Seiner Verherrlichung
und zum Segen für andere, bis Er kommt.
Treue lm kleinen
Das ist die rechte Liebestreuc,
Die fest an ihrem Herren hängt.
Und ohne Unterlaß auf's neue
In allem Ihm zu dienen denkt;
Die im Geringen und im Kleinen
Es recht genau und ernstlich nimmt.
Und wissentlich auch nicht in einen,
Wenn noch so kleinen Fehler stimmt.
Denn wer sich hier des Herren nennet.
Der folgt Ihm immer, und er flieht
Das Kleinste, was oom Herrn ihn trennet
Und einer Sünde ähnlich sieht.
Er sucht in allem Christi Ehre,
Und wie in allem allezeit
Er sich in Dessen Bild verkläre.
Dem er als Jünger sich gcweibt.
Bei jedem Werk, zu allen Stunden,
Ist seine größte Sorg' allein.
Von seinem Herren treu erfunden,
Gehorsam Seinem Wort zu sein.
Für Ihn verschmäht er keine Plagen,
Kein Ungemach, kein Leid und Kreuz;
Es ist ihm schon genug zu sagen:
Mein lieber Herr will's und gebeut'».
O Herz, nach solcher Liebestreue
Verlange, trachte, ringe ernst,
Damit du täglich und auf's neu?
Ibn durch Gehorsam ehren lernst.
Nicht bloß im Großen, — im Geringen
Sei Ihm zu dienen auch bedacht,
So wird dem ernsten Fleiß gelingen.
Was Trägheit dir unmöglich macht.
_____________ PH. Spitta
Aer Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Lapitel 13
Von der Ermahnung, nicht sich selbst zu rächen, sondern
das Böse mit dem Guten zu überwinden, wendet
sich der Apostel in dem vorliegenden Kapitel zu einer Verpflichtung
allgemeinerer Art, die auf jedem Menschen, in
besonderer Weise aber auf dem Christen ruht: „Jede Seele
unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten; denn es ist
keine Obrigkeit, außer von Gott, und diese, welche sind,
sind von Gott verordnet". (V. 4.)
„Jede Seele" — beachten wir den Ausdruck; er ist
umfassender als „jeder von euch" oder „jeder Christ",
und ist wohl mit Absicht so gewählt. (Vergl. Kap. 2, y.)
Der ganze Hausstand des Gläubigen, Kinder, Angehörige,
Gesinde, alles ist miteingeschlossen. Der Christ ist zwar
nicht von der Welt, aber noch i n der Welt, gleich seinen
Mitmenschen, und so ist er verpflichtet, den obrigkeitlichen
Gewalten zu gehorchen, und zwar aus Gründen, die für
ihn von der höchsten Bedeutung sind. Zunächst ist die
Obrigkeit „von Gott verordnet", dann ist sie „Gottes
Dienerin", und schließlich sind die von ihr angestellten
Personen „Gottes Beamte". (V. 4. 6.) Es könnten kaum
ernstere Gründe für unsere Verpflichtungen der Obrigkeit
gegenüber aufgeführt werden. Ganz ähnlich ermahnt der
Apostel Petrus in seinem ersten Briefe die Gläubigen
I.XXVIII 10
254
aus der Beschneidung, sich um des Herrn willen
aller menschlichen Einrichtung zu unterwerfen. (Kap. 2,
4Z. 44.)
Allerdings möchte hier die Vernunft, wie sie es so
gern tut, ihre Stimme erheben und dem einfachen Gebot
Gottes die Einwendung entgegenstellen: „Ja, aber
wenn die Obrigkeit selbst ihre Abhängigkeit von Gott nicht
anerkennt? wenn sie nach Willkür schaltet und waltet,
harte, ungerechte Verfügungen trifft usw.? Was dann?
Soll ich mich ihr dann auch noch bedingungslos unterwerfen?"
Selbstverständlich bleibt das bekannte, dem
Synedrium gegenüber ausgesprochene Wort der Apostel:
„Man muß Gott mehr gehorchen als Menschen", allezeit
zu Recht bestehen. Stellt eine obrigkeitliche Gewalt
eine Forderung an uns, die dem klar ausgesprochenen Willen
Gottes zuwiderläuft, deren Erfüllung also unser Gewissen
belasten würde, dann muß dieser Wille von uns
beachtet und der obrigkeitlichen Forderung übergeordnet
werden. Aber auch nur in diesem Falle. In allen anderen
habe ich mich einfach zu unterwerfen, ganz gleich, welchen
politischen Charakter die Obrigkeit trägt, ob sie monarchisch,
republikanisch oder was irgend sonst ist, ob sie ihren
Verpflichtungen nachkommt oder nicht. Denn es gibt keine
Obrigkeit oder Gewalt, außer von Gott. Wie einfach
macht das den Weg für den Christen!
Jur Zeit der Abfassung unseres Briefes war es wahrlich
nicht leicht, diesem Gebot nachzukommen, denn die
obrigkeitlichen Gewalten waren durchweg heidnisch und
götzendienerisch. Sie erblickten deshalb in den Gläubigen,
die der Staatsreligion den Rücken gewandt hatten und
sich standhaft weigerten, den Göttern zu räuchern, ihre
255
natürlichen Feinde, bedrückten und verfolgten sie. Trotz
allem aber blieb es wahr, daß die Regenten von Gott
gesetzt sind, um dem Bösen zu steuern, das Gute zu fördern
und zu belohnen. (V. 3.) Die Obrigkeit war und ist
heute, wie bereits gesagt, „Gottes Dienerin". Zweimal
hebt der Apostel daö im 4. Verse ausdrucksvoll hervor:
„Sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten...Sie trägt
das Schwert nicht umsonst; denn sie ist Gottes Dienerin,
eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut". Darum,
wer sich ihr widersetzt, „widersteht der Anordnung Gottes;
die aber widerstehen, werden ein Urteil (Gericht) über
sich bringen". (V. 2.) Mit anderen Worten: wo irgend
eine Obrigkeit ist, da ist sie von Gott; der Gläubige sieht
Gott in ihr und gehorcht ihr deshalb willig. Er würde
ja Gott ungehorsam sein, wenn er es nicht täte.
Möglicherweise bringt dieser Gehorsam dem Christen
Unannehmlichkeiten mancherlei Art, hat vielleicht gar
empfindliche Verluste und Leiden für ihn im Gefolge. Aber
das darf sein Verhalten nicht bestimmen. Hat er in dieser
Welt der Ungerechtigkeit überhaupt etwas anderes zu erwarten?
Er ist ein Fremdling und Pilgrim in ihr, sein
Bürgerrecht ist in den Himmeln. Durch den Glauben in
die innigste Verbindung mit Gott gebracht, schaut er seinen
Platz und sein Erbteil droben. Er ist gesegnet mit jeder
geistlichen Segnung in den himmlischen Ortern. Auf seiner
Reise zur himmlischen Heimat ist er nicht berufen, sein
Recht in dieser Welt zu suchen, noch weniger auf ihre
soziale oder politische Gestaltung tätig einzuwirken oder
gar eine herrschende Stellung in ihr einzunehmen. Er
wird einmal mit Christo herrschen, wenn die Zeit dafür
gekommen ist; aber sein gegenwärtiges Teil ist, zu leiden
256
und, soviel an ihm ist, mit allen Menschen in Frieden zu
leben, ihr Wohl zu suchen und „durch Gutestun die Unwissenheit
der unverständigen Menschen zum Schweigen
zu bringen", (r. Petr. 2, t5.)
Haben wir das einmal verstanden, so wird unsere
Stellung und unser Verhalten der Obrigkeit gegenüber
sehr einfach. Indem wir Gott in ihr erblicken, verschwinden
die Schwierigkeiten, und die meisten Fragen lösen
sich von selbst. Wir erkennen dann auch die Notwendig
k e i t, ihr „untertan zu sein, nicht allein derStrafe
wegen — die uns im Falle eines Ungehorsams treffen
würde —, sondern auch des Gewissens wegen".
(V. 5.) Aus dem gleichen Grunde können wir, wie bereits
betont, etwaigen Befehlen nicht gehorchen, die mit dem
bestimmten Willen Gottes und unserem Charakter als
Christen in Widerspruch stehen. Es liegt uns aber niemals
ob, die Frage zu entscheiden, wie die augenblicklich regierende
Obrigkeit entstanden ist, wer die Gewalt ausübt
und wie das geschieht. Wo ein Christ leben und in
welcher irdischen Stellung er sich befinden mag, er hat
der Obrigkeit zu gehorchen, der er unterstellt ist und die
heute regiert; kommt morgen, vielleicht selbst infolge einer
gewaltsamen Umwälzung, eine andere, so hat er sich der
zu unterwerfen, ganz gleich, ob sie ihm gefällt oder nicht.
Auch hat er nicht zu untersuchen, ob die Verordnungen,
welche die jeweilige Obrigkeit trifft, die Gesetze, die sie gibt,
richtig oder unrichtig sind, ob sie ihm und anderen Nutzen
oder Schaden bringen; seine Sache ist, für die Obrigkeit
zu beten, daß Gott sie richtig leiten und ihr Einsicht und
Weisheit schenken möge, zum Wohle des Landes und Volkes
zu regieren, und — ihr ohne Murren zu gehorchen,
257
soweit das mit seinem Gewissen verträglich ist. Wenn er
verwirklicht, daß seine Interessen nicht mit dieser Erde,
sondern mit dem Himmel verbunden sind, wird ihm das
auch nicht schwer werden.
Wir erinnern uns hier unwillkürlich an die eindringliche
und, heute wie immer, zeitgemäße Ermahnung des
Apostels in 7. Tim. 2: „Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen
für alle Menschen zu tun, für Könige und
alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und
stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem
Ernst". (V. r. 2.) Anstatt über die Obrigkeit
zu reden, uns über sie und ihre Maßnahmen zu ereifern,
vielleicht gar lästernde Urteile über sie zu fällen (vergl.
Tit. Z, 1. 2), wie es hie und da geschehen sein mag, ist
es unser Vorrecht und unsere Pflicht, fürbittend für sie
einzutreten, Fürbitten und Danksagungen für sie zu Gott
emporzusenden. Paulus ermahnt vor allen Dingen,
das zu tun. Wird eine treue Beachtung dieser Ermahnung
seitens der Gläubigen nicht mehr Erfolg haben,
als alle die vielleicht gutgemeinten Bemühungen, selbst
helfend und gestaltend in den Lauf der Dinge einzugreifen?
Niemals gibt das fehlerhafte Verhalten einer höheren
oder niedrigeren Gewalt, eines der Beamten Gottes,
dem Christen ein Recht, seinerseits nun auch seinen Verpflichtungen
nicht treu nachzukommen. Fehlt die Obrigkeit
in ihrem Auftrag als Gottes Dienerin, so hat sie es
mit Gott zu tun; der Christ aber ist gehalten, unter allen
Umständen „das Gute zu üben", auch allen zu geben,
was ihnen gebührt, „die Steuer, dem die Steuer, den
Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre,
dem die Ehre gebührt". (V. 7.) Auch das ist ein Kapitel,
258
in welchem es manches zu lernen gibt; aber das Lernen
würde uns bedeutend erleichtert und manchem Klagen und
Seufzen der Boden entzogen werden, wenn wir wiederum
stets im Auge behielten, daß wir nur Fremdlinge und Beisassen
hienieden sind, und daß auch all unser irdischer Besitz,
unser Verdienst usw. nicht eigentlich uns gehört, sondern
daß wir nur als „Verwalter" darüber bestellt sind.
Eins ist gewiß; wenn wir nicht nach hohen Dingen trachten,
sondern uns zu den niedrigen halten (Kap. i2, lb),
so werden wir gern und willig allen das ihnen Gebührende
oder von ihnen Erwartete geben, umsomehr als wir
Gott in allem sehen und Ihm auch in diesen äußeren
Dingen zu dienen wünschen.
Im 8. Verse geht der Apostel dann noch einen Schritt
weiter, indem er sagt: „Seid niemand irgend etwas schuldig,
als nur einander zu lieben; denn wer den anderen
liebt, hat das Gesetz erfüllt". Daß er bei dieser Ermahnung
zunächst an die eben besprochenen Verpflichtungen
denkt, ist kaum zu bezweifeln, aber wir dürfen gewiß auch
eine Warnung vor leichtfertigem Schuldenmachen darin
erkennen, wie solches leider immer wieder auch unter Christen
vorkommt. Es ist und bleibt demütigend für einen
Gläubigen, aus irgend einer Ursache in Schulden geraten
zu sein, und es sollte den aufrichtigen Eifer in ihm wecken,
sie so bald wie möglich und soweit es in seinen Kräften
steht abzutragen. Von dieser allgemeinen Regel ist nur
e i n Ding ausgeschlossen, und daö ist die Liebe. Diese
Schuld ist berechtigt und bringt auf niemand eine Unehre,
weder vor Gott noch vor Menschen. Sie jemals abzutragen
ist auch unmöglich. Gott selbst hat uns darin durch
Seine Liebe zu bleibenden Schuldnern gemacht.
25Y
Zugleich ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes. Alle
die Gebote, welche die Pflichten des Menschen seinen Mitmenschen
gegenüber zum Ausdruck bringen, finden sich
in dem einen zusammengefaßt: „Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst". (V. 9.) Dieses Gebot war
von alters her da, aber niemand war imstande, es zu
halten. Die Gnade allein, die uns in Christo die ganze
Vollkommenheit und Fülle der Liebe geoffenbart hat, vermag
das Herz umzugestalten und uns zu befähigen, nicht
mehr nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste zu wandeln;
und wenn wir das tun, so wird „die gerechte Forderung
des Gesetzes in uns erfüllt". (Vergl. Kap. 8,
3. 4.) „Die Liebe tut dem Nächsten nichts BöseS."
Sie würde ja ihrer Natur unmittelbar zuwider handeln
müssen. „So ist nun die Liebe dieSumme des G.setzes",
oder wie der Apostel den Galatern zuruft: „Das ganze
Gesetz ist in einem Worte erfüllt, in dem: „Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst"." (Gal. 5, 44.)
Doch es gibt noch einen anderen Beweggrund für den
Christen, treu und wachsam zu sein, und diesen nennt der
Apostel jetzt. „Und dieses noch, da wir die Zeit erkennen,
daß die Stunde schon da ist, daß wir aus dem Schlaf aufwachen
sollen; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als
da wir geglaubt haben: Die Nacht ist weit vorgerückt,
und der Tag ist nahe." (V. 44. 42.) Solang „die Sonne
der Gerechtigkeit" nicht aufgegangen ist, währt die Nacht
dieser Welt. Die Menschen mögen in Geschäftigkeit und
Vergnügungssucht ein Vergessen suchen und vielleicht für
Augenblicke es finden, aber für jeden, der geistliches Verständnis
hat und Christum kennt, ist es Nacht, finstere
Nacht. Die Schatten werden umso tiefer, je weiter die
260
Nacht vorrückt. Aber in dem Herzen des Gläubigen ist es
hell; er ist aus dem Schlaf aufgewacht, in seinem Herzen
ist der Morgenstern bereits aufgegangen. Die Nacht ist
weit vorgerückt, und während die Welt trotz aller Warnungen
fortfährt zu schlafen, schaut er frohlockend die
Dämmerung des Tages. Sein Herr verzieht nicht zu kommen,
mögen auch etliche es für einen Verzug achten. Jeder
Tag bringt ihn dem Ziele näher, und so steht er da
gleich einem Knechte, der mit gegürteten Lenden und brennender
Lampe auf den Hausherrn wartet.
„Die da schlafen, schlafen des Nachts, und die da
trunken sind, sind des Nachts trunken", lesen wir in
7. Thess. 5, 7. Was kann man von solchen Leuten anders
erwarten, als unfruchtbare „Werke der Finsternis",
schändliche Dinge, deren Namen man nicht einmal in den
Mund nehmen möchte? (V. 72. 73; vergl. Eph. 5, 77.
72.) Der Christ dagegen wandelt „anständig, wie am
Tage". Werke der Finsternis sind unvereinbar mit einem
Menschen, der aus der Gewalt des Fürsten der Finsternis
errettet und berufen ist, nunmehr als ein „Kind des
Lichts" zu wandeln. Es ist ihm „genug, die vergangene
Zeit den Willen der Nationen vollbracht und den Lüsten
der Menschen gelebt zu haben". Gern folgt er der Ermahnung,
„die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen
des Lichts anzuziehen". Ohne Kampf geht das freilich
nicht ab, denn wir befinden uns in dem Reiche Satans,
des Fürsten der Finsternis, und Mächte der Bosheit
stehen uns entgegen. Aber wenn das Licht, in welchem
wir wandeln, unsere Waffenrüstung ausmacht, wenn die
Macht des Lichts, der Wahrheit und Gottseligkeit, die
jenem Tage angehört, in unseren Herzen wohnt, werden
261
die Anläufe und Listen des Feindes von uns entdeckt werden,
sie werden keinen Eingang in unsere Seele finden,
keine Gewalt über uns gewinnen. Indem wir der Ermahnung
folgen, „den Herrn Jesus Christus anzuziehen",
d. h. in all unserem Denken, Reden und äußeren Tun den
Charakter und Wandel unseres hochgelobten Herrn, des
wahren Lichtes des Tages, zur Darstellung zu bringen,
werden wir nicht nur „nicht Vorsorge treiben für das
Fleisch zur Erfüllung seiner Lüste" (V. 14), nicht Dingen
nachgehen, in welchen die in unserem Fleisch wohnenden
Lüste Nahrung finden, sondern „uns reinigen, gleichwie
Er rein ist", und „so wandeln, wie Er gewandelt hat".
Noch einmal denn: Die Zeit unserer Errettung ist
jetzt näher, als da wir geglaubt haben. Die Stunde ist
schon da, daß wir aus dem Schlafe aufwachen sollten.
„Deshalb sagt er: Wache auf, der du schläfst, und stehe
auf aus den Toten, und der Christus wird dir
leuchten!" (Eph. 5, 14.)
(Fortsetzung folgt)
„Er liebt und ehrt Sich"
Vor einigen Monaten schrieb eine gläubige Witwe an ihre
Tochter, deren Mann nach kaum viermonatiger Ehe in erschütternder
Weise durch einen Unglücksfall von ihrer Seite gerissen
worden war, folgende Worte, die wir ohne weitere Bemerkung
hier wiedergeben:
„Liebes Kind, der Herr liebt Dich und ehrt Dich. Er gab
Dir einen kostbaren Glauben. Derselbe gleicht einer Brücke, welche
Dich direkt mit Gott verbindet. Jede Brücke wird einer Belastungsprobe
ausgesetzt, und wenn der Herr Deine Glaubensbrücke einer
besonders schweren Belastungsprobe ausseht, dann ehrt Er Dich.
Die Brücke hält aus, das Material ist gut, von Gott selbst her-
gestellt."
262
„Alles geschehe
anständig und in Ordnung"
li. Lor. 14, 40.I
III.
4. Wie schon früher bemerkt, ist der Zweck jeglicher
Jucht, außer der Wahrung der Ehre des Herrn, dieWie -
derherstellung dessen, an welchem sie ausgeübt
wird. Wenn alle Ermahnungen fruchtlos bleiben, wenn
alle Mittel erschöpft sind, die zur Iurechtbringung eines
irrenden Gliedes angewandt werden können, so bleibt als
letztes Mittel nur noch die im Worte vorgeschriebene Jucht
übrig, um ihm dadurch behilflich zu sein, zum Bewußtsein
seiner Schuld und zum Bekenntnis vor Gott und
den Brüdern zu kommen. Paulus übte, in Verbindung
mit der Versammlung in Korinth, gegen den Sünder in
ihrer Mitte die Jucht aus, „auf daß sein Geist
errettetwerde am Tage des Herrn Jesus", (1. Kor.
5, 5.) Die Versammlung kann, nach Anwendung dieses
letzten Mittels, sich nur noch durch ihre Fürbitte mit dem
Verirrten beschäftigen, indem sie ihn der zurechtbringenden
Gnade des Herrn befiehlt, der durch die mächtige Wirkung
Seines Geistes auch zu einem für die brüderlichen Ermahnungen
verschlossenen Herzen den Weg zu finden weiß.
Wenn nun ein solcher durch die Macht der Gnade
zu wahrer Buße gebracht wird und in Aufrichtigkeit seine
Schuld bekennt, sodaß vertrauenswürdige Brüder nach
eingehender Beschäftigung mit ihm die Überzeugung gewinnen,
daß der Zweck der Jucht erreicht und die Ursache,
weshalb sie angewandt werden mußte, beseitigt sei, so wird
263
dies der Versammlung mitzuteilen und seine Wiederzulassung
zu empfehlen sein. Denn er bedarf zu seiner Wiederherstellung
nicht allein der Vergebung Gottes, sondern
auch der Vergebung von feiten der Versammlung.
(Matth, 18, 1,8; 2. Kor. 2, 6—8.) Diese Vergebung
wird ihren Ausdruck finden in seiner Wiederzulassung
zum Tische des Herrn, und diese wird als von
der Versammlung zugestanden betrachtet werden können,
wenn von niemand (Bruder oder Schwester) ein begründeter
Einspruch dagegen erhoben wird. Indem dies bei
der nächsten Gelegenheit zur Kenntnis der versammelten
Gläubigen gebracht ist, wird dem von seinen Verirrungen
Iurückgekehrten mündlich oder schriftlich durch zwei Brüder
(vergl. Matth. 18, 16) Mitteilung zu machen sein,
daß die Versammlung ihm vergeben hat, und daß seiner
Teilnahme am Abendmahl nichts mehr im Wege steht.
5. In den vorstehenden Abschnitten ist wiederholt
die Rede gewesen von begründeten Einwendungen oder
berechtigten Einsprüchen gegen eine der Versammlung
empfohlene Handlung der Zulassung oder der Jucht. Da
jedes Glied einer örtlichen Versammlung die Mitverantwortlichkeit
für die von derselben gefaßten Beschlüsse
trägt, so darf von jedem auch eine gewissenhafte Prüfung
der betreffenden Angelegenheiten erwartet werden. Das
Ergebnis einer solchen Prüfung wird entweder eine stillschweigende
Zustimmung zu dem gemachten Vorschlag,
oder eine Einwendung dagegen sein. Daß beides in Übereinstimmung
mit den Gedanken des Hauptes der Versammlung
sein möge, wird das ernste Anliegen jedes Gliedes
sein.
264
Wenn nun der Versammlung Vorschläge zur Entscheidung
unterbreitet werden, die nach der Überzeugung
einzelner Brüder oder Schwestern nicht nach den in der
Schrift ausgedrückten Gedanken des Herrn sind, so ist
es Gewissenssache für sie, im Geiste der Sanftmut und
Liebe ihre Stimme dagegen zu erheben, indem sie ihren
Einspruch aus dem Worte Gottes begründen. Beruht eine
solche Begründung nicht auf einer mißverständlichen
Auffassung der betreffenden Schriftstellen, und
kann dies nicht durch Anführung anderer Stellen bewiesen
werden, so wird die Versammlung die gemachten Einwendungen
als berechtigt anerkennen müssen und in der
betreffenden Angelegenheit entweder garnicht, oder doch
nicht eher handeln können, bis die Ursache, auf welche der
Einspruch sich gründet, beseitigt ist.
Indes können auch Einwendungen gemacht werden,
die nur aufMeinungs Verschiedenheiten beruhen, ohne
daß dieselben sich auf bestimmte Schriftstellen gründen.
Oder es können schon in den Beratungen derjenigen Brüder,
welche sich eingehend mit der betreffenden Angelegenheit
beschäftigen, bevor sie der Versammlung zur Entscheidung
unterbreitet wird, Meinungsverschiedenheiten der erwähnten
Art hervortreten. In solchen Fällen würde es
bedenklich sein, Beschlüsse zu fassen, selbst wenn die Mehrheit
dafür sein sollte. Vielmehr wird es sich dann empfehlen,
die Sache in gemeinsamem ernstem Gebet vor
Gott zu bringen und geduldig so lang zu warten, bis eine
Übereinstimmung erzielt ist. Gott wird sicherlich auf das
anhaltende Flehen der Seinigen antworten und ihnen
Seine Gedanken in der Sache nicht vorenthalten. Es wird
so oft übersehen, daß der Herr uns gerade in Verbindung
265
mit der Ausübung der Zucht in Matth. 1.8, 1.9 die kostbare
Zusage gibt: „Wiederum sage ich euch: Wenn zwei
von euch auf der Erde Übereinkommen werden über irgend
eine Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird sie
ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln
ist".
Es kann allerdings vorkommen, daß sich in einer
Versammlung bei einzelnen Gläubigen ein Parteigeist
offenbart, der sie zum Widerstand gegen die für nötig
erachteten Beschlüsse leitet. Wenn dieser Widerstand sich
in solchen Fällen gellend machen sollte, in welchen das
Wort Gottes das Verhalten klar verschreibt, werden die
Widerstrebenden ernstlich zu ermahnen sein; falls sie trotzdem
bei ihrem eigenwilligen Widerstand beharren, mag
es nötig werden, sie selbst aus der Mitte Hinauszutun.
Denn ihr Widerspruch richtet sich nicht nur gegen die Versammlung,
sondern gegen den Herrn selbst, der Seinen
Willen in der betreffenden Angelegenheit in Seinem Worte
kundgegeben hat. Es könnte sich z. B. um den Ausschluß
eines offenbaren Sünders handeln, zu welchem einzelne
Geschwister aus unlauteren Gründen ihre Zustimmung versagten.
Diese Geschwister würden dann die Versammlung
zu verhindern suchen, sich, dem Worte gemäß, von dem
in ihrer Mitte befindlichen Sauerteig zu reinigen. Ein sol
ches Verhalten wäre nicht nur ein Sicheinsmachen mit
dem betreffenden Sünd:r, sondern auch eine Versündigung
gegen den Herrn selbst und die Heiligkeit Seines Tisches»
In einem solchen Falle würde die Versammlung mit aller
Entschiedenheit handeln müssen, indem sie sich von dem
oder von denen trennt, die sich selbst auch als „böse"
erweisen, (r. Kor. 5, "lZ.)
26k
6. Schließlich sei noch ein Fall erwähnt, der sehr
ernst ist und schon wiederholt zu viel Herzeleid und Verunehrung
des Namens des Herrn Anlaß gegeben hat. Es
gibt Beispiele, daß eine Versammlung zu schwach ist, um
eine Zucht auszuüben, die Gottes Gedanken gemäß ist.
Das sollte dann alle veranlassen, sich ernstlich vor dem
Herrn zu demütigen und Seine gnädige Dazwischenkunft
zu erflehen. Geschieht das, so wird der Herr, der Seine
Versammlung liebt und den Schwachen so gern zu Hilfe
kommt, gewiß die nötige Weisheit und Kraft darreichen,
um die zur Aufrechthaltung der Heiligkeit Seines Tisches
notwendige Zucht ausüben zu können.
Wie aber ist es, wenn diese Demütigung nicht erfolgt,
wenn sich also ein nicht nur allgemein schwacher,
sondern auch allgemein böser, verunreinigter Zustand offenbart?
wenn selbst Bitten und Mahnungen von anderer
Seite, sich von dem Bösen zu reinigen, ohne Erfolg bleiben
und die betreffende Versammlung mit dem Sauerteig
in ihrer Mitte in Verbindung bleiben will? In einem
solchen Falle wird für die mit jener Versammlung in Verbindung
stehenden Versammlungen kaum etwas anderes
übrigbleiben als die ernste Erwägung, ob sie nicht die
Gemeinschaft mit ihr zu brechen haben, damit nicht durch
die hin und her gehenden Geschwister die Verunreinigung
auch auf sie übergehe. Von einem Ausschluß kann in
einem solchen Falle selbstverständlich keine Rede sein. Eine
Versammlung kann unmöglich eine andere „aus ihrer
Mitte hinaustun".
In Verbindung mit dem letztgenannten Punkte mögen
hier noch einige andere Bemerkungen Platz finden.
Wie schon früher bemerkt, kann eine örtliche Der-
267
sammlung, obwohl alle lebendig Gläubige an den Tisch des
Herrn gehören, doch nur solche daran teilnehmen lassen,
die sie kennt und von denen sie die Überzeugung hat, daß
sie die im Worte bezeichneten, für die Gemeinschaft der
Gläubigen nötigen Eigenschaften besitzen. Kommt nun ein
Auswärtiger in eine Versammlung und wünscht am Brotbrechen
teilzunehmen, so wird es nötig sein, daß er sich
als in Gemeinschaft mit einer Versammlung stehend ausweise,
die sich auf dem Boden der Wahrheit befindet, es sei
denn, daß er mindestens zwei Gliedern der Versammlung
persönlich bekannt ist und durch diese eingeführt wird.
Ist das nicht der Fall, so wird er der schriftlichen Empfehlung
der örtlichen Versammlung, zu welcher er gehört,
bedürfen, um am Brotbrechen teilnehmen zu können.
(Vergl. 2. Kor. 3, 1; Röm. 76, 7. 2; 7. Kor. 76, 3.)
Dies wird, besonders bei einer Verlegung des Wohn
sitzes, von Geschwistern häufig außer acht gelassen, und
dadurch bereiten sie sich Ungelegenheiten. Um diese zu vermeiden,
sollten die Versammlungen es sich zur . Regel
machen, wenn Geschwister aus ihrer Mitte verziehen, der
neuen Versammlung eine Mitteilung darüber zugehen
zu lassen. Dadurch würde auch noch einem weiteren Übelstand
begegnet werden, der mitunter in größeren Versammlungen
hervortritt und darin besteht, daß unter den
Umziehenden sich solche befinden, die im Besuch der Versammlung
nachlässig sind, es jedoch als ihr selbstverständliches
Recht betrachten, sich von Zeit zu Zeit an den Tisch
des Herrn zu setzen. Da sie aber unter der großen Anzahl
unbeachtet und unbekannt bleiben, wird der Versammlung
die Möglichkeit entzogen, sich mit ihnen in geeigneter
Weise zu beschäftigen, sie überhaupt zu überwachen.
268
Die Mühe und Aufmerksamkeit, die den erwähnten
Mitteilungen gewidmet wird, kann gar nicht in Betracht
kommen gegenüber der Wichtigkeit des Gegenstandes. Es
handelt sich dabei um nichts Geringeres, als die Fürsorge
für die Ehre des Herrn, die Heiligkeit Seines Tisches
und das Wohl der Seinigen.
ES gibt ohne Zweifel noch manche Fälle auf dem
Gebiet des Gemeinschaftslebens der Gläubigen, die in diesen
Blättern nicht besprochen sind. Möge nur in allen Angelegenheiten,
welche eine Versammlung zu ordnen berufen
sein sollte, jedes Glied durch das Bewußtsein geleitet
werden, daß die Versammlung, so groß die Uneinigkeit
und Zersplitterung praktisch auch sein mag, nach
Gottes Gedanken immer der Leib Christi, ihres im Himmel
verherrlichten Hauptes, bleibt, und daß die Angelegenheiten
der Versammlung auch Seine Angelegenheiten
sind, damit in allem in völliger Übereinstimmung mit
Ihm gehandelt werde!
Selbstgericht
Unter den geistlichen Übungen, die für den Christen
wichtig und heilsam sind, nimmt das Selbstgericht wohl
einen der ersten Plätze ein. Ich meine damit nicht jene
unglückliche Gewohnheit, sich beständig mit sich selbst zu
beschäftigen und in sich nach Beweisen des Lebens oder des
Geborgenseins in Christo zu suchen. Das ist ein törichtes
Beginnen. Was kann Gutes dabei herauskommen, wenn
man unaufhörlich auf ein wertloses, ja, verderbtes Ich
schaut? Ein solches Tun kann eine aufrichtige Seele nur
269
unglücklich machen und muß schließlich in der qualvollen
Frage enden: Habe ich überhaupt je Leben aus Gott besessen?
Ohne Zweifel ist eine ernste Selbstprüfung gut für
alle, die auf sandigen Grund gebaut haben, damit ihnen
die Augen aufgehen und sie sich der Gefahr ihrer Täuschung
bewußt werden. Sie ist ferner gut für alle, die
sich in pharisäischem Geist in ein selbstgefertigtes Kleid
gehüllt haben, um die ganze Wertlosigkeit desselben vor
Gott zu erkennen. Sie ist gut für Schlafende, damit sie
aus ihrem gefährlichen Schlummer aufwachen, gut für
solche, die einem furchtbaren Abgrunde zustreben, damit
ihnen die Binde von den Augen falle und sie zurückschrecken,
ehe es für ewig zu spät ist. Die Richtigkeit
dieser Dinge wird von keinem verständigen und rechtgeleiteten
Sinn bestritten werden, aber sie haben nichts
mit der Frage zu tun, die uns beschäftigt. Der Gläubige
wird nirgendwo im Worte Gottes aufgefordert, sich zu
prüfen, ob er wirklich ein Christ sei. Im Gegenteil wird
er immer wieder ermuntert, in voller Glaubensgewißheit
auf dem vollendeten Werke Christi zu ruhen und von
sich weg auf Den zu schauen, der für ihn gestorben
und auferstanden ist.
Wohl gibt es im Neuen Testament zwei Stellen,
die den Gläubigen zu einer Selbstprüfung auffordern und
deshalb oft zu großem Schaden ängstlicher Seelen mißdeutet
worden sind. Wir werden aber bei einer näheren
Untersuchung bald sehen, daß der Zweck dieser Ermahnung
ein ganz anderer ist, als in dem Gläubigen Zweifel
an seiner Errettung zu wecken. Die erste dieser beiden
Stellen findet sich in "l. Kor. rr, 28. 29 und steht in
270
Verbindung mit der Feier des Abendmahls. Wir lesen
dort: „Ein jeder aber prüfe sich selbst, und also
esse er von dem Brote und trinke von dem Kelche. Denn
wer unwürdiglich ißt und trinkt, ißt und trinkt sich selbst
Gericht, indem er den Leib nicht unterscheidet."
Die verkehrte Auslegung dieser Stelle rührt meist
daher, daß man den Ausdruck „unwürdiglich essen" auf
die Personen anwendet, die die heilige Handlung vornehmen,
während er sich in Wirklichkeit auf den praktischen
Zustand bezieht, in welchem sie vollzogen
wird. Der Apostel denkt garnicht daran, die Echtheit des
Christentums der Korinther in Frage zu stellen, sie also
zu einer Prüfung aufzufordern, ob sie wirklich ein Anrecht
hätten, an dem Mahle des Herrn teilzunehmen.
Wenn er sie im ersten Kapitel seines Briefes als „die
Versammlung Gottes, die in Korinth ist", als „Geheiligte
in Christo Jesu", „berufene Heilige" anredet, wie
könnte er dann im elften die Würdigkeit dieser Heiligen,
ihren Platz am Tische des Herrn einzunehmen, in Zweifel
ziehen? Nein, er betrachtet die Korinther als Heilige und
ermahnt sie als solche, das Mahl des Herrn i n
würdiger Weise zu begehen. Die Möglichkeit, daß
außer wahren Gläubigen auch andere an dem Mahle teilnehmen
könnten, wird hier garnicht in Betracht gezogen,
sodaß das Wort „unwürdiglich" sich überhaupt nicht auf
Personen beziehen kann. Die Personen waren als
Geheiligte in Christo Jesu würdig, aber ihr praktischer
Zustand konnte nicht würdig sein, und so werden sie aufgefordert,
sich hinsichtlich ihrer Handlungen und
Wege, ja, ihrer ganzen Gesinnung und Herzensstellung
vor Gott zu prüfen; anders würde der
271
Herr sich mit ihren Personen in richterlicher Weise
beschäftigen müssen, wie es ja schon geschehen war, denn
viele unter ihnen waren schwach und krank, und ein gut
Teil war entschlafen.
Noch einmal denn: Weil die Korinther Christen
waren, werden sie aufgefordert, sich selbst zu richten.
Hätte ihre Gotteskindschaft noch in Zweifel gestanden, so
wären sie zu diesem Selbstgericht völlig unfähig gewesen.
Ein Vater denkt nicht daran, sein Kind zu einer Prüfung
aufzufordern, ob es wirklich sein Kind ist. Aber er erwartet
von ihm, daß es sich bezüglich seines Verhaltens,
seiner Gewohnheiten, ja, seiner ganzen Gesinnung prüft,
ob es sich auch als sein Kind benimmt. Tut es das
nicht, ist es sorglos und gleichgültig, so bleibt dem Vater
nichts anderes übrig, als es auf dem Wege der Züchtigung
dahin zu bringen, wohin es durch Selbstgericht
hätte kommen sollen. Eben weil es sein Kind ist, kann
der Vater ihm nicht erlauben, sich mit schmutzigen Kleidern
oder ungebührendem Betragen an seinen Tisch zu
setzen.
Die zweite der angedeuteten Stellen finden wir in
2. Kor. 13, 3—5. Dort heißt es: „Weil ihr einen Beweis
suchet, daß Christus in mir redet, . . . so prüfet
euch selbst, ob ihr im Glauben seid, untersuchet euch
selbst". Der Apostel beruft sich hier auf die Gläubigen in
Korinth als den Beweis der Echtheit seines Apostelamtes.
Daö Bestehen der Versammlung in Korinth bewies klar
und unzweideutig, daß „Christus in ihm redete". Die
Korinther waren Gläubige, waren wahre Christen.
So betrachtete Paulus sie, ungeachtet der vielen Unordnungen,
die es in ihrer Mitte gab. Sie waren, wie gesagt,
272
daö Siegel seines Apostelamtes, der allen sichtbare Beweis,
daß Paulus von dem Herrn selbst in Seinen Dienst
gestellt war. Deshalb sollten sie nicht aus die bösen Arbeiter
hören, die ihn und seinen Dienst zu verleumden
suchten. Die Echtheit ihres Christentums und seine Apostel-
schaft waren so eng miteinander verbunden, daß die eine
mit der anderen gleichsam stand und fiel. Die Korinther
wußten sehr gut, was sie einst gewesen waren; aber sie
waren jetzt „abgewaschen, geheiligt, gerechtfertigt in dem
Namen des Herrn Jesus und durch den Geist Gottes".
(Vergl. r. Kor. 6, 1K.) Und diese völlige Umwandlung
war die Frucht des Dienstes des Apostels. Das Ergebnis
ihrer Selbstprüfung sollte also nicht etwa die traurige
Entdeckung sein, daß sie gar keine Christen waren. Genau
das Gegenteil! Ähnlich könnte ich zu jemand sagen:
„Hier ist eine Anzahl gutgehender Uhren. Wenn Sie einen
Beweis haben wollen, ob der Mann, der sie gemacht hat,
ein Meister in seinem Fach ist, so prüfen Sie nur diese
Uhren."
Keine der beiden Stellen bietet also irgendwelche
Gewähr für die Art von Selbstprüfung, an die viele irrtümlich
denken, die aber in Wirklichkeit keinerlei Stützpunkt
in Gottes Wort findet, sondern sich nur auf ein
System von Zweifeln und Befürchtungen gründet. Das
Selbstgericht, zu welchem das Wort den Gläubigen immer
wieder auffordert, ist etwas ganz anderes. So verkehrt
und verhängnisvoll jene Prüfung ist, so gut und segensreich
ist dieses Gericht. Wir dürfen es eine durchaus notwendige
christliche Übung nennen, die von äußerst heilsamer
Wirkung ist, sich aber gerade auf ein ungetrübtes
Vertrauen hinsichtlich der Errettung und Annahme in
273
Christo gründet. Der Christ richtet sich selbst nicht, um
festzustellen, daß er ein Christ ist, sondern weil er ein
Christ ist.
So einfach und selbstverständlich diese Wahrheit zu
sein scheint, so wenig wird sie von manchen Gläubigen
verstanden. Obwohl sie bekennen, an Christum als die
einzige Grundlage ihres Heils zu glauben, lassen sie sich
doch immer wieder durch die Entdeckung verwirren, daß
in ihnen, d. i. in ihrem Fleische, Gutes nicht wohnt. Ach,
wenn sie doch verstehen möchten, daß auch eine Jahrzehnte
lange Selbstprüfung nichts anderes in ihnen zum
Vorschein bringen kann als ein wertloses, verderbtes,
durch und durch schlechtes Ich, das aber Gott beiseite gesetzt
hat, und das sie berufen sind für „tot" zu halten!
Wie könnte man erwarten, durch eine solche Prüfung
jemals zu einem erfreulichen Ergebnis zu kommen? Die
Quelle der Freude des Christen und die einzige Ursache
zu seinem geistlichen Wachstum liegt außer ihm, in
Christo, seinem auferstandenen Heiland. Und jemehr er
mit sich abgeschlossen hat und mit Christo sich beschäftigt,
umso glücklicher wird er sein, und umso heiliger wird
sein Wandel werden.
Immer wieder sei es betont, daß der Christ seine
Gedanken, Worte und Handlungen, seine Gewohnheiten
und Wege im Lichte Gottes beurteilt, sich selbst prüft
und richtet, weil er weiß, daß er ein Christ ist, nicht
weil er das bezweifelt. Gerade das unumstößliche
Bewußtsein von der Gnade Gottes, von der reinigenden
Kraft des Blutes Jesu Christi, von der nie erlahmenden
Tätigkeit seines Hohenpriesters und Sachwalters droben,
von der unfehlbaren göttlichen Sicherheit auch des
274
schwächsten Schäsleins Christi setzt ihn in den Stand, sich
selbst zu richten. Solang er zweifelt, ist er dazu unfähig.
Die irrige menschliche Selbstprüfung, von der wir spra
chen, geht aus dem Unglauben hervor, wahres, göttliches
Selbstgericht aus dem Glauben.
Laßt uns dabei aber nicht vergessen, daß dieses
Selbstgericht niemals aufhören darf, nicht aufhören
kann, solang wir in diesem Leibe sind. Wenn wir es
vergessen oder auch nur vernachlässigen, wird die 'alte
Natur sehr bald in uns die Oberhand gewinnen und uns
zu Dingen verleiten, die sich für einen Christen nicht geziemen.
Ja, je treuer und hingebender wir zu wandeln
begehren, desto mehr werden wir bei uns zu richten finden.
Nicht als ob dann das Böse in uns zunähme, aber
das geistliche Verständnis wächst, das Auge wird
schärfer, das Gewissen zarter. Das Licht, in dem wir
wandeln, macht alles offenbar. Alle Art von Oberflächlichkeit,
Eigenliebe, Reizbarkeit und dergleichen, jeder Mangel
an Fleiß oder Treue, jede Neigung zu Eitelkeit oder
Hochmut — lauter Dinge, die aus der alten, gefallenen
Natur hervorkommen, werden samt allen Versäumnissen
und Fehlern von uns gerichtet und durch die Macht der
Gnade besiegt werden. Was aufrichtig und dauernd gerichtet
wird, wird sich niemals als eine Schuld auf unser
Gewissen legen. Wahres Selbstgericht erkennt und erfaßt
die Wurzeln und Quellen von allem, erhält uns im Lichte
Gottes und damit auf dem rechten, geraden Wege. Wird
aber die alte Natur nicht im Tode gehalten, so wissen wir
nicht, wie, wann oder wo sie plötzlich zum Vorschein
kommt, der Seele Bitterkeit und Not bereitet und vielleicht
gar große Verunehrung auf den Namen des Herrn
275
bringt. Grobe, schmerzliche Verfehlungen sind sehr oft
auf die Vernachlässigung des Selbstgerichts in kleinen und
kleinsten Dingen zurückzuführen. Seien wir deshalb auf
der Hut!
Ium Schluß sei noch darauf aufmerksam gemacht,
daß es drei deutlich unterschiedene Stufen des Gerichts
gibt: das Selbstgericht, das Gericht von feiten Gottes
und das Gericht seitens der Versammlung. Wenn der
Gläubige sich selbst richtet, so braucht der Herr mit Seinen
Züchtigungen nicht einzugreifen. Wenn wir uns selbst beurteilen,
so werden wir nicht gerichtet. „Wenn wir aber
gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt,
auf daß wir nicht mit der Welt verurteilt werden."
(r. Kor. rr, ZI. Z2.) Sein Name sei gepriesen, daß Er
in Seiner Treue uns nicht gehen läßt!
Wenn wir aber auf die ernsten Weisungen des Herrn
nicht achten, so wird über kurz oder lang das Böse in
irgend einer Form allen sichtbar werden, sodaß die Versammlung
darein verwickelt wird und sich von ihm reinigen
muß. Sollte die Versammlung es unterlassen, das
Böse zu richten, so müßte Gott schließlich mit ihr selbst
handeln, denn Er kann sich selbst nicht verleugnen. Wie
ernst ist das alles! Hätte Achan vor alters die habgierigen
Gedanken seines Herzens gerichtet, so wäre Israel nicht in
das Böse hineingezogen worden. (Jos. 7.) Hätten die Korinther
sich selbst geprüft und verurteilt, so hätte der Herr
nicht nötig gehabt, die ganze Versammlung so ernst zu
tadeln und mit Seinen züchtigenden Wegen einzugreifen.
Gott will, daß alle Seine Kinder das unaussprechlich
große Vorrecht kennen, eingeführt zu sein in die Gemeinschaft
mit dem Vater und dem Sohne. Aber soll
276
ihre Freude völlig sein, so dürfen sie ihrerseits nie vergessen,
daß Gott Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm
ist. „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit Ihm
haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und
tun nicht die Wahrheit." Anderseits aber dürfen Gottes
Kinder vertrauensvoll mit jeder Verfehlung, jedem Zukurzkommen,
jeder Sünde im Selbstgericht vor ihren
himmlischen Vater treten, und wenn sie ihre Sünden bekennen,
so ist Er treu und gerecht, daß Er ihnen die Sünden
vergibt und sie reinigt von aller Ungerechtigkeit,
(r. Ioh. r.)
Lein Sohn
M., ein junger Gläubiger, war gebeten worden, bei
einer Sterbenden, deren körperliche Leiden so schwer waren,
daß auch ihr Geist getrübt war, eine Nacht zu wachen.
Am Morgen nach der durchwachten Nacht war M. pünktlich
wie gewöhnlich an seiner Arbeit. Er war Vorarbeiter
in einer größeren Schuhfabrik, in der auch Georg E., ein
wegen seines Unglaubens bekannter Mann, beschäftigt war.
E., ein auffallend starker und gesunder Mensch, fand
seine Freude daran, den jungen M., wo er konnte, um
seines Glaubens willen zu hänseln. An diesem Morgen
redete er ihn folgendermaßen an:
„He, M., wie kommt es, daß ihr Christen durchweg
so schwache und armselige Menschen seid und fast
immer kränkelt? Ihr sagt, euer Gott sei Liebe; aber Er
läßt Seine Kinder mehr leiden, als die zu leiden haben,
die nicht an die Bibel glauben. Ich z. B. glaube weder an
einen Gott noch an einen Teufel, bin aber nie krank.
277
Sieh nur, wie stark und gesund ich bin!" Dabei schlug
er sich mit der Faust auf die breite Brust, daß es dröhnte.
In der Tat, es schien so zu sein, wie er sagte.
Die ruhige Antwort M.'s in Gegenwart mehrerer
Arbeiter lautete: „Der Grund, weshalb du nicht gezüchtigt
wirst, liegt wohl darin, daß du kein Sohn bist. Gottes
Wort sagt: „Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid,...
so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne"."
Die in tiefem Ernst gesprochenen Worte verfehlten
ihre Wirkung nicht. Sie waren wie ein Pfeil aus dem
Köcher Gottes, brachten den Schmäher zum Schweigen
und drangen in Herz und Gewissen der Anwesenden. Sie
werden denen, die sie hörten, um ihres Ernstes, aber auch
um der Folgen willen, die noch zu erzählen sind, wohl
unvergeßlich bleiben.
Einige Zeit nach dem oben Erwähnten hieß es, Georg
E. sei krank. Nicht ein plötzlicher Unfall hatte ihn getroffen.
Die Ursache der Erkrankung war eine leichte, vernachlässigte
Erkältung. Aber schon bald sank der starke
Mann aufs Krankenlager, von heftigen Fiebern, die einer
Lungenentzündung meist vorangehen, geschüttelt.
Einige Tage sind vergangen. Georg E. liegt im Sterben,
und er weiß es. Er weiß auch, daß er auf den großen
Wechsel, der ihm bevorsteht, nicht vorbereitet ist. Zerknirschung
erfüllt seine Seele, und in seiner Not erinnert er
sich des jungen Mannes, den er so häufig verhöhnt hat.
Er schickt zu M., der nur zu bereit ist, zu kommen und
dem Sterbenden in einfachen Worten den Heilsplan Gottes
vorzulegen. Sein Herz ist voll innigen Mitgefühls
mit dem Unglücklichen, aber Georg E. scheint das Heil
nicht mehr erfassen zu können. Mit den Worten: „Es
278
ist zu spät! es ist zu spät!" haucht er sein Leben aus.
Soweit Menschen urteilen können, starb er, wie er gelebt
hatte.
Ernst warnend redet dieser Vorfall zu jedem Unbekehrten.
Du magst kein Spötter oder entschiedener Ungläubiger
sein wie Georg E.; aber vielleicht gehörst du
zu denen, die das ihnen gebotene Heil vernachlässigen, die
auögestreckte Retterhand gering achten. Allen solchen ruft
Gottes Wort zu: „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht
spotten! denn was ein Mensch sät, daö wird er auch ernten".
Der Tag ist nicht mehr fern, wo alle, die Ihn jetzt
verachten, die Worte hören werden: „Sehet, ihr Verächter,
und verwundert euch und verschwindet". (Apstgsch.
43, 4t.) Es ist überaus verhängnisvoll, „den Reichtum
der Gütigkeit und Geduld und Langmut Gottes zu verachten".
Darum laß dich durch die Güte Gottes zur Buße
leiten und blicke auf zu dem Herrn Jesus Christus, „der
einmal für Sünden gelitten hat, der Gerechte für die
Ungerechten, auf daß Er uns zu Gott führe", (4. Petr.
3, 48.) „Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe,
jetzt ist der Tag des Heils."
Oft wollen aber auch manchen Gläubigen die
Wege und Führungen Gottes unverständlich erscheinen.
Schmerzlich geprüft und gedemütigt, vermögen sie wie
einst Asaph *) nicht zu verstehen, weshalb „alle Morgen
ihre Züchtigung da ist". Wenn es so steht bei dir, mein
lieber gläubiger Leser, wenn du niedergebeugt und ermattet
am Boden liegst, laß dich dann durch das Wort beleben:
„Wen der Herr liebt, den züchtigt Er"; und:
„Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung: Gott handelt mit
*) Siehe Psalm 7Z.
274
euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den
der Vater nicht züchtigt?" (Vergl. Hebr. 72, 5—77.)
Oft bringen Kinder Gottes sich um den verheißenen
Segen, weil sie die Züchtigung nicht erdulden, d. h.
sich nicht durch sie üben lassen, weil sie nicht in stiller
Ergebung danach fragen, warum Gott so mit ihnen handelt.
Sein Beweggrund ist sicherlich nur Liebe; aber die
Liebe hat einen bestimmten Zweck im Auge, der Vater
züchtigt uns, wie es in Vers 70 heißt, „zum Nutzen, da
mit wir S e i n e r H e i l i g k e i t teilhaftig werden"
„Alle Züchtigung aber", dürfen wir dann weiter lesen,
„scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der
Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; hernach aber
gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen,
die durch sie geübt sind." — Beachte es, mein Leser,
nur ihnen!
Sammelt die Brocken!
Mit der Mahnung: „Sammelt die übriggeblicbenen Brocken,
auf daß nichts umkomme" (Joh. -, ir), gibt der Herr uns neben
anderem sicher auch ein Vorbild weiser Sparsamkeit. Wie mancher
Speise brocken wird weggeworsen, mit dem ein Hungriger gespeist
werden könnte! Wie viele Geld brocken — Pfennige, Fünfer, Zelmer,
verschwenden nur zur Befriedigung unserer Neugierde, Naschkaflig-
keit oder Genußsucht! Wie könnten wir mit diesen kleinen Münzen
so manches Gute stiften, wenn wir sie an der rechten Stelle verwendeten!
Viele wenige machen ein Viel, aus kleinen Bächlein
entsteht der Fluß Wie viele Zeit brocken auch — Minuten, Viertelstunden
vergeuden wir, die wir nützlich verwenden könnten! Wenn
wir nur einmal in einer Woche ausschreiben wollten, wieviel Zeit
wir verschwenden, ich glaube, wir würden erschrecken. Ist es n'cht
töricht, ja sündbaft, auch den kleinsten Bruchteil einer Gabe Gottes
zu verschwenden? Darum sammelt die Brocken, auf daß nichts
umkomme!
280
Einmal wird die Stunde kommen
Einmal wird die Stunde kommen.
Einmal, Pilger, glaub es fest! —
Wo du, dieser Welt entnommen,
Abgestreift der Mühsal Rest.
Was du dann im ewgen Glanze
Schaust in Christi Siegeskranze,
Ewig dich frohlocken läßt.
Einmal wird, o Dank dem Retter!
Jede Woge glätten sich.
Wenn dein Schifflein aus dem Wetter
Hin zum Hafen führet dich;
Wenn dich des Erlösers Gnade
Trägt zum himmlischen Gestade,
Und du ruh.st ewiglich.
Einmal wird die Sonne leuchten.
Nimmer dann umschleiert mehr;
Ernste Zeichen längst bezeugten
Jesu bald'ge Wiederkehr.
Seine Treuen lange harrten,
Dürfen bald Ihn, bald erwarten
Don des Himmels Höhen her.
Einmal wird, vielleicht noch heute —
Laß dir's Lebenshoffnung sein! —
Mitten aus dem Glaubensstreite
Jesus dort dich führen ein.
Bald schließt Gott die Gnadenpforte,
Zweifle nicht an Seinem Worte,
Bald vollendet sind die Reih'n!
(Eingesandt.)
Ser Rtchterstuhl und der Gläubige
Vielen Kindern Gottes ist der Gedanke an ein Erscheinen
vor dem Richterstuhl Gottes oder Christi ganz
unfaßlich. Sie meinen, ein solches Erscheinen sei mit der
Gnade, die ihnen widerfahren ist, unmöglich in Einklang
zu bringen und widerspreche unmittelbar dem Worte, daß
ein jeder, der dem Zeugnis Gottes über Seinen Sohn
glaubt, ewiges Leben hat und nicht ins Gericht
kommt. Sie übersehen dabei aber zunächst, daß die
Schrift hinsichtlich der Erlösten nicht von einem Gerichtet
werden, sondern nur von einem Offenbar werden
oder Rechenschaftgeben redet, und weiter, daß ein
solch völliges Offenbarwerden sowohl um Gottes als auch
um ihretwillen notwendig ist. Sie haben auch wohl noch
nicht verstanden, daß gerade zu dem Zweck, um uns (den
Gläubigen) Freimütigkeit zu geben am Tage des Gerichts,
„die Liebe hierin mit uns vollendet worden ist, daß, gleichwie
Er (Christus) ist, auch wir sind in dieser Welt".
Hätten sie die Vollkommenheit dieser Liebe erkannt, so
würden sie sich vor dem Richterstuhl nicht fürchten; denn
„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene
Liebe treibt die Furcht aus". (Vergl. 4. Ioh. 4, 47—4y.)
Dem Worte „Richterstuhl" in dem eben besprochenen
Sinne begegnen wir in der Schrift wohl nur zweimal,
in Röm. 44, 40 und in 2. Kor. 5, 40. In der ersten Stelle
lesen wir: „Denn wir werden alle vor den Richter-
I.XXVIII 11
282
ftuhl Gottes gestellt werden", um ein jeder für sich
selbst Rechenschaft zu geben; in der zweiten heißt es:
„Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des
Christus offenbar werden, auf daß ein jeder empfange,
was er in dem Leibe getan, nach dem er gehandelt hat,
es sei Gutes oder Böses". In der letzten Stelle wird also
neben der Tatsache selbst auch deren Notwendigkeit betont.
Alle Menschen werden, ja, müssen vor diesen Richterstuhl
gestellt werden, sei es um dort gerichtet oder um
offenbar zu werden. Wer in und mit seinen Sünden
dort erscheint, kann selbstverständlich nur ein furchtbares,
ewig gültiges Urteil erwarten; er ist ja schon gerichtet,
weil er nicht geglaubt hat an den Namen des Sohnes
Gottes. Wer aber dort steht, vollendet in Ihm, der am
Kreuze für ihn zur Sünde gemacht und gerichtet wurde,
wer also, wie der Apostel Johannes es ausdrückt, schon in
dieser Welt ist, gleichwie Er (Christus) ist, darf
dem Offenbarwerden mit Freimütigkeit entgegensetzen.
Für ihn ist jedes Gericht vorübergegangen; es hat an
seiner Statt seinen göttlichen Stellvertreter getroffen.
Der Gläubige ist in der gegenwärtigen Zeit schon „G o t t
offenbar geworden", und wie könnte dereinst Christus
solche richten, deren Gerechtigkeit Er ist, ja, die Ihm
gleich sind?
Ist es nicht bemerkenswert, daß die Schrift das
Wort „Gericht" sorgfältig vermeidet, wenn sie von Gläubigen
spricht, oder wenn diese in die Zahl der in Rede
Stehenden auch nur eingeschlossen werden können?
Zur Klärung der ganzen Frage sei auf folgende, dem
in der Wahrheit geförderten Leser wohlbekannte Tatsache
hingewiesen: einerseits steht der Gläubige heute schon
28Z
vor Gott in der Vollkommenheit des Werkes Christi, vollendet
in Ihm — Christus ist sein Leben, sein Friede, seine
Gerechtigkeit, sein Alles; „wie der Himmlische, so sind
auch die Himmlischen", und bald werden sie auch, was
ihren Leib betrifft, dem Bilde des Sohnes Gottes gleichförmig
gemacht werden. Anderseits befindet sich der
Christ, was seinen praktischen Zustand betrifft, noch in
dem Leibe der Schwachheit, in welchem die Sünde wohnt
und wirkt, und die Verwirklichung dessen, was er zu sein
bekennt, der Genuß der ihm geschenkten himmlischen
Dinge, die Verkündigung der Tugenden Dessen, der uns
in Sein wunderbares Licht berufen hat, alles das hängt
ab von dem Maße des Wachstums des inneren Menschen,
von der mehr oder weniger treuen Benutzung und Entwicklung
der geistlichen Gaben und Kräfte, die ihm geschenkt
sind. In dem ersten Sinne gibt es keinen Unterschied,
wir alle sind gerechtfertigt, geheiligt, sind Menschen
in Christo, sind zu Teilhabern an dem Erbe der Heiligen
in dem Lichte gemacht und werden, in Sein Bild
verwandelt, bald mit Ihm im Vaterhause droben weilen;
in dem zweiten aber gibt es zahlreiche und große
Unterschiede, und so betrachtet muß jeder für sich selbst
Rechenschaft geben, und ein jeder wird seinen eigenen
Lohn empfangen nach seiner eigenen Arbeit, wird empfangen,
nach dem er in dem Leibe getan hat, es sei Gutes
oder Böses. Das erste hängt von dem ab, was Christus
für uns getan hat und ist, das zweite von dem Maße,
in welchem es dem Heiligen Geiste gelingt, in uns das
Bild Christi hervorzubringen und die Tätigkeiten der neuen
Natur in uns anzuregen und zu fördern. Obwohl also
bestehen bleibt, daß einerseits alles Gnadeist, ge
284
gründet auf das Werk Christi, wird doch anderseits auch
ein jeder empfangen, nach dem er in dem Leibe gehandelt
hat; der eine wird mehr, der andere weniger empfangen.
Wir wiesen weiter oben darauf hin, daß der Richterstuhl
eine Notwendigkeit sei, sowohl für Gott als auch
für den Menschen. Esmuß einmal eine Stunde kommen,
in welcher alles Verborgene ans Licht kommt, alles Geheime
kund wird und die verborgensten Ratschlüsse der
Herzen offenbar werden. (Luk. 8, 47; Röm. 2, 46;
4. Kor. 4, 5; vergl. Pred. 42, 44.) Eine Stunde, in
welcher die Gerechtigkeit Gottes sich erweist, sei es im
Gericht der Ungläubigen, sei es in der Errettung der Gläubigen;
wo die einen, überführt von allen ihren Gottlosigkeiten,
die Rechtmäßigkeit des Urteilsspruchs Gottes,
wenn auch zähneknirschend, anerkennen müssen, und die
anderen, ins volle Licht der Heiligkeit Gottes gebracht,
zum erstenmal ohne jedes Hindernis und jede Störung
die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne
genießen werden, die ihnen hienieden schon so köstlich
war, aber durch Ursachen, die in oder außer ihnen lagen,
oft gestört wurde. Wo ist ein treuer, aufrichtiger Christ,
der nicht von Herzen begehrte, daß alles, was den
Genuß dieser seligen Gemeinschaft beeinträchtigen kann,
von ihm erkannt und restlos vor Gott gerichtet werde?
Weiß er doch aus Erfahrung, daß diese Gemeinschaft,
so süß und kostbar sie ist, durch einen unreinen Gedanken,
durch e i n unnützes Wort unterbrochen wird.
Gott sei gepriesen! in jener Stunde werden wir
keine Spur mehr von der Natur an uns tragen, in welcher
wir jetzt sündigen und die uns so viel zu schaffen
285
macht; aber gerade deshalb können wir auch, wenn anders
unser Herz aufrichtig vor Gott ist,
ohne jede Unruhe daran denken, daß wir dann von allem,
was wir in diesem Leibe getan haben, Rechenschaft ablegen
sollen. Haben wir verstanden, daß wir nicht mehr
im Fleische, sondern in Christo sind, liegt ferner nichts
Verborgenes, nichts Verstecktes, Geheimgehaltenes zwischen
unö und Gott, ist alles bloß und aufgedeckt vor
Ihm, so denken wir mit voller Freimütigkeit an dieses
Offenbarwerden im Lichte des Richterstuhls; ja, mehr als
daö: wir verlangen danach, weil es uns, so ernst
eö einerseits ist, den vollen, nie so gekannten Genuß
der Gemeinschaft mit Gott bringen wird. Das was wir
hienieden nur in Unvollkommenheit und mit manchen,
wenn auch vielleicht nur kurzen Unterbrechungen genießen
konnten, wird dann für ewig unser ungetrübtes, durch
nichts gestörtes Teil sein. Geht es deshalb zu weit,
wenn wir sagen: Kann ein Gläubiger nicht mit Ruhe an
den Richterstuhl denken, so fehlt es ihm entweder an
dem wahren, geistlichen Verständnis, oder es ist etwas
zwischen der Seele und Gott nicht in Ordnung, oder
es liegt an beidem zugleich? Wenn jemand das vornehmste
Kleid geschenkt ist, braucht er sich nicht zu
schämen, von den Lumpen zu reden, in denen er einst umherging;
und wenn in einer Seele bereits alles vor
Gott bloßliegt, braucht sie nicht mit Sorge daran zu denken,
daß das einmal so kommen soll. Wer gewohnheitsmäßig
vor Gott offenbar ist, liebt das Licht und wandelt
im Licht. „Jeder, der Arges tut, haßtdas Licht . . .,
wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Lichte."
(Joh. 3, 20. 2U) Welche Gegensätze! Während der eine
286
die Bloßstellung seiner Werke fürchtet, sucht der
andere daö Offenbarwerden derselben.
Gott schenke Schreiber und Leser dieser Zeilen den
wachsenden Genuß eines solchen Wandels in dem strahlenden
Licht Seines Angesichts! Wieviel mehr Glück und
Segen würde es uns heute bringen, und welch einen Ertrag
würden wir für die Ewigkeit haben!
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über den
Richterstuhl laßt uns noch einiger Einzelheiten gedenken.
Was die beiden Ausdrücke Richterstuhl Gottes und
Richterstuhl Christi betrifft, so ist der Unterschied wohl
nicht groß, denn Christus ist der wahrhaftige Gott; dennoch
ist im Worte Gottes nichts von ungefähr, nichts unwichtig,
auch nicht dieser Wechsel im Ausdruck. Wir sehen
denn auch, daß in Röm. 44 es sich mehr um das Verhalten
der Menschen in ihren Beziehungen zueinander handelt,
um das Verachten der Schwachen seitens der Starken
und um das Richten der Starken durch die Schwachen.
Es ist gewissermaßen ein Gericht des einzelnen —
„ein jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft
geben". In 2. Kor. 5 dagegen ist mehr von guten und
bösen Handlungen im allgemeinen die Rede; die Erinnerung
an daö Flammenauge des Richters soll uns alle
zu eifrigem Gutestun anreizen.
Aus dem Wortlaut der letztgenannten Stelle geht
auch deutlich hervor, daß zunächst die Handlungen
dem Offenbarwerden unterliegen; aber alle unsere äußeren
Handlungen sind so innig und unmittelbar mit unserem
Innenleben verbunden, hangen so sehr von demselben
ab, daß es schwer, ja, kaum möglich ist, beide zu tren
287
nen. Darum hören wir auch wohl, daß der Herr an jenem
Tage „das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen
und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird". Es
wird also nicht nur all unser Tun von Beginn bis zum
Ende unseres Lebens vor unsere Augen treten, sondern
auch die Beweggründe, die uns geleitet, dieIiele,
die wir, uns selbst vielleicht nicht klar bewußt, verfolgt
haben, werden uns in einem Lichte enthüllt werden wie
nie zuvor. Indes wird das nicht geschehen, um uns zu
verurteilen, sondern um uns neben unserer eigenen
Unzulänglichkeit die ganze Größe und den wunderbaren
Reichtum der Gnade zu zeigen, die sich mit uns vor und
nach unserer Bekehrung beschäftigt hat. Für solche, die
in dem Ratschluß Gottes vor Grundlegung der Welt auserwählt
waren und in der Zeit berufen und gerechtfertigt
wurden, wird das Offenbarwerden ihres Lebens, ihrer
ganzen Geschichte mit allen ihren Einzelheiten, gleichlaufend
mit der Geschichte der Gnade und des Erbarmens
Gottes in Verbindung mit ihnen, von überwältigender
Wirkung sein. Neben dem sicherlich oft tief beschämenden
„Wie" und „Warum" all unseres Tuns werden wir
das unbegreiflich gnädige Tun Gottes mit uns, Sein
Leiten, Bewahren, Iurechtbringen, Vergeben, Wiedergutmachen
usw. usw. in einem Licht erblicken, wie es in der
Unvollkommenheit unseres Erdenwallens nie möglich war.
Noch einmal sei gesagt, daß das Offenbarwerden vor
dem Richterstuhl, so furchtbar und vernichtend es für den
Ungläubigen sein wird, für den Gläubigen nicht so sehr
einen richterlichen als vielmehr einen aufklärenden
Charakter trägt. Wir sind dort nicht als Menschen
„im Fleische"; als solche sind wir ja mit Christo gestorben,
288
vor Gotteö Augen hinweggetan. Wohl aber wird in untrüglichem
Lichte von uns gesehen werden, wo und wie
wir hienieden „nach dem Fleische" gewandelt haben. Wir
werden sehen, um wieviel Segen wir uns durch unsere
Untreue gebracht, wieviele Verluste wir uns durch sie
zugezogen haben. Mit diesem ernsten Gedanken, der uns
heute antreiben sollte, „uns zu be eifern, Ihm wohlgefällig
zu sein", verbindet sich aber unmittelbar der
andere, bereits angedeutete, daß wir auch alle die Wege
der Weisheit, der Treue, der Gnade und des Erbarmens
Gottes mit uns zum erstenmal sehen und verstehen werden,
wie sie wirklich waren. Wir werden dann, ähnlich
wie Mose auf dem Berge, Gott „von hinten sehen". Alle
die ernsten Führungen Gottes, die Wege Seiner heiligenden
Erziehung, die uns heute oft so seltsam und unerklärlich
erscheinen, werden nicht mehr rätselhaft vor uns liegen.
Mit staunender Bewunderung werden wir sie betrachten,
und nur Gefühle der tiefsten Anbetung werden unsere
Herzen erfüllen und zum vollkommenen Ausdruck
kommen. Unwillkürlich fühlen wir, daß wir heute ganz
außerstande sind, die Seligkeit jener Stunde auch nur zu
ahnen, geschweige denn in Worte zu kleiden.
Dabei wollen wir aber die ernste Seite unseres Gegenstandes
keineswegs aus dem Auge verlieren. Abgesehen
von den Schrecken, welche der Richterstuhl für alle Nichterlösten
in sich birgt, die uns antreiben, „die Menschen
zu überreden", sich versöhnen zu lassen mit Gott, hat er
etwas überaus Feierliches für die Gläubigen. Wir wiesen
schon darauf hin. Der Rückblick auf unser ganzes vergangenes
Leben, der uns einerseits die Gnade Gottes in
nie gekannter Herrlichkeit schauen läßt, bringt uns auch
28g
all die Verfehlungen, all die verlorenen Stunden und
Tage in Erinnerung, die nie wieder gutgemacht, nie wieder
eingebracht werden können. Natürliche Eigenschaften
und Neigungen, die wir heute nicht für so ernst und unheilvoll
halten, wie sie es wirklich sind, und um derentwillen
wir vielleicht manchen uns unverständlichen Führungen
unterworfen sind, werden dann völlig von unö
erkannt werden. Und wenn auch die gleichzeitige Erkenntnis
der unwandelbaren Gnade Gottes in allen ihren Einzelheiten
uns mit einer Dankbarkeit und Freude erfüllen
mag, die das Gefühl der Beschämung kaum aufkommen
läßt, werden wir doch die Verderbtheit unseres Fleisches
in einer Tiefe sehen, wie es heute nicht möglich ist, und
damit auch den ganzen Ernst und die Größe des Verlustes,
den wir uns durch unsere Sorglosigkeit und Nachlässigkeit
zugezogen haben. Ach! wieviel mehr „Gutes" hätte unser
Leben aufweisen können, wenn wir nüchterner und wachsamer
gewesen wären!
Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, daß
vor dem Richterstuhl in demselben Maße, wie unser Blick
hinsichtlich der Häßlichkeit der Sünde und der Verderbtheit
des Fleisches vor Gottes heiligem Auge geschärft ist,
auch unser Verständnis des Werkes Christi und der Kostbarkeit
Seines Blutes gewachsen sein wird. Wie rein
uns dieses Blut von allen, allen unseren Sünden, die
uns gerechterweise für ewig von Gott hätten trennen
müssen, gewaschen hat, das werden wir in seiner ganzen
Vollkommenheit erst in dem Lichte des Richterstuhls erkennen,
auf welchem Der sitzt, der das große Werk vollbracht
und uns tadellos vor Gottes Angesicht hingestellt
hat, und in dessen Bild wir dann verwandelt sind.
290
Und wie kostbar ist es, daß jeder einzelne von uns
seine Geschichte dort sehen wird. Er wird sehen, wie
ost er — nicht so sehr wie der andere — der Versuchung
zu erliegen drohte, und wie er bewahrt wurde; wie sein
Fuß ausglitt, aber wie die Gnade ihn wieder ausrichtete,
wie Gottes Arm ins Mittel trat, um ihn vor Sünde und
Schande zu bewahren. Wir lesen im 19. Kapitel der
Offenbarung: „Die Hochzeit des Lammes ist gekommen,
und sein Weib hat sich bereitet". Dürfen wir
dabei nicht gerade an dieses Offenbarwerden vor dem
Richterstuhl Christi denken? Wie anders könnte die Braut
sich für ihren Geliebten bereiten? Das herrliche Kleid,
das sie zuSeiner Freude an ihrem Ehrentage trägt, „die
Gerechtigkeiten der Heiligen", wird ihr gleichsam als Ergebnis
dieser Bereitung gegeben.
Es könnte wohl noch manches andere in Verbindung
mit dem Richterstuhl gesagt werden. So haben wir z. B.
die so ernste und interessante Frage des Lohnes, der
jedem einzelnen nach seiner Treue und seiner Arbeit zuteil
werden wird, kaum berührt. O was wird es sein, von
Ihm zu hören: „Wohl du guter und treuer Knecht! über
weniges warst du treu, über vieles werde ich dich
setzen", und zu sehen, mit welcher Sorgfalt Seine Liebe
das Kleinste und Geringste beachtet hat und hervorholt,
worin unsere Liebe zu Ihm oder den Seinigen sich hienieden
kundgetan hat! Mit welchen Gefühlen wird jeder
Überwinder „den weißen Stein" entgegennehmen, auf
welchem ein neuer Name geschrieben steht, den niemand
kennt, als wer ihn empfängt! (Offbg. 2, 17.) Mit welch
neidloser Freude werden wir die Krone betrachten, mit
dem der Bruder oder die Schwester geschmückt sein wird!
2Y1
Von besonders heiligem Ernst, aber auch kostbarer
Bedeutung ist der Gedanke an den Richterstuhl für die
Arbeiter im Werke des Herrn, seien sie Evangelisten, Hirten
oder Lehrer. Sie alle sind in ihrem Maße Gottes Mitarbeiter
in Seinem Weinberg oder an Seinem Hause.
Der eine pflanzt, der andere begießt, „ein jeder aber wird
seinen eigenen Lohn empfangen nach seiner eigenen Arbeit".
Der Apostel Paulus hat als ein weiser Baumeister
den Grund des Hauses gelegt, „welcher ist Jesus Christus",
und ein jeder muß nun zusehen, wie er darauf
weiterbaut. Das Werk eines jeden wird offenbar werden,
vielleicht schon in dieser Zeit, jedenfalls aber an dem Tage,
der in Feuer geoffenbart werden wird. Wenn das Werk
jemandes bleiben wird, so wird er Lohn empfangen; wird
es verbrennen, so wird er Schaden leiden, mag er selbst
auch gerettet werden. (Vergl. 1. Kor. Z, 6—1.5.)
Paulus vereinigte in seiner Person mit dem weisen
Baumeister und unermüdlichen Evangelisten auch den
guten Hirten und treuen Lehrer. Wie er, von der Liebe
Christi gedrängt, sich völlig aufopferte in dem Dienst der
Heiligen, ist uns bekannt. Darum konnte er auch mit
solch inniger Freude und seliger Erwartung an den Richterstuhl
denken, wo der Ertrag seiner Arbeit gesehen werden
würde. Wiederholt spricht er davon, daß die Gläubigen
seinRuhmsein würden an dem Tage Jesu Christi.
(2. Kor. 1, 14; Phil. 2, 16; 4, 1.) Den Thessalonichern
schreibt er: „Wer ist unsere Hoffnung oder Freude
oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem
Herrn Jesus bei Seiner Ankunft?" (1. Thess. 2.)
Der Apostel Johannes spricht im Blick auf seine Kinder
im Glauben auch von Freimütigkeit bei der
292
Ankunft des Herrn und von einem vollen Lohn, den
er dann zu empfangen hoffe. (st. Joh. 2, 28; 2. Joh. 8.)
Fürwahr, der Lohn dieser treuen Männer wird
groß sein. Wir werden es sehen und uns freuen. Und
wenn wir auch nicht, wie die Apostel, auöerwählte Rüstzeuge
des Herrn sind, bleiben die göttlichen Grundsätze
doch stets dieselben, und wer in der Zeit der kleinen Kraft
das Wort des Herrn bewahrt und Seinen Namen nicht
verleugnet, wird seinen Lohn nicht verlieren. Gerade zu
solchen wird in dem Sendschreiben an Philadelphia gesagt:
„Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine
Krone nehme!" (Offbg. Z, bb.)
Wenn wir an alle diese Dinge denken, so wird unwillkürlich
die Frage in uns wach: Warum benutzen wir
nicht treuer die gegenwärtige Zeit, die fliehenden Stunden,
die nie wiederkehren? Warum sind wir nicht ernst
e r in der Verleugnung unseres alten Ichs, in der Verwirklichung
unseres Gestorbenseins mit Christo? O möchten
wir alle mehr als bisher in dem Lichte des
Richterstuhlö wandeln, es auf unser ganzes Sinnen und
Handeln fallen lassen, damit auch bei uns die beiden gesegneten
Folgen sich zeigen, die der Apostel mit den Worten
beschreibt: „Wir überreden die Menschen, Gott aber
sind wir offenbar geworden", und weiter: „ich hoffe
aber auch, in euren Gewissen offenbar geworden zu sein"
(2. Kor. 5, bb.) So würden wir uns den Gewissen der
Menschen empfehlen und unseren Mitgläubigen nicht zur
Betrübnis oder gar zur Beschämung Anlaß geben, wie
es leider oft geschehen ist, sondern vielmehr zur Freude
und „zum Ruhme unserthalben". (V. 12.)
2YZ
Der Herr spricht: „Siehe, ich komme bald, und mein
Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk
sein wird". (Offbg. 22, 1.2.) Wer das Wesen des Richterstuhls
kennt und in seinem Licht wandelt, antwortet auch
auf dieses ernste Wort: „Amen, komm, Herr Jesus!"
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel iq
Das Vorhandensein so vieler Gläubiger aus den Juden
in der Versammlung zu Rom gab, wie wir schon
früher sahen, Anlaß zu mancherlei Schwierigkeiten. Es
ist ja verständlich, daß der Gegensatz zwischen den jüdischen
und heidnischen Elementen leicht zu Reibungen
führte. Die aus dem Judentum Gekommenen, von Jugend
auf an die strenge, zeremonielle Beobachtung von
Tagen, Enthaltung von Speisen und dergleichen gewöhnt,
konnten nur schwer von diesen Dingen loskommen; für
die Christen aus den Heiden bestand diese Schwierigkeit
nicht. Es gab anscheinend viele in Rom, die sich in ihrem
Gewissen noch gebunden fühlten, die eine oder andere
mosaische Verordnung zu beobachten, während andere, die
in Christo des Gesetzes Ende erkannt und in Seinem Tode
Befreiung von aller gesetzlichen Knechtschaft gefunden hatten,
in der Freiheit wandelten, für die Christus sie freigemacht
hatte. Der Apostel nennt die einen „Schwache",
die anderen „Starke".
Wir dürfen uns unter den „Schwachen" also keineswegs
Gläubige vorstellen, die zu Nachlässigkeit oder gar
Untreue im Wandel neigten; sie waren viel eher von
294
einer übertriebenen Gewissenhaftigkeit und bemühten sich
ängstlich, durch die Beobachtung der alten jüdischen Satzungen
Gott wohlzugefallen und so Ruhe zu finden für
ihre Seelen. In dem Bewußtsein, daß „das Alte" von
Gott angeordnet war, waren sie schwach im Ergreifen
der neuen Stellung des Gläubigen in Christo, dem Auferstandenen.
Die dem Heidentum entronnenen Gläubigen
hatten das ganze götzendienerische System, von dem sie
befreit worden waren, als ein böses Werk des Feindes
erkannt, und darum war die Gefahr, an einzelnen heidnischen
Gebräuchen sestzuhalten, für sie nicht groß.
Wie sollten nun solche „Schwache im Glauben" behandelt
werden? Sollte man jene äußerlichen Dinge zu
einem Gegenstand des Disputierens machen, oder gar die
Schwachen geringschätzen und zurückweisen? Nein; die
menschliche Natur ist zwar heute wie damals geneigt, das
eine oder das andere zu tun, aber die Liebe handelt nicht
so. Wir sagen „heute wie damals", denn die Gefahr, die
dem christlichen Zeugnis in jenen ersten Tagen drohte,
besteht zu allen Zeiten. Auch heute noch kann man dem:
„Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!" häufig genug
in der einen oder anderen Form begegnen; viele Gläubige
tun, als „lebten sie noch in der Welt" und wären noch
allerlei Satzungen und Verordnungen unterworfen. Die
wahre „Freiheit", die den Gläubigen in den Stand setzt,
das zu suchen und auf das zu sinnen, „was droben ist",
ist für viele eine unbekannte Sache.
Mit den Worten: „Den Schwachen im Glauben aber
nehmet auf, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter
Fragen", beginnt der Apostel seine Belehrung. Er benimmt
dadurch der nicht leicht zu behandelnden Frage
2S5
von vornherein den scharfen Stachel. „Nehmet auf",
nicht: „Weiset zurecht, verurteilet". Die Liebe hat immer
ihre besondere Art, die Dinge anzufassen. Indem sie in
Gnade handelt und alles zu ertragen vermag, weist sie
nicht kühl zurecht, sondern spricht: „Deshalb nehmet einander
auf, gleichwie auch der Christus euch ausgenommen
hat, zu Gottes Herrlichkeit". (Kap. t5, 7.) Christus
ist ihr Vorbild, Sein Tun ihr Muster.
Freilich zur Entscheidung zweifelhafter Fragen, in
Fällen, wo die Schrift keine bestimmte Anweisung gibt,
sondern die Beantwortung dem geistlichen Verständnis
des einzelnen überläßt, sollte der Schwache nicht herangezogen
werden. Dazu war er nicht geschickt. „Einer
glaubt, er dürfe alles essen, der Schwache aber ißt Gemüse."
(V. 2.) Der Schwache bewies die Schwachheit
seines Glaubens darin, daß er sich ein Gewissen daraus
machte, Fleisch zu essen. Indem er nicht in dem Licht und
der Kraft der neuen Schöpfung lebte, fiel es ihm schwer,
„die Elemente der Welt" als hinfällig und kraftlos zu
erkennen.
Aus dieser Sachlage ergaben sich zwei Gefahren für
die Gläubigen in Rom. Die einen, die Starken, die da
glaubten, alles essen zu dürfen, konnten leicht dahin kommen,
geringschätzend oder gar verächtlich auf ihre schwächeren
Brüder herabzuschauen; die anderen waren in Gefahr,
ihre Brüder zu richten, weil diese etwas taten, was
ihr Gewissen ihnen verbot, wovon sie freilich ein stärkerer
Glaube befreit haben würde. Nun, „wer ißt, verachte
den nicht, der nicht ißt; und wer nicht ißt, richte den
nicht, der ißt; denn Gott hat ihn ausgenommen". (V. Z.)
Damit stellt der Apostel die ganze Frage auf einen Boden,
2S6
der für den einen wie für den anderen bindend und verpflichtend
war. Ob ein Gläubiger aus Israel oder aus den
Heiden, ob ein Schwacher oder ein Starker — Gott
hatte ihn aufgenommen. Ohne Iweifel dachte der, welcher
glaubte, alles essen zu dürfen, richtiger als sein Bruder,
der aus Gewissensbedenken nur Gemüse aß. Aber so begehrenswert
und gut Erkenntnis ist, Liebe, wahre Liebe
ist besser. Sie bewahrt den Starken vor dem Verachten des
schwächeren Bruders, und den Schwachen vor dem Nichten
des stärkeren.
In der weiteren Verfolgung des letzten Gedankens
sagt der Apostel: „Wer bist du, der du den Hausknecht
eines anderen richtest? Er steht oder fällt seinem eigenen
Herrn. Er wird aber aufrecht gehalten werden, denn der
Herr vermag ihn aufrecht zu halten." (V. 4.) Wer gibt
dir das Recht, den Hausknecht eines anderen zu richten?
Ist er dir, oder jst er seinem Herrn verantwortlich? Steht
oder fällt er dir, oder ihm? Wird nicht sein Herr, dem
er zu dienen begehrt, ihn aufrecht halten? Wahrlich, Er
vermag es, wenngleich wir in unserer Torheit vielleicht
anders denken möchten. Allerdings müssen wir uns immer
wieder ins Gedächtnis rufen, daß in unserem Kapitel
von Gewissensfragen die Rede ist, die der eine so,
der andere so entscheidet, nicht etwa von bösen Handlungen.
Sünde soll ich niemals auf meinem Bruder
dulden, aber um Sünde handelt es sich hier nicht. Und
wenn wir ermahnt werden, selbst dann einander in Liebe
zu ertragen und einander zu vergeben, wenn einer Klage
hat wider den anderen (Kol. Z, tz), wieviel mehr sollten
wir dann bei solchen Gewissensfragen zur Duldsamkeit
bereit sein!
297
Der Apostel erklärt die Sache denn auch folgendermaßen:
Der eine, der einen Tag höher hält als den anderen,
tut das um des Herrn willen — „er achtet ihn dem
Herr n", und der andere hält aus dem gleichen Grunde
jeden Tag gleich. Ferner: Der Essende ißtdemHerrn,
indem er Gott für die Speise, die er genießt, dankt, und
der Nichtessende „ißt dem Herrn nicht", und auch er
„danksagt Gott". Wer darf nun den einen oder anderen
für das, was er tut oder nicht tut, verachten oder richten?
Wünschen nicht beide dem Herrn zu dienen und zu gefallen,
wenn auch, nach dem Maße ihres geistlichen Verständnisses,
in verschiedener Weise? Und sind sie nicht
Ihm allein verantwortlich? Weiter, woher hat der Starke,
wenn er wirklich so genannt werden kann, seine Stärke?
Muß die Gnade ihn nicht genau so gut aufrecht halten
wie den Schwachen? Nur eines darf dabei nicht übersehen
werden: „Ein jeder aber sei in seinem eigenen Sinne völlig
überzeugt!" (V. 5. 6.) Nur so kann er mit
glücklichem Herzen seinen Weg gehen. Aber wieviel Unverstand
mag der Herr wohl auch heute noch in dieser
Beziehung bei den Seinigen zu ertragen haben!
Eö ist bei dieser Gelegenheit wohl kaum nötig zu
bemerken, daß „der erste Tag der Woche" nicht zu den
Tagen gehört, die man halten oder nicht halten kann.
Er wird in Offenbg. 1, 70 ausdrücklich „des Herrn
Tag" genannt, ein Tag, der in besonderer Weise Ihm
gehört. Er ist geweiht durch die Auferstehung unseres
Herrn und Heilandes in der Frühe dieses Tages und durch
Sein Erscheinen am Abend in der Mitte Seiner versammelten
Jünger. (Joh. 20; vergl. auch Apstgsch. 20, 7;
7. Kor. 76, 2.) Für den Christen, der sich mit Christo
298
gestorben und auferweckt weiß, gibt es keinen Tag, der
mit dem Auferstehungstage seines Herrn verglichen werden
könnte. Er liebt und ehrt ihn, nicht auf Grund eines
gesetzlichen Gebots, sondern weil er das liebliche, charakteristische
Kennzeichen des gegenwärtigen Zeitalters der
Gnade ist, der Tag, an welchem er sich mit seinen Mitgläubigen
dankbar versammelt, um seines abwesenden
Herrn zu gedenken und Seinen Tod zu verkündigen.
Kehren wir nach dieser kurzen Abschweifung zu unserem
Gegenstand zurück. Wir haben uns also davor zu
hüten, zu verachten oder zu richten. „Denn keiner von
uns lebt sich selbst, und keiner stirbt sich selbst." (V. 7.)
Diese Tatsache, die in einem Sinne von allen Menschen
wahr ist, wird hier vornehmlich auf die Gläubigen angewandt.
„Denn sei es, daß wir leben, wir leben dem
Herrn; sei es, daß wir sterben, wir sterben dem Herrn.
Sei es nun daß wir leben, sei es daß wir sterben, wir
sind des Herrn." (V. 8.) Kostbare Tatsache! Wir gehören
nicht uns selbst an, weder im Leben noch im Sterben, wir
sind unseres Herrn. Keiner von uns lebt, keiner stirbt sich
selbst. Der Apostel gründet diese Tatsache auf den Tod
und die Auferstehung Christi. Dadurch hat Er als Mensch
Seine Anrechte an uns, ja, Seinen Anspruch, über Lebendige
und Tote zu herrschen, erworben. „Hierzu ist
Christus gestorben und wieder lebendig geworden." (V. 9.)
In Ihm, dem Todesüberwinder, sind wir für ewig geborgen.
Er ist unser Herr, dem wir alles verdanken, der
uns teuer erworben hat, und dem wir als Knechte und
Mägde Rechenschaft über unser Tun und Lassen schuldig
sind, in dessen Rechte wir uns aber auch nicht ungestraft
einmischen dürfen.
29Y
Darum: „Du aber, was richtest du deinen Bruder?
Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder?" Ihr
beide, ob schwach oder stark, bekennt, diesem hohen, gewaltigen
Herrn, der über Lebendige und Tote zu herrschen
berufen ist, nach Leib und Seele anzugehören, und ihr
wollt einander richten oder verachten? Wie töricht und
ungeziemend ist euer Tun! Wißt ihr nicht, daß wir alle
einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen werden?
(V. 10.) „Denn es steht geschrieben: „So wahr ich lebe,
spricht der Herr, mir soll sich jedes Knie beugen, und
jede Junge soll Gott bekennen". Also wird nun ein jeder
von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben." (Vers
11. 12.) Wenn aber jedes Knie (von Gläubigen und
Ungläubigen) sich vor Gott beugen und ein jeder von uns
für sich selbst Gott Rechenschaft geben muß, was
haben wir dann jetzt mit dem Richten anderer zu tun?
Heißt das nicht tatsächlich in Gottes Rechte eingreifen?
Darum: „Laßt uns nicht mehr einander richten!" (V. 13.)
Ehe wir weitergehen, möchte ich noch einen Augenblick
bei dem Richterstuhl verweilen. *) Wir finden das
Wort hier und in 2. Kor. 5, 10, hier in Verbindung mit
Gott, dort mit Christo. An keiner der beiden Stellen wird
aber gesagt, daß der Gläubige vor diesem Richterstuhl
gerichtet werden müsse. Es würde ja seine ewige Verdammnis
bedeuten. Das gerechte Gericht Gottes ist in
Christo am Kreuze an ihm vollzogen worden, Gericht
kann ihn deshalb nie mehr treffen. Aber er muß offenbar
werden, sein ganzes Leben, das Gute und das Böse,
wird in dem untrüglichen Licht dieses Richterstuhls ge-
*) Siehe Näheres darüber in dem ersten Aufsatz unserer heutigen
Nummer.
— Zoo —
sehen werden, und er wird jenachdem Anerkennung und
Lohn empfangen, oder Schaden leiden. Wir alle sind ja
Menschen, die dem Gott, vor dem einmal jedes Knie
sich beugen wird, Rechenschaft schuldig sind, Knechte und
Mägde, die im Blick auf ihren Dienst und die Verwaltung
des ihnen Anvertrauten sich dereinst vor ihrem Herrn zu
verantworten haben.
Wenn das Bewußtsein, daß ein jeder von uns einmal
Rechenschaft ablegen muß, in unseren Herzen lebt, werden
wir uns nicht nur vor allem „Richten" hüten, sondern
der Wunsch, dem Herrn zu gefallen, der uns und
unsere Brüder alle mit der gleichen Liebe liebt, wird uns
auch antreiben, alles zu vermeiden, was dem Bruder
einen Anstoß oder ein Ärgernis geben könnte. Nach den
Worten des Apostels ist vielmehr das Richten des eigenen
Tuns am Platze. Er war für sich selbst ja völlig, „in dem
Herrn Jesus", überzeugt, daß „nichts an sich selbst gemein
ist, sondern nur dem, der es für gemein achtet".
(V. 14.) Er kannte die Gedanken des Herrn in dieser Beziehung
und war über alle auf Speise und Trank usw.
bezüglichen Fragen erhaben. Aber indem „sein Herz durch
Gnade befestigt war" (Hebr. 13 ,y), leitete ihn die Liebe
Christi, die Freiheit, die er in Ihm besaß, in keiner Weise
zu einem Anlaß für das Fleisch zu benutzen. Lieber wollte
er für immer kein Fleisch mehr essen, als seinem Bruder
ein Ärgernis geben. (1. Kor. 8, 13.)
„Denn wenn dein Bruder wegen einer Speise betrübt
wird, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe. Verdirb
nicht mit deiner Speise den, für welchen Christus gestorben
ist." (V. 15.) Wenn ich selbst auch „stark" bin
und weiß, daß nichts an sich selbst gemein ist, soll ich doch
— 3or —
das Gewissen meines Bruders achten und ihn nicht wegen
einer Speise betrüben. Die Liebe soll, wie weiter oben
schon gesagt, mein Verhalten bestimmen. Handle ich anders,
so setze ich mich in Gegensatz zu der Gesinnung und
Handlungsweise Christi und verderbe, soweit es an mir
liegt, meinen Bruder, für welchen Christus gestorben ist.
E r hat für den Schwachen Sein Leben gelassen, und i ch
kann mich nicht einmal um seinetwillen einer Speise enthalten,
sondern veranlasse ihn vielleicht durch mein Verhalten,
etwas zu tun, was sein Gewissen ihm verbietet,
d. h. also ich verleite ihn, zu sündigen, und bringe ihn
damit auf einen Weg, der im Verderben enden würde,
wenn nicht Gottes Gnade ins Mittel träte. Ähnlich sagt
Paulus in 1. Kor. 8, 11: „Durch deine Erkenntnis
kommt der Schwache um". Mein Verhalten führt
dahin, das Werk Christi, soweit es auf mich ankommt,
wirkungslos zu machen.
„Laßt nun euer Gut nicht verlästert werden!"
(V. 16.) Die Freiheit, in welcher wir als Christen stehen,
ist ein kostbares Gut; aber laßt uns wohl zusehen, daß
unser Tun nicht den üblen Leumund eines fleischlichen
Ungebundenseins auf uns bringe! Hüten wir uns auch
davor, unseren Geschwistern etwas aufdrängen zu wollen,
was wir selbst als durchaus erlaubt betrachten, während
es ihnen, vielleicht nur aus Mangel an Belehrung, Bedenken
macht. Statt zu der so nötigen Erbauung führt
ein solches Verhalten zur Zerstörung, so geringfügig die
in Rede stehenden Dinge, Essen und Trinken, uns an und
für sich auch erscheinen mögen. „Denn das Reich Gottes
ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und
Friede und Freude im Heiligen Geiste." (V. 1,7.)
302
Der Leser wird verstehen, daß der Ausdruck „Reich
Gottes" hier nicht die Bedeutung eines Abschnittes in den
verschiedenen Haushalten oder Verwaltungen Gottes hat,
sondern in sittlichem oder geistlichem Sinne zu verstehen
ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, hat das Reich
Gottes nichts zu tun mit den vergänglichen Dingen dieses
Lebens, sondern umfaßt die geistlichen Güter, die dem
Christen geschenkt sind: „Gerechtigkeit und Friede und
Freude im Heiligen Geiste", das was er innerlich genießt,
was ihn im Geiste wandeln läßt und ihn davor bewahrt,
irgendwie dem Fleische zu folgen. „Denn wer in diesem
dem Christus dient, ist Gott wohlgefällig und den Menschen
bewährt." (V. 1.8.) In diesem wie in allem anderen
sind wir berufen, Christo zu dienen, und wer das in
Treue und Einfalt tut, darf auf das Wohlgefallen Gottes
rechnen und wird ein Zeugnis und ein Segen sein für
seine Mitmenschen.
„Also laßt uns nun dem nachstreben, was des Friedens
ist und dem, was zur gegenseitigen Erbauung dient."
(V. 19.) Gott ist „der Gott des Friedens", und der Herr
wird „der Herr des Friedens" genannt, der uns den Frieden
zu geben vermag immerdar auf alle Weise. (2. Thess.
Z, 16.) Sollten wir nun nicht auch dem nachstreben, was
des Friedens ist, und der Liebe, die nicht zerstört, sondern
erbaut? Sollten wir nicht einander zu dienen und aufzuerbauen
suchen? Erkenntnis ohne Liebe bläht auf und
bringt in Gefahr, „einer Speise wegen das Werk Gottes
zu zerstören". Wie ernst ist der Gedanke!
Es ist freilich wahr, alles ist rein für den, der ohne
Anstoß ißt. (V. 20.) Aber soll ich meinen schwachen Bruder
durch meine Freiheit in Gefahr bringen, „m i t Anstoß
303
zu essen"? Nein, die Liebe sagt: „Es ist gut, kein Fleisch
zu essen, noch Wein zu trinken, noch etwas zu tun,
worin dein Bruder sich stößt oder sich ärgert oder schwach
ist". (V. 2t.) Es mag mancherlei, vielleicht selbst törichte
Anlässe für den Schwachen geben, sich zu stoßen oder zu
ärgern, aber die Liebe behandelt ihn deshalb nicht geringschätzig,
sondern sucht in Treue und Selbstverleugnung
sein Wohl.,
Der 22. Vers enthält eine für alle Zeiten wichtige
Richtschnur für den Starken. Wir sagten schon, „stark im
Glauben" zu sein ist besser, als „schwach im Glauben",
in wahrer christlicher Freiheit zu wandeln besser, als unter
einem gesetzlichen Joch zu stehen. Aber, mein Leser, wenn
dieses Bessere dein Teil sein sollte, habe dann deinen Glauben
„für dich selbst vor Gott"! Sieh wohl zu, daß du
dir nicht Dinge erlaubst, die Gott nicht gutheißen kann!
„Glückselig, wer sich selbst nicht richtet in dem, was er gutheißt!"
Es würde dir sonst genau so gehen wie dem
Schwachen, „der zweifelt, wenn er ißt". Abgesehen davon,
daß du dem schwachen Bruder vielleicht einen Anstoß in
den Weg legst, „bist du verurteil t", weil du, gleich
ihm, nicht „im Glauben" handelst. „Alles aber, was nicht
aus Glauben ist, ist Sünde." (V. 23.)
Ein zweiter, überaus wichtiger Grundsatz! Unsere
Freiheit in dieser oder jener Sache, selbst in den einfachsten
Dingen des täglichen Lebens, kann sich nur auf den
Glauben gründen, daß das, was wir tun, vor Gott bestehen
kann. Erlaubt sich ein Gläubiger etwas, daö nicht
auf diesem Boden steht, so wird es ihm zur Sünde. Die
Freiheit ist in einem solchen Falle grundsätzlich zur Ungebundenheit
geworden. (Fortsetzung folgt.)
304
„O Mensch, wie ist dein Herz bestellt?"
O Mensch, wie ist dein Herz bestellt?
Hab' Achtung auf dein Leben!
Was trägt für eine Frucht dein Feld?
Sind's Dornen oder Reben?
Denn aus der Frucht kennt man die Saat,
Auch wer das Land besäet hat,
Gott oder der Verderber.
Ja, in dem Leben eines Menschen zeigt es sich, was
für eine Saat in sein Herz gestreut ist. Zuweilen erwecken
junge Leute die schönsten Hoffnungen; sie wandeln in
Einfalt und Demut und vertrauen nicht auf sich und ihren
Verstand. Aber mit der Zeit wird es anders. Indem sie
ihr Herz nicht behüten, wozu Salomo seinen Sohn so
ernst ermahnt (Spr. 4, 23), finden allerlei böse Dinge,
ungläubige Lehren und dergleichen Eingang in dasselbe.
Es geht dabei wie mit einer Blutvergiftung. Die Verletzung
scheint anfänglich ganz unbedeutend zu sein; von
Anzeichen einer Vergiftung ist nichts zu entdecken. Aber
das Gift wirkt, und das Ende ist der Verlust der Gesundheit
oder gar des Lebens.
Das Gift der Iweifelsucht und des Unglaubens ist
schrecklich in seinen Wirkungen. Es verdirbt das Herz und
verleitet die Junge zu bösen Ausdrücken über das Wort
und den Sohn Gottes. Unter dem schönen Deckmantel
einer gewissenhaften Prüfung der Wahrheit, vielleicht auch
unter dem Vorwande, Gottes Wort von Menschenwort zu
reinigen, kommt man allmählich zur Verwerfung des
ganzen göttlichen Zeugnisses, zur Leugnung der Gottheit
Christi und anderen schlimmen Dingen.
Wie ganz anders urteilt dagegen ein einfälti
305
ges, gläubiges Herz! Indem es sich unter den
Augen Dessen weiß, der die Gedanken und Gesinnungen
des Herzens beurteilt, die Geister wägt und die Herzen
prüft (Spr. IS, 2; 17, 3), stimmt es ein in den Ausspruch
Davids: „Die Worte Jehovas sind reine Worte — Silber,
das geläutert in dem Schmelztiegel zur Erde fließt, siebenmal
gereinigt". (Ps. 12, 6.) Es spricht sein
Amen zu dem ernsten Urteilsspruch Gottes: „Die Weisen
werden beschämt, bestürzt und gefangen werden; siehe,
das Wort Jehovas haben sie verschmäht,
und welcherlei Weisheit haben sie?" (Jer.
8, y; vergl. auch Ps. 114, Y8—100; 2. Tim. 3, 15—17.)
Überaus begehrenswert ist auch ein ungeteiltes
Herz. Es ist fest, „gewinnt Mut auf den Wegen Jehovas",
und Gott ist mit ihm. Ein wankelmütiger oder
doppelherziger Mann dagegen ist „unstet in allen
seinen Wegen". Er ist zweifelsüchtig und gleicht einer
Meereöwogc, die vom Winde bewegt und hin und her getrieben
wird. (Jak. 1, 7. 8.)
Wie verhängnisvoll ein geteiltes Herz ist, davon
sehen wir ein warnendes Beispiel in der Geschichte Amazjas,
des Königs von Juda. Es heißt im Anfang seiner Regierung
von ihm: „Er tat was recht war in den Augen Jehovas,
jedoch nicht mit ungeteiltem Herzen".
(2. Chron. 25, 2.) Die ernsten Folgen zeigten sich bald.
Von Stufe zu Stufe ging es mit ihm abwärts, bis er
endlich von seinen eigenen Leuten erschlagen wurde. Und
wie das Herz des Königs, so war das Herz des Volkes.
Der Prophet Hosea, welcher zur Zeit des Sohnes und
Enkels Amazjas lebte, sagt von Israel: „Gleißne-
risch war ihr Herz". (Hos. 10, 2.) Der Herr will aber
— 306 —
das ganze Herz, ungeteilt und ohne Trug, für sich haben;
und wahrlich, Er ist es wert!
Dem geteilten Herzen gleicht das irdisch gesinnte
Herz. Ein solches Herz sagt: „Lehrer, sage meinem
Bruder, daß er das Erbe mit mir teile". (Luk.
22, 23.) Die Worte des himmlischen Predigers gingen
über den Kopf des Jrdischgesinnten hinweg, weil er nur
an die Erde dachte. Solche Leute lernen immerdar, machen
aber keine Fortschritte. Ihre Herzen haben keinen Raum
für die himmlischen Dinge. Die einzige und große Sorge
des reichen Mannes war, wie er wohl seine Früchte sicher
berge. Aber Gott sagte zu ihm: „Du Tor!" Das war
ein passender Name, denn jener arme Mann war unbekannt
mit der bleibenden Habe, mit dem unverwelklichen
und unbefleckten Erbteil, welches aufbewahrt wird in den
Himmeln. — Iiba, der irdischgesinnte Knecht Mephibo-
seths, betrog seinen Herrn und verleumdete ihn bei dem
König; und als ihm sein Vorhaben gelungen war, sprach
er: „Ich beuge mich nieder; möge ich Gnade finden in deinen
Augen, mein Herr König!" (2. Sam. 26, 2—4.) Ziba
liebte das Land, aber Mephiboseth liebte den König.
(2. Sam. 29, 24—30.) Er verstand die Worte: „Warum
laßt ihr euch nicht lieber unrecht tun? Warum laßt ihr
euch nicht lieber Übervorteilen?" (2. Kor. 6, 7) und handelte
danach.
Habsucht wird Götzendienst genannt (Kol. 3, 5),
und der Herr Jesus sagt: „Hütet euch vor aller Habsucht!"
— „Habsucht schwächt die Kraft Christi über das
Herz und Gewissen, frißt das praktische Leben aus der
Seele weg und trocknet sie aus." (I. N. D.) Ein weiser
Mann im Osten legte einmal einigen Jrdischgesinnten die
307
Frage vor, ob sie zu gleicher Zeit mit einem Auge den
Himmel und mit dem anderen die Erde zu betrachten vermöchten.
Das ist unmöglich. Beide Augen sind entweder
nach oben oder nach unten gerichtet; und doch streben die
meisten Menschen danach, die Erde zu besitzen, und den
Himmel wollen sie dabei auch nicht fahren lassen. Das
versucht sogar mancher Gläubige, aber es ist vergeblich.
Es geht nicht an, aus beiden Welten zugleich Nutzen zu
ziehen.
Wie lieblich ist demgegenüber ein himmlisch gesinntes
Herz! Abraham besaß ein solches Herz. Er
sagte zu Lot: „Laß doch kein Gezänk sein zwischen mir
und dir und zwischen meinen Hirten und deinen Hirten
.. . Willst du zur Linken, so will ich mich zur Rechten
wenden; und willst du zur Rechten, so will ich mich
zur Linken wenden." (t. Mose 73, 8. y; vergl. auch
Kap. t4, 22. 23.) Und was geschah? Abrahams „sehr
großer Lohn" verblieb ihm, während Lot alles verlor,
was er aufgehäuft hatte. Isaak handelte in ähnlicher Weise
wie sein Vater. Er ließ sich einen Brunnen nach dem
anderen wegnehmen. (7. Mose 26.) Das war schwer; aber
es machte ihn nicht arm, denn die Philister mußten nach
allem bekennen: „Du bist ein Gesegneter Jehovas". Me-
phiboseth wollte nicht mit Ziba die Felder teilen; „er mag
auch das Ganze nehmen", sagte er zu David. Für sein
Herz war die Rückkehr des Königs die Hauptsache; sie
hatte mehr Wert für ihn als der ganze Besitz seines Vaters
Saul. Er hatte „die Gnade Davids" erfahren, von
welcher Ziba nichts wußte. Auf Iibas Teil ruhte kein Segen,
denn unrecht Gut gedeiht nicht; aber Mephiboseth saß
unter denen, welche an des Königs Tische aßen.
308
Diese himmlische Gesinnung sollte allen Herzen, welche
„die Gnade Gottes" erfahren haben, natürlich sein.
Wir sind hier Fremdlinge und ohne Bürgerrecht; „unser
Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den
Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten". (Phil.
3, 20.)
Seele, was crmüdst du dich
In den Dingen dieser Erden,
Die doch bald verzehren sich
Und zu Staub und Asche werden?
„Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was
auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben
ist verborgen mit dem Christus in Gott." (Kol. Z, 2. 3.)
Christus allein ist Reichtum, alles besitzen ohne Ihn
ist Armut.
Ein Vi?ort Luthers
Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge, so weit
voneinander wie Himmel und Erde. Ändern mag leichtlich geschehen,
bessern ist mißlich und gefährlich. Warum? Es steht nicht in unserem
Willen oder Vermögen, sondern allein in Gottes Willen und Hand.
Der Pöbel aber fragt nicht viel, wie cs besser werde, sondern daß
es nur anders werde. Wenn es dann ärger wird, so will er wieder
ein anderes haben. So kriegt er denn Hummeln für Fliegen, und
zuletzt Hornissen für Hummeln. Und wie die Frösche vorzeiten auch
nicht mochten den Klotz zum Herrn leiden, kriegten sie den Storch
dafür, der sic auf den Kopf hackte und fraß sie. Es ist ein verzweifeltes,
fluchwürdiges Ding um einen tollen Pöbel, welchen niemand
so wohl regieren kann als die Tyrannen: dieselbigen sind der Knüttel,
dem Hunde an den Hals gebunden
„Der mein Klelsch ißt und mein Blut
trinkt" *j
*) In Beantwortung einer Frage.
I.XXVIII
MH. 6. 541
Das 5. Kapitel des Evangeliums Johannes stellt
den Sohn Gottes, der lebendig macht, welche Er will
(V. 21), vor unsere Blicke, das b. Kapitel den im Fleische
gekommenen Sohn desMenschen, das lebendige Brot,
welches aus dem Himmel herniedergekommen ist, auf daß
man davon esse und nicht sterbe. (V. 4d. 50.) Die Juden
in ihrem Hochmut und Unglauben verstanden beides
nicht, forderten von Jesu ein Zeichen, daß Er Der sei,
für den Er sich ausgebe, und murrten darüber, daß Er
sich das aus dem Himmel herniedergekommene Brot
nannte. Hatten doch ihre Väter das Manna in der Wüste
gegessen, wie geschrieben stand: „Brot aus dem Himmel
gab Er ihnen zu essen". Auf diesem Wege hatte Moses,
wie sie meinten, seine göttliche Sendung bestätigt;
was aber hatte Jesus getan? Sie mußten daraufhin hören,
daß nicht Moses ihnen das Brot aus dem Himmel
gegeben habe, sondern daß der Vater ihnen jetzt das wahrhaftige
Brot aus dem Himmel gab. „Denn", so sagt
der Herr, „das Brot Gottes ist Der, welcher aus dem
Himmel herniederkommt und der Welt das Leben gibt."
Und nachher: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer
an mich glaubt, hat ewiges Leben. Ich bin das Brot des
12
— zro —
Lebenö. Eure Väter haben das Manna in der Wüste gegessen
und sind gestorben... wenn jemand von diesem
Brote ißt, so wird er leben in Ewigkeit." (V. 33. 47—5t.)
Das Manna in der Wüste hatte den Tod nicht abwenden
können, würde aber jemand von dem lebendigen
Brot essen, das aus dem Himmel herniedergc-
kommen war, so sollte er nicht sterben. Jesus war dieses
„lebendige Brot" (V. 5t); in Ihm, dem Mensch
gewordenen Sohne Gottes, dem Fleisch gewordenen Wort,
war Leben. Wie aber konnte man dieses Brot essen? Auf
welchem Wege konnte es der Welt das Leben geben? Das
Brot Gottes war da, „das Heilige", das von Maria geboren
worden war, stand vor aller Augen; aber da war
keine Möglichkeit einer Verbindung zwischen Ihm und
Seiner unheiligen Umgebung. Wenn das Weizenkorn nicht
in die Erde fiel und starb, blieb es allein. Das Herniederkommen
des Brotes, die Fleischwerdung des Wortes genügte
an und für sich nicht. Schuld und Sünde standen
als unübersteigliche Hindernisse zwischen Gott und der
Welt; die Schuld mußte entfernt, die Sünde gesühnt werden.
Wie aber war das möglich? Wie wir schon andeuteten,
nur durch das Versöhnungswerk am Kreuz, nur
durch den Tod Christi. Darum sagt der Herr: „Das
Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch,
welches ich geben werde für das Leben der Welt". (V. 57.)
Ein lebender Messias konnte das Leben nicht bringen.
Als solcher war Er bereits verworfen, und die mit
Seinem Kommen verknüpften Verheißungen für Israel
waren damit für den Augenblick alle in den Hintergrund
getreten. Aber nun gibt Er Sein Fleisch, d. h. Er stirbt;
und Er tut das nicht nur für Israel, sondern für die ganze
— 3tt —
Welt. Gottes Gnade hat sich der ganzen verlorenen Welt
zugewandt. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß Er
Seinen eingeborenen Sohn gab."
Man kann begreifen, daß die ungläubigen Juden untereinander
stritten und fragten: „Wie kann dieser uns
Sein Fleisch zu essen geben?" Aber noch seltsamere Aus-
sprüche sollten folgen. „Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich,
wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr das
Fleisch des Sohnes des Menschen esset und Sein Blut
trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein
Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und
ich werde ihn auferwecken am letzten Tage; denn mein
Fleisch ist wahrhaftig Speise, und mein Blut ist wahrhaftig
Trank." (V. SZ—55.) Daö Gesetz verbot den Juden
aufs strengste, Blut zu trinken, und nun forderte
dieser Jesus sie gerade dazu auf!
Es liegt auf der Hand, daß der Herr, hier wie vorher,
in bildlicher Weise redet. Hat Er in dem aus dem
Himmel gekommenen Brote sich als Den dargestellt, der
„an Blut und Fleisch teil genommen hat", der „in
Gleichgestalt des Fleisches der Sünde" erschienen ist
(Hebr. 2, 44; Röm. 8, 3), so erinnert Er hier unter dem
anschaulichen Bilde des Essens Seines Fleisches und des
Trinkens Seines Blutes an die unbedingte Notwendigkeit
Seines Todes. Nur in Seinem Opfertode am Kreuz
konnte das, was dem Gesetz unmöglich war, vollendet,
nur da konnte die Sünde im Fleische verurteilt werden.
Wäre der Herr in den Himmel zurückgekehrt, ohne durch
daö Gericht gegangen zu sein, das wir verdient hatten, so
wären wir alle im Tode geblieben. Nur in Ihm, der Sein
Fleisch für das Leben der Welt gab, haben wir Leben;
— 342 —
nichts Geringeres als das auf Golgatha geflossene Blut
Jesu Christi, des Sohnes Gottes, konnte die Gerechtigkeit
Gottes erweisen, sowohl im Hingehenlassen der vorher
geschehenen Sünden unter Seiner Nachsicht, als auch
in der gegenwärtigen Rechtfertigung aller derer,
die des Glaubens an Jesum sind. (Röm. Z, 24—2b.)
Beachten wir wohl, daß der Herr hier nicht sagt:
Wenn jemand m i ch ißt oder „von diesem Brote ißt",
wie im Anfang, sondern: „Wer mein Fleisch ißt und
mein Blut trinkt". Jeder mußte persönlich in die Notwendigkeit
und Wirklichkeit Seines Todes eintreten, mußte
sich mit Ihm, als dem Gestorbenen, einsmachen, im
Glauben Seinen Tod verwirklichen, geistlicherweise darin
seine Speise und seinen Trank finden — anders blieb er
im Tode. Es ist heute selbstverständlich noch genau so. Wir
haben zwar keinen toten Christus, so besteht Er nicht mehr.
Er ist auferstanden und zur Rechten Gottes verherrlicht;
aber wir müssen Ihn in Seinem Tode glaubend ergreifen.
Ihn so in unser Herz aufnehmen, müssen uns zu Ihm,
dem ans Kreuz Erhöhten, ziehen lassen (Kap. 42, 32),
Ihn als Den, der Sein Leben für uns gab, zu unserer
geistlichen Speise machen. Auf keinem anderen Wege
können wir aus unserem Zustande befreit werden und
ewiges Leben empfangen. Denn Sein Fleisch ist wahrhaftig
Speise und Sein Blut wahrhaftig Trank.
Diese Befreiung mittelst des gläubigen Ergreifens
Christi, des für uns in Tod und Gericht gewesenen Heilandes,
geschieht nur einmal, ist eine einmalige Handlung,
die nie wiederholt wird. Aber könnten wir je die
Grundlage unseres ewigen Heiles vergessen, jemals diesen
Tod mit allen seinen gesegneten Folgen aus dem Auge
— Z1Z —
verlieren? Unmöglich! Wir bedürfen vielmehr für die Entwicklung
des geistlichen Lebens in uns, für das Wachstum
des inneren Menschen, ja, für unseren ganzen Weg
als Christen durch diese Zeit und Welt der steten Erinnerung
an das auf Golgatha Geschehene, des bleibenden
Sichnährens von dieser wahrhaftigen Speise und diesem
wahrhaftigen Trank. Aus diesem Grunde ist im
5Z. Verse im griechischen Text eine Zeitform gewählt, die
nicht nur das einmalige Gegessen- und Getrunkenhaben
bezeichnet, sondern auch auf ein fortgesetztes Essen und
Trinken hindeutet, während nachher (V. 54 u. 5b) nur
von einer gegenwärtigen und stets bleibenden Sache gesprochen
wird. Durch das erstmalige Essen und Trinken
empfängt man Leben, durch das Beharren darin wird das
Leben unterhalten. Das neue Leben in uns bedarf der
fortwährenden Ernährung. Darum sagt der Herr im
5b. Verse: „Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt,
bleibtin mir und ich in ihm". Nur durch die ununterbrochene
Verbindung mit der Quelle, aus der es fließt,
kann dieses Leben unterhalten werden. So wie das Leben
Christi nicht ein unabhängiges Leben war, sondern allezeit
den Vater zur Quelle und zum Gegenstand hatte,
gleichwie Er lebte des Vaters wegen, so wird auch jeder,
der Ihn ißt, leben Seinetwegen. (V. 57.)
„Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herniedergekommen
ist. Nicht wie die Väter aßen und starben;
wer dieses Brot ißt, wird leben in Ewigkeit." (V. 58.)
Wer es nicht tut, wer nicht in wahre, lebendige Verbindung
kommt mit Dem, der um des Leidens des Todes
willen ein wenig unter die Engel erniedrigt wurde, bleibt
im Tode.
214
Damit beschließt der Herr Seine wunderbaren Belehrungen
in der Synagoge von Kapernaum. Es ist bekannt,
daß man den letzten Teil derselben vielfach auf das
Abendmahl angewandt hat, aber sehr mit Unrecht. Zunächst
spricht der Herr nicht zu Seinen Jüngern, sondern
zu der Volksmenge im allgemeinen, zu Menschen also,
die für eine solche Belehrung gar kein Verständnis gehabt
hätten. Auch redet Er nicht von Seinem Leib und Blut,
sondern von Seinem Fleisch und Blut, d. h. von dem
menschlichen Zustand, in welchem Er hienieden erschienen
ist. „Weil die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind,
hat auch Er in gleicher Weise an denselben teilgenommcn."
(Hebr. 2, 14.) Ferner hat Er das Abendmahl erst viel
später, unmittelbar vor Seinem Tode, eingesetzt. Eine Anspielung
auf dieses Mahl ist also, weil sie für die Hörer
durchaus unverständlich gewesen wäre, ausgeschlossen.
Aber auch aus einem anderen Grunde ist sie ganz
unmöglich. Die mit dem feierlichen: „Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch" eingeleitete Rede des Herrn würde ja
bedeuten, daß alle, die auch nur einmal an dem Abendmahl
teilnähmen, aus Grund dieser äußeren Handlung
ewiges Leben besäßen und teilhätten an der ersten Auferstehung,
während alle, die dazu keine Gelegenheit gehabt,
z. B. Menschen, die erst auf ihrem Sterbebett sich
zu Gott bekehren, für ewig verloren wären. Das einmalige
oder auch gewohnheitsmäßig fortgesetzte Teilnehmen an
dem Mahle würde das Anrecht an alle Segnungen des
Christentums verbürgen. Die Meinung, daß der Herr in
unserer Stelle an das Abendmahl gedacht habe, kann also
wohl nur von solchen festgehalten werden, deren Verständnis
gering oder durch Aberglauben verblendet ist.
— ZIS —
Aber sollte deshalb, wie manche zu meinen scheinen,
Joh. b, St—58 niemals gelegentlich der Feier des Abendmahles
vorgelesen werden? Eine solche Forderung würde
wohl zu weit gehen, da dieser Abschnitt doch gerade in
ergreifender Weise von dem „Tode des Herrn" redet,
den wir durch das Essen des Brotes und das Trinken des
Kelches verkündigen, und an den wir in dankbarer Liebe
gedenken. Aber Vorsicht wird geboten sein, um nicht durch
ein zu häufiges Lesen den Gedanken zu erwecken, daß der
Herr in dieser Stelle von dem Abendmahl gesprochen
habe.
Ser Brief an die Römer
(Fortsetzung)
Kapitel is
Der Apostel setzt in den ersten 7 Versen dieses Kapitels,
die eigentlich zu dem vorigen gehören, seine Belehrungen
über das Verhalten der Starken den Schwachen
gegenüber fort. Indem er sich unmittelbar mit jenen eins-
macht, sagt er: „Wir aber, die Starken, sind schuldig,
die Schwachheiten der Schwachen zu tragen und nicht uns
selbst zu gefallen". (V. t.) Darüber, wie er selbst zu
der Frage stand, hatte er sich bereits geäußert; aber anstatt
seine Überzeugung anderen aufzudrängen, was wohl
nie zu einem guten Ende führt, wollte er die Schwachheiten
seiner Brüder mit liebender Schonung behandeln
und eingedenk seiner Worte an die Korinther „nicht das
Seine suchen, sondern daö des anderen", (t. Kor. 70, 24.)
Die Liebe wird uns davor bewahren, „unö selbst
zu gefallen". Indem sie uns antreibt, „dem Nächsten
316
zu gefallen zum Guten, zur Erbauung" (V. 2), werden
wir nicht nur keine Last auf unseren Bruder legen, sondern
vielmehr bereit sein, seine Last zu tragen und also
das Gesetz des Christus zu erfüllen. (Gal. 6, 2.) „Denn
auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern
wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die Dich
schmähen, sind auf mich gefallen"." (V. 3.) Er, der vollkommene
Diener, machte sich hienieden in allem eins mit
Seinem Gott, ließ alles über sich ergehen, was die Erfüllung
des Willens des Vaters mit sich brachte, nie Anerkennung
für sich, nie Seine eigene Ehre suchend. Als
das Bild des unsichtbaren Gottes ertrug Er willig die
Schmähungen derer, die Gott schmähten.
Die Anführung der Stelle aus Psalm 69 gibt dem
Apostel Gelegenheit, an die so wichtige Tatsache zu erinnern,
daß alles, was zuvor geschrieben ist, zu unserer
Belehrung geschrieben ist. Ja, das, was das Alte
Testament von Christo sagt, wird heute auf uns, die
Christen, angewandt. Welch einen Platz hat uns doch
die Gnade gegeben! Als geliebte Kinder, eins mit Christo,
Seines Lebens teilhaftig geworden, sind wir berufen, einerseits
in Liebe zu wandeln, wie Er gewandelt hat, und anderseits,
gleich Ihm, die Schmähungen der feindseligen
Menschen über uns ergehen zu lassen. Indem wir an Seine
Stelle getreten sind, ist Sein Teil unser Teil geworden.
Mit dankbarer Freude dürfen wir jetzt dem nachstreben,
was Er in Vollkommenheit getan hat, und so in unserem
geringen Maße den Gott darstellen, der, wie wir singen,
einst in Ihm „ohne Hülle" gesehen wurde.
„Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer
Belehrung geschrieben, auf daß wir durch das Aus
harren und durch die Ermunterung der Schriften die
Hoffnung haben." (V. 4.) Wie hat Gott doch so gnädig
für uns gesorgt, damit wir auf dem Wege nicht ermatten
oder den Mut verlieren! Quellen reichster Segnungen sind
uns in den Schriften des Alten Testaments geöffnet. Das
Erforschen der Wege Gottes mit den Seinigen in längst
vergangenen Zeiten, das Sinnen über Sein Reden und
Tun mit ihnen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, aber auch
in Langmut und Gnade, dient zu unserer Ermunterung
und weckt Geduld und Ausharren. Ach, daß so manche
Kinder Gottes im Alten Testament so wenig zu Hause
sind! Mit Ausnahme einiger Teile lesen sie es kaum; viel
weniger suchen sie es zu erforschen, um die darin für uns
und unsere Tage enthaltene „Belehrung" zu erfassen und
zur Belebung der „Hoffnung" auf sich anzuwenden! O,
wenn sie wüßten, wie viel sie dadurch verlieren!
Wenn Paulus an Timotheus schreibt, daß „alle
Schrift von Gott eingegeben und nütze ist zur Lehre, zur
Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in
der Gerechtigkeit", so denkt er zunächst an die heiligen
Schriften des Alten Testaments, die, wie er sagt, vermögend
sind, den Menschen „weise zu machen zur Seligkeit".
(2. Tim. 3, 45—47.) Was würden wir, um nur
eins zu nennen, ohne diese Schriften wissen von den wunderbaren
Wegen Gottes mit dem gefallenen Menschen
ohne Gesetz und unter Gesetz, denen die Ankunft Seines
eingeborenen Sohnes, von dessen Person und Werk
sie immer wieder prophetisch und im Vorbilde reden, die
Krone aufsetzte? Freilich ist es nötig, das Alte Testament
zu lesen unter der steten Beachtung des unüberbrückbaren
Gegensatzes zwischen Gesetz und Gnade. Israel stand un
318
ter Gesetz, wir sind unter Gnade, Israel war das irdische,
wir sind das himmlische Volk Gottes. Behält man diesen
grundsätzlichen Unterschied nicht im Auge, so wird das
Erforschen der alttestamentlichen Schriften allerdings eher
Verwirrung als Segen bringen.
Anknüpfend an das Wort, daß die Schriften zu unserer
Belehrung geschrieben seien usw., nennt der Apostel
im 5. Verse Gott den „Gott des Aus harrens und
der Ermunterun g". Überaus verschieden sind die Namen,
die unserem Gott und Vater im Neuen Testament
beigelegt werden, und jeder einzelne ist von tiefer, kostbarer
Bedeutung. Er ist, um nur einige Namen zu nennen,
der Gott der Liebe und des Friedens, der Gott alles Trostes,
der Vater der Erbarmungen, der Gott aller Gnade,
der Gott der Hoffnung, der Gott der Herrlichkeit, ja,
selbst der Gott des Maßes, der einem jeden Seiner Diener
das Maß seines Wirkungskreises zuteilt. So gesegnet die
Betrachtung dieser verschiedenen Namen in Verbindung
und im Vergleich mit den alttestamentlichen Namen Gottes
auch sein möchte, können wir sic hier doch nur andeuten.
„Der Gott des Ausharrens und der Ermunterung
aber gebe euch, gleichgesinnt zu sein untereinander, Christo
Jesu gemäß, auf daß ihr einmütig mit einem Munde den
Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus verherrlichet."
(V. 5. 6.) Aus diesem Gott fließt die Kraft, um
eine gleichmäßige Gesinnung, Christo Jesu gemäß, in uns
hervorzubringen. In Christo Jesu hat Gott uns das vollkommene
Muster des Ausharrens und der Ermunterung
in einer Welt voll Jammer und Elend vor Augen gestellt;
auf Ihn lenkt Er unsere Blicke, und wenn Herz und
3^9
Sinne auf Ihn gerichtet, von Ihm erfüllt sind, so wird
sich die einmütige Gesinnung ganz von selbst ergeben, und
„mit einem Munde" wird der Gott und Vater unseres
Herrn Jesus Christus von allen verherrlicht werden. Durch
diesen Herrn haben wir ja alle, ob Juden oder Heiden,
ob reich oder arm, die gleiche Berufung, den gleichen Zugang,
die gleichen Segnungen. Ist Er der alles beherrschende
Gegenstand der Herzen, der einzige Beweggrund
des Handelns, so werden wir „in demselben Sinne und
derselben Meinung völlig zusammengefügt sein", und
Gott wird verherrlicht werden.
„Deshalb nehmet einander auf, gleichwie auch der
Christus euch ausgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit."
(V. 7.) Nicht unsere Würdigkeit, noch weniger ein übereinstimmendes
Urteil in zweifelhaften Fragen bildet die
Grundlage unserer Annahme durch Ihn. Als Er für uns
starb, waren wir Gottlose und Feinde, und wenn Er als
der Auferstandene und Verherrlichte unö jetzt ausgenommen
hat, so ist es wahrlich nicht um deswillen geschehen,
was w i r waren oder was Er a n und in uns haben
würde, sondern in bedingungsloser Gnade, „zu Gottes
Herrlichkeit". Laßt uns diesem Beispiel folgen und einander
aufnchmen, ob stark oder schwach, ob menschlich liebenswürdig
oder nicht liebenswürdig, als Erlöste des
Herrn, als Kinder Gottes, zu Gottes Verherrlichung!
Behalten wir dieses Ziel: „Gottes Herrlichkeit"
im Auge, so werden wir vor jeder kleinlichen Rechthaberei,
vor Sektiererei und dergl. bewahrt bleiben; es wird uns
allerdings zugleich auch anleiten, die Tür vor solchen zu
schließen, welche die Lehre Christi nicht bringen (2. Joh.),
oder andere ernstlich zurechtzuweisen, die „nicht den geraden
320
Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandeln". (Gal.
2,11 ff.) Die Liebe ist tragsam, aber auch treu.
In den Versen 8—13 erinnert der Apostel noch einmal
kurz an die großen Grundsätze, auf welchen der ganze
Brief ausgebaut ist, vor allem an die Zulassung der Heiden
zu den Vorrechten des Evangeliums. Schon in den
Eingangsworten des 1. Kapitels hat er die Person des
Herrn vor uns gestellt unter dem doppelten Gesichtspunkt
als „Sohn Davids dem Fleische nach" und als „Sohn
Gottes, in Kraft erwiesen dem Geiste der Heiligkeit
nach durch Toten-Auferstehung". Hier sagt er, daß Christus
„ein Diener der Beschneidung geworden ist um der
Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter
zu bestätigen", zugleich aber auch, „auf daß die Nationen
Gott verherrlichen möchten um der Begnadigung willen".
(V. 8. y.) Zn diesen wenigen Worten treten die beiden
großen Seiten der Sendung Christi klar vor unsere Blicke.
Ursprünglich gekommen zu den verlorenen Schafen aus
dem Hause Israel, um Seinem irdischen Volke zu beweisen,
daß Gott wahrhaftig ist und treu zu Seinen den
Vätern gemachten Verheißungen steht, war die Gnade
Gottes, nachdem Israel sie von sich gestoßen und Jesum
gekreuzigt hatte, zu den Nationen (Heiden) übergeströmt.
Gerade das Kreuz Christi hatte ihnen die Tür zu den unermeßlichen
Segnungen geöffnet, die Israel verschmäht
hatte. Bei den Nationen handelte eö sich also nicht um die
Erfüllung von Verheißungen. Fremdlinge betreffs der
Bündnisse der Verheißung, ohne Gott und ohne Hoffnung
in der Welt (Eph. 2, 12), konnte bei ihnen von
„der Wahrheit Gottes" keine Rede sein. Alles war
bedingungslose „Gnad e".
321.
So war Christus einerseits ein Diener der Beschneidung
geworden, auf Grund der zwischen Gott und Israel
bestehenden Bundesbeziehungen, und anderseits waren die
Heiden, die völlig fern von Gott, ohne alle Ansprüche dastanden,
durch Gnade mit Gott in Verbindung gekommen,
damit sie „um der Begnadigung willen Ihn verherrlichen
möchten". Wieder möchten wir ausrufen: „O Tiefe des
Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis
Gottes!" Wie einfach und doch so wunderbar sind Seine
Wege, wie klar und doch so hoch Seine Gedanken! Freilich
für die Juden waren sie schwer verständlich.
Dennoch hatte Gott ihnen schon vor alters diese Gedanken
und Wege kundgetan, und während die Nationen
nie vergessen durften, woher sie gekommen waren, sollten
die Gläubigen aus Israel sich ihrerseits immer wieder an
diese Aussprüche Gottes bezüglich der Begnadigung der
Nationen erinnern. Wieder führt der Apostel aus den drei
großen Teilen des Alten Testaments, dem Gesetz, den
Psalmen und den Propheten, Stellen an, welche die Absicht
Gottes bezeugten, die Nationen mit Seinem irdischen
Volke zu segnen. Unter ihnen sollte Sein Name bekannt
und besungen werden, mit Seinem Volke sollten sie
fröhlich sein, und auf „die Wurzel Jsais und Den, der da
aufsteht, über die Nationen zu herrschen", sollten sie ihre
Hoffnung setzen. (V. 9—1.2.) Es braucht kaum darauf
hingewiesen zu werden, daß nicht eine der angeführten
Stellen von der Versammlung, dem Leibe Christi, redet, in
welchem alle Unterschiede zwischen Jude und Grieche aufgehoben
sind. Das war ein Geheimnis, das erst nach der
Verherrlichung des Menschensohnes zur Rechten Gottes
geoffenbart werden konnte. Was der Apostel vorstellen
Z22
will, ist die einfache, aber so bedeutungsvolle Tatsache,
daß Gott von jeher durch den Mund Seiner Propheten
die Begnadigung der Nationen angekündigt hat.
Hieran schließt sich der Wunsch oder das Gebet des
treuen Dieners für die Heiligen in Rom: „Der Gott der
Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und allem
Frieden im Glauben, damit ihr überreich seiet in der Hoffnung
durch die Kraft des Heiligen Geistes!" (V. tZ.)
Gott hat sich in Christo nicht nur als ein Gott der Liebe,
sondern auch als der Gott der Hoffnung geoffenbart,
und der Apostel verbindet mit der Offenbarung dieses Namens
die Bitte, daß dieser Gott sie im Glauben mit aller
Freude und allem Frieden erfüllen möge. So würden sie
nicht nur imstande sein, im Frieden miteinander zu wandeln
trotz mancherlei Meinungsverschiedenheiten, sondern,
„überreich in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen
Geistes", vorausblickend auf die herrliche Zeit, wann alles
und alle im Lichte droben vollendet dastehen werden, würden
sie in friedevoller Gemeinschaft die ihnen geschenkten
Segnungen genießen und „voll Gütigkeit, erfüllt mit aller
Erkenntnis, fähig sein, einander zu ermahnen". (V. 44.)
Indem der Apostel mit offenbarer Freude seiner
Überzeugung Ausdruck gibt, daß es so mit den geliebten
Heiligen in Rom sein werde, (vergl. Kap. t, 8) schließt er
seine Belehrungen und begründet in einer Art Nachwort
die Kühnheit, mit welcher er an sie geschrieben hatte. Er
erinnert sie an den Auftrag, der ihm von feiten Gottes
hinsichtlich der Nationen geworden war. Im Blick auf sie
hatte er eine besondere Gnade von Gott empfangen. Deshalb
konnte er auch ihnen gegenüber so freimütig auftreten,
obwohl sie nicht unmittelbar eine Frucht seines
— Z23 —
Dienstes waren. Gehörten sie doch den Nationen an, für
welche er ein von Christo Jesu angestellter Diener war,
„priesterlich dienend an dem Evangelium Gottes, auf daß
das Opfer der Nationen angenehm werde, geheiligt durch
den Heiligen Geist". (V. 75. 76.)
Die Ausdrücke, die der Apostel, durch den Geist geleitet,
an dieser Stelle gewählt hat, um seinen Dienst zu
beschreiben, sind von auffallender Kraft und Tragweite.
Das für „Diener" gebrauchte Wort bedeutet eigentlich
einen im öffentlichen Dienst angestellten Beamten; der
Dienst an dem Evangelium Gottes wird als ein priesterlicher
Dienst bezeichnet, und das Ergebnis desselben,
die Gläubigen aus den Nationen mit den in ihnen
gewirkten Früchten der Gnade, wird ein Gott wohlgefälliges,
durch den Heiligen Geist von der Welt abgesondertes,
geheiligtes Opfer genannt, das der Apostel Gott
priesterlich darbringen durfte. Ähnlich wie einst Aaron die
Leviten als ein Opfer seitens der Söhne Israels Jehova
darbrachte, nur mit dem großen Unterschied, daß die
Weihung damals durch äußere, zeremonielle Handlungen
erfolgte, während jetzt der Heilige Geist der Heiligende
war. Wir sind „eine gewisse Erstlingsfrucht" der Schöpfung
Gottes, geweiht durch den Heiligen Geist.
Aber wenn der Apostel etwas zum Rühmen hatte in
den Dingen, die Gott angehen, so war es doch nur „in
Christo Jesu". (V. 77.) Ach, daß doch niemand i h m etwas
zuschreiben möchte! Hatte er auch in nichts den ausgezeichnetsten
Aposteln nachgestanden, sondern mehr gearbeitet als
sie alle (2. Kor. 77, 5; 7. Kor. 75, 70), sollte doch nicht
ihm die Ehre zufallen, sondern Dem allein, dessen Gnade
mit ihm gewesen war. Auch an dieser Stelle wagt der treue
324
Mann nicht „von dem zu reden, was Christus nicht durch
ihn gewirkt hatte zum Gehorsam der Nationen durch
Wort und Werk". (V. 48.)
An dieses bescheidene Wort schließt sich dann in den
nächsten Versen eine kurze, aber eindrucksvolle Beschreibung
der gewaltigen Arbeit des Apostels an. Wie immer,
wenn er von diesen Dingen redet, spricht er nicht von seiner
hohen Begabung oder apostolischen Würde, sondern von
dem Tun Gottes und der Kraft Seines Geistes. Er will
auch nicht auf eines anderen Grund bauen, sondern be-
eifert sich, das Evangelium da zu verkündigen, wo „Christus
noch nicht genannt war", nach dem Worte: „Denen
nicht von Ihm verkündigt wurde, die sollen sehen, und
die nicht gehört haben, sollen verstehen". (V. 24.) Aus
diesem Grunde war er auch bis dahin nicht nach Rom gekommen,
obwohl er seit vielen Jahren ein großes Verlangen
gehabt hatte, sie zu sehen; aber er war verhindert
worden. (V. 22; vergl. Kap. 4, 9—45.) Nun aber, da er
in den bis dahin von ihm besuchten Gegenden keinen Raum
mehr hatte — denn „von Jerusalem an und ringsumher
bis nach Jllyrikum, (also wahrscheinlich bis an die Ostküste
des Adriatischen Meeres) hatte er das Evangelium
völlig verkündigt" — nun aber hoffte er, gelegentlich seiner
beabsichtigten Reise nach Spanien, auf der Durchreise
die Gläubigen in Rom zu sehen und, nachdem er sie zuvor
„etwas genossen habe", von ihnen „dorthin geleitet
zu werden".
Der rastlos tätige Mann fühlte, daß die Zeit gekommen
war, die Arbeit im Osten anderen zu überlassen, und
es trieb ihn mit Macht nach dem Westen, um auch dort
Christum zu verkündigen. Aber Gott hatte es anders be-
325
schlossen. Nach Spanien ist Paulus wohl nie gekommen,
und Rom hat ihn nur als G e f a n g e n e n gesehen. „Gott
wollte nicht", wie ein bekannter Schreiber (I. N. D.)
sagt, „daß die römische Christenheit eine unmittelbare apostolische
Grundlage haben sollte. Den Gedanken, daß Petrus
in Rom gewesen sei oder damals dort war, schließt
unser Brief völlig aus. Das Christentum hat sich selbst
in Rom gegründet. Kein weiser Baumeister war dort. Es
ist nicht die Gewohnheit Gottes, weltliche Hauptstädte zu
einem Mittelpunkt Seines Werkes zu machen. Der apostolische
Dienst Pauli im Osten war beendet; er stand im
Begriff, eine Reise als Diakon nach Jerusalem zu machen,
und hat nachher nie wieder, wenigstens soweit wir einen
unmittelbaren geschichtlichen Bericht darüber haben, seine
freie apostolische Tätigkeit wieder ausgenommen." Über
die Frage: Warum? wird wohl die Ewigkeit erst völligen
Aufschluß bringen. Der Glaube weiß, daß Gottes Weg,
auch wenn er sich anders gestaltet, als wir meinen und
erwarten, stets vollkommen ist. „Alle Seine Wege sind
recht." Sie entsprechen Seinen ewigen Ratschlüssen, Seiner
unergründlichen Gnade und nie irrenden Weisheit.
Inzwischen hatte der Apostel noch eine andere Aufgabe
zu erfüllen. Er reiste nach Jerusalem im Dienst für
die dortigen Heiligen. „Denn es hat Makedonien und
Achaja Wohlgefallen, eine gewisse Beisteuer zu leisten für
die Dürftigen unter den Heiligen, die in Jemsalem sind."
(V. 25. 26.) Es war wohl dieselbe Kundgebung werktätiger
Liebe, von welcher er in seinem 2. Brief an die
Korinther redet (Kap. 8 u. 9), der kurz vor dem Brief
an die Römer geschrieben wurde. Es hatte den Versammlungen
in Makedonien und Achaja, der römischen Provinz,
326
in welcher Korinth lag, Wohlgefallen, diese „Hilfsleistung"
den bedürftigen Gläubigen in Jerusalem zu senden,
aber eigentlich war es nur die Abtragung einer
Schuld. Denn wenn die Nationen der geistlichen Güter
ihrer Brüder aus Israel teilhaftig geworden waren, war
es dann etwas Großes, wenn sie ihnen in den leiblichen
dienten? Waren sie nicht schuldig, das zu tun? (V. 27.)
Nach der „Versiegelung" dieser kostbaren „Frucht"
wollte er dann, wie schon bemerkt, über Rom nach Spanien
reisen, und er wußte, daß, wenn er kam, er „in der
Fülle des Segens Christi" kommen würde. (V. 28. 2d.)
Wenn auch der Weg nach Rom sich ganz anders gestaltete,
als der Apostel es ahnen konnte, ist nichtsdestoweniger das
letzte Wort buchstäblich in Erfüllung gegangen. Nicht nur
durfte er zwei Jahre lang „in seinem gemieteten Hause"
alle, die zu ihm kamen, aufnehmen, sondern er konnte
ihnen auch „das Reich Gottes predigen und die Dinge,
welche den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit
ungehindert lehren". (Apstgsch. 28, 30. 3t.)
Wir wissen ferner, daß während der Dauer dieser ersten
Gefangenschaft die herrlichen Briese an die Epheser, Phi-
lipper und Kolosser, neben dem an Philemon von ihm
geschrieben wurden.
„Ich bitte euch aber, Brüder, durch unseren Herrn
Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes, mit mir
zu kämpfen in den Gebeten für ntich zu Gott, auf daß ich
von den Ungläubigen in Judäa errettet werde, und (auf
daß) mein Dienst für Jerusalem den Heiligen angenehm
sei." (V. 30. 31.) Wie wird die dringende Bitte des großen
Apostels um die Gebete der Heiligen deren Herzen
bewegt haben! Heute noch können wir sie nicht ohne Rüh
327
rung lesen. Die Kenntnis unseres gemeinsamen Herrn
und die Liebe des Geistes verbinden zu allen Zeiten die
Herzen der Gläubigen, wer sie auch sein, und wo sie wohnen
mögen, bewirken Teilnahme und rufen Fürbitte wach.
Die Aufforderung, „mit ihm zu kämpfen in den Gebeten",
bewies, wie daö Herz des Apostels mit der bangen
Frage beschäftigt war, ob seine Reise nach Jerusalem
den von ihm gewünschten Erfolg haben werde. Als sie
nicht lange danach wirklich zur Ausführung kam, „bezeugte
ihm der Heilige Geist von Stadt zu Stadt, daß Bande
und Drangsale seiner warteten". (Apstgsch. 20, 23.) Aber
die brennende Liebe zu seinem unglücklichen Volke ließ ihn
alle Rücksichten auf sich und sein Leben vergessen und trieb
ihn zu dem Brennpunkt der Feindschaft wider Gott und
Seinen Gesalbten.
Man hat gesagt, daß Paulus in diesem Falle nicht
ganz auf der Höhe seiner Berufung als Apostel der Nationen
gestanden habe. Vielleicht nicht; aber wollen wir
ihn deshalb tadeln? Gott hat es nicht getan. Im Gegenteil
durfte Paulus in dem Lager der römischen Besatzung
Jerusalems die tröstlichen Worte des Herrn vernehmen:
„Sei gutes Mutes! denn wie du von mir in Jerusalem
gezeugt hast, so mußt du auch in Rom zeugen".
Mit der Erwartung, daß er infolge der Fürbitte der
Heiligen in Rom „durch den Willen Gottes mit Freuden
zu ihnen kommen und sich mit ihnen erquicken" werde,
verbindet der Apostel den kurzen, aber innigen Gebcts-
wunsch: „Der Gott d;s Friedens aber sei mit euch allen!
Amen." (V. 32. 33.) Möchte dieser Wunsch sich auch
an uns allen in reichem Maße erfüllen!
(Schluß folgt)
328
Sie Macht des Lebens
Es war Nacht. In einer großen Stadt im Innern
Chinas saß ein Missionar vor seiner geöffneten Bibel.
Plötzlich vernahm er ein leises Klopfen an seiner Tür.
Er öffnete und gewahrte auf der Schwelle im Halbdunkel
eine am Boden kauernde menschliche Gestalt, die ihn mit
schwacher Stimme um Gehör bat.
Der Missionar erkannte in der kläglichen Erscheinung
einen jungen Mann aus guter, nicht weit entfernt
wohnender Familie, dem er vor nicht langer Zeit eine
Bibel verkauft hatte. Er bat ihn freundlich hereinzukommen.
Langsam und sichtlich unter großen Schmerzen folgte
der junge Mann der Einladung, und der Missionar führte
ihn zu einem bequemen Sitz.
„Ich komme, um Sie zu bitten, mit mir zu beten,
denn Gott hat mir Seine Liebe geoffenbart", sagte der
junge Chinese. „Er hat Seinen eingeborenen Sohn für
mich hingegeben und mir Seinen Frieden ins Herz gesenkt.
Es ist jetzt ein Jahr her, daß ich Sie von dem Gott
der Christen sprechen hörte. Meine Freunde sagten wohl,
es sei alles nicht wahr. Aber ich habe mir inzwischen
Sein Buch gekauft, und Sein Wort hat zu meinem Herzen
geredet und dort einen Widerhall gefunden."
„Und was haben Ihre Eltern dazu gesagt?"
„Ach, sie verstehen mich nicht. Sie wünschen, daß
ich die neuen Ideen, wie sie sie nennen, so schnell wie möglich
wieder aufgebe."
„Sind Sie deswegen von ihnen so übel zugerichtet
worden?" forschte der Missionar teilnehmend.
32Y
„Verurteilen Sie sie nicht. Sie wissen nicht, was sie
tun", lautete die Antwort. „Ich möchte darum auch vor
Tagesanbruch zurück sein, um ihren Zorn nicht von neuem
zu erregen. Lassen Sie uns jetzt von Gottes Sohn sprechen,
der so viel für mich getan hat!"
Der Missionar setzte sich neben den jungen Mann.
Es bewegte ihn tief zu sehen, wie Gott sich so unmittelbar
an dieser Seele bezeugt, und mit welcher Macht das in
ihm geweckte Leben die Finsternis des Heidentums durchbrochen
hatte.
„Vielleicht könnte ich Ihnen zu einer Stätte verhelfen,
wo Sie vor weiteren Mißhandlungen sicher wären",
meinte der Missionar im Laufe der Unterhaltung.
„Nein, das wäre nicht der Wille Gottes", entgegnete
der andere mit schwachem Lächeln. „Mein Vater und
mein Bruder fragen sich, ob es meinem Heiland wohl gelingen
werde, mich standhaft zu erhalten. Er aber hat verheißen,
mir ebenso zu Hilfe zu kommen wie seinerzeit einem
David oder einem Stephanus. Vor wem also sollte ich
mich fürchten?"
Die letzten Worte kamen fast wie ein Triumph über
seine Lippen.
„Aber wenn man Ihnen das Leben nimmt?" warf
der Missionar ein.
„Der, welcher mich in den beiden letzten schrecklichen
Monaten gestützt und gestärkt hat, wird mich nicht lassen.
Ich bin in Seiner Hand. Meine Eltern wissen, daß ich
von Natur furchtsam bin, und wundern sich schon, mich
so fest zu sehen. Sie kennen eben Den nicht, der meins
Kraft ist."
Ehe der Tag anbrach, geleitete der Missionar den
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jungen Mann nach Hause zurück, ihn der Hut Gottes befehlend.
Einige Tage vergingen. Da klopfte eö wieder während
der Nacht an die Tür des Missionars. Auf sein Herein
trat der Diener des jungen Mannes ein und berichtete:
„Mein Herr hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen,
er sei zu seinem himmlischen Vater gegangen, und nun
sei alles gut."
Diesen Worten folgte ein minutenlanges Schweigen.
„Hat er noch viel gelitten? Hat man ihn sehr
gequält?" fragte der Missionar endlich tiefbewegt.
Ein tiefer Seufzer bestätigte die Frage.
Elf oder zwölf Monate waren vergangen. Da wurde
wieder eines Tages an des Missionars Tür geklopft. Als
dieser öffnete, sah er sich dem älteren Bruder jenes jungen
Chinesen gegenüber. Er erkannte ihn auf den ersten Blick.
Der junge Mann erzählte, daß er seit dem Tode seines
Bruders daö Buch studiert habe, in dem dieser so viel
gelesen, um zu sehen, woher sein Bruder die außerordentliche
Kraft empfangen habe, um in allen Leiden standhaft
zu bleiben bis ans Ende.
„Zuerst las ich dieses Buch um meines Bruders willen",
fuhr der junge Chinese fort; „jetzt aber lese ich es
um Deswillen, von dem es redet, um Jesu Christi, des
Sohnes Gottes, willen. Denn, mein Herr, jetzt kenne ich
Ihn und liebe Ihn, und ich bin gekommen. Ihnen zu sagen,
daß ich Ihm zu dienen wünsche. Ich weiß, daß Er
cs ist, der meinen Bruder von den Schrecken des Todes
erlöst hat. O helfen Sie mir. Ihn besser kennen zu
lernen!"
— 3ZI —
Mein Leser! Von Jesu, dem verherrlichten Heiland,
ergriffen fein, die Gewißheit der Vergebung seiner Sünden
besitzen, den Frieden Gottes genießen, den Namen
des Herrn vor den Menschen bekennen. Seine Rückkehr-
erwarten und Ihm während dieses Wartens in freudiger
Hingebung dienen,
das ist Christentum.
Kragen aus dem Leserkreise
Wie ist die Stelle zu verstehen: „Und durch deine Erkenntnis
geht der Schwache verloren"), der Bruder, um derentwillen Christus
gestorben ist"? (r. Kor. 8, rr.) Ein Gläubiger kann doch nicht mehr
verloren gehen!
Zunächst sei bemerkt, daß das griechische Wort für „verloren
gehen" nicht immer ewige Bedeutung hat; es bedeutet sehr oft „um-
kommen, untergehen, verderben" in zeitlichem Sinne. (So z. B.
Matth. 8, 25; d, 17; Ioh. 6, 12. 27; Hebr. 1, 11; 2. Petr. Z, 6
u. and.) Darum betont der Herr in Ioh. 10, 27. 28 wohl so ausdrücklich,
daß Seine Schafe nicht verloren gehen ewiglich, d. h.
sie kommen weder auf dem Wege uni noch in Ewigkeit. Aber ob
wir das Wort so oder so fassen, der Sinn unserer Stelle wird dadurch
nicht verändert. Worauf sie aufmerksam machen will, ist die
ernste Richtung der betreffenden Handlung (das worauf sie a b -
ziel t), ohne das Gesagte durch irgend einen Hinweis auf die Hilfsquellen
der Gnade abzuschwächen. Daß Gott Sein Werk nicht lassen
wird, ist eine Wahrheit für sich. Aber soviel an dem betreffenden
Bruder lag, brachte sein Tun den anderen in
Gefahr, umzukommen oder verloren zu gehen. Sein Verhalten war
dazu angetan, den schwachen Bruder zu verleiten, dem gegebenen
Beispiel folgend, ebenfalls von den Gotzenopfern zu essen, obwobl
sein Gewissen dadurch verletzt wurde, und so auf den Weg der
Sünde zu kommen, dessen Ende Verderben ist. Deshalb wollte der
Apostel lieber für immer kein Fleisch essen, als seinem Bruder ein
solch verhängnisvolles Ärgernis geben. So handelt die Liebe. (Vergl.
Röm. 14, 15.)
") Od. kommt der Schwache um.
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List du zum Leiden auserlesen___
Wenn einmal Dunkelheiten kommen
Auf deinem Pfad, wird dir genommen,
Was Halt und Stühe dir gewesen,
Wird's Herz dir bang und sorgenschwer;
Wirst du zum Leiden auserlesen.
Indessen andre um dich her
In Glück und Freude ihre Tage
Genießen, — würde leichter sein
Dein Los, wenn Bitterkeit und Klage
Dein Herz erfüllen? Nein, o nein!
Es würde schwerer deine Bürde
Noch werden, wenn zum Ungemach
Der Unmut sich gesellen würde.
Darunter schon zusammenbrach
Manch leidensmüdes Herz, das nicht
Der Bitterkeit die Tür verschlossen,
Das auf dem Wege ward verdrossen
Und damit sich das Himmelslicht
Verdunkelte, das denen scheint.
Die sich, auch wenn das Auge weint.
Geduldig in die Trübsal schicken.
Drum halte Glauben unentwegt,
Wie schwer auch deine Lasten drücken.
Du wirst, wenn Gottes Stunde schlägt —
Sie schlägt nach Gottes Uhr — erblicken.
Wie Seine Hand dich hält und trägt.
Und wie zuweilen Seinem Kind
Auch Dunkelheiten nötig sind,
Daß nicht auf selbstgewählten Pfaden
Dahin in eigner Kraft es gehe.
Daß immer besser es verstehe.
Für Gott zu leben ganz aus Gnaden!
G. H.