Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1896 | |
Inhalts-Verzeichnis. | Seite |
„Meine Gnade genügt dir." | 1 |
Die Rüdkehr der Bundeslade | 8 |
Nicht immer währt die Wüstenreise (Gedicht) | 27 |
Davids Haus und das Haus Gottes | 29 |
Auf daß sie eins seien, gleichwie wir. | 49 |
Ein Herz für Christum | 55 |
Die Berschwörung Absaloms | 57 |
Arbeit und Rube | 72 |
„Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes." | 81 |
Gerechtfertigt | 100 |
Glaube nur! | 107 |
Der Hirte und die Herde | 111 |
Die Stimme der Fremden | 113 |
Das Lied und die lesten Worte Davids | 124 |
Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen | 141 |
Ihr seid meine Freunde. | 154 |
Der Wandel vor Gott. | 159 |
Gedanken über Apostelgeschichte 12 | 186 |
Mein Angesicht wird mitgehen." (Gedicht) | 196 |
Gesichtet wie Weizen | 197 |
Wenn du umkehrst, so will ich dich zurüdbringen." | 210 |
Erklärung | 220 |
Das Buch Ruth | 225 |
Sünde, Tod und Sieg | 242 |
Hochbeglückte Seele! (Gedicht) | 252 |
Fremdlinge und Pilgrime | 264 |
Debora und Barak | 270 |
Hingebung- | 277 |
Das Lied der Debora | 281 |
Ein reichlicher Eingang | 294 |
Gehorsam und Liebe | 302 |
Lasset jedermann von mir hinausgehen!" | 307 |
Das Nasiräat und ein Überrest | 309 |
Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht an." | 327 |
Botschafter Inhalts-Verzeichnis. 1896 Seite.
Meine Gnade genügt dir."......................................................... 1
Die Rückkehr der Bundeslade................................................... 8
Nicht immer währt die Wüstenreise (Gedicht)..............................27
Davids Haus und das Haus Gottes............................................... 29
Auf daß sie eins seien, gleichwie wir. ".........................................49
Ein Herz für Christum......................................................................55
Die Verschwörung Absaloms........................................................57. 85
Arbeit und Ruhe................................................................................. 72
Gerechtfertigt............................................................................................ 8t.
Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes.".................................... 100
Glaube nur!................................................................................ 107
Der Hirte und die Herde....................................................................111
Die Stimme der Fremden..............................................................113
Das Lied und die letzten Worte Davids......................................... 124
Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen . . 141. 169
Ihr seid meine Freunde."..............................................................154
Der Wandel vor Gott......................................................................... 159
Gedanken über Apostelgeschichte 12...................................................186
Mein Angesicht wird mitgehen re." (Gedicht).............................. 196
Gesichtet wie Weizen......................................................................... 197
Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbriugen." . . . 210
Erklärung................................................................................................220
Das Buch Ruth.................................................................... 225. 253
Sünde, Tod und Sieg ....................................................................242
O hochbeglückte Seele! (Gedicht)........................................................ 252
Fremdlinge rmd Pilgrime................................................. 264
Debora und Barak...............................................................................270
Hingebung................................................................................................277
Das Lied der Debora......................................................................... 281
Ein reichlicher Eingang................................................................... 294
Gehorsam und Liebe......................................................................... 302
Lasset jedermann von mir hinausgehen!"................................. 307
Das Nasiräat und ein Überrest........................................................ 309
Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht an." . . 327
Meine Gnade genügt dir."(2. Kor. 12.)
„Meine Gnade genügt dir." So sprach einst der
Herr zu Seinem schwergeprüften Knecht Paulus. Welch
einen mächtigen Trost enthielten diese Worte für den
Apostel! Wahrlich, sie waren geeignet, seinem Herzen
einen tiefen, unerschütterlichen Frieden zu verleihen. Denn
sie waren nicht in die Form einer Ermahnung gekleidet,
sondern enthielten eine bestimmte Zusage von seiten des
Herrn. Die Antwort auf sein heißes Flehen lautete nicht:
„Laß dir an meiner Gnade genügen", sondern der Herr
giebt ihm die köstliche Versicherung, daß ihm Seine Gnade
thatsächlich genügen werde, und daß er die Größe, Macht
und Fülle derselben an sich erfahren solle.
Ohne Zweifel sind wir verantwortlich für die Ermahnungen:
die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen
zu haben: darauf zu sehen, daß nicht jemand an der
Gnade Gottes Mangel leide; die Gnade festzuhalten u. s. w.
(2. Kor. 6, 1; Hebr. 12, 15. 28); und es würde sicher
einen großen Verlust für uns zur Folge haben, wenn
wir diese Ermahnungen vernachlässigten. Wir würden
bald, so weit wir in Betracht kämen, von dem einzig
sichern Wege abweichen, auf dem wir Gott wohlgefällig
dienen und wohlbehalten das Ziel erreichen können.
Aber an dieser Stelle handelt es sich, wie gesagt,
nicht um eine Ermahnung, sondern um eine Zusage, die
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der Herr Seinem Knechte gab, als dem Engel des Satans
erlaubt wurde, ihn mit Fäusten zu schlagen. Es wird
uns nicht mitgeteilt, worin diese Faustschläge sich kundgaben
; immerhin erschienen sie dem Apostel als ein großes
Hindernis, sei es daß sie ihn in den Augen Anderer unansehnlich
machten, oder daß er in seinen eignen Augen für
das Werk des Herrn unfähig erschien. Vielleicht war es
ein schweres Augenleiden; denn er schreibt an die Galater:
„Ihr wisset aber, daß ich in Schwachheit des Fleisches
euch ehedem das Evangelium verkündigt habe; und meine
Versuchung, die in meinem Fleische war, habt
ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern
wie einen Engel Gottes nähmet ihr mich auf, wie Christun:
Jesum. Was war denn eure Glückseligkeit? Denn ich
gebe euch Zeugnis, daß ihr, wenn möglich, eure Augen
ausgerissen und mir gegeben hättet." (Gal.
4, 13—15.) Auch scheint der Umstand darauf hinzudeuten,
daß er seine Briefe gewöhnlich durch Andere
schreiben ließ. Aber wie dem auch sei, jedenfalls war es
eine schwere Prüfung, die er tief fühlte; denn er hatte
ihretwegen dreimal zum Herrn gefleht. Aber anstatt ihn
davon zu befreien, ließ der Herr die für ihn so schmerzliche
Sache, den Dorn für das Fleisch, fortbestehen. Hingegen
sollte Seine Gnade ihm einen reichlichen Ersatz
bieten, und sich um so mächtiger in ihm und durch ihn
erweisen; „denn meine Kraft", sagte der Herr zu
ihm, „wird in Schwachheit vollbracht".
Welch einen herrlichen Tausch machte hier der Apostel!
Seine eigene, menschliche Kraft wurde so zu sagen vernichtet,
um der göttlichen Kraft Christi Platz zu machen.
Es war jetzt nicht mehr die Frage, was Paulus, sondern
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was Christus vermochte. Alles hing ab von der Gnade
Christi, und durch diese wurde das, was dem Apostel als
das größte Hindernis erschien, zum größten Segen für ihn
und andere, ja für das ganze Werk des Herrn. Wunderbare
Gnade! Ein Gefäß, unbrauchbar, ja verächtlich und
armselig in den Augen der Menschen, wurde in der Hand
Christi das mächtige Werkzeug zur Ausführung Seiner
großen Thaten. Es erfüllte sich, was der Herr einst zu
Anamas gesagt hatte: „Denn dieser ist mir ein auserwähltes
Gefäß, meinen Namen zu tragen, sowohl vor
Nationen als vor Könige und Söhne Israels". (Apstgsch.
9, 15.) Durch keinen andern Apostel ist ein solch ausgedehntes
Werk gethan, durch keinen ein solch mächtiges
Zeugnis für Christum und Seine Wahrheit abgelegt worden,
wie durch ihn. Wenngleich der Apostel in seiner Demut
und Bescheidenheit von sich selbst bezeugte, daß er der geringste
der Apostel sei, so konnte er doch hinzufügen: „Aber
durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und Seine
Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich
habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich,
sondern die Gnade Gottes, die mit mir war."
(1. Kor. 15, 9. 10.) Die Gnade erhob sich über die
Schwachheit, und ließ allerorten den Wohlgeruch Christi
durch den Apostel ausströmen. <2. Kor. 2, 14.)
Wie reich und mächtig, wie vollkommen genügend ist
doch die Gnade Christi! Und was sie einst war, das ist sie
heute noch, ebenso mächtig, zu wirken und zu segnen wie
damals. Weder die Untreue und der Verfall der Kirche,
noch die Trennung und Verwirrung unter den Gläubigen
hat sie zu schwächen vermocht. Trotz allem und jedem
verfolgt sie ungehindert und unbeschränkt ihren gesegneten
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Weg. Dies bezeugen unter anderm die vielen Bekehrungen,
welche in unsern Tagen in allen Ländern der Erde stattfinden
; und die Gnade bindet sich dabei an keine besonderen
Werkzeuge, an keine Korporation oder religiöse Benennung,
sondern wirkt frei und unumschränkt, wie und wo sie
will. Dies wird auch die große Volksmenge bezeugen, die
sogar noch nach der Aufnahme der Braut, in den finstern
Tagen des allgemeinen Abfalls, gerettet werden wird.
(Offbg. 7, 9.s Die Gnade Christi genügt vollkommen zu
allen Zeiten und für alle, die ihrer bedürfen und von ihr
Gebrauch machen. Sie war genügend für Paulus, als
ihn der Engel Satans mit Fäusten schlug; sie war genügend
in den Zeiten schrecklicher Verfolgungen: sie ist
genügend für uns, wenn alles um uns her im Verfall ist,
und sie wird genügend sein für den Ueberrest in den Tagen
der großen Drangsal.
Die Gnade kann sich eines jeden beliebigen Werkzeuges,
selbst eines unbekehrten Menschen, zur Ausführung
ihrer Absichten bedienen, ohne daß ein solcher deswegen
von Gott anerkannt wäre, oder irgendwelchen Nutzen davon
hätte. Vielmehr ruht auf jedem solchen Werkzeug
eine ernste Verantwortlichkeit, die umso ernster ist, wenn
dasselbe etwas zu sein vorgiebt, und der Wahrheit nicht
gehorcht. Denn „Gott widersteht den Hochmütigen, den
Demütigen aber giebt Er Gnade." (1. Petr. 5, 5.) Die
Gnade verbindet sich nie mit den Anmaßungen des Menschen;
und wir werden persönlich nur insoweit Nutzen von ihr
haben, als wir uns unsrer Schwachheit bewußt sind. Nichts
entschwindet uns aber leichter als dieses Bewußtsein; denn
nichts liegt uns näher als Selbstvertrauen, und vor allem
dann, wenn Gott uns irgendwelche Vorzüge oder Gaben
geschenkt hat. Ohne es zu ahnen und zu wollen, können
wir durch das Fleisch in uns getäuscht und betrogen
werden; und wenn Gott uns dann nicht in Seiner Gnade
zu Hilfe kommt, so werden wir der Kraft Christi sehr bald
verlustig gehen.
Geliebter christlicher Leser! prüfe dich ernstlich im
Lichte Gottes, ob alles in deinem täglichen Leben der Ausdruck
der Gnade und der Kraft Christi ist. Eine solche
Prüfung ist heilsam und notwendig, mag sie anch oft zu
unsrer tiefen Demütigung gereichen. Denn alles, was nicht
durch die Gnade in und durch uns gewirkt ist, kommt aus
der Natur, aus dem Fleische hervor; und das Fleisch ist
nie listiger und gefährlicher, als wenn es den Schein der
Geistlichkeit und Frömmigkeit annimmt. Auch steht zu befürchten,
daß vieles in unsern: Leben, namentlich bei den
jüngeren unter uns, mehr die Folge der Erziehung, der
Bildung und des christlichen Einflusses ist, uuter welchem
wir stehen oder gestanden haben, als die Frucht der Gnade.
Und wenn es so ist, so mangelt die Kraft Christi, und sobald
irgend eine Versuchung an uns herantritt, zeigt sich
die alte Natur in ihre» verschiedenen Formen: Eigenwille,
Hochmut, Eitelkeit und dergl. -- ein Beweis, daß ihre
Kraft nicht gebrochen ist.
Eine ungebrochene Natur und die Kraft Christi können
aber niemals Zusammengehen; vielmehr bildet die erstere
das größte Hindernis für die Offenbarung der letzteren,
und ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich sage, daß
hierin eine der Hauptursachen des allgemein so niedrigen
Zustandes in unsern Tagen zu suchen ist. Vor allem
sollte der Arbeiter im Werke des Herrn sich oft an die
Worte erinnern: „Meine Kraft wird in Schwachheit
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vollbracht". Es genügt nicht, eine Gabe oder reiche Erkenntnis
oder mannigfache Fähigkeiten vom Herrn empfangen
zu haben; es genügt auch nicht, zu laufen und zu predigen.
Wenn der Diener des Herrn nicht seine Schwachheit kennt
und fühlt, so mag er vielleicht schöne Vorträge halten, die
Schrift erklären und sie der Wahrheit gemäß vorstellen
können, aber anstatt dies in der Kraft Christi zu thun, stellt er
nur seine Erkenntnis und seine Gaben zur Schau. Vielleicht
thut er dies nicht in bewußter Absicht, aber dennoch darf
er sicher fein, daß seine Worte, so wahrheitsgemäß und
sorgfältig gewählt sie sein mögen, leer und kraftlos sind.
Es ist unstreitig ein großes Vorrecht, im Werke des Herrn
thätig zu sein, und die Gnade Christi genügt vollkommen
dazu; aber es ist und bleibt eine der ersten Bedingungen
für einen Diener Christi, seiner eignen Schwachheit und
Kraftlosigkeit eingedenk zu bleiben. Eine ungebrochene
Natur kennt keine Abhängigkeit von der Gnade, keine Notwendigkeit,
aus der Kraft Christi zu schöpfen; sie geht
vielmehr selbständig und in eigner Kraft voran. Und
dies ist nur so schlimmer, wenn ihr eine gewisse natürliche
Freiheit oder gar Dreistigkeit eigen ist, die sich leichtfertig
über alles hinwegzusetzen vermag. Sie richtet stets großen
Schaden an, am meisten aber dann, wenn sie sich in
den Dienst des Herrn stellen will.
Doch ich möchte noch einen Schritt weiter gehen.
Wir müssen nicht nur unsrer Schwachheit eingedenk bleiben,
sondern sie auch bekennen. Paulus bekannte sie, ja, er
rühmte sich ihrer: „Daher will ich am allerliebsten mich
vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft
des Christus über mir wohne". (2. Kor. 12, ll.) Wir
sind oft geneigt, unsre Schwachheit und Armut unter einem
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Scheine von Kraft zu verbergen; zu thun, als könnten
und vermöchten wir etwas, während wir doch selbst unsre
Leere nur zu sehr fühlen. Und so kann es kommen, daß
wir, trotz des Bewußtseins unsres Nichts, in eigner Kraft
und in Anmaßung voranzugehen versuchen, anstatt demütig
auf den Herrn zu warten und Seiner Kraft Raum zu
lassen. Ach! wir sind so sehr um unsre eigne Ehre besorgt,
wir wollen uns nicht gern eine Blöße geben, nicht
gern unsre Armut vor uns selbst und andern eingestehen.
Aber heißt das mit andern Worten nicht, uns selbst zum
Mittelpunkt machen? Könnte ein solches Verhalten Wohl
ein Leben und ein Dienst für Christum genannt werden?
Der Leser möge selbst antworten.
Andrerseits ist es ein Zeichen von Treue und Aufrichtigkeit,
wenn ein Diener Christi seine Schwachheit offen
nnd ehrlich bekennt, und nicht mehr sein will, als er in
der That ist. Paulus hatte Wohl Ursache, sich zu rühmen,
denn er war im dritten Himmel gewesen; aber er sagt:
„Ich enthalte mich aber dessen, auf daß nicht jemand höher
von mir denke, als was er an mir sieht, oder was er
von mir hört". Glücklicher Apostel, der, also frei von
sich selbst, kein Hehl aus seinen Schwachheiten machte,
vielmehr sich derselben rühmte, damit Christus allein verherrlicht
werde! Er zog sich gern zurück, und war zufrieden,
in den Hintergrund gestellt zu werden, damit
Christus in allen Dingen den Vorrang habe und hoch erhoben
werde.
Der Apostel hatte durch die Prüfung, welche der
Herr hatte über ihn kommen lassen, viel gelernt, und es
ist in der That ein großer Segen, wenn der Herr uns
Wege führt, die uns ein tiefes Gefühl von unsrer Schwach
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heit geben. Wir sind zwar nicht in Gefahr, wie Paulus,
uns wegen hoher Offenbarungen zu überheben. Aus
diesem Grunde bedürfen wir nicht eines Dornes für
das Fleisch. Aber es giebt mancherlei andere Gefahren
für uns, und wir können nichts für den Herrn sein, noch
die Zusage Seiner Gnade verwirklicht sehen, es sei denn
dah zuvor unsre eigne Kraft gebrochen ist. Deshalb läßt
der Herr auch uns zuweilen durch den Ofen der Trübsal
gehen, und ist Seine Liebesabsicht erreicht, der eigne Wille
und die eigne Kraft gebrochen, so sind wir wahrhaft glücklich,
und fähig, Ihn selbst für die Trübsale zu preisen.
Sie erscheinen uns dann nicht mehr als ein Hindernis,
sondern vielmehr als eine Gelegenheit, die Entfaltung der
Kraft Christi zu erfahren', und dies umsomehr, je tiefer
die Pflugfchar eingedrungen ist. Wir erfahren, daß Seine
Gnade völlig und für alles genügt. Nichts kann sie verhindern,
alles das ausznführen, was ihr gefällt, und sich
selbst in und durch uns zu verherrlichen. Welch ein Glück,
solche Erfahrungen zu machen und mit dem Apostel sagen
zu können: „Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwach--
heilen, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an
Aengsten für Christum; denn wenn ich schwach bin,
dann bin ich stark"!
Die Rückkehr der Bundeslade.
(2. Sam. 6 und 1. Chron. 13.)
Als David die Kunde von dem Tode Sauls und
Jonathans erhielt, gab er seiner tiefen Trauer über beider
unrühmliches Ende Ausdruck. Er hatte, wie wir wissen,
in seinem Verhalten Saul gegenüber stets der Thatsache
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Rechnung getragen, daß Saul der Gesalbte Jehovas war,
und auch jetzt, bei der Nachricht von seinem Tode, ist er
weit davon entfernt, über den Fall seines bittern Feindes
zu frohlocken. Im Gegenteil, er weint über ihn und
fordert andere auf, dasselbe zu thun; ja, er stimmt ein
ergreifendes Klagelied an „über Saul und Jonathan, die
Geliebten und Holdseligen in ihrem Leben, die Helden
und Rüstzeuge des Streites". Auch finden wir nichts
von einer ungeziemenden Hast, den jetzt leeren Königsthron
zu besteigen. Er wartet ruhig auf den Herrn.
„Und es geschah hernach, da befragte David Jehova und
sprach: Soll ich hinaufziehen in eine der Städte Judas?
Und Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf. Und David
sprach: Wohin soll ich hinaufziehen? Und Er sprach:
Nach Hebron." (2. Sam. 2, 1.) Das war wahre Abhängigkeit.
Die Natur hätte sicherlich nicht eilig genug
den Boden betreten können, wo Ehre und Ruhm zu erlangen
waren; aber David wartete auf den Herrn, und sein
Gehen und Stehen stand unter göttlicher Leitung. Welch
ein Glück würde es für ihn gewesen sein, wenn er während
seiner ganzen Laufbahn in dieser kindlichen Abhängigkeit
verblieben wäre! Wie manche bittere Stunde und schmerzliche
Erfahrung würde ihm erspart geblieben sein!
Aber ach! wir werden weit mehr Spuren der Natur
bei David finden während der Zeit seiner Erhebung, als
in der Zeit seiner Verwerfung und seines Umherirrens in
der Wüste. Eine Zeit des Friedens und Wohlergehens
bringt manche Keime des Bösen'zum Wachstum und zur
Reife, welche durch die scharfe Luft der Widerwärtigkeiten
erstickt worden wären. David mußte die Entdeckung
machen, daß das Königtum weit dorniger und ge
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fährlicher für ihn war als die Wüste mit allen ihren
Entbehrungen.
Davids erster großer Fehler nach seiner Thronbesteigung
bezog sich auf die Lade des Herrn. Er wünschte
sie in die Stadt Jerusalem zu bringen und an eine ihr
geziemende Stätte zu stellen. Das war an und für sich
ein schöner und richtiger Wunsch. Aber wie mußte derselbe
zur Aussührung gebracht werden? Das war die ernste
Frage. Nun, es gab zwei Wege: der eine war vorgeschrieben
durch das Wort Gottes, der andere durch die
Priester und Wahrsager der Philister. Das Wort Gottes
redete klar und deutlich bezüglich dieses Punktes. Es gab
sehr einfache und bestimmte Anweisungen darüber, wie die
' Lade Jehovas der Heerscharen getragen werden solle, nämlich
auf den Schultern lebender Männer, die zu diesem
Zweck bestimmt und ausgesondert waren. (Vergl. 4. Mose
3 u. 8.) Aber die Philister wußten davon nichts und
hatten deshalb einen Weg angeraten, den sie selbst erfunden
hatten und der, wie zu erwarten stand, dem Worte
Gottes schnurstracks widersprach. (Vergl. 1. Sam. 6.) So
oft die Menschen sich daran machen, in göttlichen Dingen
Regeln und Gesetze aufzustellen, dürfen wir sicher sein,
daß sie die schlimmsten Fehler machen werden; denn „der
natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes
ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht
erkennen, weil es geistlich beurteilt wird". Obwohl der
Plan, der von den Philistern entworfen und befolgt worden
war, nach menschlichem Urteil sehr zweckentsprechend und
geziemend sein mochte, so war er doch nicht vonWott.
Die Diener des Hauses Dagons waren wenig dazu geeignet,
Anordnungen für den Dienst des Gottes Israels
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zu treffen. Sie hielten einen neuen hölzernen Wagen für
das passendste Gefahr zur Fortschaffung der Bundeslade,
und für Dagon hätten sie sicher kein passenderes finden
können, und zwischen Jehova nnd Dagon kannten sie keinen
Unterschied. Sie hatten einst vor der Bundeslade gezittert,
aber durch die Untreue Israels hatte dieselbe ihren feierlichen
Charakter für sie verloren; und obwohl die Zerstörung
ihres Gottes und die schweren Plagen, welche die
Bewohner des Landes getroffen hatten, nicht ohne Eindruck
geblieben waren, so verstanden sie doch die tiefe Bedeutung
der Bundeslade nicht, noch kannten sie ihren wunderbaren
Inhalt. Das überstieg ihre Begriffe, und deshalb wußten
sie auch keinen bessern Rat bezüglich ihrer Fortschaffung
zu geben.
Aber Gottes Gedanken waren nicht ihre Gedanken,
und David hätte die göttlichen Gedanken kennen und von
vornherein danach handeln sollen. Er hätte wissen sollen,
daß im Dienste Gottes die Gedanken und Ueberlieferungen
der Menschen völlig verwerflich sind. Es ist ein schlimmes
Ding, wenn die Söhne des Reiches sich nach weltlichem
Muster bilden und in die Fußstapfen der Kinder dieser
Welt treten. Sie können dies nie thun, ohne einen großen
Verlust für ihre Seelen zu erleiden und der Wahrheit
und dem Zeugnisse ernstlich zu schaden. Die Philister
mochten einen neuen Wagen bauen, um auf ihm die
Bundeslade in das Land Kanaan zurückzubringen, ohne
daß irgend etwas eingetreten wäre, was ihnen ihre Thorheit
gezeigt hätte; aber Gott konnte nicht zugeben, daß
David so handelte. Und so mögen auch jetzt die Kinder dieser
Welt Glaubensbekenntnisse aufstellen, Vorschriften erlassen
und religiöse Gebräuche einführen, ohne daß Gott sie in
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ihrem Thun hinderte. Aber sollten die Kinder Gottes von
ihrem hohen Platze herabsteigen und ihre Vorrechte als
solche, die durch den Geist und das Wort Gottes geleitet
werden, aufgeben und sich durch solche Dinge beeinflussen
und leiten lassen? Nimmermehr; wenn sie es thun, so
werden sie sicherlich großen Schaden leiden.
David mußte seinen Fehler auf dem Wege bittrer
Erfahrung kennen lernen; denn „als sie zur Tenne Kidon
kamen, da streckte Ussa seine Hand aus, um die Lade zu
fassen; denn die Rinder hatten sich losgerissen". Die
Schwachheit, Thorheit und Verkehrtheit der ganzen Sache
trat hier mit einem Schlage ans Licht. Die Leviten, die
Diener Gottes, hatten die Bundeslade vom Horeb bis an
den Jordan getragen, und niemals hören wir, daß die
Lade in Gefahr gekommen wäre, umzustürzen. Nein, denn
so war es der Weg Gottes, und Sein Weg ist immer
gut und vollkommen; aber der Wagen und die Rinder
waren der Weg des Menschen. Das war der große Unterschied.
Wer würde in früheren Tagen daran gedacht
haben, daß ein Israelit die Lade des Gottes Israels auf
einen von Rindern gezogenen Wagen stellen würde? Aber
das ist immer das betrübende Resultat, sobald wir in
irgend einer Weise das geschriebene Wort verlassen und
menschlichen Meinungen folgen. „Die Rinder hatten sich
losgerissen." Kein Wunder; denn so etwas geschieht ja
oft. Alle die Anordnungen, welche David in bester
Meinung getroffen hatte, waren nach göttlichem Urteil
„schwach und armselig", und der Herr machte dies offenbar.
Die Bundeslade hätte nie in eine solch unwürdige
Lage kommen sollen. Aber so geht es, wie gesagt, wenn
man Menschen folgt, anstatt einfach und bedingungslos
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sich durch Gottes Wort leiten zu lassen. David hatte sich
mit den Obersten und Fürsten Israels beraten und zu der
ganzen Versammlung Israels gesagt: „Wenn es euch
gut dünkt, und wenn es von Jehova, unserm Gott,
ist". Wie natürlich war dies auch, nachdem das ganze
Volk, hoch und niedrig, nach Hebron gekommen war, um
David zum König zu machen über ganz Israel, und nachdem
sie von allen Seiten Lebensmittel, Feigenkuchen und
Rosinenkuchen, Wein und Oel, Rind- und Kleinvieh in Menge
zusammengebracht hatten! (Kap. 12, 38—40.) Ach, es war
natürlich, menschlich, aber schnurstraks den Gedanken Gottes
zuwider. Während seines Umherziehens in der Wüste hören
wir nicht, daß David sich jemals mit seinen Obersten beraten
oder gar zu seiner Schar gesagt hätte: „Wenn es euch
gut dünkt, und wenn es von Jehova, unserm Gott, ist"
— indem er so dem Menschen den ersten Platz und dem
Herrn den zweiten eingeräumt hätte. Nein, er fragte
einfach Jehova, was er thun solle, und dann ging er in
glücklicher Gemeinschaft mit Gott den richtigen Weg und
machte herrliche Erfahrungen.
Und so werden wir es thun, geliebter christlicher
Leser, wenn diese einfältige, demütige Gesinnung in unsern
Herzen ist und wir das Wort des lebendigen Gottes zu
unsrer ausschließlichen Richtschnur machen. Aber ach!
wieviel wird gerade in unsern Tagen in religiösen Dingen
nach menschlichem „Gutdünken" gehandelt! Rechts und
links hört man immer wieder die alte, verwerfliche Sprache:
„Wenn es euch gut dünkt — wenn es den heutigen Verhältnissen
angemessen ist — wenn wir niemandem Anstoß
damit geben" u. s. w. u. s. w. Statt einfältig und mit
heiliger Furcht auf Gottes Gebote zu lauschen, treu an
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denselben festzuhalten und ihnen mit Entschiedenheit nachzukommen,
alle Folgen getrost Gott überlassend, lauscht man
auf die Meinungen anderer, vielleicht sehr ehrenwerter
Männer, oder auf die Eingebungen des eignen Herzens,
zieht Umstände und Verhältnisse in Rechnung und überschlägt
die möglichen Folgen. Aber was sagt Gott? „Auf
diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen
Geistes ist, und der da zittert vor
meinem Worte." (Jes. 66, 2.)
„Da entbrannte der Zorn Jehovas wider Ussa, und
Er schlug ihn, darum daß er seine Hand nach der Lade
ausgestreckt hatte; und er starb daselbst vor Gott." —
Ja, das Gericht „muß bei dem Hause Gottes anfangen".
Der Herr richtete David für dieselbe Sache, welche die
Philister gethan hatten, ohne daß Gott Notiz davon
genommen hätte. Je näher jemand bei Gott ist, desto
ernster und schneller wird er für alles Böse gerichtet
werden. Das ist indes kein Trost für den Ungläubigen;
denn wenn der Apostel sagt: „Die Zeit ist gekommen,
daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes", so fügt
er alsbald hinzu: „wenn aber zuerst bei uns, was wird
das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht
gehorchen! Und wenn der Gerechte mit Not errettet wird,
wo will der Gottlose und Sünder erscheinen!" (1. Petr. 4,
17. 18.) Wenn Gott Sein eignes Volk richtet, was wird
dann aus dem armen Kinde dieser Welt werden! Obgleich
die Philister dem Gericht Gottes bezüglich ihrer Behandlung
der Bundeslade entgingen, mußten sie ihm doch in
einer andern Weise begegnen. Gott handelt mit allen
nach Seinen eigenen heiligen Grundsätzen, und der Bruch
an Ussa war bestimmt, um in David eine wahre Erkenntnis
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der Gedanken Gottes bezüglich der Lade Seiner Gegenwart
hervorzurufen.
Indes scheint diese Wirkung anfänglich nicht erreicht
worden zu sein; denn wir lesen: „Und David entbrannte,
weil Jehova einen Bruch gemacht hatte an Ussa; und er
nannte selbigen Ort Perez-Ussa (Bruch Ussas), bis auf diesen
Tag. Und David fürchtete sich vor Gott an selbigem Tage und
sprach: Wie soll ich die Lade Gottes zu mir bringen?"
Welch eine tiefe, heilsame Unterweisung liegt in allem
diesem für uns! David that eine richtige Sache in der
verkehrten Weise, und als Gott sein Verhalten richtete,
verzweifelte er daran, sie überhaupt ausführen zu können.
Das ist ein sehr häufig vorkommender Fehler. Wir
beginnen irgend etwas in einer verkehrten Weise oder in
einem unrichtigen Geiste, was Gott selbstverständlich nicht
anerkennen kann; und dann vermengen wir unsre Gesinnung
oder unsre Handlungsweise mit dem Dienst, den wir zu
thun beabsichtigten, und legen mut- und hoffnungslos die
Hände in den Schoß. Wir müssen immer unterscheiden
zwischen dem, was jemand thut und wie er es thut.
Es war richtig für David, die Bundeslade nach Jerusalem
zu holen; es war unrichtig, sie auf einen neuen Wagen
zu stellen. Der Herr billigte das erste, aber mißbilligte
und richtete das zweite.
Gott wird Seinen Kindern nie erlauben, Sein Werk
auf die Dauer nach verkehrten Grundsätzen zu betreiben.
Er mag sie eine Zeitlang dahingehen lassen, und sie mögen
scheinbar große Erfolge haben, wie wir dies auch
von David lesen: „David und ganz Israel spielten vor
Gott mit aller Kraft: mit Gesängen und mit Lauten und
mit Harfen und mit Tamburins und mit Cymbeln und
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mit Trompeten". Wahrlich, ein eindrucksvolles Schauspiel!
Wer hätte angesichts desselben einen Einspruch erheben und
David verurteilen mögen! Waren doch der König, seine
Fürsten und Obersten, ja das ganze Volk an diesem prächtigen
Aufzuge beteiligt. Und wem galt all dieses Musizieren
und Jubilieren? Wem anders als dem Herrn der ganzen
Erde, dessen Lade vor ihnen Herzog? Und doch, wie bald
sollte sich die Freude in Trauer, der Jubel in schmerzliche
Klage verwandeln! Die Rinder rissen sich los, und Ussa
streckte seine Hand aus, in dem eitlen Wahn, Gott würde
erlauben, daß die Lade Seiner Gegenwart zu Boden
stürze. Er, der die Würde der Bundeslade selbst in der
Einsamkeit des Hauses Dagons aufrecht erhalten hatte,
hätte sie sicherlich auch vor aller Verunehrung inmitten
der Fehler Seines Volkes beschützt. Es war eine ernste
Sache, sich der Lade Gottes zu nähern, eine ernste Sache,
Hand an das zu legen, (und geschah es selbst in der besten
Absicht,) was das ausdrucksvolle Bild der göttlichen
Gegenwart inmitten der Gemeinde Israels war. Es ist
eine ebenso ernste Sache, den Namen Jesu zu tragen und
betraut zu sein mit den Wahrheiten, welche mit Seiner
heiligen Person in Verbindung stehen. Wir alle sollten
den Ernst dieser Sache tiefer fühlen, als wir es thun.
Wir sind nur zu geneigt, es als etwas nicht so Wichtiges
zu betrachten, unsre Hand an die Bundeslade zu legen;
aber es ist eine höchst ernste, wichtige Sache, und alle,
die es zu thun versuchen, werden, gleich Ussa, für ihren
Irrtum büßen müssen.
Indessen möchte gefragt werden: Ist denn der Hut
und Bewahrung der Kirche etwas anvertraut, das der
Bundeslade entspräche? Ja; und zwar ist es die Person
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des Sohnes Gottes. Seine göttliche und menschliche Natur
finden sich in dem Golde und dem Akazienholz, aus
welchen die Bundeslade gefertigt war, vorgebildet. Die
Bestandteile der Lade stellten Seine Person, die
Person des Gott-Menschen vor, während die
Bestimmung der Lade und des über ihr liegenden
Sühndeckels (des Gnadenstuhls) Sein Werk, sei es im
Leben oder im Tode, vorbildete. Im Innern der Lade
lagen die Gesetzestafeln, „das Zeugnis"; und der Sohn
Gottes konnte in Beziehung auf den Leib, der Ihm von
Gott bereitet war, sagen: „Dein Gesetz ist im Innern
meines Herzens". (S. Ps. 40.) Weiter redete der Gnadenstuhl
zu dem Sünder von Frieden und Vergebung, von
einer Barmherzigkeit, die sich wider das Gericht rühmt;
und der Apostel sagt: „welchen (Christus) Gott dargestellt
hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an Sein
Blut". (Röm. 3, 25.)
So sehen wir also, welch ein bezeichnendes, bedeutungsvolles
Vorbild die Bundeslade war von Ihm, dessen Lust
und Speise es war, das Wohlgefallen Jehovas zu thun,
von Jesu, dem Sohne Gottes, dessen herrliche Person der
besondere Gegenstand der ehrerbietigen und liebevollen Hut
des Gläubigen sein sollte. Und gerade so wie die sittliche
Kraft Israels stets mit der richtigen Anerkennung und Bewahrung
der Bundeslade in Verbindung stand, so wird es
sich auch stets erweisen, in welch inniger Beziehung die Kraft
der Kirche zu der Frage steht, ob sie die große und über
alles wichtige Lehre von dem Sohne in geziemender Weise
aufrecht erhält oder nicht. Es ist eitel, uns an dem Werke
unsrer Hände zu erfreuen und uns unsrer Erkenntnis,
unsers Zeugnisses, unsrer Gaben, unsers Dienstes oder
18
ähnlicher Dinge zu rühmen. Wenn wir nicht die Ehre des
Sohnes aufrecht erhalten, so sind wir thatsächlich wertlos;
wir wandeln dann nur in dem elenden Lichte, das Wir
uns selbst angezündet haben und das erlöschen wird, sobald
der Herr, gerade um Seiner Treue willen, gezwungen ist,
ins Mittel zu treten und einen Bruch an uns zu machen.
David „entbrannte" über den Bruch. Es war ein schreckliches
Halt, das ihm auf seinem Wege zugerufen wurde,
eine schmerzliche Störung der allgemeinen Freude; aber
es war nötig. Ein treues Auge entdeckte den kranken
Seelenzustand, welcher sich in dem neuen Wagen kundgab,
und der Bruch an Ussa sollte als Heilmittel dienen und
erwies sich auch als solches wirksam.
„Und David ließ die Lade nicht zu sich einkehren in
die' Stadt Davids; und er ließ sie in das Haus Obed-
Edoms, des Gathiters, bringen." Wie schade! David
ging eines reichen Segens dadurch verlustig, daß er auf
halbem Wege stehen blieb; denn die Lade Gottes konnte
nichts anderes als Segen auf alle bringen, die in der
rechten Weise mit ihr in Verbindung traten, obwohl sie
im entgegengesetzten Falle auch ernste Gerichte herbeisührte,
wie bei den Leuten von Beth-Semes (1. Sam. 6, 19)
und bei Ussa. Es war eine glückliche Zeit für Obed-
Edom, so lange die Lade in seinem Hause war, denn
„Jehova segnete das Haus Obed-Edoms und alles was sein
war". Während der ganzen Zeit, die David voll Furcht
ohne die Lade zubrachte, war Obed-Edom mit der Lade
gesegnet. Obgleich die Segnung sich nicht auf das ganze
Volk erstreckte, sondern nur auf einen engen Kreis beschränkt
blieb, so war sie doch gerade so wahr, wirklich und bestimmt,
als wenn ganz Israel sie genossen hätte. Wie
19
hätte es anders sein können? Die Segnung war ja das
Ergebnis der Gegenwart der Bundeslade. Gott bleibt
Seinen Grundsätzen stets treu und wird allezeit diejenigen
segnen und beglücken, welche im Gehorsam wandeln ; und
so wie Er Obed-Edom segnete, während die Lade bei ihm
war, wird Er jetzt alle diejenigen segnen, welche Jesum
ehren und in Einfalt und Wahrheit in Seinem Namen zusammenzukommen
suchen. „Wo zwei oder drei versammelt
sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte." Und
wo Christus gegenwärtig ist, da muß Segen sein. Schwachheit
und Armut mögen ohne Zweifel vorhanden sein, aber
dennoch auch Segen und Trost, weil Jesus da ist; und
je mehr wir unsre eigne Schwachheit und Leere, ja unser
ganzes Nichts fühlen, desto mehr werden wir Seine Gegenwart
schätzen und lieben.
Was uns not thut, sind nicht hinreißende Vorträge,
ist nicht die Macht der Beredsamkeit, nicht menschlicher
Verstand oder irgend etwas, das bloß von dem Menschen
kommt; was wir bedürfen, ist die Gegenwart Jesu, ohne
diese ist alles kalt, dürre und leblos. Aber wer könnte
beschreiben, wie lieblich es ist, die Gegenwart unsers Herrn
und Meisters zu verwirklichen! Wer könnte den Gefühlen
derer Ausdruck geben, welche es erfahren haben, wie der
Tau des göttlichen Segens auf sie herabträufelte! Gott
sei Dank, daß es in unsern Tagen, wo die traurigen
Ergebnisse und Wirkungen der menschlichen Ueberlieferung
in der Kirche so offenbar ans Licht treten, es etwas giebt,
das dem Hause Obed-Edoms, des Gathiters, gleicht, wo
die Gegenwart der wahren Bundeslade und die daraus
sich ergebenden Segnungen Gottes in etwa gekannt und
genossen werden können! Möchten wir dies mehr und
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mehr schätzen und würdigen inmitten der unbefriedigenden
Formen und Ceremonieen um uns her!
Verweilen wir jetzt noch einen Augenblick bei der
gnädigen Art und Weise, in welcher Gott die Seele Seines
Knechtes David wiederherstellte. Das Leben des Gläubigen,
das ja einer ununterbrochenen Kette von Fallen und
Wiederaufstehen, von Jrregehen und Wiederzurechtbringen
gleicht, stellt einerseits die traurige Schwachheit des Menschen
(selbst eines Gottesmannes wie David) ans Licht und
andrerseits die wunderbare Gnade und Kraft Gottes.
Zwischen den beiden Berichten über das Einholen der
Bundeslade in dem 2. Buche Samuels und in dem 1. Buche
der Chronika besteht ein bemerkenswerter Unterschied. In
dem ersten haben wir die einfache Erzählung der Thatsachen,
in dem zweiten einen Bericht von der inneren Erziehung,
durch welche die Seele Davids ging während der Zeit, daß
er „entbrannt" war, oder mit andern Worten, während der
Zeit, daß er unter den Folgen seines Fehlers litt. In
2. Sam. 6 lesen wir: „Und es ward dem König David
berichtet und gesagt: Jehova hat das Haus Obed-Edoms
und alles, was sein ist, gesegnet um der Lade Gottes
willen. Und David ging hin und holte die Lade Gottes
herauf aus dem Hause Obed-Edoms in die Stadt Davids
mit Freuden." David lernte, daß es, anstatt aus Furcht
so fern zu stehen von der Bundeslade, sein Vorrecht war,
ihr nahe zu sein. In 1. Chronika 14 dagegen finden
wir David im Kampf mit den Philistern, und es wird
uns erzählt, wie er den Sieg über sie errang: „David
befragte Gott und sprach: Soll ich hinaufziehen wider die
Philister, und wirst du sie in meine Hand geben? Und
21
Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf, und ich werde sie in
deine Hand geben." Wie ganz anders handelt David hier
als im vorigen Kapitel! Anstatt seine Heere zu sammeln
und unverweilt in den Kampf zu ziehen, anstatt mit den
Obersten und Fürsten zu beratschlagen, befragt er Gott,
so wie er es früher gethan hatte; und wie herrlich war der
Erfolg! „Da zogen sie hinauf nach Baal-Perazim, und
David schlug sie daselbst; und David sprach: Gott hat
meine Feinde durch meine Hand durchbrochen, gleich einem
Wasserdurchbruch. Daher nannte man den Namen selbigen
Ortes Baal-Perazim" (d. i. Ort der Brüche oder Durchbrüche).
Ein „Bruch" und ein „Ort der Durchbrüche" sind
zwei sehr verschiedene Dinge. Gott hatte einen Bruch
unter Israel gemacht, aber unter den Philistern machte er
nicht nur einen Bruch, sondern Er brachte sie an einen
Ort der Durchbrüche, und David hätte daraus
lernen können, welch einem armseligen Beispiel er gefolgt
war, als er den Wagen für die Bundeslade baute. Wir
mögen sehr eifrig sein für die Ehre und Verherrlichung
Gottes; aber je größer unser Eifer ist, desto mehr wird er
Schaden bringen, wenn er nicht mit Einsicht gepaart geht.
Wir werden alles verderben, wie David im vorigen Kapitel
es that; und wir können jene Einsicht in die Gedanken
Gottes nur dann erlangen, wenn wir uns, im Gefühl unsrer
Abhängigkeit und Ohnmacht, von Gott belehren lassen.
Schließlich sah David denn auch seinen Fehler ein.
Gottes wunderbar gnädige Belehrungsmethode brachte ihre
gesegnete Wirkung hervor. In Kap. 15 lesen wir von ihm:
„Und er machte sich Häuser in der Stadt Davids, und er
bereitete einen Ort für die Lade Gottes und spannte ihr
22
ein Zelt auf. Damals sprach David: Die Lade Gottes
soll niemand tragen, als nur die Leviten: denn sie hat
Jehova erwählt, die Lade Gottes zu tragen und Seinen
Dienst zu verrichten ewiglich." Und zu den Häuptern
der Väter der Leviten hören wir ihn sagen: „Heiliget
euch, ihr und eure Brüder, und bringet die Lade Jehovas,
des Gottes Israels, hinauf an den Ort, welchen ich ihr
bereitet habe. Denn weil ihr das vorige Mal nicht da
wäret, so machte Jehova, unser Gott, einen Bruch unter
uns, weil wir Ihn nicht suchten nach der Vorschrift."
So wurde Davids Seele völlig wiederhergestellt.
Er kam zu der Einsicht, daß es gegen die Vorschrift ist,
wenn man dem Strome menschlicher Gedanken folgt.
Niemand kann belehren wie Gott. Als David einen
verkehrten Weg einschlug, machte Gott einen Bruch an ihm
mit Seiner eignen Hand. Er erlaubte nicht den Philistern,
dies zu thun; nein, Er erlaubte im Gegenteil Seinem irrenden
Knechte, die Philister an einem Ort der Durchbrüche
zu sehen, und befähigte ihn, sie zu schlagen, „sie zu durchbrechen
gleich einem Wasserdurchbruch". So lehrte Gott,
und so lernte David die göttliche „Vorschrift" : so lernte
er gleichsam die Lade von dem neuen Wagen abheben und
sie auf die Schultern der Leviten legen, „die der Herr erwählt
hatte, um Seinen Dienst zu verrichten ewiglich".
So wurde er belehrt, allen eignen oder fremden Meinungen
den Rücken zu kehren und einfältig dem geschriebenen Worte
Gottes zu folgen, in welchem über Wagen und Rinder
keine Silbe zu finden war. „Die Lade Gottes soll niemand
tragen, als nur die Leviten." Das war bestimmt
und deutlich. Aber diese bestimmte, deutliche Vorschrift
hatte David vergessen.
23
Doch noch einmal, in welch einer gnädigen Weise belehrte
der Herr Seinen Knecht! Er unterwies ihn durch
Siege über seine Feinde! Als David seinen eignen Gedanken
folgte, machte Gott einen Bruch an ihm und
seinem Volke; als er aber den Platz der Abhängigkeit
wieder erlangt hatte, da gab Gott ihm einen Ort der
Brüche unter den Philistern. So leitet Gott Seine Kinder
oft zu der Erkenntnis Seiner Gedanken, wenn sie in ihrer
Thorheit der Weise der Menschen dieser Welt folgen. Er
zeigt ihnen, daß sie solche Vorbilder nicht wählen sollten.
Der Bruch belehrte David über seinen Fehler, der Ort
der Brüche über die Gedanken Gottes, über Seine
Vorschrift. Gott ist treu, Er kann sich selbst nicht verleugnen.
Er kann den Seinigen nicht erlauben, Seine
Gebote leichthin zu behandeln. Die Bundeslade würde
daher bis ans Ende hin im Hause Obed-Edoms geblieben
sein, wenn David nicht gelernt hätte, seine eignen Gedanken
fahren zu lassen und der göttlichen Vorschrift zu
folgen.
„Und die Priester und die Leviten heiligten sich, um
die Lade Jehovas, des Gottes Israels, hinanfzubringen.
Und die Söhne der Leviten trugen die Lade Gottes auf
ihren Schultern, indem sie die Stangen auf sich
legten, so wie Mose geboten hatte nach dem
Worte Jehovas." In allem diesem wurde Gott
verherrlicht, und deshalb konnte Er Kraft und Freude
darreichen. Da war kein Gedanke mehr an ein Sichlos-
reißen der Rinder oder an ein menschliches Eingreifen, um
die Lade vor einem Sturz zu bewahren. Die göttliche
Wahrheit wurde beachtet und aufrecht erhalten, und fo
konnte Gott handeln. In demselben Maße wie die Wahr
24
heit verlassen und anfgeopfert wird, schwindet die geistliche
Kraft. Es mag viel Schein, viel Anmaßung vorhanden
sein, aber keine Wirklichkeit. Wie wäre es auch möglich?
Gott ist die Quelle aller wahren Kraft, und Gott kann
sich nicht mit etwas verbinden, was nicht in vollem Einklang
mit Seiner Wahrheit steht. Obgleich daher „David
und ganz Israel vor Gott gespielt hatten mit aller Kraft",
war Gott doch in Wirklichkeit ausgeschlossen. Sein Gebot
wurde nicht beachtet, die Leviten und die Sänger waren
nicht da, und alles endete in Verwirrung nnd Trauer.
Wie ganz anders ist cs hier im 15. Kapitel! Hier
begegnen wir wahrer Freude und wahrer Kraft. „Und
es geschah, da Gott den Leviten half, welche die
Lade des Bundes Jehovas trugen, so opferten sie sieben
Farren und sieben Widder. Und David war angethan
mit einem Oberkleide von Bhssus, und auch alle Leviten,
welche die Lade trugen, und die Säuger, und Kenanja,
der Anführer des Gesanges der Sänger; und David trug
ein leinenes Ephod." (V. 26. 27.) In der That, hier
haben wir ein Schauspiel vor uns, mit welchem Gott sich
verbinden konnte. Er half nicht den Rindern, und Er
half nicht dem Ussa, aber Er half den Leviten. Sie hatten
einst die Lade trockenen Fußes durch den Jordan getragen,
sie hatten mit ihr sieben Tage lang die Mauern Jerichos
umzogen, und niemand anders als sie durfte sie jetzt nach
Jerusalem hinaufbringen. Gottes Ordnung und Vorschrift
ist schließlich die allein richtige und glückliche. Sie mag sich
nicht immer dem menschlichen Urteil empfehlen, aber sie
wird stets Gottes Anerkennung finden, und das ist mehr
als genug für jedes treue Herz. David wurde befähigt,
den Spott Michals, der Tochter Sauls, zu ertragen, weil
25
er vor dem Herrn handelte. Hören wir seine
schöne Antwort auf ihre spöttische Bemerkung: „Vor Jehova,
der mich erwählt hat vor deinem Vater und vor seinein
ganzen Hause, mich als Fürst zu bestellen iiber das Volk
Jehovas, über Israel, ja vor Jehova will ich
spielen; und ich will noch geringer werden
denn also und will niedrig sein in meinen
Augen." (2. Sam. 6, 21. 22.) Welch ein herrlicher Entschluß
! Möchten auch wir alle ihn fassen und durch die
Gnade Gottes ihn ausführen! Niedrig in unsern eignen
Augen, aber glücklich in Gott. In den Stand nns niederbeugend
in dem Gefühl unsers Nichts und unsrer Unwürdigkeit,
aber hoch erhoben in dem Bewußtsein der Gnade und
Freundlichkeit Gottes.
Der Leser wird in dem folgenden Kapitel (1. Chron. 16)
die liebliche Wirkung des in obigem Ausspruch sich kundgebenden
Geistes finden. Der ganze Gesang ist von Anfang
bis zu Ende ein Verbergen der eignen Person und eine
Entfaltung des Charakters und der Wege Gottes. Das
bloße Lesen desselben erquickt und erfrischt das Herz. Eine
eingehende Betrachtung des Kapitels würde uns zu weit
führen, aber ich möchte den Leser bitten, es mit Aufmerksamkeit
und unter Gebet zu lesen. Nur über den
letzten Vers des Gesanges sei noch ein kurzes Wort gesagt,
da er die vier großen Charakterzüge des Volkes
Gottes in wenigen Worten vor uns bringt.
„Rette uns, Gott unsrer Rettung, und sammle und
befreie uns aus den Nationen; daß wir preisen deinen
heiligen Namen, daß wir uns rühmen deines Lobes."
Bezieht sich dieser Vers auch zunächst nur auf Israel, so
ist er doch sicher auch auf die Gläubigen der jetzigen Zeit
26
anwendbar. Die Kirche Gottes ist eine errettete Körperschaft.
Errettung ist die Grundlage von allem. Wir können
nicht eher einem der andern Charakterzüge in diesem
Verse entsprechen, bis wir uns errettet wissen durch die
Gnade Gottes, mittelst des Todes und der Auferstehung
Christi.
In Kraft dieser Errettung wird die Kirche „gesammelt"
durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen
Geistes. Alle, die sich Seiner Leitung unterwerfen, werden
in die Gemeinschaft mit ihren Mitgläubigen eingeführt.
Die Weise des Heiligen Geistes ist nicht Vereinzelung,
sondern Vereinigung, nnd zwar Vereinigung in der Wahrheit.
Die Menschen schaffen Vereinigungen auf religiösem
Boden, ohne als Grundbedingung die vollkommene Errettung
eines jeden Einzelnen durch das kostbare Blut Jesu
aufzustellen. Das ist nicht die Weise des Heiligen Geistes;
Er sammelt nur zu Jesu hin und auf Grund dessen, was
Jesus gethan hat. Das Bekenntnis Christi, als des Sohnes
des lebendigen Gottes, ist der Felsen, auf welchen die
Kirche gebaut ist. Nicht Uebereinstimmung in religiösen
Ansichten macht wahre Gemeinschaft aus, sondern der Besitz
eines allen gemeinsamen Lebens, in Verbindung mit dem
verherrlichten Haupte im Himmel.
Nun, jemehr diese göttliche Bereinigung erkannt und
verwirklicht wird, desto mehr werden wir den nächsten
Charakterzug verstehen: „befreie uns aus den Nationen"
— d. i. Absonderung. Die Kirche ist aus der Welt
herausgenommen; sie gehört nicht mehr zu ihr, obwohl sie
berufen ist, in ihr zu zeugen. Innerhalb der Kirche steht
alles unter der Leitung und Regierung des Heiligen Geistes;
außerhalb befindet sich alles unter der Herrschaft Satans,
27
des Fürsten dieser Welt. Das ist die Lehre der Schrift
über die Kirche. Der Apostel konnte daher, in Verbindung
mit dem Ausschluß eines Bösen aus der Mitte der Versammlung
in Korinth, reden von der Ueberlieferung eines
solchen an Satan zum Verderben des Fleisches. (1. Kor. 5.)
Außerhalb der Grenzen der Kirche liegt ein weiter, finstrer
Bereich, über welchen Satan herrscht, gleich jener öden
Gegend, in welche der Aussätzige aus dem Lager Israels
verbannt wurde. (3. Mose 13, 46.)
Schließlich finden wir als vierten Charakterzug Lob
und Anbetung: „daß wir preisen deinen heiligen
Namen, daß wir uns rühmen deines Lobes". Dies folgt
aus den drei Stücken, die wir soeben betrachtet haben.
Errettung, Vereinigung, Absonderung und Anbetung —
das sind die vier Dinge, welche sich in der wahren Kirche
Gottes vereinigt finden. Durch das Blut Christi erlöst
und sich ihrer Errettung in der Gegenwart Gottes
erfreuend, wird sie durch den Heiligen Geist in eine
heilige und glückliche Gemeinschaft eingeführt, und so,
außerhalb des Lagers für Jesum abgesondert, bringt sie
Gott die Frucht der Lippen dar, welche Seinen Namen
bekennen.
Nicht immer währt die Wüstenreise»
„Werfet nun eure Zuversicht nicht weg, die eine
große Belohnung hat » . Denn noch über ein gae
Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht
verziehen." (Hebr. 10, 35. 37.)
Nicht immer währt die Wüstenreise,
Sie kürzet täglich, stündlich ab.
Drum, Pilgrim, frischen Mut beweise,
Bald ruht am Ziel dein Wanderstab.
28
Ob Sonnengluten dich ermatten,
Ob's mühsam geht durch tiefen Sand,
Schau auf! schon winkt dir kühler Schatten
Und Ruhe zu aus jenem Land.
Nicht immer währt das Bangen, Sorgen,
Das Mühen, Seufzen dieser Zeit;
Bald kommt ein wolkenloser Morgen
Im Freudenglanz der Ewigkeit.
Und jetzt schon darfst du froh genießen
Des Vaters Liebe — welch ein Glück! —
Von der dir Segensströme fließen.
Drum richte aufwärts deinen Blick!
Nicht immer währt das Glauben, Hoffen,
Der Wüstenreise Kampf und Leid;
Durch Jesum steht der Eingang offen
Zu Himmels-Pracht und Herrlichkeit;
Wo bald verklärt in sel'gem Frieden
Auf ewig ruht der Pilger Schar,
Ihn preisend, der im Kampf hienieden
Ihr treuer Hirt und Helfer war.
Ja, droben wohnet süßer Frieden,
Und Liebe waltet ungestört;
Dort giebt's kein Seufzen, kein Ermüden,
Nie klagt ein Herze grambeschwert.
Gestillt ist jegliches Begehren,
Und nimmer wird ein Sehnen laut;
Nur Freude wird den Blick verklären,
Weil jedes Auge Jesum schaut.
Drum, Pilgrim, ziehe ohne Zagen
Boran — der Herr bringt dich ans Ziel! —
Und lerne leiden ohne Klagen,
Bald ruhst du droben froh und still.
Ja, harre aus die kleine Weile,
Bald führt dich Jesus droben ein.
Der Tage Zahl verrinnt in Eile,
Ein jeder kaun der letzte sein.
Davids Haus und das Haus Gottes.
(2 Sam. 7 und 1. Chron. 29.)
Es giebt wohl nichts, was die Enge des menschlichen
Herzens mehr ans Licht stellt, als die Art und Weise,
wie es die göttliche Gnade erfaßt. Gesetzliches Wesen liegt
uns allen so nahe; und warum? Weil es dem eignen Ich
einen Platz einräumt und aus ihm etwas macht. Aber
gerade das kaun Gott niemals zugeben. „Auf daß sich
vor Ihm kein Fleisch rühme", ist ein göttlicher Beschluß,
der nimmer umgestoßen werden kann. Gott muß alles
sein, alles thun und alles geben.
Wenn der Psalmist einst fragte: „Wie soll ich Jehova
alle Seine Wohlthaten an mir vergelten?" so war das
sicherlich eine Frage, die Gott wohlgefiel und durch Seinen
Geist hervorgerufen war. Aber wie lautete die Antwort?
„Den Becher der Rettungen will ich nehmen."
(Pf. 116.) Willst du Gott Seine Wohlthaten „vergelten",
Ihm etwas „wiedergeben" für all das Gute, das Er an
dir gethan hat, so „nimm" umso reichlicher aus Seiner
gütigen Hand. Ein dankbarer, nicht zweifelnder Empfänger
der Gnade sein, das verherrlicht Gott weit mehr als alles,
was wir Ihm wiedergeben könnten.
Das Evangelium der Gnade Gottes setzt den Menschen
als ein ruiniertes, hilfloses, schuldiges Wesen gänzlich beiseite.
Es betrachtet und behandelt ihn als einen, der,
30
Wenn sich selbst überlassen, nichts anderes zu thun vermag,
als alles zu verderben und selbst jedem Segensvorsatz
Gottes nur Widerstand entgegenzusetzen. Deshalb muß
Gott in der Erlösung der allein Handelnde sein. In
Seinen gnädigen und allweisen Ratschlüssen allein wnrde sie
geplant, „ehe die Berge eingesenkt wurden". Durch Seine
unwiderstehliche Macht allein wurde sie ausgeführt, und
zwar „in dem ein für allemal geschehenen Opfer des Leibes
Jesu Christi" ; und durch Seinen ewigen Geist allein kann
ein toter Sünder lebendig gemacht und zum Glauben gebracht
werden an die herrliche, friedengebende Botschaft
von dem vollbrachten Werke Jesu Christi.
Wie sehr berechtigt ist deshalb die Frage des Apostels:
„Wo ist denn der Ruhm?" — Er i st ausgeschlossen.
In einem Bereich, zu welchem der Mensch nur Zutritt
hat als ein unwürdiger Empfänger, giebt es keinen Ruhm
für ihn. Wie glücklich sollte uns das machen! Wie
herrlich ist es, Gegenstände einer Gnade zu sein, welche
alle unsre Sünden auslöscht, das Gewissen zur Ruhe
bringt und alle Zuneigungen des Herzens für Gott heiligt!
Ewig gepriesen sei die Quelle, aus welcher, und der
Kanal, durch welchen diese errettende Gnade schuldigen,
verdammungswürdigen Sündern zufließt!
Das 7. Kapitel des 2. Buches Samuel ist voll
reichster Belehrung hinsichtlich dieses großen Grundsatzes
der Gnade. Der Herr hatte Großes an Seinem Knecht
David gethan; Er hatte ihn aus seiner Verborgenheit an
einen erhabenen Platz berufen und ihn wunderbar gesegnet.
David fühlte dies; wohin er blickte, begegnete sein Auge
den reichen Gnadenbeweisen, mit welchen Gott seinen Pfad
bestreut hatte. „Und es geschah, als der König in seinem
31
Hause wohnte, und Jehova ihm ringsumher Ruhe geschafft
hatte von allen seinen Feinden, da sprach der König zu
Nathan, dem Propheten: Siehe doch, ich wohne in einem
Hause von Cedern, und die Lade Gottes wohnt unter
Teppichen." (V. 1. 2.)
Beachten wir den Ausdruck: David „wohnte in
seinem Hause". Er war in Ruhe gebracht, alle seine
Feinde waren besiegt, und er wohnte friedlich in seinem
Hause. War es ein Wunder, wenn er es jetzt für an der
Zeit hielt, etwas für Gott zu thun? Nein; und doch
waren seine Gedanken über den Bau eines Hauses für
die Lade Gottes ganz und gar verkehrt. Es war allerdings
wahr, daß die Bundeslade noch unter Teppichen
wohnte. Aber weshalb war es so? Weil die Zeit für
sie noch nicht gekommen war, eine Ruhestätte zu finden.
Gott war von jeher in vollstem Mitgefühl mit Seinem
geliebten Volke umhergewandelt. Befanden sie sich in
dem Feuerofen ägyptischer Sklaverei, so erschien Er in
einem brennenden Dornbüsche: vollführten sie die lange,
ermüdende Reise durch die öde, heiße Wüste, so zog Sein
Wagen allezeit in ihrer Gesellschaft einher, nnd Er brachte
Seine Herrlichkeit gleichsam in Berührung mit dem Wüstensande.
Standen sie unter den drohenden Mauern Jerichos,
so erschien Er als ein Kriegsmann, mit dem gezückten
Schwerte in Seiner Hand, um als ihr Heeroberster vor
ihnen herzuziehen. So waren Gott und Israel zu allen
Zeiten zusammen: waren sie thätig, so war Er es auch,
und so lange s i e nicht ruhen konnten, wollte Er auch nicht
ruhen. Aber David begehrte ein Haus zu bauen und
einen Ruheplatz für Gott zu finden, ehe noch das Werk
der Besiegung der Feinde nnd der Ausrottung des Bösen
32
ganz vollendet war. Er wünschte sich von dem Platze und
Dienste eines Kriegsmannes zurückzuziehen und in den
Dienst eines Mannes der Ruhe einzutreten. Aber das
war unmöglich; es war den Gedanken und Ratschlüssen
des Gottes Israels zuwider.
„Und es geschah in selbiger Nacht, da geschah
das Wort Jehovas zu Nathan und sprach: Gehe hin und
sprich zu meinem Knechte, zu David: So spricht Jehova:
Solltest du mir ein Haus bauen zu meiner Wohnung?
denn ich habe nicht in einem Hause gewohnt von dem
Tage an, da ich die Kinder Israel aus Ägypten herauf
geführt habe bis auf diesen Tag; sondern ich wandelte
umher in einem Zelte und in einer Wohnung." (V. 5. 6.)
Der Herr wollte nicht erlauben, daß die Sonne aufging,
ehe Er den Fehler Seines Knechtes korrigiert hatte; noch
in derselben Nacht erging Sein Wort an den Propheten,
und die Art Seines Korrigierens ist sehr charakteristisch.
Er stellt Seine früheren Handlungen, Israel und David
gegenüber, Seinem Knechte vor Augen und erinnert ihn
daran, daß Er niemals ein Haus oder eine Ruhestätte
für sich begehrt habe, sondern stets mit Seinem Volke
umhergewandelt sei auf allen ihren Zügen und in allen
ihren Bedrängnissen. „Wo immer ich wandelte
unter allen Kindern Israel, habe ich zu einem der Stämme
Israels, dem ich gebot, mein Volk Israel zu weiden, ein
Wort geredet und gesagt: Warum habt ihr mir nicht ein
Haus von Cedern gebaut?" (V. 7.)
Welch eine liebliche, rührende Gnade giebt sich in
diesen Worten kund! Der hochgelobtc Gott stieg hernieder,
um mit Seinem pilgernden Volke durch „das Geheul der
Wildnis" zu ziehen. Er setzte Seinen Fuß auf den Sand
33
der Wüste, weil Israel dort war, und Er ließ Seine
Herrlichkeit unter einer Decke von Dachsfellen wohnen,
weil Seine Erlösten sich noch im Kampfe hienieden befanden.
Jehova begehrte nicht ein Haus von Cedern; deshalb
war Er nicht herabgekommen; deshalb hatte Er Sein
Volk in der Stunde ihrer Drangsal nicht besucht. Er
war herabgekommen, zu geben, nicht zu nehmen;
darzureichen, nicht zu fordern; zu dienen, nicht sich bedienen
zu lassen. Allerdings mußte Gott Sein Volk,
nachdem es sich sam Berge Horeb unter einen Bund der
Werke gestellt hatte, prüfen durch einen Dienst, welcher
durch die Worte „thun" und „geben" gekennzeichnet war;
aber wenn sie in der Kraft des ursprünglichen Bundes
Gottes mit Abraham geblieben wären, so würden sie niemals
solche Worte in Verbindung mit dem erschreckenden
Donner des Berges Sinai vernommen haben. Wenn Gott
sie aus der Hand des Pharao und aus dem Hause der
Knechtschaft erlöste; wenn Er sie auf Adlers Flügeln trug
und sie zu sich brachte; wenn Er für sie einen Weg durch
das Meer bahnte und die Heerscharen Ägyptens in den
Fluten umkommen ließ; wenn Er am Tage in einer
Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule vor
Israel Herzog, um sie durch die pfadlose Wüste zu leiten —
wenn Er alle diese Dinge und viele, viele andere für sie
that, so geschah es sicherlich nicht auf Grund dessen, was
sie thun oder geben konnten, sondern einfach auf Grund
Seiner ewigen Liebe und Seines Gnadenbundes, den Er
mit Abraham gemacht hatte. Und was haben sie alledem
gegenüber gethan? Sie haben Seine Gnade verworfen,
Sein Gesetz mit Füßen getreten, Seine Warnungen verachtet,
Sein Erbarmen von sich gewiesen, Seine Propheten
34
gesteinigt, Seinen Sohn gekreuzigt und Seinem Geiste
widerstanden. Das war ihr Thun von Anfang bis zu
Ende: und die bittren Früchte dieses Thuns ernten sie
heute und werden sie so lange ernten, bis sie dahin
kommen, sich demütig und dankbar dem Bunde der Gnade
zu unterwerfen.
Indem Gott Seinem Knechte diese Dinge ins Gedächtnis
rief, belehrte Er ihn über die Verkehrtheit seines
Wunsches, Ihm ein Haus zu bauen. „Solltest du mir
ein Haus bauen zu meiner Wohnung? . . . Und nun
sollst du also zu meinem Knechte David sagen: So spricht
Jehova der Heerscharen: Ich habe dich von der Trift
genommen, hinter dem Kleinvieh weg, daß du Fürst sein
solltest über mein Volk, über Israel; und ich bin mit dir
gewesen überall, wohin dn gegangen bist, und habe alle
deine Feinde vor dir ausgerottet, und habe dir einen
großen Namen gemacht, gleich dem Namen der Großen,
die auf Erden sind. Und ich werde einen Ort setzen für
mein Volk, für Israel, und werde es pflanzen, daß es am
feiner Stätte wohne und nicht mehr beunruhigt werde;
und die Söhne der Ungerechtigkeit sollen es nicht mehr
bedrücken, wie früher und seit dem Tage, da ich Richter
bestellt habe über Israel. Und ich habe dir Ruhe geschafft
vor allen deinen Feinden; und Jehova thut dir kund, daß
Jehova dir ein Haus machen wird." (V. 8—11.) Die
Geschichte Davids sollte, gleich derjenigen seines Volkes,
von Anfang bis zu Ende eine Geschichte der Gnade sein.
Er wird im Geiste von der Schafhürde zum Throne, und
vom Throne in die endlosen Zeitalter der Zukunft geführt
und muß erkennen, daß der ganze Verlauf seiner Geschichte
von den Handlungen einer unumschränkten Gnade gekenn
35
zeichnet ist. Gnade hatte ihn von der Trist des Kleinviehs
genommen, Gnade hatte ihn auf den Thron gesetzt, Gnade
hatte seine Feinde ihm unterworfen, Gnade sollte ihn weiter
geleiten und tragen, und Gnade sollte seinen Thron und
sein Haus befestigen aus ewig. Alles war Gnade. Es
war ein richtiges Gefühl, wenn David erkannte, daß der
Herr viel an ihm gethan hatte; ein Cedern-Palast war
etwas Großes für den Hirten von Bethlehem. Aber was
war das alles im Vergleich mit der Zukunft ? Was war alles,
was Gott in der Vergangenheit gethan hatte, verglichen
mit dem, was Er noch thun wollte? „Wenn deine Tage
voll sein werden, und du bei deinen Vätern liegen wirst,
so werde ich deinen Samen nach dir erwecken, der aus
deinem Leibe kommen soll, und werde sein Königtum befestigen.
Der wird meinem Namen ein Haus bauen; und
ich werde den Thron seines Königtums befestigen auf ewig."
(V. 12. 13.) So sollte nicht nur die kurze Spanne Zeit,
welche David regieren würde, den Stempel der göttlichen
Gnade tragen, nein, „es wurde von seinem Hause geredet
in die Ferne hin", ja bis in Ewigkeit.
Mein Leser! Auf wen, denkst du, werden unsre
Gedanken in diesen herrlichen Verheißungen gerichtet?
Müssen wir denken, daß sie während der Regierung Salomos
voll und ganz erfüllt worden seien? Sicherlich nicht. So
herrlich die Regierung dieses Fürsten auch gewesen sein
mag, so entsprach sie doch keineswegs dem wunderbaren
Gemälde, welches hier vor dem Geistesauge Davids entrollt
wird. Sie glich in einem Sinne nur einem vorübergehenden
Lichtblick, einem flüchtigen Moment, während
dessen ein glänzender Sonnenstrahl den Horizont Israels
erleuchtete; denn kaum haben wir den Höhepunkt, zu
36
welchem Salomo geführt wurde, erreicht, so tönen schon
die erschütternden Worte in unser Ohr: „Aber Salomo
liebte viele fremde Weiber re.". Kaum hat der
Becher auserlesener Wonne den Rand der Lippen erreicht,
so wird er schon wieder zu Boden geschmettert, und das
enttäuschte Herz ruft aus: „Eitelkeit der Eitelkeiten! alles
ist Eitelkeit. — Alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach
Wind."
Das Buch des Predigers sagt uns, wie weit die
Regierung Salomos hinter einer vollen Verwirklichung der
in unserm Kapitel gegebenen Verheißungen zurückblieb.
In dem ganzen Buche begegnen wir den sehnsüchtigen
Klagen eines Herzens, das eine schmerzliche Leere fühlt
und nun vergeblich in dem weiten Bereich der Schöpfung
umherschweift, um einen befriedigenden Gegenstand zu
finden. Wir müssen deshalb über die Regierung Salomos
hinausblicken zu einem Größeren hin; zu Ihm hin, von
welchem der Geist durch Zacharias spricht: „Gepriesen sei
der Herr, der Gott Israels, daß Er besucht und Erlösung
geschafft hat Seinem Volke, und uns ein Horn des Heils
aufgerichtet hat in dem Hause Davids, Seines Knechtes,
(gleichwie Er geredet hat durch den Mund Seiner heiligen
Propheten, die von alters her waren,) Rettung von unsern
Feinden und von der Hand aller, die uns hassen, und
Barmherzigkeit zu vollbringen an unsern Vätern und Seines
heiligen Bundes zu gedenken, des Eides, den Er Abraham,
unserm Vater, geschworen hat." Und weiter, in der Anrede
des Engels an Maria: „Siehe, du wirst im Leibe
empfangen und einen Sohn gebären, und du sollst Seinen
Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und Sohn
des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird
37
Ihm den Thron Seines Vaters David geben; und Er
wird über das Haus Jakobs herrschen in die Zeitalter,
und Seines Reiches wird kein Ende sein." Hier kann
das Herz ohne Furcht und Zögern ruhen. Wir fühlen,
daß wir den Felsen der Zeitalter unter unsern Füßen
haben, und daß wir nicht, wie der Prediger, gezwungen
sind, den Mangel eines Gegenstandes zu beklagen, der
unsre Herzen auszufüllen und unsre Wünsche zu befriedigen
vermöchte. Nein, wir müssen vielmehr, gleich der Braut
im Hohenliede, unsre Unfähigkeit bekennen, den Gegenstand,
welchen Gott uns gegeben hat, voll und ganz zu genießen
— Ihn, „den Ausgezeichneten vor Zehntausenden, an
welchem alles lieblich ist".
„Seines Reiches wird kein Ende sein." Die Grundlagen
Seines Thrones liegen in den Tiefen der Ewigkeit;
Sein Szepter und Seine Krone tragen den Stempel der
Unvergänglichkeit. Kein Jerobeam wird dann zehn Teile
des Königreiches an sich reißen; nein, es wird ein unteilbares
Ganzes sein, unter der friedlichen Herrschaft Dessen,
der „sanftmütig und von Herzen demütig" ist. Das sind
die Verheißungen Gottes für das Haus Davids. Wohl
mochte der erstaunte Empfänger solcher Gnaden im Blick
auf alles das, was Gott bereits an ihm gethan hatte,
ausrufen: „Und dies ist noch ein Geringes gewesen in
deinen Augen, Herr, Jehova!" Was war die Vergangenheit
im Vergleich mit der Zukunft! Die Gnade leuchtete
mit lieblichem Schein aus der Vergangenheit, aber in der
Zukunft strahlte die Herrlichkeit in Hellem Glanze.
„Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben." Die Gnade
legt das Fundament, die Herrlichkeit schmückt so zu sagen
den Oberbau aus. Das ist in ganz besonderer Weise wahr
38
von der Kirche, wie wir dies aus dem Briefe an die Epheser
ersehen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unsers Herrn
Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen
Segnung in den himmlischen Örtern in Christo, wie Er
uns auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt
. . . zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin
Er uns begnadigt hat in dem Geliebten . . . damit wir
zum Preise Seiner Herrlichkeit seien." Und weiter: „Gott
aber, der reich ist an Barmherzigkeit ... hat uns mit
dem Christus lebendig gemacht, — durch Gnade seid ihr
errettet, — und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen
in den himmlischen Ortern in Christo Jesu, auf daß Er
erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwenglichen
Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in Christo Jesu."
In diesen Stellen treten Gnade und Herrlichkeit in
höchst, gesegneter Weise vor unsre Blicke. Die Gnade,
fußend auf unveränderliche Grundsätze, sichert die volle
Vergebung unsrer Sünden durch das kostbare Blut Christi,
sowie die völlige Annahme in Seiner geliebten Person,
während die Herrlichkeit in der Ferne die kommenden
Zeitalter mit ihren unvergänglichen Strahlen vergoldet.
So finden Glaube und Hoffnung Nahrung in dem kostbaren
Worte Gottes. Der Glaube ruht in der Vergangenheit,
die Hoffnung nimmt die Zukunft für sich voraus.
Der Glaube stützt sich auf das bereits vollendete
Werk Gottes, die Hoffnung blickt mit sehnlichem Verlangen
vorwärts auf die ihrer Vollendung noch harrenden Wege
und Handlungen Gottes. So ist der Gläubige für alles
und jedes auf Gott angewiesen. Hinsichtlich der Vergangenheit
stützt er sich auf das Kreuz; in der Gegenwart
wird er aufrecht erhalten und getröstet durch das Priestertum
39
Christi und die göttlichen Verheißungen; bezüglich der
Zukunft rühmt er sich in der Hoffnung der Herrlichkeit
Gottes. (Vergl. Röm. 5, 1. 2.)
Doch, so mögen wir fragen, was war die Wirkung
von diesem ganzen Ausbruch von Gnade und Herrlichkeit
auf den Geist Davids? Eins ist gewiß: sein Wunsch,
das Schwert mit der Kelle zu vertauschen, wurde in
gründlicher Weise korrigiert. Zugleich erkannte er sein
eignes Nichts und die Größe Gottes in all Seinem Thun.
„Und der König David ging hinein und setzte sich
nieder vor Jehova und sprach: Wer bin ich, Herr,
Jehova?" Diese Worte sind in doppelter Beziehung bemerkenswert.
Zunächst erweckt der Ausdruck: „David
setzte sich nieder vor Jehova", den Gedanken an ein völliges
Ruhen in Gott, das von irgendwelchen Zweifeln und Bedenken
nichts kennt. Gott selbst füllte den ganzen Gesichtskreis
der Seele Davids aus; wie hätte er deshalb
zweifeln können? Die Erinnerung an die Vergangenheit
ließ keinen Zweifel irgendwelcher Art aufkommen, als ob
Gott nicht willig oder imstande wäre, Seine Verheißungen
wahr zu machen. — Wie gesegnet ist es, so in der
Gegenwart Gottes zu sitzen, in dem vollen, wolkenlosen
Bewußtsein Seiner vergebenden, errettenden und bewahrenden
Liebe, und bei Seinen wunderbaren Gnadenwegen zu
verweilen! In der That, es ist schwer zu verstehen,
warum es so ist, warum Gott Seine Liebe solchen Geschöpfen
zugewandt hat, wie wir sind. Aber, Sein Name
sei gepriesen! es ist so, und unser Teil ist es, zu glauben
und uns zu freuen.
Der zweite bemerkenswerte Punkt in unsrer Stelle
ist die Frage Davids: „Wer bin ich?" David fühlte,
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daß er nichts und daß der Herr alles war. Er redet
nicht mehr von seinem Thun, von seinem Cedernhause
und von seinem Plane, für die Bundeslade ein Haus zu
bauen. Nein, er sinnt über das Thun Gottes nach, und
seine eignen Thaten schrumpfen in seinen Augen zu einem
Nichts zusammen. Dies mag manchem als eine selbstverständliche
Sache erscheinen; aber alle, die ein wenig
ihr stolzes, eigengerechtes Herz kennen gelernt haben, wissen,
daß es eine der schwersten Lektionen ist, welche der
Gläubige zu lernen hat. Abraham, David, Hiob, Paulus
und Petrus — alle erfuhren, wie schwer es ist, sich selbst
aufzugeben und Gott zu erheben; denn die ganze Natur
des Menschen ruht auf der entgegengesetzten Grundlage,
auf der Erhebung des eignen Ichs und der Beiseitesetzung
Gottes.
Der Mensch sucht immer etwas zu sein, und das
kann nicht geschehen, ohne die Ansprüche Gottes beiseite zu
setzen. Die Gnade kehrt jedoch die Sache um und macht
aus dem Menschen nichts, aus Gott alles. „Ist dieses
die Weise des Menschen, Herr, Jehova?" (B. 19.) Nein,
in der That, es ist nicht die Weise des Menschen, aber es
ist die Weise Gottes. Während der Mensch sich selbst
erhöht und sich so gern der Werke seiner Hände erfreut,
lenkt Gott seinen Blick von seiner eignen Person ab und
lehrt ihn, seine Selbstgerechtigkeit als ein unflätiges Kleid
zu betrachten, sich selbst zu verabscheuen, in Sack und
Asche Buße zu thun und sich an Christum zu klammern,
wie ein armer Schiffbrüchiger sich an den Felsen klammert,
auf den die Wogen ihn geworfen haben. So war es mit
David, als er vor Jehova saß; er verlor sich selbst aus
dem Auge, und seine Seele beugte sich nieder in heiliger
41
Anbetung vor Gott und Seinen Wegen. Das ist wahrer
Gottesdienst und ist gerade das Gegenteil von menschlicher
Religiosität. Erstere ist die Anerkennung Gottes in der
Kraft des Glaubens, letztere ist die Aufrichtung des Menschen
und seines Thuns in dem Geiste der Gesetzlichkeit. Ohne
Zweifel würden viele David für einen frommeren, eifrigeren
Mann gehalten haben, als er daran dachte, Jehova ein
Haus zu bauen, als zur Zeit, da er vor dem Angesicht
Jehovas saß. In dem einen Falle versuchte er etwas zu
thun, in dem andern that er anscheinend nichts; gleich
den beiden Schwestern in Bethanien, deren eine nach dem
Urteil der Natur alles zu thun schien, während die andere
müßig dasaß. Aber wie ganz anders sind die Gedanken
Gottes! Als David vor Jehova saß, befand er sich an
seinem richtigen Platze; als er ein Haus zu bauen suchte,
schlug er einen verkehrten Weg ein.
Indessen müssen wir nicht denken, daß die Gnade
jemals der Unthätigkeit oder Trägheit Vorschub leiste.
Weit davon entfernt! Sie will uns nur von eigner und
unverständiger Thätigkeit abhalten, aber niemals wird
sie uns hindern, wirklich für Gott thätig zu sein. Sie
hebt nicht den Dienst auf, sondern lenkt ihn nur in die
richtigen Bahnen. Sobald daher Davids Seele wiederhergestellt
war, sobald er gelernt hatte, daß es noch nicht an
der Zeit und daß er nicht der Mann war, das Schwert
niederzulegen und die Kelle zur Hand zu nehmen, wie
bereitwillig fügte er sich da! Wie bereitwillig zog er
wieder sein Schwert aus der Scheide und betrat noch
einmal als Kriegsmann das Schlachtfeld ! Wie bereit war
er, zurückzutreten und einem Andern den Bau des Tempels
zu überlassen!
42
Das ganze 8. Kapitel berichtet von weiteren Kämpfen
und Siegen Davids: er bekriegte alle die äußeren Feinde
Israels, erwarb sich dadurch einen noch größeren Namen
als Kriegsheld und bewies, wie gut er die Unterweisung
des Herrn verstanden hatte. So wird es immer sein bei
allen, welche die Bedeutung von Gnade und Herrlichkeit
verstanden haben. Es macht wenig aus, worin der Dienst
besteht, ob im Besiegen der Feinde oder im Bauen des
Tempels; der wahre, treue Knecht ist bereit sür alles,
was seine Hand zu thun findet und was der Herr ihm
zu thun giebt. Zugleich säuberte David durch sein Thun
den Boden für Salomo, so daß dieser die Grundlage des
Hauses legen konnte, welches sein Herz so innig zu bauen
begehrt hatte. Wahrlich, das hieß sich selbst verleugnen.
David blieb seinem Charakter als Diener treu bis zum
letzten Augenblick. Auf Bethlehems Fluren, im Terebinthen-
thal, im Hause Sauls, auf dem Throne Israels — überall
erblicken wir in ihm den treuen, hingehenden Diener.
Doch wir müssen uns noch zu andern Scenen
wenden, um die Verbindung Davids mit dem Bau des
Hauses Gottes noch genauer kennen zu lernen. Er mußte
in einer höchst bemerkenswerten Weise lernen, wo der
Grund des Hauses Jehovas gelegt werden mußte. Der
Leser wolle das 21. Kapitel des 1. Buches der Chronika
aufschlagen und es mit Aufmerksamkeit lesen. Es entspricht
dem 24. Kapitel in unserm Buche und berichtet den tiefen
Fall, den David that, indem er das waffenfähige Volk
zählen ließ. Er war stolz auf seine Heerscharen geworden,
oder richtiger auf die Heerscharen Gottes, welche er gern
als die seinigen betrachtet hätte. Er begehrte, eine
Musterung über seine reichen Hilfsquellen zu halten, und
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ach! er mußte erfahren, wie nichtig und leer sie waren.
Das Schwert des Würgengels mähte mit einemmale siebenzigtausend
von dem Volke, von Dan bis Beerseba, nieder und
brachte David so mit furchtbarem Ernst seine Sünde zum Bewußtsein.
Dies hatte die Wirkung, daß David nicht nur
vor Gott zusammenbrach, sondern daß auch jene liebliche, sich
selbst vergessende Gesinnung, die durch die Gnade in ihm
war, ans Licht trat. Hören wir nur seine rührenden
Worte, mit denen er seine eigne Brust dem Schwerte des
Gerichts darbot: „Und David sprach zu Gott: Bin ich
es nicht, der gesagt hat, das Volk zu Zählen? und i ch bin
es, der gesündigt und sehr übel gethan hat; aber diese
Schafe, was haben sie gethan? Jehova, mein Gott, es
sei doch deine Hand wider mich und wider das Haus
meines Vaters, aber nicht wider dein Volk zur Plage!"
Das war wirklich Gnade. David lernte zu sagen: „dein
Volk", und war bereit, für dasselbe in den Riß zu treten.
Gott hörte auf das Flehen Seines armen Knechtes
und sah seine aufrichtige Demütigung, und dem Zorne ward
gewehrt. Bei der Tenne Ornans, des Jebusiters, steckte
der Engel des Gerichts sein Schwert in die Scheide.
„Und der Engel Jehovas sprach zu Gad, daß er zu David
sage, David solle hiuaufgehen, um Jehova einen Altar
zu errichten auf der Tenne Ornans, des Jebusiters." Hier
also war die Stätte, wo die Gnade triumphierte und wo
ihre Stimme den Donner des Gerichts übertönte. Hier
floß das Blut des Opfertieres, und hier — beachten wir
es wohl, geliebter Leser! — wurde der Grund des Hauses
Jehovas gelegt. „Zu jener Zeit, als David sah, daß
Jehova ihm auf der Tenne Ornans, des Jebusiters, geantwortet
hatte, opferte er daselbst, lind die Wohnung
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Jehovas, die Mose in der Wüste gemacht hatte, und der
Brandopferaltar waren zu jener Zeit auf der Höhe zu
Gibeon. Aber David vermochte nicht vor denselben hinzugehen,
um Gott zu suchen; denn er war erschrocken vor
dem Schwerte des Engels Jehovas. Und David sprach:
Dieses hier soll das Haus Jehovas, Gottes, sein, und dies
der Altar zum Brandopfer für Israel. Und David sprach,
daß man die Fremdlinge versammeln sollte, die im Lande
Israel waren; und er stellte sie an als Steinhauer, um
Quadersteine für den Bau des Hauses Gottes zu hauen."
(Vergl. 1. Chron. 21 u. 22.)
Auf keine andere Weise hätte David so feierlich und
eindringlich über den Platz, wo das Haus des Herrn
erbaut werden sollte, belehrt werden können. Hätte der
Herr Seinem Knechte einfach den Berg Morija angewiesen
nnd es ihm überlassen, einen Bauplatz für den Tempel
daraus zu bestimmen, so würde er niemals eine Vorstellung
von dessen Bedeutsamkeit erhalten haben. Ja, der Herr
weiß Sein Volk zu leiten und es über die tiefen Geheimnisse
Seiner Gedanken zn belehren. Er unterwies Seinen
Knecht David zunächst durch Gericht und dann durch Gnade,
und brachte ihn auf diesem Wege zu der Stätte, wo Er
Seinen Tempel erbaut haben wollte. Durch seine eigne
Bedrängnis lernte David etwas über den Tempel Gottes,
was Er sonst nicht hätte lernen können, und dann machte
er sich daran, Vorbereitungen für den Bau desselben zu
treffen als einer, der durch seinen eignen tiefen Fall
Gottes Charakter kennen gelernt hatte.
„Dieses hier soll das Haus Jehovas, Gottes, sein."
Es war der Platz, wo die Barmherzigkeit sich wider das
Gericht gerühmt hatte, wo das Blut des Schlachtopfers
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geflossen und Davids Sünde ausgelöscht worden war.
Wie bedeutungsvoll ist das! Es war in der That ein
andrer Ausgangspunkt als in 2. Sam. 7. Statt zu sagen:
„Siehe, ich wohne in einem Hause von Cedern", konnte
David jetzt sagen: „Siehe, ich bin ein armer Sünder,
dem Vergebung zu teil geworden ist". Wie ganz anders
ist es, auf Grund dessen zu handeln, was Gott ist, als
auf Grund dessen, was wir sind! Das Haus Gottes
muß stets der Zeuge Seiner Gnade und Barmherzigkeit
sein, und dies ist wahr sowohl im Blick auf den Tempel
vor alters, als auch aus die Kirche Gottes heute. Beide
verkündigen laut das Triumphieren der Gnade über das
Gericht. Am Kreuze fiel der vernichtende Schlag der
Gerechtigkeit auf ein fleckenloses Opfer, und dann kam
der Heilige Geist hernieder, um Menschen um die Person
Dessen zu sammeln, der aus den Toten auferweckt worden
war. David begann die Quadersteine und die für die
Zusammenfügung des Hauses notwendigen Materialien zu
sammeln, sobald der Bauplatz für den Tempel bestimmt
war. Die Kirche ist der Tempel des lebendigen Gottes,
und Christus ist der kostbare Grund- und Eckstein desselben;
die Materialien für diesen Bau wurden vorgesehen und die
Stätte zur Grundlegung desselben gekauft in der Zeit der
Drangsale Christi; denn David stellt Christum in Seinen
Leiden dar, wie Salomo Ihn in Seiner Herrlichkeit vorbildet.
David war der Mann des Krieges, Salomo der
Mann der Ruhe. David mußte sich mit den Feinden
herumschlagen; Salomo konnte sagen: „Jehova, mein Gott,
hat mir Ruhe geschafft ringsum; da ist kein Widersacher
und kein schlimmes Begegnis". (1. Kön. 5, 4.) So wird
denn auch der Tempel, für dessen Bau Christus durch
46
Sein Leiden und Sterben Vorsorge getroffen hat, am Tage
Seiner Herrlichkeit in vollkommner Schönheit dastehen.
Obwohl das Urteil Davids bezüglich des Zeitpunktes
für den Tempelbau berichtigt werden mußte, so
bewies er doch am Ende, daß seine Liebe zu dem Hause
des Herrn deshalb nicht weniger tief und brennend war.
Er sagt am Schluffe seines Lebens: „Mit all meiner
Kraft habe ich bereitet für das Haus meines Gottes: das
Gold zu dem goldenen, und das Silber zu dem silbernen,
und das Erz zu dem ehernen, das Eisen zu dem eisernen,
und das Holz zu dem hölzernen Geräte; Onyxsteine und
Steine zum Einsetzen, Steine zur Verzierung und buntfarbig,
und allerlei wertvolle Steine und weiße Marmorsteine
in Menge." (1. Chrom 29, 2.) So leitet die
Gnade, wie bereits früher gesagt, den Dienst in seine
richtigen Bahnen und verleiht zugleich eine Thatkraft, welche
ein unzeitiger Dienst niemals aufweisen wird. David
hatte vor dem Angesicht des Herrn und auf der Tenne
Ornans, des Jebusiters, Lektionen gelernt, welche ihn
in wunderbarer Weise befähigten, die nötigen Vorbereitungen
für den Tempelbau zu treffen. Er konnte jetzt sagen:
„Mit all meiner Kraft habe ich bereitet". Und
weiter: „Und überdies, weil ich Wohlgefallen habe
an dem Hause meines Gottes, habe ich, was ich als eigenes
Gut an Gold und Silber besitze, für das Haus meines
Gottes gegeben, zu alledem hinzu, was ich für das
Haus des Heiligtums bereitet habe." Seine ganze Kraft
und das Wohlgefallen seines Herzens waren einem Werke
zugewandt, welches durch einen Andern zur Ausführung
gebracht werden sollte.
Die Gnade befähigt einen Menschen, sich selbst zu
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verbergen und Gott allein zu seinem Gegenstände zu machen.
Wenn Davids Auge auf den reichen Vorräten ruhte, die
sein Gott ergebenes Herz gesammelt hatte, so konnte er
sagen: „Aus deiner Hand haben wir dir gegeben".
— „Gepriesen seiest du, Jehova, Gott Israels, unsers
Vaters, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Dein, Jehova, ist
die Größe und die Stärke und der Ruhm und der Glanz
und die Pracht; denn alles im Himmel und auf Erden
ist dein. Dein, Jehova, ist das Königreich, und du bist
erhaben über alles als Haupt; und Reichtum und Ehre
kommen von dir, und du bist Herrscher über alles; und
in deiner Hand sind Macht und Stärke, und in deiner
Hand ist es, alles groß und stark zu machen. Und nun,
unser Gott, wir preisen dich, und wir rühmen deinen
herrlichen Namen. Denn wer bin ich, und was ist
mein Volk, daß wir vermöchten, auf solche Weise freigebig
zu sein? Denn von dir ist alles, und aus deiner
Hand haben wir dir gegeben. Denn wir sind Fremdlinge
vor dir und Beisassen, wie alle unsre Väter; wie ein
Schatten sind unsre Tage auf Erden, und keine Hoffnung
ist da, hienieden zu bleiben. Jehova, unser Gott, alle
diese Menge, die wir bereitet haben, um dir ein Haus
zu bauen für deinen heiligen Namen, von deiner Hand
ist sie, und das alles ist dein." (1. Chron. 29, 10—16.)
„Wer bin ich?" David war nichts, und Gott war
alles in allem. Wenn David jemals den Gedanken gehegt
hatte, Gott etwas darbringen zu können, so hegte er ihn
jetzt nicht mehr. Alles gehörte dem Herrn, und er hatte
in Seiner Gnade ihnen erlaubt, es Ihm zu opfern. Der
Mensch kann niemals Gott zu seinem Schuldner machen,
obwohl er es stets zu thun sucht. Der 50, Psalm, das
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1. Kapitel des Propheten Jesaja, das 17. Kapitel der
Apostelgeschichte, alle diese Stellen und viele andere beweisen
die unaufhörlichen Anstrengungen des Menschen, ob
Jude oder Heide, Gott etwas zu geben, als wenn Er
etwas bedürfe; aber es ist ein eitles Bemühen. Gottes
Antwort aus die Anstrengungen des Menschen, Ihn zu
seinem Schuldner zu machen, lautet: „Wenn mich hungerte,
ich würde es dir nicht sagen". Gott muß der Geber, der
Mensch der Empfänger sein. „Wer", fragt der Apostel,
„hat Ihm zuerst gegeben?" Der Herr nimmt in Seiner
Gnade gern von denen, die gelernt haben zu sagen: „Aus
deiner Hand haben wir dir gegeben": aber die Ewigkeit
wird zeigen, daß Gott der erhabene erste Geber ist.
Welch eine Gnade, daß es so sein wird! Wie gesegnet
ist es für den armen, schuldigen, bußfertigen Sünder, in
Gott den bereitwilligen Geber von allem kennen zu lernen,
was ihm not ist: den Geber des Lebens, der Vergebung,
des Friedens, der Heiligkeit und der ewigen Herrlichkeit!
Und wie beglückend war es für David, als er sich dem
Ende seiner bewegten Laufbahn näherte, sich und feine
Opfergaben verbergen zu können hinter der reichen Fülle
der göttlichen Gnade! Als er den Plan zu dem Tempel
seinem Sohne Salomo einhändigte, da konnte er es thun
in dem lieblichen Gedanken, daß dieses Haus allezeit als
das Denkmal der triumphierenden Gnade Gottes dastehen
würde. Noch wenige Jahre, und der Tempel sollte sich
in all seiner Pracht und Schönheit auf seinen Grundlagen
erheben; die Herrlichkeit sollte ihn mit ihrem strahlenden
Glanze von einem Ende bis zum andern erfüllen; doch
nie sollte es vergessen werden, daß er auf der geweihten
Stätte stand, wo dem verderbenden Fortschreiten des
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Gerichts durch die Barmherzigkeit Gottes Einhalt gethan
worden war, indem sie handelte auf Grund des Bekenntnisses:
„Ich habe gesündigt", und in Verbindung mit dem
Blute eines fleckenlosen Opfers.
Und wenn wir jetzt im Geiste von dem Tempel
Salomos zu jenem uns wenden, der am Ende der Tage
inmitten des geliebten Volkes Gottes sich erheben wird,
wie klar und deutlich tritt uns dann die Entfaltung derselben
himmlischen Grundsätze entgegen! Doch in noch
hellerem Glanze erstrahlt der Sieg der Barmherzigkeit
über jedes Hindernis und jede Schranke, wenn wir unsern
Blick von dem irdischen zu dem himmlischen Tempel erheben.
Ja, dort sehen wir, wie Gnade und Wahrheit,
Gerechtigkeit und Friede in ewigen, herrlichen Einklang
gebracht sind. Aus all dem Glanze tausendjähriger Herrlichkeit
heraus werden Israel hienieden und die Kirche
droben auf das Kreuz zurückblickeu als die Stätte, wo die
Gerechtigkeit ihr Schwert in die Scheide steckte und die
Hand der göttlichen Gnade jenen Bau zu errichten begann,
welcher in alle Ewigkeit dienen wird zum Preise und
Ruhme Gottes, des hochgelobten Gebers von allem.
„Auf daß sie eins seien, gleichwie wir."
(Joh. 17, 11.)
Der Herr will, daß die Seinigen eins seien, gleichwie
Er mit dem Vater eins ist. Wie zwischen Ihm und dem
Vater — in Weg, Absicht und Ziel — in jeder Beziehung
eine vollkommne Übereinstimmung besteht, so sollte
es auch im Blick auf die Seinigen sein. Es ist unser
hohes und gesegnetes Vorrecht, mit Gott in Übereinstimmung
50
zu sein inmitten einer Welt der Sünde und des Elendes,
wo alles Seinen Liebesabsichten entgegen ist. Selbstverständlich
setzt dies eine entschiedene Absonderung von dem
Geiste dieser Welt voraus. Deshalb sagt auch der Herr
in Seinem Gebet für die Seinigen: „Heiliger Vater,
bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast,
auf daß sie eins seien, gleichwie wir". Wir können nicht
mit einem verweltlichten und verunreinigten Herzen Gemeinschaft
mit Gott Pflegen; das ist unmöglich. Aber
welch einen unersetzlichen Verlust bedeutet es für uns,
wenn wir uns durch unsre Untreue für diese Gemeinschaft
unfähig machen! Denn die Gemeinschaft mit Gott ist
eine Quelle der Kraft und Freude, des Lichtes und Trostes,
weil man alsdann Seinen Weg wandelt, Seine Absichten
kennt und Seine Ziele verfolgt.
Wie unsicher find die Tritte vieler Gläubigen, weil
ihr Umgang und ihre Gemeinschaft mit Gott so schwach
und vielfach unterbrochen ist. Sie gleichen einem schwankenden,
vom Winde hin und her bewegten Rohre (Matth.
11, 7), oder der unruhigen Meereswoge, die vom Winde
hin und her getrieben wird (Jak. 1, 6); was ihre Stellung
zur Wahrheit betrifft, so werden sie von jedem Winde der
Lehre hin und her geworfen und umhergetrieben. (Ephes.
4, 14.) Sie werden eine Beute ihrer eignen Lüste, Gedanken
und Gefühle, oder der „Philosophie und des eitlen
Betrugs" (Kol. 2, 8), ein Spielball der Menschen und
Umstände. Gegen alles dieses schützt uns nur eine wirkliche
Gemeinschaft mit Gott, die, verbunden mit der vor
uns liegenden Hoffnung, uns einen sichern und festen Anker
bietet, der auch iu das Innere des Vorhangs hineingeht.
(Hebr. 6, 18. 19.)
51
Moses begehrte den Weg Gottes in der Wüste zu
wissen, „daß ich", wie er sagt, „dich erkenne". (2. Mose
33, 13.) Und man kann in Wahrheit Gott nicht nach
Seinem wahren Wesen erkennen, es sei denn daß man
Seinen Weg, Seine Absichten und Seine Ziele kennt.
Wie tröstlich ist es, den Weg Gottes zu unterscheiden
inmitten all des Elendes, welches die Sünde in die Welt
gebracht hat; zu verstehen die Wahrheit der Worte: „Gott
— Sein Weg ist vollkommen" ! (Ps. 18, 30.) Wohl
sührt er oft durch unergründliche Tiefen, wie geschrieben
steht: „Im Meere ist dein Weg, und deine Made in
großen Wassern, — deine Fußstapfen sind nicht bekannt".
(Ps. 77, 19.) Aber sein Anfang und sein Ende läßt uns
die Absicht und das Ziel Gottes sehen, und Ihn selbst
als Den erkennen, der Licht und Liebe ist. So wenig
wie die Wüste den Absichten und Zielen Gottes bezüglich
Seines Volkes Israel entsprach, als Er dieses aus Ägypten
führte, — Er wollte es vielmehr in ein gutes und geräumiges
Land bringen, in ein Land, das von Milch und
Honig floß — ebenso wenig lag diese Welt der Sünde
und des Todes in dem Plane Gottes, als Er die Welten
schuf und den Grund der Erde legte. Nein, Sein Ziel
war eine Welt des ewigen Lebens, voll ungetrübten Glückes
und reinster Freude, vorgebildet in dem Garten Eden/
aber völlig dargestellt in den ewigen Zeitaltern. Und zu
diesem, den Absichten Seiner unendlichen Liebe entsprechenden
Ziele führt Sein Weg, und keine feindselige Macht, weder
Sünde noch Tod, vermögen Ihm auf diesem Wege Einhalt
zu gebieten.
Welch ein Glück, in der Kraft des Heiligen Geistes
und in der Gemeinschaft mit Gott, dem Vater und dem
52
Sohne, diesen Weg zu erkennen! Er bildet unser Herz
Gott gemäß, macht uns eins mit Seinen Gedanken und
Absichten, erhebt uns über die Gegenwart und über alle
Umstände dieses Lebens. Und gerade dieses war es, was
der Herr bezüglich des praktischen Zustandes der Seinigen
im Auge hatte, als Er sagte: „auf daß sie eins seien,
gleichwie wir". Indem die Gläubigen mit Gott denselben
Weg und dasselbe Ziel verfolgen, sind sie sowohl in
völliger Übereinstimmung mit Ihm, als auch mit einander.
Wie ein und derselbe Geist in ihnen allen wohnt, so sind
sie auch gleichförmig getrennt von dem, was diesem Wege
und Ziele nicht entspricht.
Wir sehen den Sohn in vollkommner Übereinstimmung
mit dem Vater diesen Weg verfolgen; und indem wir Ihn
betrachten, erhalten wir einerseits einen wahren Begriff
von der in Rede stehenden Einheit, und thun andrerseits
einen Blick in die unergründliche Liebe und Weisheit
Gottes. Von Anfang bis zu Ende des Weges tritt diese
Übereinstimmung und Gemeinschaft zwischen dem Vater
nnd dem Sohne ans Licht. „Jehova besaß mich im
Anfang Seines Weges", lesen wir in Spr. 8, 22—31,
„vor Seinen Werken von jeher . . . Als Er die Grundfesten
der Erde feststellte: da war ich Schoßkind bei Ihm,
und war Tag sür Tag Seine Wonne, vor Ihm mich
ergötzend allezeit, mich ergötzend auf dem bewohnten Teile
Seiner Erde; und meine Wonne war bei den Menschenkindern."
Wie zeigen uns diese Worte die innige Gemeinschaft,
welche zwischen dem Vater und dem Sohne
von Ewigkeit her bestand: die Wonne des Vaters am
Sohne, die Freude des Sohnes im Schoße des Vaters!
Zugleich sehen wir den Menschen in dieselbe Gemeinschaft
53
und die damit verbundene Freude und Wonne eingeführt,
prophetisch dargestellt als das Ziel des Weges Gottes.
Gott aber sah im voraus das Eindringen der Sünde
in die Schöpfung und faßte daher auch im voraus Seinen
Vorsatz in Christo, dem Sohne Seiner Liebe. Er fing
Seinen Weg an und Er führt ihn zu Ende mit Ihm und
durch Ihn; einen Weg, der wie schon bemerkt, in der
Art und Weise seiner Ausführung die unergründliche
Liebe und Weisheit Gottes ans Licht stellt und uns mit
Anbetung erfüllt. Gott konnte durch ein bloßes Machtwort
die Welten ins Dasein rufen; „denn Er sprach,
und es war; Er gebot, und es stand da". (Psalm
33, 9.) Aber wie ganz anders war es, wenn es sich um
die Erlösung des sündigen Menschen und die Befreiung
einer fluchbeladenen Schöpfung handelte! Diese konnte
nur ausgeführt werden auf dem dornenvollen Pfade der
Leiden und der Aufopferung des geliebten Sohnes. Es
war ein Pfad göttlicher Langmut und Geduld; ein Pfad
des Ausharrens und der Arbeit, des Kämpfens und des
Ringens. „Mein Vater", sagte der Herr, „wirkt bis jetzt,
und ich wirke". (Joh. 5, 17.) Und dies alles unter dem
hartnäckigen Widerstand seitens einer gottlosen Welt, angesichts
des bittern Hasses und der Feindschaft des natürlichen
Herzens und der Macht der Finsternis. Wahrlich,
mit Recht kann unser anbetungswürdiger Heiland bezüglich
jedes Einzelnen Seiner Erlösten sagen: „Du hast mir
zu schaffen gemacht mit deinen Sünden, du hast mich
ermüdet mit deinen Missethaten". (Jes. 43, 24.)
Nun, in allem diesem verfolgte der Herr Jesus, in
völligem Einklang mit dem Vater, den einen Weg, der
zur Erfüllung der Absichten Gottes und zur Herbeiführung
54
des vorgesetzten Zieles führte. Um deswillen vertauschte
Er die Herrlichkeit des Himmels mit dieser öden, fluchbeladenen
Erde; Er, der Reiche, wurde arm um unsertwillen,
auf daß wir durch Seine Armut reich würden.
(2. Kor. 8, 9.) Er gab Sein Leben in den Tod, ja in
den Tod am Kreuze. Er achtete der Schande nicht um
der vor Ihm liegenden Freude willen (Hebr. 12, 2), dieser
Freude, die Er fühlen wird, wenn Er sich auf dem bewohnten
Teile Seiner Erde ergötzen und Seine Wonne
bei den Menschenkindern finden wird: wenn Satan gebunden,
die Kreatur freigemacht (Röm. 8, 21), und das
Weltall Seiner Herrlichkeit voll sein wird. Dieses Ziel
stand vor den Augen Gottes im „Anfang Seines Weges",
und wird vollkommen erreicht sein, wenn Er auf der neuen
Erde wohnen wird bei den Menschenkindern. (Offenb. 21, 3.)
Mein lieber Leser! ist dieses auch unser Weg, unsre
Absicht und unser Ziel? Sind wir eins, du und ich,
wie der Vater und der Sohn eins sind in der Verfolgung
dieses einen Weges und Zieles? Oder denken wir mehr
an uns selbst, an unsre eigne Ehre, an unsre Interessen,
anstatt an die Freude des Herrn Jesu? Es ist unser
hohes und gesegnetes Vorecht, in unserm schwachen Maße
mitzuwirken an der Erfüllung der Absicht Gottes und der
Herbeiführung Seines Zieles. Fördern oder hindern wir
die Sache Gottes durch unser Verhalten? Wofür leben,
arbeiten und bemühen wir uns Tag für Tag? Für die
Dinge des Himmels oder für die vergänglichen Dinge dieser
Erde? Paulus konnte sagen: „Deswegen erdulde ich alles
um der Auserwählen willen, auf daß auch sie die Seligkeit
erlangen, die in Christo Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit."
(2. Tim. 2, 10.) Er hatte beständig das Ziel im Auge
55
(Phil. 3, 14), und so wandelte er in dem Geiste und
der Gesinnung seines Herrn, in inniger Gemeinschaft mit
Ihm auf dem Wege des Sichselbstvergessens und der
Selbstaufopferung. Aber er genoß auch die Freude seines
Herrn auf diesem Wege, und er war glücklich in seinen
Leiden. Mochte die Gegenwart auch noch so trübe für
ihn sein, er überschaute mit klarem Blick den Weg Gottes,
und er war der festen Überzeugung, daß derselbe zum
herrlichen Ziele führen würde.
Welch ein Vorrecht, uns in Übereinstimmung zu
wissen mit den Gedanken und Absichten Gottes in unserm
praktischen Wandel, und mit Ihm ein und dasselbe Ziel
zu verfolgen! Indem wir diesen Weg in der Kraft und
Energie des Heiligen Geistes wandeln, verwirklichen wir
an unserm Teil den Willen des Herrn: „auf daß sie eins
seien, gleichwie wir".
Ein Herz für Christum.
Mancher meint, er thue etwas besonders Verdienstliches,
wenn er ein Wort für Christum und Seine Sache
einlege oder einen Thaler in die Missionsbüchse werfe,
etwa so wie wenn ein hochgestellter Mann in dieser Welt
einem Schwachen seine Hilfe angedeihen läßt oder einen Armen
mit einer Gabe unterstützt. Welch eine Thorheit und
zugleich welch eine Vermessenheit! Der Herr Jesus verlangt
nicht nach Gönnern, Er will keine Almosen; Er
verlangt danach, daß du Gemeinschaft mit Ihm habest
auf Seinem Pfade der Verwerfung. Er kam aus der
himmlischen Herrlichkeit herab und gab alles für uns dahin,
was die Liebe nur geben konnte; und jetzt schämt Er
sich nicht, uns Seine Brüder zu nennen und Seinen hohen,
56
heiligen Namen mit uns zu verbinden. „Siehe, ich und
die Kinder, welche Gott mir gegeben hat." Welch
eine Entschiedenheit, welch eine Hingebung, welch ein
ganzes Herz für Ihn sollte das in uns Hervorrufen!
Ist es nicht ein Vorrecht, ein unaussprechlich hohes
Vorrecht, auf Seiner Seite stehen und Seine Schmach
tragen zu dürfen? Und wie groß ist der Segen, der aus
einem ungeteilten Anhängen an Ihn und einem treuen
Zeugnis für Ihn, koste es, was es wolle, hervorfließt!
Obadja sorgte seiner Zeit für die Zeugen Gottes, indem
er „von den Propheten Jehovas hundert Mann versteckte,
je fünfzig in eine Höhle, und sie mit Brot und
Wasser versorgte"; aber er blieb in Verbindung mit dem
gottlosen König Ahab und zog mit ihm aus, um in dem ausgedörrten,
unter Gottes Strafgericht liegenden Lande Gras
für die Rosse und Maultiere zu suchen! Elias dagegen
war der Zeuge Gottes in jenen Tagen, der vor Gottes
Angesicht stand, Seine Gedanken kannte, köstliche Erfahrungen
von Seiner Fürsorge machte und berufen wurde, die
Götzendiener auszurotten und ganz Israel zu der Anbetung
Jehovas zurückzuführen. (1. Kön. 17. 12.)
Der König Darius liebte Daniel so, daß er um
seinetwillen eine Nacht nicht schlafen konnte; aber Daniel
verbrachte jene Nacht in der Löwengrube, in Gemeinschaft
mit Gott und als ein Zeuge für Seine Wahrheit. (Dan. 6.)
Nikodemus wagte es, ein Wort für Christum zu
reden, aber er hatte nicht den Mut, sich mit Christo auf
Seinem einsamen Pfade eins zu machen. Paulus aber
konnte sagen: „Was mir Gewinn war, das habe ich um
Christi willen für Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte
auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, um derentwillen
ich alles eingebüßt habe und es für Dreck
achte, auf daß ich Christum gewinne und in Ihm erfunden
werde".
Welchem von diesen Männern gleichst du, geliebter Leser?
Die Verschwörung Absalows.
Noch einmal müssen wir David in das Thal der
Demütigung folgen, und zwar müssen wir diesmal tief
hinabsteigen, zn schweren Sünden und ihren bittern Folgen.
Es ist wunderbar, wie wechselvoll der Pfad dieses merkwürdigen
Mannes war. Kaum hat die Hand der göttlichen
Liebe seine Seele wiederhergestellt, seine Füße aus den
Felsen gestellt und seine Schritte befestigt, so stürzt er schon
wieder von seiner Höhe herab, tiefer als je, in einen Abgrund
des Verderbens. Kaum ist sein Irrtum bezüglich
des Hauses Gottes in solch gnädiger Weise von Gott
berichtigt, so sehen wir ihn in den häßlichen Banden natürlicher
Lüste verstrickt. Ach! so ist der Mensch, ein armes,
fortwährend hinkendes und strauchelndes Geschöpf, das in
jeder Minute der vollste» Ausübung göttlicher Gnade und
Langmut bedarf.
Die Geschichte des unbekanntesten und verborgensten
Gläubigen wird, wenn auch in geringerem Maße, dieselben
Ungleichheiten und Unbeständigkeiten aufweisen, wie sie sich
in dem Leben Davids bemerkbar machen; und gerade dieser
Umstand verleiht dem göttlichen Bericht über sein Leben
und seine Zeit ein so tiefes, rührendes Interesse. Wo ist
ein Herz, das nicht schon angetastet und versucht worden
wäre durch die Macht des Unglaubens, wie David, als er
zu dem Könige von Gath floh, um dort einen Bergnngs-
XIUV
58
ort zu suchen? oder durch verkehrte Begriffe über den
Dienst des Herrn, wie David, als er vor der Zeit ein
Haus snr Gott bauen wollte? oder durch Regungen der
Selbstgefälligkeit und des Stolzes, wie David, als er das
Volk zu zählen suchte? oder durch die unreinen Lüste der
Natur, wie David in der Sache mit Bathseba, dem Weibe
Urias, des Hethiters? Wenn es ein solches Herz giebt,
so wird es allerdings wenig Interesse daran haben, die
Wege Davids zu verfolgen. Aber ich weiß nur zu gut,
daß mein Leser ein solches Herz nicht hat; denn wo
irgend ein menschliches Herz ist, da ist auch die Empfänglichkeit
für alles das vorhanden, was ich eben aufgezählt
habe, uud deshalb muß die Gnade, welche einem David
entgegenkommen konnte, kostbar sein für ein jedes Herz,
das seine eigne Plage kennt.
Der Abschnitt unsrer Geschichte, den wir jetzt betrachten
wollen, ist nicht nur ein äußerlich umfangreicher,
sondern er enthält auch viele wichtige Grundsätze christlicher
Erfahrung und göttlichen Handelns. Die Einzelheiten des
Falles Davids sind ohne Zweifel allen meinen Lesern
bekannt; trotzdem wird eine eingehende Betrachtung für
uns alle von Nutzen sein. Erinnern wir uns zunächst
daran, daß Davids Sünde zu Absalows Verschwörung
führte. „Wer auf das Fleisch säet, wird von dem Fleische
Verderben ernten."
„Und es geschah bei der Rückkehr des Jahres, zur
Zeit wann die Könige ausziehen, da sandte David Joab
und seine Knechte mit ihm und ganz Israel; und sie richteten
die Kinder Ammon zu Grunde und belagerten Rabba.
David aber blieb zu Jerusalem." (2. Sam. 11, 1.)
Austatt, wie sonst, an der Spitze seines Heeres auszu
5!»
ziehen und sich in den Strapazen und Mühsalen des
Krieges zu üben, pflegte David daheim der Ruhe. Das
hieß offenbar, dem Feinde eine Blöße und einen Vorteil
über sich geben. Sobald ein Gläubiger sich von dem ihm
von Gott angewiesenen Posten entfernt oder aufhört zu
kämpfen, verliert er seine Kraft und wird schwach. Er
legt den Harnisch ab und setzt sich dadurch schutzlos den
Pfeilen des Feindes aus; und dieser wird nicht verfehlen,
feinen Vorteil auszunutzen. So lange ich in Einfalt und
Aufrichtigkeit für den Herrn thätig bin, mag meine Arbeit
bestehen, worin sie will, wird die Natur sich unter einem
Druck befinden; gehe ich aber meiner Bequemlichkeit nach,
so beginnt die Natur zu wirken, und die äußeren sichtbaren
Dinge üben ihren Einfluß aus. Wir sollten das
ernstlich erwägen, geliebter Leser. Satan wird fiir träge
Herzen und lässige Hände stets irgend ein Unheil ausfindig
zu machen wissen. David mußte dies tief fühlen. Wäre
er mit seinem Heere bei Rabba gewesen, so würde sein
Auge wohl nicht auf einen Gegenstand gefallen sein, der
so geeignet war, auf sein Fleisch einzuwirken, wie es zu
Jerusalem der Fall war. Gerade der Umstand, daß er
daheim blieb, gab dem Feinde Anlaß, auf ihn einzudringen.
David war von seinem Lager aufgestanden, lustwandelte
auf dem Dache seines Hauses und ließ seine Augen umherschweifen—
welch ein willkommnes Ziel für die Pfeile Satans!
Es ist nötig, stets wachsam und auf der Hut zu sein,
denn wir haben einen wachsamen Feind. „Seid nüchtern,
wachet", sagt der Apostel; „euer Widersacher, der Teufel,
geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er
verschlinge." (1. Petr. 5, 8.) Satan wartet die günstige
Gelegenheit ab, und wenn er eine Seele nicht mit dem
60
ihr anvertrauten Dienst beschäftigt findet, so wird er sicher
suchen, sie zu irgend etwas Bösem zu verführen. Es ist
deshalb gut und heilsam, im Dienste des Herrn nicht
säumig zu sein: allerdings muß aller Dienst aus der
verborgenen Gemeinschaft mit Gott hervorfließen, sonst ist
er wertlos. Aber wenn wir so auf unserm Posten sind,
stehen wir dem Teufel als entschiedene Feinde gegenüber,
und er kann »ns nichts anhaben, weil unser Anführer
stärker ist als er und ihn überwunden hat. Sind wir
aber nicht treu und fleißig, schließen wir eine Art von
Waffenstillstand mit dem Feinde, so wird er uns sehr bald
überlistet haben und uns als Werkzeuge zur Ausführung
seiner Pläne benutzen. Sobald David in seiner Energie
als der Anführer der Heerscharen Israels nachließ, wurde
er der Sklave seiner Lüste. Welch ein trauriges Gemälde
und zugleich welch eine ernste Warnung für unsre Seelen!
Der Gläubige wird entweder durch die Energie des
Geistes oder durch die Kraft des Fleisches geleitet; im
erstem Falle steht es wohl um ihn, im letzteren wird er
sehr bald eine Beute des Feindes werden. So war es
mit David. „Zur Zeit wann die Könige ausziehen", blieb
er gemächlich zn Hause, und Satan hielt ihm einen Köder
hin, dem sein armes Herz nicht widerstehen konnte. Er
fiel, und er fiel in einer schrecklichen, schmählichen Weise.
Sein Fall war nicht ein augenblickliches Sichvergessen, ein
unbedachter, wenn auch schwerer Fehler; nein, er fiel in
einen Abgrund sittlichen Verderbens, er watete tief durch
den Schlamm der Sünde. Sein Fall ruft uns mit lauter
Stimme zn: „Halte deinen Leib in Knechtschaft!"
Die Natur m u ß gerichtet und im Tode gehalten werden;
anders werden wir sicherlich Schiffbruch erleiden.
61
Es ist erschreckend, zu sehen, wie weit David sich auf
dem einmal eingeschlagenen bösen Wege fortreißen ließ.
Nachdem er einmal, um seiner Lust zu sröhnen, seinen
erhabenen Charakter als Gläubiger aufgegeben hatte, suchte
er Uria als Deckmantel zu benutzen, um sich so vor dem
Urteil der öffentlichen Meinung zu schlitzen. Sein guter
Ruf mußte aufrecht erhalten werden, mochte es kosten was
es wollte. Zunächst versuchte er es mit verstellter Freundlichkeit
; dann machte er den Mann, dem er ein so schmähliches
Unrecht zugefügt und den er in feiner Ehre aufs tiefste
verletzt hatte, trunken, um so seinen Zweck zu erreichens
aber alles war vergeblich. Endlich ließ er ihn ermorden
durch das Schwert der Kinder Ammon. Welch eine Kette
von verabscheuungswürdigen Sünden! Dachte David wirklich,
daß alles in Ordnung sein würde, wenn nur Uria
aus dem Wege geräumt wäre? Hatte er ganz vergessen,
daß in all dieser Zeit die Augen des Herrn auf ihm ruhten
und seinen schrecklichen Weg beobachteten? Ach! sein
Gewissen scheint ganz abgestumpft gewesen zu fein, ganz
unempfindlich gegenüber den ernsten Erinnerungen, die
Gott ihm auf dem Wege zu teil werden ließ. Wäre es
nicht so gewesen, so würde er sicherlich davor zurückgeschreckt
sein, der Sünde des Ehebruchs uoch diejenige
der Ermordung eines unschuldigen, braven Mannes hinzuzufügen.
Er würde zusammengezuckt fein unter dem scharfen
Vorwurf Urias (der umso schärfer wirken mußte, weil
er ganz unbeabsichtigt war), als dieser sagte: „Die Lade
und Israel und Juda weilen in Hütten, und mein Herr
Joab und die Knechte meines Herrn lagern auf freiem
Felde, und ich sollte in mein Haus gehen? ec." Welch ein
Borwurf für David! Der Herr und Sein Volk lagerten
62
auf freiem Felde und stritten mit den unbeschnittenen
Feinden Israels, während David daheim seiner Bequemlichkeit
und der Befriedigung seiner sündhaften Begierden
lebte. Wahrlich, wir dürfen sagen: es gab eine Zeit,
wo David sicherlich nicht Ruhe auf seinem Lager gesucht
haben würde, während die Heerscharen Jehovas mit dem
Feinde im Kampfe lagen; und es gab eine Zeit, wo er
einen treuen Diener nimmermehr dem Schwerte des Feindes
preisgegebeu haben würde, um dadurch seinen eignen
Rnf zu retten. Aber so ist der Mensch, der beste der
Menschen. Wenn Hochmut das Herz erfüllt oder böse
Lust das Auge verblendet, wer könnte dann dem menschlichen
Verderben eine Grenze ziehen? Wer könnte sagen,
zu welch schrecklichen Dingen selbst ein Gottesmann wie
David kommen kann, wenn er einmal die Gemeinschaft mit
Gott verloren hat? Ewiglich sei der Gott aller Gnade
gepriesen, daß er sich stets den Bedürfnissen Seiner irrenden
Kinder gewachsen gezeigt hat! Wer anders als Gott
könnte auch nur mit einem Gläubigen Verkehren, so wie
er es an einem einzigen Tage bedarf? Und wahrlich,
wenn wir nns daran erinnern, wie verabscheuungswürdig
die Sünde in Gottes Augen ist und wie Er doch in solch
vollkommner Gnade gegen den Sünder handelt, so muß
unser Herz von dankbarer Anbetung überströmen.
Der Herr muß aber Seine Heiligkeit aufrecht erhalten,
so gnädig Er auch dem Sünder begegnen mag, und deshalb
finden wir anch in dem vorliegenden Falle, daß Er
wegen der Sünde Davids ein höchst ernstes Urteil iiber
dessen Hans ansspricht. Ter Prophet Nathan wird zu ihm
gesandt, um sein Gewissen in die Gegenwart der Heiligkeit
Gottes znrückzuführen. Dort ist der richtige Auf
63
enthaltsort für das Gewissen. Wenn es nicht dort ist,
so wird es allerlei Ausflüchte, Schlupfwinkel und Deckmäntelchen
suchen und finden. David sagte, als ihm das
Gelingen seines teuflischen Planes hinsichtlich Urias berichtet
wurde: „So sollst du zu Joab sagen: Laß diese
Sache nicht übel sein in deinen Augen, denn das Schwert
frißt bald so, bald so". Aus diese Weise meinte er
die ganze Sache geheim halten zu können. In seiner
Verblendung bildete er sich ein, alles stehe wohl, wenn
nur Uria aus dem Wege wäre. An das allsehende Auge
Gottes, welches durch alles hindurchdringt und die geheimsten
Falten des Herzens erforscht, dachte er nicht.
Die Gefühllosigkeit, welche David bei dieser Gelegenheit
an den Tag legt, ist erstaunlich. „Tas Schwert frißt
bald so, bald so", läßt er Joab antworten. Allerdings,
der Krieg hat seine Wechselfälle; heute trifft das Todeslos
diesen, morgen jenen. Aber konnte eine solch elende, böse
Ausflucht der Heiligkeit Gottes genügen? Unmöglich;
die ganze Sache mußte ans Licht kommen; die Maschen
des unheilvollen Gewebes, in welches Satan die Füße
seines Opfers verstrickt hatte, mußten eine nach der andern
gelöst werden. Die Heiligkeit des Hauses Gottes muß
aufrecht erhalten bleiben, koste es was es wolle; Sein
Name und Seine Wahrheit müssen behauptet und Sein
Diener muß gezüchtigt werden angesichts der ganzen Gemeinde,
ja „vor den Augen dieser Sonne". Nach menschlichem
Urteil hätte es weiser scheinen können, die Züchtigung
eines so hochstehenden Mannes, wie David, vor der Öffent
lichkeit zu verbergen; aber das ist nicht die Weise Gottes.
Er wird durch die Gerichte, die Er inmitten Seines Volks
ansübt, jedem Zuschauer beweisen, daß Er keine Gemein-
64
schäft mit dem Bösen hat. Nichts anderes hätte den Flecken,
welcher der Wahrheit Gottes zugefügt worden war, austilgen
können als das öffentliche Gericht über den Über
treter. Die Kinder der Welt mögen in der gegenwärtigen
Zeit ungestraft dahingehen, trotzdem sie mit erhobener
Hand sündigen; aber diejenigen, welche mit dem Namen
des Herrn in Verbindung stehen, müssen sich rein erhalten,
oder sie werden gerichtet werden.
Allein der arme David bewies, wie bereits bemerkt,
in dieser ganzen Sache eine fast unglaubliche Gefühllosigkeit.
Selbst als das rührende Gleichnis Nathans ihm
die ganze Abscheulichkeit seines Verhaltens vor Augen
führte, und er über die selbstsüchtige Handlungsweise des
reichen Mannes in Zorn geriet, dachte er noch nicht im
Entferntesten daran, daß die Erzählung sich auf ihn selbst
beziehen könne. „Da entbrannte der Zorn Davids sehr
wider den Mann, und er sprach zu Nathan: So wahr
Jehova lebt, der Mann, der dieses gethan hat, ist ein
Kind des Todes!" So sprach er unbewußt über sich selbst
das Urteil aus. Bis dahin war kein Gefühl über seine
Sünde in ihm aufgekommen, und vielleicht würde er schon
im nächsten Augenblick Anstalten getroffen haben, um den
Übelthäter ausfindig zu machen und zu bestrafen, wenn
nicht plötzlich der Pfeil des Allmächtigen sein Gewissen
durchbohrt hätte. „Du bist der Mann!" sagt der
Prophet. Schreckliche Entdeckung! Die Sünde wurde bis
zu ihrer Quelle hin verfolgt, und David stand als ein
überführter, in sich zusammenbrechender Sünder in der
Gegenwart Gottes. Und welch ein Glück für ihn! Er
macht keinerlei Anstrengungen mehr, sich zu verbergen oder
seinen guten Ruf aufrecht zu erhalten. „Ich habe gegen
65
Jehova gesündigt", so kommt das ungeschminkte
Bekenntnis über seine Lippen. Sein Geist ist zerknirscht,
sein Herz beugt sich unter die Macht der Wahrheit, ein
tiefes Bewußtsein seiner Berabscheuungswürdigkeit vor
Gott kommt über ihn, und im Staube liegend schreit er
um Erbarmen und Gnade : „Sei mir gnädig, o Gott,
nach deiner Güte! nach der Größe deiner Erbarmungen
tilge meine Übertretungen!" (Ps. 51, 1.) Er wendet sich
unmittelbar zu Gott; denn hier war Davids wohlbekannte
und so oft erprobte Zufluchtsstätte. Er bringt feine schwere
Last zu Gott und legt sie angesichts Seiner Güte und
der Größe Seiner Erbarmungen nieder. Hier war der
einzige Ort, wo sein gequälter Geist Ruhe finden konnte.
Er fühlte, daß seine Sünde so verabscheuungswürdig war,
daß nichts als das Erbarmen Gottes sie auszulöschen
vermochte. Aber hier fand er auch einen „Abgrund der
Barmherzigkeit", der alle seine Sünden „verschlingen" und
ihm angesichts seines Elends tiefen Frieden verleihen konnte.
Jedoch verlangte David nicht nur nach der Vergebung
seiner Sünden; diese hatte er ohne Zweifel nötig, aber
er bedurfte mehr. Er bedurfte einer innern Reinigung
von der befleckenden Wirksamkeit und Kraft der Sünde
selbst. Er sagt deshalb in dem angeführten Psalme weiter:
„Wasche mich völlig von meiner Ungerechtigkeit, und
reinige mich von meiner Sünde!" (B. 2.) Der Apostel Johannes
schreibt an seine Kinder: „Wenn wir unsre Sünden
bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns (nicht nur)
die Sünden vergiebt, (sondern auch) uns reinigt von aller
Ungerechtigkeit". Von aller Ungerechtigkeit gereinigt zu
werden ist etwas weit Höheres, als nur Vergebung unsrer
Sünden zu erlangen: und David begehrte das letztere eben
— 6t> —
sowohl wie das erstere. Beides muß von dem Bekennen
unsrer Sünden abhängig gemacht werden. Nun ist es
bekanntlich viel schwerer, eine Sünde zu bekennen, als um
Vergebung zu bitten. Die Sünde, welche wir begangen
haben, rückhaltlos vor Gott bekennen ist weit demütigender,
als in allgemeiner Weise um Vergebung bitten. Das
letztere ist eine verhältnismäßig leichte Sache; aber ein
solches Bitten um Vergebung ist vergeblich, wenn es nicht
mit einem aufrichtigen Bekenntnis der geschehenen Sünde,
mit Demütigung und Selbstgericht verbunden ist. Wenn
aber ein aufrichtiges Bekenntnis erfolgt, so ist es einfach
eine Glaubenssache, zu wissen, daß die Sünden uns vergeben
sind. Das Wort sagt: „Wenn wir bekennen ?c."
David bekannte seine Sünde: „Ich kenne meine Über
tretungen, und meine Sünde ist beständig vor mir. Gegen
dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe
gethan, was böse ist in deinen Angen; damit du gerechtfertigt
werdest, wenn du redest, und rein erfunden, wenn
du richtest." (B. 3. 4.) Das war eine wahre Überführung,
ein rückhaltloses Bekenntnis. David macht keinen Versuch,
die Sache zu beschönigen, in den Umständen einen Ent-
schnldigungsgrnnd zu finden, oder gar andere Personen mit
zu beschuldigen. Nein, wir hören einfach von „ich" und
„du" — ich bin ein armer, schuldiger Sünder, und du bist
der Gott der Wahrheit. „Gott sei wahrhaftig, jeder Mensch
aber Lügner." (Röm. 3, 4.) Das Geheimnis einer wahren
Wiederherstellung besteht darin, daß wir als Sünder
unsern wahren Platz im Lichte Gottes einnehmen. Das
ist der Inhalt der Belehrung des Apostels im 3. Kapitel
des Römerbriefes. Die Wahrheit Gottes wird dort als
der große Maßstab hingestellt, an welchem der Zustand des
«7
Menschen gemessen werden muß. Die Wirkung davon ist,
daß der Mensch zu den Tiefen seines moralischen und
praktischen Zustandes in den Augen Gottes geführt wird.
Alles wird ihm abgestreift und seine innerste Seele bloßgelegt
vor einer Heiligkeit, welche nicht den geringsten
Sündenflecken in ihrer Gegenwart dulden kann. Aber wenn
wir so in dem Staube wahrer Selbstverabscheuung und
aufrichtigen Bekennens daliegen, was finden wir dann?
Einen Gott, der in der Unumschränktheit Seiner Gnade
eine vollkommne Gerechtigkeit bereitet hat für den schuldigen
und verstummenden Sünder.
In dem soeben angeführten 3. Kapitel des Briefes an
die Römer treten Wahrheit und Gnade in ernster und lieblicher
Verbindung vor unsre Blicke. Die Wahrheit zerbricht
das Herz, die Gnade verbindet es; die Wahrheit
verschließt den Mund, die Gnade öffnet ihn: verschließt
ihn, damit er sich nicht länger irgendwelchen menschlichen
Verdienstes rühme, öffnet ihn, damit er den Gott aller
Gnade preise und verherrliche.
David ging im Geiste durch die Wahrheiten, welche
in späteren Tagen in dem genannten Kapitel entwickelt
worden sind. Er wurde auch in die Tiefen seiner verderbten
Natur hineingeführt. „Siehe", sagt er, „in Ungerechtigkeit
bin ich geboren, und in Sünde hat mich
empfangen meine Mutter." (V. 5.) Das ist das Bild
des Menschen. Welch ein Gedanke! In Ungerechtigkeit
geboren! Was für Gutes könnte jemals aus
einen: so unreinen, verderbten Geschöpf hervorkommen?
Wahrlich, nichts! Es ist unverbesserlich schlecht. Und nnn
beachten wir den Gegensatz: „Siehe, du hast Lust an
der Wahrheit im Innern". lB. 6.) Gott verlangt Wahr
68
heil, und David besaß nichts, um dieser Forderung zu
genügen, als eine verderbte Natur. Was konnte die große
Kluft ausfüllen, die zwischen einem in Sünde und Ungerechtigkeit
gebornen Menschen und einem Gott besteht,
der Wahrheit im Innern fordert? Nichts als das kostbare
Blut Christi. „Entsündige mich mit Mop, und ich
werde rein sein; wasche mich, und ich werde weißer sein
als Schnee." (B. 7.) Mit andern Worten: David wirft
sich als ein hilfloser Sünder in die Arme der erlösenden
Liebe. Seliger Ruheort! Gott allein vermag einen Sünder
zu reinigen und ihn passend zn machen für Seine
Gegenwart. „Laß mich Fröhlichkeit und Freude hören, so
werden die Gebeine frohlocken, die du zerschlagen hast."
(V. 8.) Gott muß alles thun: Er muß sein Gewissen
reinigen; Er muß sein Ohr öffnen, um den Ton der
Freude und der Fröhlichkeit wieder zu hören; Er muß
seinen Mund aufthun, damit er die Übertreter die Wege
der göttlichen Liebe und Gnade lehren könne; Er muß
ihm ein reines Herz schaffen; Er muß ihm wiederkehren
lassen die Freude Seines Heils und mit einem willigen
Geiste ihn stützen, und Er muß ihn erretten von Blutschuld.
Mit einem Worte, von dem Augenblicke an, da Nathans
Wort mit göttlicher Kraft in sein Herz dringt, wirst
David das zermalmende Gewicht seiner Schuld auf die
schrankenlose Gnade Gottes, und er kann, soweit es ihn
persönlich betrifft, gestützt auf das kostbare Blut der Versöhnung,
sich einer vollkommnen Ordnung der Frage
erfreuen, welche seine Sünde zwischen seinem Gewissen
und Gott aufgeworfen hatte. Die Gnade errang einen
herrlichen Triumph; und David konnte sich von dem
Kampfplatz zurückziehen, tief bestürzt zwar und schmerzlich
69
verwundet, aber mit einer gründlicheren Erkenntnis dessen,
was Gott war und was die Gnade für seine Seele gethan
hatte.
Dennoch mußte Davids Sünde zu ihrer Zeit ihre
bittern Früchte hervorbringen. Es kann unmöglich anders
sein. Jenes ernste Wort des Apostels: Was irgend ein
Mensch säet, das wird er auch ernten", muß stets seine
Verwirklichung finden. Die Gnade mag vergeben, aber die
Resultate der Sünde werden ans Licht treten, obgleich der
Sünder, selbst während er unter der Zuchtrute steht, vielleicht
die lieblichsten Erfahrungen von der Liebe und
wiederherstellenden Gnade Gottes macht. Die weitere
Geschichte Davids liefert uns ein treffendes Beispiel hierfür.
Gott hatte ihm, wie wir wissen, vergeben, ihn von seiner
Verunreinigung gewaschen und angenommen, aber nichtsdestoweniger
mußte er den feierlichen Urteilsspruch vernehmen:
„Und nun soll von deinem Hause das Schwert
nicht weichen ewiglich, darum daß du mich verachtet und
das Weib Urias, des Hethiters, genommen hast, daß
sie dir zum Weibe sei." Beachten wir die Worte: „darum
daß du mich verachtet hast". David hatte versucht,
seine Sünde vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem
er Uria aus dem Wege schaffte; er hatte das allsehende
Auge Jehovas und die Ehre Seines heiligen Namens
völlig vergessen. Hätte er an Jehova gedacht, als die
Stimme der Natur sich in ihm vernehmen ließ, so würde
er nicht in die Schlinge gefallen sein. Das stete Bewußtsein
der Gegenwart Gottes ist das große Bewahrungsmittel
vor allein Bösen; aber wie oft lassen wir uns mehr
durch die Gegenwart eines Mitmenschen beeinflussen als
durch die Gegenwart Gottes! Der vollkommen Heilige
70
und Gerechte konnte sagen: „Ich habe Jehova stets vor
mich gestellt: weil Er zu meiner Rechten ist, werde ich
nicht wanken." (Ps. 16, 8.) Wenn wir es unterlassen,
Gottes Gegenwart zu verwirklichen als ein Schutzmittel
gegen das Böse, so werden wir sie suhlen müssen als
ein Gericht wegen desselben.
„Das Schwert soll nicht von deinem Hause weichen
ewiglich." Welch ein Gegensatz zu den herrlichen Verheißungen,
welche David im 7. Kapitel gegeben wurden!
Und doch ist es dieselbe Stimme, obwohl ihr Ton so
schrecklich verändert ist. Dort giebt sich Gnade, hier Heiligkeit
in ihr kund. „Weil du den Feinden Jehovas durch
diese Sache Anlaß zur Lästerung gegeben hast, so soll
auch der Sohn, der dir geboren ist, gewißlich sterben."
Indes war der Tod des Kindes nur die Einleitung, gleichsam
das erste Grollen des Gerichtssturmes, welcher über
das Haus Davids hereinbrechen sollte. Er mochte saften,
beten, sich demütigen und über Nacht aus der Erde liegen,
aber das Kind mußte sterben. Das Gericht muß seinen
Laus nehmen, und das Feuer jedes Teilchen dessen verzehren,
was seiner Gewalt übergeben wird. Das Schwert
des Menschen „frißt bald so, bald so" : aber das Schwert
Gottes fällt auf das Haupt des Missethäters. Ein Geschwür
mag sich lange im Verborgenen entwickeln, aber
endlich muß es aufbrecheu: ein Strom mag lange in einem
unterirdischen Bett dahinfließen, aber endlich wird er sich
einen Ausweg bahnen. Wir mögen Jahre lang in einer
verborgenen Sünde dahinleben, irgend einer unreinen Begierde
nachhüngen, irgenwelche unheilige Gefühle und
Gedanken nähren: aber der Augenblick wird kommen, wo
das glimmende Feuer hervorbricht und der wahre Charakter
71
unsers Thuns uns mit Schrecken klar wird. Das sind
Dinge, über die wir ernstlich nachdenken sollten. Wir
können nichts vor Gott verbergen oder Ihn dahin bringen,
unsre verkehrten Wege sür richtig zu halten. Wir mögen
vielleicht versuchen, uns selbst in einen solchen Gedanken
hinein zu arbeiten: wir mögen unsre Herzen durch allerlei
Scheingründe zu überzeugen suchen, daß dieses oder jenes
recht und gut sei; aber irren wir uns nicht, „Gott läßt sich
nicht spotten; denn was irgend ein Mensch säet, das wird
er auch ernten".
Doch welch eine Fülle von Gnade strahlt uns andrerseits
auch wieder aus diesem Teile der Geschichte Davids
entgegen! Bathseba wird die Mutter Salomos, welcher
während des glorreichsten Abschnitts der Geschichte Israels
auf dem Throue Davids saß, und der zugleich ein Glied
in jener bevorzugten Geschlechtsreihe bildet, ans welcher
Christus dem Fleische nach kommen sollte. Das ist
wahrhaft göttlich, ganz und gar Gottes würdig. Die
finsterste Scene aus der Geschichte Davids wird unter der
Leitung Gottes zu einem Mittel reichster Segnung. So
kam aus dem Fresser Fraß und aus dem Starken Süßigkeit.
Wir wissen, wie dieser Grundsatz alle Wege Gottes mit
Seinem Volke kennzeichnet. Er richtet ohne Zweifel ihre
Sünde, aber Er vergiebt sie auch und benutzt ihre Fehler
und Verirrungen als Kanäle, durch welche die Gnade
ihnen zufließt. In alle Ewigkeit sei der Gott aller Gnade
gepriesen, der unsre Sünden vergiebt, unsre Seelen
wiederherstellt, unsre vielen Schwachheiten in Langmut
trägt und uns selbst triumphieren läßt in und mittelst
unsrer Schwachheit!
Welche Gesühie müssen in späteren Tagen das Herz
72
Davids bestürmt haben, wenn sein Auge auf seinem
Salomo ruhte, dem Manne der Ruhe, auf seinem
Jedidjah, dem Geliebten Jehovas! Wie wird er sich
bei dem Anblick des Knaben seines demütigenden Falles,
aber auch der anbetungswürdigen Gnade Gottes erinnert
haben! Und mein geliebter christlicher Leser, ist es nicht
gerade so mit uns? Wenn wir auf unsere Geschichte
zurückblicken, was ist sie anders als eine Kette von Anlässen
zu unsrer Beschämung und Demütigung, aber zugleich
auch eine ununterbrochene Kette von Anlässen zum Preise
der bewahrenden, vergebenden und wiederherstellenden
Gnade Gottes! Welch ein Glück, daß wir singen können:
Nur Gnade ist's, die mir begegnet,
So lang ich hier in Schwachheit bin!
Der Liebe Fülle dort mich segnet,
Komm ich zur ew'gen Heimat hin.
Mag auch hieuiedeu alles wanken,
Mag alles hier auch enden sich,
Die Gnade kennet keine Schranken,
Und Liebe bleibet ewiglich!
^Schluß folgt.)
Arbeit und Ruhe.
(Nach einem „Eingesandt".)
1.
Vor mir liegt der erste Brief an die Thessalonicher.
Die Gläubigen zu Thessalonich waren zur Zeit, als der
Apostel Paulus diesen Brief an sie schrieb, noch jung im
Glauben, aber ihr Herzenszustand war ein guter. Ihr
Christentum war echt, lebendig und frisch und zeitigte deshalb
herrliche Früchte. Dies geht aus vielen Stellen des
73
Briefes klar hervor. Hier seien nur einige angeführt:
„Unablässig eingedenk euers Werkes des Glaubens und der
Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung
auf unsern Herrn Jesum Christum, vor unserm Gott und
Vater, wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung."
(Kap. 1, 3. 4.) Glaube, Liebe und Hoffnung,
diese drei Hauptquellen alles wahren Christentums, waren
bei ihnen vorhanden und sprudelten in solcher Fülle und
Frische, daß der Apostel hinsichtlich ihrer Auserwählung
nicht den geringsten Zweifel hegte. Ja, die Thessalonicher
waren Vorbilder für alle Gläubigen in Maeedonien und
Achaja geworden; „denn", sagt der Apostel, „von euch
aus ist das Wort des Herrn erschollen, nicht allein in
Maeedonien und in Achaja, sondern auch an jedem Orte ist
euer Glaube an Gott ausgebreitet worden, so daß wir
nicht nötig haben, etwas zu sagen." (B. 7. 8.) Im
2. Kapitel finden wir das schöne Zeugnis: „Denn wer
ist unsre Hoffnung oder Freude oder Krone des Ruhmes?
Nicht auch ihr vor unserm Herrn Jesu bei Seiner Ankunft
? Denn ihr seid unsre Herrlichkeit und Freude."
(V. 19. 20.) Und im 4. Kapitel lesen wir: „Was
aber die Bruderliebe betrifft, so habt ihr nicht nötig, daß
wir euch schreiben; denn ihr selbst seid von Gott gelehrt,
einander zu lieben." (B. 9.)
Der Leser wird mit leichter Mühe noch andere
Stellen finden, welche das lebendige, vielseitige Christentum
dieser jungen Versammlung darthun. Dennoch ermahnt
sie der Apostel, „immer reichlicher zuzunehmen". (Kap. 4,
1. 10.) Es giebt keinen Stillstand im christlichen Leben.
Stillstand bedeutet Rückschritt. Mag auch ein Christ eine
hohe Stufe im christlichen Leben erreicht haben, er muß
74
„immer reichlicher zu nehm en", sonst geht er zurück
und nimmt ab.
Indes möchte es manchem auffallend erscheinen, daß
der Apostel mit der Ermahnung, zuzunehmen, die Aufforderung
verbindet: „euch zu beeifern, stille zu sein und
eure eignen Geschäfte zu thun und mit euren eignen
Händen zu arbeiten, sowie wir euch geboten haben, auf
daß ihr ehrbarlich wandelt gegen die, welche draußen sind,
und niemandes bedürfet". Diese Ermahnung zeigt uns
einerseits, wie notwendig es ist, selbst für den geistlichen
Christen, immer wieder an die einfachsten sittlichen Forderungen
erinnert zu werden. Unser Herz ist ein verkehrtes,
thörichtes Ding, immer bereit, irre zu führen und sich
irreführeu zu lassen. Ist es nicht schon dagewesen, daß
ein Christ sehr eifrig war im Dienste des Herrn, das
Wort verkündigte, Besuche machte re. re., während er zugleich
die gerechten Ansprüche seiner Familie oder seines
Geschäftes daheim vernachlässigte? Das ist nicht gut; es
verherrlicht nicht den Herrn, sondern bringt Schmach auf
Seinen heiligen Namen von feiten derer, welche „draußen"
sind. — Gab es etwas derartiges in der Mitte der
Thessalonicher? Vielleicht. (Bergt, auch 2. Thess. 3, 11. 12.)
Jedenfalls war es nötig für sie, daran erinnert zu werden,
daß ein Christ „stille sein und seine eignen Geschäfte
thun und mit seinen eignen Händen arbeiten" sollte.
Andrerseits aber zeigt uns diese Stelle auch, welch
eiuen hohen Wert Gott aus eine stille, treue Ausübung
des irdischen Berufs legt, ja auf welch einer hohen Stufe
in der Rangordnung Gottes selbst die unscheinbare Handarbeit
steht. Die Welt hat freilich darüber andere Gedanken;
ihr gilt die Handarbeit gering. Viel äußern
75
Schein hat dieses Schmieden und Feilen, Hobeln und
Drechseln, Hacken und Graben, Scheuern und Putzen allerdings
nicht. Meist wird es ja auch in unscheinbarer, oft
schmutziger Kleidung verrichtet. Aber dennoch ist Gottes
reicher Segen auf feiten dieser einfachen Arbeit. Vor
Ihm ist die wichtige Frage nicht die, was jemand thut,
sondern wie er es thut. Es macht wenig aus, ob ein
Christ Fabrikarbeiter, Handwerker, Knecht, oder Fabrikant,
Kaufmann u. dergl. ist. Es handelt sich vielmehr darum,
daß ein jeder da, wo Gott ihn hingestellt hat, treu ist,
daß er „seine eignen Geschäfte" gewissenhaft thut.
Geschieht dies, so wird Gottes Segen ihm nicht fehlen,
mag er selbst die niedrigste und schmutzigste Arbeit verrichten.
Gegen einfache, körperliche Arbeiten wird zuweilen
der Vorwurf erhoben, daß sie geisttötend seien. Ob sie
es für ein Weltkind sind, bezweifle ich; für einen Christen
sind sie es ganz gewiß nicht. Ich möchte eher das
Gegenteil behaupten. Denn gerade solche einfachen Arbeiten
lassen den Geist fast ganz frei, so daß er sich während
derselben vielfach mit andern, höheren Dingen beschäftigen
kann; und ein einfältiges Gotteskind, dessen Herz mit
Christo erfüllt ist, wird solche Stunden fleißig benutzen,
um Gemeinschaft mit seinem Herrn zu Pflegen. Und was
könnte den Geist mehr beleben als solche Gemeinschaft?
Doch noch eins. Der Apostel giebt noch einen besondern
Zweck an, den ein treues, gewissenhaftes Erfüllen
des irdischen Berufes hat. Er sagt: „auf daß ihr ehr-
barlich wandelt gegen die, welche draußen sind, und
niemandes bedürfet". Wenn man heutzutage so vielen
Menschen begegnet, die ans feine oder grobe, auf ver
76
schämte oder unverschämte Art ihren Mitmenschen zur Last
liegen, wie wohl thut es da dem Herzen, ja wie erbaulich
ist es, einen treuen, fleißigen Arbeiter zu finden, der sein
eignes Brot ißt, sein Weib und seine Kinder mit seiner
Hände Arbeit versorgt und ohne Begehrlichkeit und Neid
seinen Nächsten neben sich gedeihen sieht! Eine solche
Gesinnung und ein solches Verhalten ist in unsern Tagen,
wo der Dämon des Neides und der Unzufriedenheit immer
fchrecklicher wirkt, doppelt anerkennenswert und wird sicherlich
nicht unbelohnt bleiben.
Noch schöner tritt diese, auf eigner Arbeit beruhende
Unabhängigkeit ans Licht, wenn sie sich bei einem Diener
im Werke des Herrn findet. Allen solchen hat der Apostel
Paulus ein glänzendes Beispiel gegeben. Obwohl er sich
„sein Recht am Evangelium" nicht schmälern ließ und es
auch mit Freimütigkeit gebrauchte, konnte er doch den
Ältesten von Ephesus zurufen: „Ich habe niemandes Silber
oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr selbst wisset, daß
meinen Bedürfnissen und denen, die bei mir waren, diese
Hände gedient haben. Ich habe euch alles gezeigt, daß
inan, also arbeitend, sich der Schwachen annehmen und
eingedenk sein müsse der Worte des Herrn Jesu, der selbst
gesagt hat: Geben ist seliger als Nehmen." (Apstgsch. 20,
Z3—35.i
2.
Die Arbeit muß jedoch auch ihr Maß und Ziel
haben. Gott selbst hat ihr schon im Anfang der Schöpfung
durch die Einsetzung des Sabbaths eine Grenze gegeben;
und wenn wir auch als Christen nicht unter dem Gesetz
stehen, noch den Sabbath feiern, so können wir doch die
77
Liebe Gottes zu den Menschenkindern auch darin erblicken,
daß Er der Arbeit durch den Feiertag eine Begrenzung
gegeben hat. Ich rede hier natürlich nicht von der
höheren Bedeutung des „Tages des Herrn" für den
Gläubigen, sondern möchte nur aus die göttliche Gnade
Hinweisen, die uns einen Tag von sieben gegeben hat, an
welchem wir von dem Getriebe der Wochentage ausruhen
können. Und es ist sicherlich auch als eine Gnade zu betrachten,
daß der menschlichen Habsucht auf gesetzlichem
Wege ein Ziel gesteckt ist, welches sie nicht ungestraft überschreiten
darf.
Aber trotz dieser gnädigen Vorkehrungen Gottes ist
Gefahr vorhanden, sich in der Arbeit so zu verlieren, daß
Leib und Seele Schaden darunter leiden. Manche Menschen
werden unter maßloser Arbeit so reizbar und bissig, wie
ein Hund, der am Karren zieht. Es giebt Familien, in
denen die Arbeit so das herrschende Element geworden
ist, daß von einem liebevollen Verkehr der einzelnen
Familienglieder unter einander, von einem Familienleben
im wahren Sinne des Wortes und von einer
ordentlichen Erziehung der Kinder keine Rede mehr sein
kann. Ich brauche kaum zu sagen, daß das, was ans solche
Weise vernachlässigt wird, nicht nur den Nutzen der Arbeit
ganz oder doch zum größten Teil wieder fortnimmt, sondern
auch allen Beteiligten zu ernstem Schaden gereicht. Diese
Zeilen möchten nun dazu mithelfen, für die Arbeit das
richtige Maß und die richtigen Grenzen erkennen zu lassen,
damit auch für andere, ebenso wichtige Dinge die nötige Zeit
bleibe nnd die Arbeit nicht ihres Segens beraubt werde.
Als ich noch jung war, wurde mir gesagt: „Der
Mensch ist für die Arbeit geschaffen". Ich nahm dies
73
unbesehen als Wahrheit an: doch mußte ich später erkennen,
daß dieses Wort, wenn man es als Lebensregel
aufsaßt, uns eher zu Lasttieren als zu glücklichen Menschen
macht. Noch später lernte ich durch Gottes Gnade er
kennen, daß der Mensch für Christum erschaffen
ist. Das ist eine goldene Grundwahrheit, deren Erkenntnis
das Leben eines Gläubigen vollständig umgestaltet.
Sie vermag uns auch bezüglich der Arbeit sowohl den
rechten Fleiß und die rechte Treue zu geben, als auch das
rechte Maß für sie zu bestimmen.
In Kol. 3, 23. 24 steht geschrieben: „Was irgend ihr
thut, arbeitet von Herzen, als dem Herrn und nicht den
Menschen, da ihr wisset, daß ihr vom Herrn die Vergeltung
des Erbes empfangen werdet; ihr dienet dem
Herrn Christo." Wer den Herrn Jesum lieb hat und
Ihm seine Arbeit thut, wird nach Röm. 12, 11 „im
Fleiße nicht säumig" sein. Sein Hauptwunsch bei seiner
Arbeit wird der sein, sie so zu machen, wie der Herr Jesus
cs gern hat. Er wird jede Nachlässigkeit und Hudelei
vermeiden, weil sein Herr das nicht gern sieht; er wird
alles mit Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit ausführen,
mag er sich von Menschen beobachtet wissen oder nicht,
nur aus Liebe zu seinem himmlischen Herrn, von dem er
weiß, daß Sein Auge auf ihm ruht. Er wird mit Eifer
und Bedacht die rechten Griffe anwenden, daß er zu seines
Herrn Ehre etwas Tüchtiges schaffe.
Das Bewußtsein dieser heiligen Beziehungen, in
denen wir stehen, wird uns zugleich vor einem übermäßigen
Hasten und Treiben bewahren; denn dabei hört das zarte
Schlagen des Herzens für den Herrn Jesum auf. Unruhe
und Ermattung treten an die Stelle des friedlichen Ruhens
7!»
in Gott und der Frische eines geistlichen Lebens, das in
Verbindung mit seiner Quelle bleibt. Die Schwierigkeiten
und Unannehmlichkeiten, die mit jeder Arbeit verbunden
sind, erregen Ärger und Verdruß, anstatt Gebet und Auf
schauen zu Jesu. Ist es so weit gekommen, dann ist es
wahrlich an der Zeit, einmal stille zu stehen und das
Kämmerlein aufzusuchen, um dort die verlorene Verbindung
mit Jesu wiederzufinden.
Die so oft angeführte, aber immer mit gleichem Ernst
zu unsern Herzen redende Geschichte der Martha und
Maria giebt uns auch in dem vorliegendem Falle köstliche
Belehrungen. In Lukas 10 sehen wir in Martha das
einseitig der Arbeit lebende Weib. Sie hatte den Herrn
aufrichtig lieb, aber sie erscheint hier in einer geradezu
Ärgernis erregenden Weise. Wie häßlich ist ihre Klage,
welche sie gegen ihre Schwester und gegen den Herrn
Jesum selbst vorbringt: „Herr, kümmert es dich nicht, daß
mich meine Schwester allein gelassen hat, zn dienen?"
Und geradeso häßlich ist ihre Aufforderung an den Herrn,
der doch ihr Gast war: „Sage ihr nun, daß sie mir
helfe!" (V. 40.)
Der Herr Jesus ließ sich hierdurch nicht erbittern:
im Gegenteil, Er belehrte sie in ebenso liebevoller wie
gründlicher Weise. „Martha, Martha!" ruft Er ihr zu,
„du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge: eines
aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt, das nicht
von ihr genommen werden wird."
Der Herr Jesus half so der armen Martha heraus
aus den vielen Dingen, welche sie so sorgenvoll und
unruhig machten, und lehrte sie, alle ihre Gedanken auf
eins zu richten, aus „das gute Teil", welches die Maria
80
erwählt hatte. Und worin bestand dasselbe? Maria saß
lauschend zu Jesu Füßen. Der Herr war ihr Teil.
Diese Belehrung des Herrn war sür Martha nicht
vergeblich. Was wir in Joh. 11 von ihr lesen, war
wohl die Frucht jener Lehrstunde, welcher Maria nicht
nur als Schülerin, sondern auch als Vorbild beiwohnte,
so daß auch ihr ein Anteil an dieser Frucht gebührt; ja,
sie hat damals durch ihre geheiligte Ruhe weit mehr geschafft
als Martha mit all ihrem Dienen.
Diese Marieustunden nun mögen unsrer Arbeit ihre
Grenze geben. Dieselben charakterisieren sich indessen nicht
nur durch eine bloß äußere Ruhe, sondern hauptsächlich
dadurch, daß sich unsre Herzen derart in den Herrn hinein
versenken, daß wir um Seinetwillen auch einmal die
Arbeit gern hintenan setzen. Hauptsächlich sind die Sonntage
zu solchen Marieustunden geeignet; doch wer die
letzteren erst einmal recht kennen gelernt hat mit ihrem überaus
köstlichen Segen, der wird auch anstreben, sich solche
Stunden in die Woche hineinzulegen. Wie gut wäre es,
wenn unsre täglichen Morgen- und Abendandachten sich
also gestalteten!
Vielleicht mag beim Lesen dieser Zeilen sich manchem
meiner geliebten Brüder und Schwestern in Christo ein
Seufzer über die Lippen drängen, weil die Verhältnisse,
in denen sie stehen, zu solchen Stunden gar so wenig Zeit
lassen wollen. Solchen möchte ich aber am allerdringendsten
raten, die wenige freie Zeit, die sich ihnen darbietet, in
inniger Gemeinschaft mit ihrem Herrn auszukaufen. Hierher
gehören jene stillen, schlaflosen Stunden der Nacht, die ja
gerade viel beschäftigten und geplagten Leuten nicht unbekannt
sind. Auch jene Viertelstündchen, die man im
81
Berkehrsleben hie und da einmal wartend znbringen muß.
Solche Pausen betrachten oberflächliche Leute als verlorene
Zeit; und es kann doch so herrliches Gold ans ihnen gehoben
werden, wenn man sie dazn benutzt, die Seele zu Jesu
zu erheben und mit ganzem Herzen bei Ihm einzukehren.
Wie vortrefflich entgeht man auf diese Weise auch der
Langeweile, der Ungeduld und vielen anderen im Herzen
aufsteigenden Versuchungen! Und ich glaube sagen zu
dürfen: Wenn jemand einmal anfängt, das Wenige dieser
Art recht auszunutzen, so wird der Herr ihm mehr davon
geben, und er wird in seinem Leben bald das richtige
Gleichgewicht finden und sich darüber wundern, daß er
srüher so manchen Augenblick nutzlos vorübergehen lassen
konnte. Der Herr aber gebe uns allen, daß das so
wichtige Arbeitsleben in dem noch wichtigeren Gebetsleben
seinen Grundton finde und von ihm geregelt werde, auf
daß „wir die Lehre unsers Heiland-Gottes zieren in allen
Dingen" !
Gerechtfertigt.
Wie kann der Gläubige wissen, daß er gerechtfertigt
ist? Sicherlich nicht dadurch, daß er auf seine Gefühle
blickt; denn diese sind so veränderlich wie der Wind.
Auch kann er es nicht wissen auf Grund seiner guten
Werke oder seiner Gebete; denn seine besten Werke und
inbrünstigsten Gebete sind von der Sünde befleckt. Blickt
er in irgend einer Weise auf sich selbst, so wird er niemals
Gewißheit über seine Rechtfertigung erlangen. Denn
was könnte er in sich finden, das ihm Gewißheit geben
»2
könnte, daß er so völlig von aller Sünde gereinigt und
sreigesprochen sei, daß nichts ihm jemals wieder zur Last
gelegt werden könnte?
Wie steht es mit dir, mein lieber Leser, in dieser
Beziehung? Kannst du, mit der Ewigkeit vor dir und
bei dem Gedanken, vor jenem Richter stehen zu müssen,
der jedes Geheimnis deines Lebens kennt, kannst du sagen,
daß du so völlig von aller Sünde gereinigt bist, daß dir
nichts, gar nichts mehr zur Last gelegt werden kann? oder
geht es dir, wie so manchen Christen unsrer Tage, die da
sagen: „Wie kann ein sündiger Mensch, so lange er sich
in dieser Welt befindet, wissen, daß er von aller Sünde
gereinigt ist? Er kann höchstens hoffen, einmal auf Grund
des vollbrachten Werkes Christi in Gnaden angenommen
zu werden." Denkst dn auch so? Dann laß mich dir
sagen, wie die Antwort eines einfältigen, dem Zeugnis
Gottes vertrauenden Gläubigen lautet, wenn es sich um
die Frage seiner Rechtfertigung handelt. Er sagt einfach,
aber bestimmt: „Christus ist auferstanden".
Aber, wirst du fragen, was hat das mit der Rechtfertigung
zn thun? — Sehr viel, ja, auf alle Weise:
denn wir lesen, daß Christus „unsrer Übertretungen wegen
dahingegeben nnd unsrer Rechtfertigung wegen
auferweckt worden ist"; und: „Wenn Christus nicht auferweckt
ist, so ist euer Glaube eitel; ihr seid noch
in euren Sünden". (Röm. 4, 24: 1. Kor. 15, 17.)
Du siehst also, wie die Rechtfertigung eines Gläubigen mit
der Auferstehung oder Nichtauferstehung Christi steht
oder fällt. Ein erretteter Sünder kennt die Liebe Gottes,
die sich darin erwiesen hat, daß Er Jesum als seinen
Bürgen und Stellvertreter gesandt hat. Seine Augen
sind geöffnet, um Jesum zu sehen, der alle seine Sünden
an Seinem eignen Leibe auf das Holz getragen hat. Er
weiß, daß . das Blut Jesu alle Ansprüche der göttlichen
Heiligkeit bis aufs Äußerste erfüllt hat; und er kann jetzt
sagen: „So gewiß wie Jesus für mich verurteilt und nm
meiner Übertretungen willen dem Tode überliefert worden
83
ist, so gewiß wie Golt Ihn am Kreuze als den Bürgen
für meine Sünden behandelt hat, so gewiß hat Er Ihn
auch um meiner Rechtfertigung willen aus dem Gefängnis
des Todes herausgeführt."
Denken wir uns, ein Bürge fei um der Schuld der
Person willen, für die er sich verbürgt hat, ins Gefängnis
geworfen worden; dann aber bezahle er die ganze Schuld
und werde wieder freigelassen. Ist nun nicht die schuldige
Person gerade so frei von aller Schuld wie ihr Bürge
selbst, der die Forderungen der Gläubiger sämtlich befriedigt
hat? Ohne alle Frage. Auch weiß ein solcher
ganz gewiß, daß er keine Schulden mehr hat. Warum?
Eben weil sein Bürge aus dem Gefängnis entlassen ist.
Genau so ist es mit dem Gläubigen. Er schaut und
vertraut jetzt nicht auf sich selbst oder auf seine Gefühle,
sondern auf Christum, seinen anbetungswürdigen Bürgen,
der die ganze Schuld bezahlt hat und durch die Herrlichkeit
des Vaters aus den Banden des Todes befreit
worden ist.
Sinne angelegentlich hierüber nach, mein lieber Leser!
Es war eine schreckliche Sache, als Jesus der Bürge
aller derer wurde, welche durch die Gnade an Ihn glauben
sollten. Betrachte Ihn im Garten Gethsemane. Welch
eine Angst und welch ein Kampf waren in Seiner heiligen
Seele im Blick auf das Werk, das vor Ihm lag! Und
dann richte deinen Blick aus das Kreuz, wo alle unsre
Sünden und unsre Schuld auf Ihn gelegt wurden. Welche
Stunden bitterster Not! Dennoch vertraute Er Gott.
„Du wirst meine Seele nicht im Hades zurücklassen", so
hören wir Ihn sagen, „noch zugeben, daß dein Frommer
die Verwesung sehe". (Apstgsch. 2, 27.) Und Gott hat
Seine Seele nicht im Hades zurückgelassen. Er hat Ihn
aus den Toten auferweckt, um nie wieder von Gott verlassen
zu werden, sondern um hinaufzusteigeu in die höchste,
erhabenste Herrlichkeit. Christus war ohne Sünde, der
vollkommen Heilige und Gerechte. Wenn Er deshalb um
der Sünde willen starb, so muß Sein Tod ganz für uns
84
sein. Auch hatte Er keine eignen Sünden, von welchen
Er hätte gerechtfertigt werden müssen; deshalb ist Seine
Auferstehung ebenfalls einzig und allein für uns. Erstarb
als unser Bürge, so daß alles das, was Gott am
Kreuze Christo that, dem Gläubigen zugerechnet wird; Er
wurde aus den Toten auferweckt als unser Stellvertreter,
so daß alles das, was Gott bei Seiner Auferstehung an
Christo that, an uns geschehen ist in Ihm.
Christus ist aus er st and en! Ist noch irgend
welche Sünde oder Schuld auf Ihm? Unmöglich. Wie
könnte Er sonst zur Rechten Gottes sitzen, mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt? Darum ist Gott jetzt nur gerecht,
wenn Er einen jeden rechtfertigt, der des Glaubens an
Jesum ist. Gott selbst ist es, welcher rechtfertigt;
wer ist, der verdamme ? (Vergl. Röm. 8, 29—34; Hebr.
10, 14; 1. Joh. 4, 17.)
Noch einmal denn, mein lieber Leser! So lange
du auf dich oder auf irgend etwas in dir blickst, bist du
weit davon entfernt, deiner Rechtfertigung gewiß zu sein.
Darum blicke von dir ab, allein auf Christum hin, und
dann wirst du nicht mehr nach etwas suchen, was dir
Gewißheit über die Frage geben könnte, ob du auch wirklich
von aller Sünde gerechtfertigt seiest oder nicht. Nein,
du wirst vielmehr mit dem Apostel triumphierend ausrufen:
„Christus ist es, der gestorben, ja noch
mehr, der auch auferweckt, der auch zur
Rechten Gottes ist!"
Kann der Kläger noch bestehen,
Da zur Rechten Gottes jetzt
Er des Menschen Sohn muß sehen,
Auf den Thron von Gott gesetzt?
Alle Klagen, abgeschlagen,
Sind dort außer Kraft gefetzt;
Vor dem Lamm auf Gottes Thron
Geht der Kläger stumm davon.
Die Verschwörung Absalows.
(Schluß.)
Am Ende von 2. Sam. 12 finden wir David wieder
an seinem richtigen Platze, im Kamps mit dem Feinde:
„Und David versammelte alles Volk und zog nach Rabba,
und er stritt wider dasselbe und nahm es ein . . . Und
das Volk, das darin war, führte er hinaus und legte es
unter die Säge und unter eiserne Dreschwagen und unter
eiserne Beile, und ließ sie durch einen Zicgelofen gehen.
Und also that er allen Städten der Kinder Ammon. Und
David und das ganze Volk kehrten nach Jerusalem zurück."
Und jetzt beginnt die ernste Geschichte der Leiden
Davids. Das Wort des Propheten, daß das Schwert
nicht von seinem Hause weichen solle ewiglich, geht in
Erfüllung. Das 13. Kapitel berichtet von zwei der ver-
abschenungswürdigsten Handlungen, die je eine Familie
befleckt haben mögen. Ammon, der Sohn Davids, entehrt
die Schwester Absalows, und Abfalom ermordet Ammon
und flieht dann nach Gesur, wo er drei Jahre bleibt.
Dann erlaubt ihm David nach Jerusalem zurückzukehren,
im Widerspruch mit dem bestimmten Gebot des Gesetzes.
Selbst wenn Absalom nur ein Totschläger gewesen wäre,
hätte er in einer der Zufluchtsstädte bleiben müssen; aber
er war ein Mörder, der mit Absicht und Überlegung seinen
Bruder ermordet hatte; und mit dieser Blutschuld auf seinem
XNIV 4
86
Gewissen, wurde ihm die Heimkehr erlaubt. Wir hören
weder von einem Bekenntnis, noch von einem Sühnopfer;
es waren rein natürliche Gefühle für ihn, die David veranlaßten,
ihn wieder zurückkehren zu lassen. „Und der König
küßte Absalom." Ja, der König küßte den Mörder, statt
dem Gesetze des Gottes Israels seinen Lauf zu lassen.
Und was dann? „Und es geschah hernach, da schaffte sich
Absalom Wagen und Rosse an, und fünfzig Mann, die
vor ihm herliefen." (Kap. 15, 1.) Das war der nächste
Schritt. Davids unerlaubte Rücksichtnahme auf seinen
Sohn, seine falsche natürliche Liebe dienten nur dazu, der
offnen Empörung Absaloms den Weg zu bahnen. Welch
eine ernste Warnung liegt für uns in diesen Dingen! Handle
rücksichtsvoll und zärtlich mit dem Bösen, und du kannst
versichert sein, daß es ausreifen und dich am Ende verderben
wird. Begegnest du ihm aber mit einem Antlitz,
hart wie ein Kieselstein, so ist der Sieg auf deiner Seite.
Spiele nicht mit der Schlange, sondern tritt sie ohne
Zögern unter die Füße. Bolle, unbeugsame Entschiedenheit
dem Bösen gegenüber ist der einzig sichere und glückliche
Pfad für einen Gläubigen. Er mag im Anfang
schwer und schmerzlich sein, aber sein Ende ist friedlich.
Doch beachten wir, wie Absalom zu Werke geht.
Er beginnt damit, daß er in den Herzen der Männer von
Israel Unzufriedenheit wachruft. „Und Absalom machte
sich früh auf und stellte sich an die Seite des Thorweges;
und es geschah: jedermann, der einen Rechtsstreit hatte,
nm zu dem König zu Gericht zu kommen, dem rief Absalom
zu und sprach: Aus welcher Stadt bist du? Und sprach
er: Dein Knecht ist aus einem der Stämme Israels, so
sprach Absalom zu ihm: Siehe, deine Sachen sind gut
87
und recht; aber du hast von feiten des Königs
niemanden, der sie anhörte. Und Absalom sprach:
Wer mich doch zum Richter setzte im Lande, daß zu mir
käme jedermann, der einen Rechtsstreit und Rechtshandel
hat, und ich würde ihm zu seinem Recht verhelfen! Und
es geschah, wenn jemand ihm nahte, sich vor ihm zu
bücken, so streckte er seine Hand aus und ergriff ihn und
küßte ihn . . . und Absalom stahl das Herz der Männer
von Israel." So macht es der Feind immer. Er ruft
Unzufriedenheit hervor und schafft ein vermeintliches Bedürfnis,
einen vorgeblichen Mangel, und dann sucht er
diesen auszufüllen mit irgend einer Sache oder einer
Person, die er selbst auf den Schauplatz führt. Alle diejenigen,
deren Herzen mit David erfüllt und befriedigt
waren, hatten keinen Raum für Absalom.
Das ist ein schöner Grundsatz, wenn wir ihn hinsichtlich
des wahren David auf unsre Herzen anwenden.
Sind wir mit Ihm erfüllt, so haben wir keinen Raum
für irgend etwas anderes. Nnr dann wenn es Satan
gelingt, ein Bedürfnis, eine Leere in unserm Herzen Hervorzurusen,
wird es ihm auch gelingen, etwas neben Christo
zur Ausfüllung dieser Leere einzuführen. Kann ich in
Wahrheit sagen: „Der Herr ist mein Teil", so bin ich
geborgen vor dem Einfluß der verführerischen Köder, die
Satan mir vorhält. Der Herr erhalte uns deshalb in
dem beglückenden und heiligenden Genuß Seiner Person;
dann werden wir eine solch unvergleichliche Herrlichkeit und
Schönheit in Ihm entdecken, daß alles andere seinen Wert
und Glanz verliert.
Es gelang Absalom nur zu gut, die Herzen der
Männer von Israel zu stehlen. Er trat mit Schmeicheleien
88
an sie heran und gewann so in ihren Herzen und Zuneigungen
allmählich den Platz, der allein David gehörte.
Er war ein stattlicher Mann, wohl geeignet, das Urteil
der Menge zu bestechen und für sich einzunehmen. „In
ganz Israel war kein Mann wegen seiner Schönheit so
sehr zu preisen wie Absalom; von seiner Fußsohle bis zu
seinem Scheitel war kein Fehl an ihm." Aber seine
Schönheit und seine Schmeicheleien machten keinen Eindruck
auf diejenigen, welche der Person Davids
nahe standen. Als der Bote kam, der David über die
von Absalom ins Werk gesetzte Verschwörung Bericht brachte
und sagte: „Das Herz der Männer von Israel hat sich
Absalom zugewandt", zeigte es sich, wer für David war
und wer nicht. „Da sprach David zu allen feinen Knechten,
die bei ihm waren in Jerusalem: Machet euch auf, und
lasset uns fliehen . . . Und die Knechte des Königs
sprachen zu dem König: Nach allem, was mein Herr, der
König, zu thun erwählen wird, siehe hier, deine Knechte! . . .
Und der König zog hinaus, und alles Volk in seinem
Gefolge, und sie machten Halt bei dem entfernten Hause.
Und alle seine Knechte zogen an seiner Seite hinüber
; und alle die Kerethiter und alle die Pelethiter, und
alle die Gathiter, sechshundert Mann, die in seinem Gefolge
von Gath gekommen waren, zogen vor dem König
hinüber . . . Und das ganze Land weinte mit lauter
Stimme, und alles Volk ging hinüber; und der König
ging über den Bach Kidron; und alles Volk ging hinüber,
nach dem Wege zur Wüste hin."
Es gab also noch viele Herzen, welche David zu
aufrichtig liebten, um durch die bestrickenden Einflüsse
Absaloms sich von ihm abziehen zu lassen. Diejenigen,
89
welche in den Tagen seiner Verbannung Freud und Leid
mit ihm geteilt hatten, verließen ihn auch in der Zeit
sein^D tiefsten Schmerzes nicht. „David aber ging die
Anhöhe der Olivenbäume hinauf und weinte, während er
hinaufging; und sein Haupt war verhüllt, und er ging
barfuß; und alles Volk, das bei ihm war, hatte ein jeder
sein Haupt verhüllt und ging unter Weinen hinauf!" Es
war ein rührendes und interessantes Schauspiel. Die
Gnade, welche in David wirkte, strahlte während dieser
Verschwörung in viel lieblicherem Lichte als während
irgend eines andern Abschnittes seines Lebens; zugleich
aber zeigte sich auch die innige Zuneigung seiner Getreuen
in einer Weise wie nie vorher. Wenn wir diese Scharen
den weinenden, barfuß dahinschreitenden David umringen
sehen, so werden unsre Herzen tief bewegt, viel tiefer, als
wenn wir sie um seinen Thron her erblicken; denn hier
ist offenbar seine Person, und nicht sein Amt und seine
Würde, der große Anziehungspunkt für sie. David konnte
seinen Begleitern jetzt nichts anderes bieten als die Gemeinschaft
an seiner Verwerfung; und dennoch war seine Person
für alle, die ihn kannten, mit einem Reiz umgeben, der sie
für immer unauflöslich mit ihm verband. Sie konnten
ebensowohl mit ihm weinen als Schlachten schlagen und
Siege erringen. Hören wir nur die Worte eines Mannes,
der David aufrichtig liebte: „Jttai antwortete dem König
und sprach: So wahr Jehova lebt und mein Herr König
lebt, an dem Orte, wo mein Herr, der König, sein wird,
sei es zum Tode, sei es zum Leben, daselbst wird dein
Knecht sein!" Tod oder Leben — alles war gleich in
Gemeinschaft mit dem Könige.
Das ist wahrhaft ergreifend; aber noch ergreifender
90
ist die aufrichtige Demut und Unterwürfigkeit des Geistes,
welche sich hier in David offenbaren. Wenn Zadok und
die Leviten mit der Bundeslade kommen, um sich in, den
Trauerzug einzureihen, sagt er: „Bringe die Lade Gottes
in die Stadt zurück. Wenn ich Gnade finde in den
Augen Jehovas, so wird Er mich zurückbringen, und mich
sie und ihre Wohnung sehen lassen. Wenn Er aber also
spricht: Ich habe nicht Lust an dir — hier bin ich, mag
Er mit mir thun, wie es gut ist in Seinen Augen." Und
als Simei, der Benjaminit, ihm entgegentrat, um ihm zu
fluchen und mit Steinen nach ihm zu werfen, und Abisai
um die Erlaubnis bat, ihm den Kopf wegnehmen zu
dürfen, antwortete er: „Was haben wir mit einander zu
schaffen, ihr Söhne Zerujas? Ja, mag er fluchen! denn
wenn Jehova ihm gesagt hat: Fluche David! wer darf
dann sagen: Warum thust du also?" Mit einem Wort,
David beugte in Demut sein Haupt unter die Regierungswege
Gottes. Er fühlte ohne Zweifel, daß er nur die
Frucht seiner Sünde erntete; und er nahm alles aus
Gottes Hand an. Er sah Gott in jedem einzelnen Umstand
nnd erkannte Ihn an mit einem unterwürfigen und
ehrerbietigen Geiste. Vor seinem Auge stand nicht Simei,
sondern Gott. Abisai sah nur den Menschen und wollte
demgemäß auch mit Simei handeln, gerade so wie Petrus
in späteren Tagen, als er seinen geliebten Herrn vor der
Schar der Häscher verteidigen wollte, die ausgesandt waren,
Ihn gefangen zu nehmen. Petrus wie Abisai lebten auf
der Oberfläche und blickten auf Nebenursachen. Der Herr
Jesus aber lebte in der tiefsten Unterwürfigkeit unter
Seinen Vater. „Der Kelch, den mir der Vater gegeben
hat, soll ich den nicht trinken?" Das gab ihm Gewalt
91
über alles. Er schaute über das Werkzeug hinaus auf
Gott hin, über den Kelch hinaus auf die Hand, welche
denselben gefüllt hatte. Es machte nichts aus, ob Judas,
Herodes, Kajaphas oder Pilatus als Werkzeuge dienten;
Er konnte im Blick auf alles sagen: „Der Kelch, den mir
der Vater gegeben hat".
So stand auch David in seinem Maße über solch
untergeordneten Mitteln und Werkzeugen. Er blickte geradeswegs
auf Gott, und mit unbeschuhten Füßen und
verhülltem Haupte beugte er sich vor Ihm in den Staub.
Wenn Jehova gesagt hatte: „Fluche David!" dann hatte er
nichts weiter zu thun, als sich unter die Hand Gottes zu
beugen.
Es giebt wohl kaum etwas, worin wir so viel fehlen,
als in der Verwirklichung der Gegenwart Gottes und dem
Erkennen Seines Wirkens in allen, auch den kleinsten
Umständen des täglichen Lebens. Wir sind fortwährend
geneigt, auf Nebenursachen zu blicken und nicht Gott in
allen Dingen zu sehen. Daher erlangt Satan so
manchen Sieg über uns. Lebte das Bewußtsein mehr in
unsern Herzen, daß uns kein einziges Ereignis vom Morgen
bis zum Abend begegnen kann, in welchem wir nicht die
Stimme Gottes zu vernehmen und Seine Hand zu sehen
vermöchten, so würden wir Menschen und Dinge mit ganz
anderen Augen betrachten und mit weit größerem Ernst
unsern Weg gehen. Unser Geist würde ruhig, unser Herz
still und ergeben sein. Wir werden dann nicht mit Abisai
sagen: „Warum soll dieser tote Hund meinem Herrn, dem
König, fluchen? laß mich doch hinübergehen und ihm den
Kopf wegnehmen!" noch werden wir, wie Petrus, in
fleischlichem Eifer das Schwert ziehen. Ach, wie tief
92
standen beide Männer, trotz ihrer aufrichtigen Liebe, unter
ihren Herren! Wie muß das Thun des Petrus den
Geist Christi verletzt, und wie müssen Abisais Worte den
demütigen und unterwürfigen David verwundet haben!
Hätte es David angestanden, sich selbst zu verteidigen, wenn
Gott in einer so ernsten und eindringlichen Weise mit seiner
Seele beschäftigt war? Wahrlich nicht. Er dachte nicht
daran, sich aus der Hand seines Herrn herauszunehmen;
er war Sein im Leben und im Sterben, als König und
als Verbannter.
Doch kehren wir noch einmal zu den Freunden Davids
zurück, deren Hingebung und Liebe zu seiner Person
eine schwere Probe in schwerer Zeit so glänzend bestanden.
Die Helden Davids umringen ihren Herrn von allen Seiten
und teilen mit ihm die Beschimpfungen und Verwünschungen
Simeis. Sie waren mit ihm gewesen auf der Bergfeste,
mit ihm auf dem Throne, und dem Schlachtfelde, und jetzt
sind sie mit ihm in seiner Demütigung. Schobi, Makir
und Barsillai erscheinen aus dem Schauplatz und bedienen
David und seine Männer mit fürstlicher Freigebigkeit.
Mit einem Worte, die Gedanken vieler Herzen wurden
offenbar in dieser Zeit der Trauer und Trübsal Davids.
Es zeigte sich, wer David um seiner selbst willen liebte,
und wer nicht.
Indes begegnen wir hier einem Charakter, bei
welchem wir noch etwas eingehender verweilen müssen.
Ich meine Mephiboseth, den Sohn Jonathans. Wir werden
uns erinnern, daß David kurz nach seiner Thronbesteigung
jene denkwürdigen und gnadenvollen Worte aussprach: „Ist
noch jemand da, der übriggeblieben ist vom Hause Sauls^,
daß ich Güte Gottes an ihm erweise?" „Das Haus
93
Sauls" und „Güte Gottes" — welch eine Verbindung!
Saul war Davids unversöhnlichster Feind gewesen; und
doch, als David jetzt aus dem Throne sitzt, befähigen ihn
der Glanz seiner Stellung und die Fülle der göttlichen
Gnade, die Vergangenheit zu vergessen und nicht nur Güte
Davids, sondern Güte Gottes zu offenbaren.
Die Güte Gottes kennzeichnet sich stets durch diesen besondern
Charakterzug, daß sie gegen Feinde in Thätigkeit
tritt. „Gott aber erweist Seine Liebe gegen uns darin, daß
Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben
ist"; und weiter: „Denn wenn wir, da wir Feinde
waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod Seines
Sohnes w.". (Röm. 5, 8. 10.) Eine ähnliche Liebe und
Güte wünschte David an einem Gliede des Hauses Sauls
zu erweisen. „Und Mephiboseth, der Sohn Jonathans,
des Sohnes Sauls, kam zu David; und er fiel auf fein
Angesicht und bückte sich . . . Und David sprach zu ihm:
Fürchte dich nicht; denn ich will gewißlich Güte an dir
erweisen nm Jonathans, deines Vaters, willen, und will
dir alle Felder deines Vaters Saul zurückgeben; du aber
sollst beständig an meinem Tische essen. — Und er bückte
sich und sprach: Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch
einem toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" (2. Sam. 9.)
Hier haben wir eine liebliche Probe von der Güte Gottes
und entdecken zugleich die Ursache der nachmaligen Hingebung
Mephiboseths an David. Obgleich er nicht mehr
Ansprüche an den König zu machen hatte, als ein Feind
oder ein toter Hund, wurde er dennoch in Gnaden ausgenommen
und an den Tisch des Königs gesetzt.
Aber Mephiboseth hatte einen treulosen Knecht, der
zur Erreichung seiner eignen habsüchtigen Zwecke ihn bei
94
dem Könige in ein falsches Licht setzte. Die ersten Verse
des 16. Kapitels geben uns einen Bericht von Zibas
falschem Thun. Er erweist David Freundlichkeit und
schwärzt Mephiboseth bei ihm an, um so in den Besitz des
Landes seines Herrn zu kommen. Aus der körperlichen
Schwachheit Mephiboseths Vorteil ziehend, betrügt und
verleumdet er ihn. Welch ein trauriges Gemälde!
Doch die Wahrheit kam ans Licht, und der so schnöde
Verleumdete wurde voll und ganz gerechtfertigt. Bei Davids
Rückkehr, als der ganze Aufruhr vorüber und Absalom
vom Schauplatz verschwunden war, da kam „Mephiboseth,
der Sohn Sauls, herab, dem Könige entgegen. Und er
hatte seine Füße nicht gereinigt und seinen Bart nicht gemacht
und seine Kleider nicht gewaschen von dem Tage
an, da der König weggegangen war, bis zu dem Tage,
da er in Frieden einzog". (Kap. 19, 24.) So beschreibt
der Heilige Geist den Charakter dieses interessanten Mannes.
Die Abwesenheit seines Herrn beraubte ihn jeglichen Beweggrundes,
seine eigne Person zu Pflegen oder gar zu schmücken.
So lange David fern von Jerusalem weilte, war Mephiboseth
ein Trauernder — ein schönes Bild von dem, was
der Gläubige heute sein sollte, so lange sein Herr und
Meister abwesend ist. „Glückselig die Trauernden, denn
sie werden getröstet werden!" Wahre Gemeinschaft mit
dem abwesenden Herrn wird dem christlichen Charakter den
Stempel völliger Absonderung aufprägen. Die Frage ist
nicht, was ein Christ thun oder nicht thun darf. Nein,
ein liebendes Herz wird nicht zweifelhaft sein hinsichtlich
des Verhaltens, welches sich für solche geziemt, die auf die
Rückkehr des Königs warten. Frage einen wahrhaft geistlichen
Christen, warum er sich von Dingen fernhält, die
95
er vielleicht genießen könnte, ohne daß jemand ihn einer
Sünde zeihen dürfte. Seine Antwort lautet: weil Jesus
abwesend ist. Das ist der höchste Beweggrund, der
einen Gläubigen leiten kann. Christus ist droben, und so
sucht der Gläubige das, was droben ist, und nicht das,
was auf der Erde ist. Wir bedürfen nicht der Regeln und
Satzungen einer kalten Formen-Religion, nm danach unsre
Wege einzurichten; was uns not thut, ist eine glühendere
Liebe zu der Person Christi und ein sehnlicheres Verlangen
nach Seiner baldigen Rückkehr. Wir haben, wie Mephi-
boseth, die Güte Gottes erfahren, und wahrlich, eine kostbare
Güte! Wir sind aus der Tiefe unsers Elends und
Verderbens herausgenommen und unter die Fürsten Seines
Hauses gesetzt worden. Sollten wir deshalb unsern Herrn
nicht mit der ganzen Kraft unsrer Herzen lieben? Sollten
wir nicht danach begehren, Sein Antlitz zu sehen? Sollten
wir nicht unser gegenwärtiges Verhalten einrichten nach
Seinen Gedanken und Seinem wohlgefälligen Willen?
O möchten unsre Herzen imstande sein, mit einem herzlichen
„Ja" auf diese Frage zu antworten! Aber ach, wie wenig
gleichen wir oft dem Mephiboseth! wie sind wir so gern
bereit, uns gütlich zu thun und unsrer hassenswürdigen
Natur zu folgen und ihren Wünschen zu dienen! wie geneigt,
den glänzenden Dingen dieses Lebens nachzutrachten,
den Reichtümern, den Ehren, den Vergnügungen und dem
Luxus dieser Welt, indem wir uus eiuzureden suchen, daß wir
alles das thun können, ohne unser Anrecht auf den Namen
und die himmlischen Segnungen eines Christen einzubüßen!
Welch eine beklagenswerte Eigenliebe und Selbstsucht zeigt
sich so oft in unserm Thun, eine Selbstsucht, deren wir
uns am Tage der Erscheinung Christi tief schämen müssen!
96
Wäre Zibas Bericht über Mephiboseth wahr gewesen,
wie hätte dieser dann antworten können, als David ihn
fragte: „Warum bist du nicht mit mir gezogen, Mephiboseth?"
Aber er konnte dem König frei ins Auge schauen
und sagen: „Mein Herr König, mein Knecht hat mich betrogen;
denn dein Knecht sprach: Ich will mir den Esel
satteln und darauf reiten und mit dem König ziehen, denn
dein Knecht ist lahm; und er hat deinen Knecht bei meinem
Herrn, dem König, verleumdet. Aber mein Herr, der
König, ist wie ein Engel Gottes: so thue, was gut ist in
deinen Augen. Denn das ganze Haus meines Vaters ist
nichts gewesen als Männer des Todes vor meinem Herrn,
dem König; und doch hast du deinen Knecht unter die gefetzt,
welche an deinem Tische essen. Und was für ein
Recht habe ich noch? und um was hätte ich noch zum
König zu schreien?" Wie schön ist diese Einfalt und
Aufrichtigkeit des Herzens, und wie schlagend ist der Gegensatz
zwischen Ziba und Mephiboseth! Der erstere trachtete
nach dem Erbe Sauls, der letztere wünschte nur in
der Nähe des Königs zu sein. Wenn deshalb David sagte:
„Warum redest du noch von deinen Sachen? Ich sage:
Du und Ziba, ihr sollt die Felder teilen", gab Mephiboseth
sofort die Richtung seiner Gedanken und Wünsche kund mit
den Worten: „Er mag auch das Ganze nehmen,
nachdem mein Herr, der König, in Frieden in sein Haus
gekommen ist". Sein Herz war von David erfüllt, nicht
von „seinen Sachen". Wie hätte er mit Ziba auf einem
Boden stehen, wie mit einem solchen Manne die Felder
teilen können? Unmöglich! Der König war zurückgekehrt;
das war genug für ihn. In seiner Nähe weilen zu dürfen,
war weit besser als das ganze Erbe des Hauses Sauls.
97
„Er mag auch das Ganze nehmen." Die Person des
Königs erfüllte und befriedigte das Herz des armen Lahmen
so völlig, daß er ohne Bedenken alles das aufgeben konnte,
um dessen Besitz Ziba ein Betrüger und Verleumder geworden
war.
Gerade so wird es mit allen sein, welche den Namen
und die Person des Sohnes Gottes lieben. Die Aussicht
auf Seine baldige Erscheinung wird alle Neigungen
zu den Dingen dieser Welt im Keime ersticken. Ausdrücke
wie „erlaubt" oder „nicht erlaubt" find viel zu kalt für
solche Herzen. Schon die Thatsache, daß sie nach dem
Morgenstern ausschauen, wird sie notwendigerweise von
allem anderen ablenken; denn wenn man mit gespannter
Aufmerksamkeit aus einen besonderen Gegenstand blickt, kann
man nichts anderes ins Auge fassen. Ach, wenn die
Gläubigen mehr die Kraft ihrer gesegneten Hoffnung verwirklichten,
wie würden sie dann getrennt von der Welt
wandeln und hoch über ihren Zielen und Beweggründen
stehen! Der Feind weiß das sehr wohl, und deshalb ist
er mit allen Mitteln bemüht, diese Hoffnung zu einem
bloßen Kopswissen herabzudrücken, zu einer Lehre, die wenig
oder gar keine praktische Kraft, ja kaum eine feste, unbestreitbare
Grundlage hat. Es ist ihm gelungen, gerade
jenen Teil des göttlichen Buches, der in besonderer Weise
die mit der Ankunft des Herrn in Verbindung stehenden
Ereignisse behandelt, beinahe völliger Vernachlässigung anheim
fallen zu lassen. Bis vor gar nicht langer Zeit war
man gewöhnt, das Buch der Offenbarung als ein so tiefes
und unauflösliches Geheimnis zu betrachten, daß nur
wenige, wenn überhaupt jemand, es wagen durften, sich
mit ihm zu beschäftigen. Und selbst seitdem die Aufmerk
98
samkeit der Christen wieder mehr auf die Erforschung der
Offenbarung gelenkt worden ist, hat der Feind solch widerstreitende
Meinungen und verkehrte Erklärungen darüber
hervorgerufen, daß einfache Gemüter fast vor dem Buche
zurückschrecken, in der Meinung, dasselbe sei nur eine Zusammenstellung
von dunklen, unerklärlichen Bildern und verwirrenden
Prophezeiungen.
Hierfür giebt es nur ein Heilmittel, und das ist: eine
aufrichtige Liebe zu Jesu und zu Seiner Erscheinung. Alle,
welche wirklich auf Jesum warten, werden über die Art
Seines Kommens nicht viel disputieren. Überhaupt können
wir es als einen feststehenden Grundsatz betrachten, daß
in demselben Verhältnis, wie die Liebe abnimmt, der Geist
des Streitens und Disputierens wächst. Mephiboseth
fühlte, daß er David alles verdankte, daß er durch ihn
vom Verderben errettet und zu hoher Würde gelangt war.
Für ihn gab es deshalb nur einen Gegenstand, nur e i n
Interesse; nnd wenn Davids Platz durch einen Empörer
eingenommen wurde, so mußten die ganze äußere Erscheinung
und das Verhalten Mephibosets beweisen, daß er mit dem
bestehenden Zustand der Dinge nicht einverstanden war. Er
war ein Fremdling inmitten desselben und seufzte nach der
Rückkehr des Mannes, dessen Güte ihn zu dem gemacht
hatte, was er war. Seine Interessen und Hoffnungen
standen alle mit David in Verbindung, und nichts als
seine Rückkehr konnte ihn glücklich machen.
O möchte es auch so mit uns sein, geliebter christlicher
Leser! Möchten wir mehr unsern Charakter als
Fremdlinge und Pilgrime verwirklichen inmitten eines Schauplatzes,
wo Satan regiert! Die Zeit naht heran, wo unser
geliebter König unter den jubelnden Zurufen Seines Volkes
99
zurückkehren, der Empörer von seinem Throne gestoßen
und jeder Feind zum Fußschemel unsers hochgelobteu Immanuel
gelegt werden wird. Die Absaloms, die Ahitophels
und die Simeis werden alle ihren gebührenden Platz und
Lohn finden, und andrerseits werden alle, die gleich Mephiboseth
über den abwesenden David getrauert haben, alle
Wünsche ihres Herzens überströmend befriedigt finden.
„Wie lange, Herr?" das sei unser Ruf, während wir
sehnsüchtig auf den ersten Laut warten, der uns Sein
Kommen ankündigt! Der Weg ist lang und nicht selten
rauh und schmerzlich; die Nacht ist finster und niederdrückend.
Aber das Wort ruft uns zu: „Habt nun Geduld,
Brüder!" und: „Noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen. Der Gerechte
aber wird aus Glauben leben; und wenn jemand sich
zurückzieht, so wird meine Seele kein Wohlgefallen an ihm
haben."
Ich denke nicht, auf die Einzelheiten der Verschwörung -
Absaloms näher einzugehen. Er fand ein schreckliches Ende,
wie seine Thaten es verdienten, obwohl eines Vaters Herz
über ihn trauern und eines Vaters Thränen um seinetwillen
fließen mochten. Seine Geschichte mag mit Recht
als ein Vorbild jenes Mannes und seines Thuns betrachtet
werden, der, wie Daniel uns berichtet, „sich des Königtums
durch Schmeicheleien bemächtigen" würde. Dies, wie
manchen anderen interessanten Punkt, möchte ich jedoch der
Beurteilung und näheren Betrachtung des Lesers überlassen,
indem ich den Herrn bitte, ihm die Erforschung Seines Wortes
zur Erfrischung und Erbauung dienen zu lassen. Nie
hat es wohl eine Zeit gegeben, wo es für die Christen
notwendiger gewesen wäre, unter Gebet und Flehen die
100
Schriften zu erforschen, wie heute. Widerstreitende Meinungen,
befremdende Behauptungen und haltlose, böse Lehren
schwirren umher, und das einfältige Herz weiß oft nicht,
wohin es sich wenden soll. Doch Gott sei gepriesen!
Sein Wort liegt vor uns in all seiner Einfachheit und
Klarheit, und in ihm besitzen wir die ewige Quelle der
Wahrheit, den unveränderlichen Maßstab, an welchem wir
alles messen und durch welches wir alles beurteilen müssen.
Was uns not thut, ist ein Herz, das der Belehrung des
Wortes Gottes unterworfen ist. „Wenn dein Auge einfältig
ist, so wird dein ganzer Leib licht sein"; und:
„Jehova bewahrt die Einfältigen", und „den Demütigen
giebt Er Gnade".
„Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes."
(Judas Vers 2t.)
Die Epistel Judas führt uns den traurigen Verfall
der bekennenden Kirche vor Augen, mit der Absicht, die
Gläubigen zu warnen, damit sie nicht von demselben mit
fortgerissen werden. Sie ermahnt uns nicht, den Verfall
aufzuhalten, betont vielmehr in bestimmter Weise, daß derselbe
unter stets zunehmender Verschlimmerung bis zum Gericht
vorangehen werde. Ihn aufhalten zu wollen, wäre
nicht nur vergebliche Mühe, sondern würde auch ebenso anmaßend
und thöricht sein, als wenn einer versuchen wollte,
den Rheinstrom in seinem mächtigen Laufe aufzuhalten.
Deswegen sind auch alle, die sich mit dem Verderben der
Kirche beschäftigt haben, in der Absicht, sie zu ihrem ursprünglichen
Zustande zurückzuführen, sie neu zu beleben
101
und in ihrer alten Schönheit darzustellen, nicht nur völlig
zu Schanden geworden, sondern sie sind selbst auch in
den Verfall mit hineingezogen worden, und ihre Bemühungen
haben nur dazu gedient, die Verwirrung zu vermehren.
Anstatt daher den Gläubigen die Anweisung zu geben,
sich mit dem Verfall zu beschäftigen und ihm entgegen zu
arbeiten, zeigt unsre Epistel ihnen vielmehr, wie sie sich
vor demselben bewahren können, um nicht mit fortgerissen
zu werden. Sie zeigt ihnen, daß ihre Sicherheit inmitten
des Verderbens darin besteht, sich selbst in der Liebe
Gottes zu erhalten, und giebt ihnen zugleich Anleitungen,
wie dies geschehen kann. Sie werden ermahnt, für den
einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen, sich
auf Grund ihres allerheiligsten Glaubens zu erbauen, in
dem Heiligen Geiste zu beten, und die Barmherzigkeit
unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben zu erwarten.
(Vers 3. 20. 21.) Wenn sie dieses thun, so werden sie
sich selbst in der Liebe Gottes erhalten, gemäß den Worten
des Herrn: „Gleichwie mich der Vater geliebt hat, habe
auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe. Wenn
ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe
bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten
habe und in Seiner Liebe bleibe." (Joh. 15, 9. 10.)
Nichts kann köstlicher sein, als in der Liebe Gottes
zu bleiben; denn sie macht das Herz glücklich und erfüllt
es mit Ruhe, Frieden und Vertrauen zu Gott, so daß es
selbst inmitten des Verfalls weit bleibt für alle Heiligen,
hingebeud für die Errettung verlorner Sünder, und offen
für die Bedürfnisse einer seufzenden Schöpfung. Sie
richtet unsern Blick auf Gott, ihre Quelle, denn Er ist
102
Liebe; „und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und
Gott in ihm". (1. Joh. 4, 7. 8. 16.) Welch ein Ergebnis
! Wer in der Liebe bleibt, steht außerhalb des
Verfalls, des Haders der Parteien, der spitzfindigen, fruchtlosen
Spekulationen des menschlichen Geistes, durch welche
das geistliche Leben geschwächt und die Herzen verengt
werden. Er bleibt in Gott, frei von den Befleckungen
der Welt und des Fleisches, geschützt gegen die Angriffe
des Feindes, indem dieser nicht wagt, ihn anzutasten.
„Wir wissen, daß jeder, der ans Gott geboren ist, nicht
sündigt; sondern der aus Gott Geborene bewahrt sich,
und der Böse tastet ihn nicht an." (1. Joh. 5, 18.) Und
Gott bleibt in ihm, erfüllt sein Herz, seine Gedanken und
Neigungen und giebt sich ihm zu erkennen und zu genießen.
Kurz, er ist in die unmittelbare Nähe Dessen gebracht,
der, unendlich in sich selbst, die Quelle unendlicher Liebe
und Segnungen, unendlichen Glückes und Trostes ist, die
Quelle alles wahren Lebens.
Wie wichtig ist es daher für die Gläubigen, auf die
Ermahnung zu achten: „Erhaltet euch selbst in der Liebe
Gottes", sowie aus die Bedingungen, unter welchen dies
geschehen kann! Der Herr sagt: „Wenn ihr meine Gebote
haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben". Wir
können wohl sagen, daß diese Gebote für die Gläubigen
in den bereits angeführten Anleitungen unsrer Epistel kurz
zusammengefaßt sind. Zunächst sollen wir für den einmal
den Heiligen überlieferten Glauben kämpfen. Denn wie
könnten wir uns in der Liebe Gottes erhalten, wenn wir
den uns überlieferten Glauben, die im Christentum geoffenbarten
Wahrheiten, die Lehre der Apostel, nicht bewahrten?
Das Abweichen von diesen Wahrheiten, und
103
die Annahme andrer über diese hinausgehender Lehren,
war der erste Schritt zum Verfall, zur Entfernung aus
der Liebe Gottes. Daher die Ermahnung: „Ihr, was
ihr von Anfang gehört habt, bleibe in euch. Wenn
in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so
werdet auch ihr in dem Sohne und in dem Vater bleiben."
(1. Joh. 2, 24.) Um aber in dem zu bleiben, was wir
von Anfang gehört haben, bedarf es nicht menschlicher
Weisheit und Gelehrsamkeit, sondern nur der Einfalt
gegen Christum. Schwindet diese, so stehen wir in Gefahr,
falschen Lehren Gehör zu geben. Dies war die Befürchtung
des Apostels bei den Korinthern: „Ich fürchte aber, daß
etwa, wie die Schlange Eva verführte durch ihre List,
also auch euer Sinn verderbt und abgewandt werde von
der Einfalt gegen den Christus. Denn wenn der, welcher
kommt, einen andern Jesus predigt, den wir nicht gepredigt
haben, oder ihr einen andern Geist empfanget, den ihr
nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das
ihr nicht angenommen habt, so ertrüget ihr's gut."
(2. Kor. 11, 3. 4.) Wie uns die göttliche Geschichte
mitteilt, suchte die Schlange zunächst Zweifel gegen das
Wort Gottes, und dann Mißtrauen gegen Gott selbst im
Herzen der Eva zu erwecken. „Hat Gott wirklich gesagt?"
so fragte sie, und als Eva ihr Gehör schenkte,
ging sie sofort einen Schritt weiter und sagte: „Mit
nichten werdet ihr sterben; sondern Gott weiß, daß, welches
Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgethan,
und ihr werdet sein wie Gott". (I.Mose 3, 1—5.) Wäre
Eva einfältig bei dem geblieben, was Gott gesagt hatte,
so würde sie nicht in die Schlingen des Feindes gefallen
sein.
104
In derselben Einfalt nun, wie wir an dem uns
überlieferten Glauben festzuhalten haben, sollen wir uns
auch auf ihm als unserm allerheiligsten Glauben
erbauen. Wie die Lehre des Herrn und Seiner Apostel
nicht von dieser Welt, sondern aus Gott ist, völlig abgesondert
von menschlichen Erdichtungen, Erfindungen und
Spekulationen, so sondert sie auch uns zunächst von diesen
Dingen und allem Bösen ab, und zeigt uns Gott selbst,
geoffenbart in Christo. Und auf diesem Boden der Absonderung
stehend, vermögen wir uns, unter der Leitung
des Heiligen Geistes, mit den köstlichen Gedanken und
Offenbarungen Gottes zu beschäftigen, wie diese uns in
Seinem teuren Worte mitgeteilt sind; und unsre Herzen
werden erbaut und nehmen zu in der Erkenntnis der
Liebe Gottes. Das ist immer das Ergebnis wahrer Erbauung,
und diese ist um so nötiger, weil unsre Seelen
unter dem ausdörrenden Einfluß dieser Welt und des uns
umringenden Verderbens viel zu leiden haben. Die Erfüllung
dieser zweiten Bedingung ist also ebenso unerläßlich,
wie diejenige der ersten; denn so wichtig und unschätzbar
es auch ist, auf dem Boden der Wahrheit zu stehen, zurückgekehrt
zu sein und zu bleiben in dem, was von Anfang
war, so würden wir doch bald den Genuß der Liebe
Gottes verlieren, wenn wir uns nicht auch fleißig auf
unsern allerheiligsten Glauben erbauten.
Unzertrennlich hiervon ist das Gebet; denn ohne
Gebet giebt es keine wahre Erbauung. Die Beschäftigung
mit der Wahrheit würde vielmehr zu einer leeren, kraftlosen
Form herabsinken, selbst wenn sie sich in den richtigen
Schranken hielte. Man würde vielleicht tiefe Blicke in
die Wahrheit thun und die Erkenntnis vermehren, aber
105
trotz allem würde das Herz leer ausgehen und die Einfalt
Schiffbruch leiden, und man würde nichts weniger als
in der Liebe Gottes bleiben. „Die Erkenntnis bläht auf,
die Liebe aber erbaut. Wenn jemand sich dünkt, er erkenne
etwas, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen
soll; wenn aber jemand Gott liebt, der ist von Ihm erkannt."
(1. Kor. 8, 1—3.)
Jemehr wir den Ernst der gegenwärtigen schweren
Zeiten erkennen, desto mehr werden wir uns angetrieben
fühlen zu anhaltendem und inbrünstigem Gebet. Doch
vergessen wir nicht, daß dies geschehen muß in dem Heiligen
Geiste, unter Seiner Leitung und in Seiner Kraft. Jede
Wirksamkeit des Fleisches ist wertlos vor Gott, unter
welcher Form sie sich auch offenbaren möge. Und nur zu
leicht mischt sich das Fleisch in die Dinge des Geistes ein;
sogar, wenn wir nicht wachsam sind, in unsre Gebete.
Andrerseits können Umstände und Verhältnisse eintreten,
daß wir in unsrer Schwachheit und Kurzsichtigkeit nicht
wissen, was wir beten sollen. Da sei es denn zu unserm
Troste gesagt, daß der Geist sich unsrer Schwachheit annimmt
; denn wissen wir nicht, „was wir beten sollen, wie
sich's gebührt, so bittet der Geist selbst in unaussprechlichen
Seufzern. Der aber die Herzen erforscht (Gott), weiß,
was der Sinn des Geistes ist, denn Er bittet für die
Heiligen Gott gemäß". (Röm. 8, 26. 27.) Gott versteht
Seinen Geist, kennt die tiefsten Bedürfnisse unsrer Herzen,
und weiß den Sinn Seines Geistes zu unterscheiden, wie
schwach auch die Art und Weise unsrer Gebete sein mag.
„Betend in dem Heiligen Geiste" ist der uns angewiesene
Weg, auf welchem wir uns bei aller Schwachheit
und inmitten des allgemeinen Verderbens erbauen, in der
106
Liebe Gottes erhalten, und Andern zum Segen dienen
können. Wir bleiben alsdann in der Nähe Gottes, und
lassen Seiner Dazwischenkunft und Seinem mächtigen
Wirken Raum; während wir zugleich durch unser anhaltendes
und demütiges Flehen bezeugen, daß unsre Hilfe
bei Ihm allein, und daß die Stärke Gottes ist. „Einmal
hat Gott geredet, zweimal habe ich dieses gehört, daß die
Stärke Gottes sei." (Psalm 62, 11.) Viele Heilige haben
es schon erfahren, daß das inbrünstige Gebet eines Gerechten
viel vermag. „Elias war ein Mensch von gleichen
Gemütsbewegungen wie wir, und er betete mit Gebet,
daß es nicht regnen sollte, und es regnete nicht auf der
Erde drei Jahre und sechs Monate. Und wiederum betete
er, und der Himmel gab Regen, und die Erde brachte ihre
Frucht hervor." (Jak. 5, 16—18.)
Das also sind die drei kostbaren Dinge, mittelst deren
wir uns in der Liebe Gottes erhalten können, wobei wir
die trostreiche Hoffnung haben, daß die Ankunft unsers
geliebten Herrn nahe ist. Diese aber wird in unsrer
Epistel als ein Werk der „Barmherzigkeit" seitens unsers
Herrn Jesu Christi bezeichnet, da sie dem gegenwärtigen
Zustand, unter welchem die Treuen leiden, ein Ende macht.
Denn dieser wird je länger je schlimmer werden; die Gefahren
werden sich mehren, und die Finsternis des Unglaubens
und die Größe des Verfalls werden zunehmen.
Schon heute zeigen sich in erschreckender Weise die Vorboten
jener Stunde der Versuchung, „die über den ganzen Erdkreis
kommen wird, zu versuchen die auf der Erde wohnen".
(Offbg. 3, 10.) In jener Stunde wird sich die Wirksamkeit
Satans offenbaren in aller Macht und in Zeichen und
Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtig
107
keit denen, die verloren gehen, darum daß sie die Liebe
zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden.
(2. Thess. 2, 9. 10.) „Denn cs werden falsche Christi und
falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen thun
und Wunder, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten
zu verführen." (Matth. 24, 24.)
Dieser Geist ist schon jetzt wirksam in der Verbreitung
böser Lehren und schrecklicher Irrtümer, so daß selbst die
Gläubigen in großer Gefahr stehen, von denselben mit
fortgerissen zu werden, ja daß selbst viele bereits mit fortgerissen
worden sind. Nichts vermag diese finstere Macht
aufzuhalten. Aber der Herr wird uns durch Seine große
Barmherzigkeit aus dem Bereich ihrer Wirksamkeit herausnehmen,
indem Er kommen wird, um uns in jenen seligen
Bereich einzuführen, wo die Macht des ewigen Lebens
sich in ihrer ganzen Fülle offenbaren wird. Glückselige
Hoffnung! Glückseliges Teil aller derer, die in dem
gegenwärtigen Genuß der Liebe Gottes auf das Kommen
ihres Herrn warten! „Und Er zeigte mir einen Strom
des Wassers des Lebens, glänzend wie Krystall, der hervorging
aus dem Throne Gottes und des Lammes. In
der Mitte ihrer Straße und des Stromes, diesseits und
jenseits, der Baum des Lebens .... Ter" diese Dinge
bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald. — Amen; komm,
Herr Jesu!" (Offbg. 22, 1. 2. 20.)
Glaube nur!
Wie einfach ist alles, wenn das Herz eines Sünders
in kindlichem Glauben die frohe Botschaft von Jesu erfaßt,
und den Gott, der nicht lügen kann, bei Seinem Worte
108
nimmt! Ich möchte hier eine kleine Geschichte erzählen,
die ich einst von den Lippen eines Freundes vernahm, und
die in lieblicher. Weise die Einfachheit des Evangeliums
und die Liebe Gottes zeigt, mit welcher Er dem Sünder
nachgeht.
Mein Freund hatte einen Traum. Ich zweifle nicht
daran, daß Gott ihm denselben gesandt hatte, denn das
Seelenheil meines Freundes war der Gegenstand desselben.
Er träumte, er besände sich allein in einem Zimmer, auf
dessen einer Wand alle seine Sünden geschrieben standen.
Es war eine erschreckend große Zahl, und unter ihnen
befand sich eine Sünde, welche mit großen, schwarzen
Buchstaben geschrieben war und sich unheimlich leuchtend
von der weißen Wand abhob. Der Träumer erinnerte
sich dieser besonderen Sünde sehr wohl; sie hatte schon
oft auf seinem Gewissen gelastet, und er konnte sie nicht
vergessen. Eine Zeit lang betrachtete er seine Sünden,
und seine Angst wurde immer größer. Da auf einmal
hörte er eine fanfte Stimme neben sich flüstern: „Blicke
einmal nach dem andern Ende des Zimmers!" Sogleich
wandte er sein Auge von der schrecklichen Wand ab, und
siehe da! auf der gegenüberliegenden Wand leuchtete ein
kleiner Stern. Je länger er ihn betrachtete, desto größer
und glänzender wurde er, und unter dem Sterne standen
zwei Worte in strahlendem Licht geschrieben.
Es waren sehr einfache Worte. Sie kamen einst von
den Lippen des Herrn Jesu, als Er einem bekümmerten
Herzen Mut und Trost zusprach; und in der That, sie
sind unaussprechlich kostbar für Seelen, die nach Ruhe und
Frieden verlangen, ja, für alle, welche sich in irgendwelcher
Not und Sorge befinden. Möchten sie in die Herzen meiner
109
Leser hineinleuchten, wie sie meinem Freunde ins Auge
strahlten! Die beiden Worte lauteten: „Glaube nur!"
Der Träumer betrachtete sie lange Zeit; er konnte
seine Blicke gar nicht von ihnen abwenden. „Was?"
fragte er sich, „nur glauben? Ist das alles? Ist es so
einfach, so leicht?" Und je mehr er über die beiden
Worte Jesu nachdachte, desto friedlicher wurde es in seinem
Innern.
Plötzlich ertönte wieder eine Stimme. Diese hatte
indes nicht den sanften, freundlichen Klang wie die erste,
welche ihn aufgefordert hatte, nach der Seite des Zimmers
zu blicken, wo der Stern leuchtete. Nein, sie war scharf und
drohend und gebot ihm, sein Auge wieder auf die Wand
zu richten, auf welcher seine Sünden geschrieben standen.
Er gehorchte. O Schrecken! die Sünden waren noch genau
so da wie früher, auch die eine schwarze leuchtete so unheimlich
wie zuvor. Armer Mann! Verzweifelnd blickte
er auf die lange, schreckliche Liste. Alles, was er je gethan
hatte, war da ausgezeichnet mit furchtbarer Deutlichkeit.
Nichts war vergessen. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Doch in diesem Augenblick ließ sich die erste liebliche
Stimme wieder vernehmen: „Schaue auf die andere
Wand!" Er wandte sich noch einmal um und sah den
Stern wieder freundlich glänzen, und die beiden Worte:
„Glaube nur" leuchteten Heller als je. Ach, wie schön
sie waren! Seine ganze Seele wurde davon erfüllt.
„Glaube nur!" — also kein eignes Wirken, kein eignes
Thun — nur glauben! Er drehte sein Haupt ein
wenig zur Seite, aber auch jetzt sah er nur die beiden
Worte. Er wagte sich noch ein wenig weiter umzudrehen,
aber wieder leuchteten ihm dieselben Worte entgegen. Das
110
ganze Zimmer schien von ihnen erfüllt zu sein. Jetzt
wandte er sich mit einem Ruck nach der Wand, auf welcher
feine Sünden ausgezeichnet standen. Aber o Wunder! die
Wand war blendendweiß, und in der Mitte strahlten auch
hier die Worte: „Glaube nur!" Das ganze Zimmer war
jetzt von Hellem Licht durchflossen, und wohin er blicken
mochte, überall las er: „Glaube nur! glaube nur!" —
In diesem Augenblick erwachte mein Freund, und ich
brauche wohl nicht zu sagen, daß Friede und Freude seinen
Geist erfüllten. Gott hatte ihm gezeigt, daß Jesus alles
gethan hat, was der verlorene Sünder zu seiner Errettung
bedarf, und daß diesem nichts zu thun übriggeblieben ist,
als nur zu glauben. Jahre sind seitdem vergangen, aber
der Friede meines Freundes ist derselbe geblieben. Das
Zimmer ist in der That voll von Licht. Gottes Liebe
nnd freie Gnade umleuchten und umgeben ihn von allen
Seiten, und er erfährt täglich, daß der Glaube auch im
Blick auf andere Dinge nie beschämt werden läßt.
„Dem aber, der nicht wirkt, sondern an Den glaubt,
der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit
gerechnet", und: „Da wir nun gerechtfertigt
worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott
durch unsern Herrn Jesum Christum." So schrieb einst
der Apostel Paulus an die Gläubigen in Rom, und so
erfuhr es mein Freund, und so haben es viele Tausende
und Millionen vor ihm und nach ihm erfahren, zur Ehre
und zum Preise des Gottes aller Gnade.
Darum, mein lieber Leser, glaube uur! „Habe ich
dir nicht gesagt, wenn du glauben würdest, so würdest du
die Herrlichkeit Gottes sehen?" (Joh. 11, 40.)
111
Der Hirte und die Herde.
„Das Verlorene will ich suchen und das
Versprengte zurückführen, und das Verwundete
will ich verbinden, und das Kranke will ich
stärken." (Hes. 34, 16.)
Der große Hirte ist stets beschäftigt, Seine Schafe
zu weiden. Welch ein Trost für alle Gläubigen, besonders
für die Leidenden unter ihnen! Er überschaut nicht nur
die Herde in ihrer Gesamtheit, sondern Er kennt auch
genau den Zustand und die Bedürfnisse jedes einzelnen
Schäfleins. Er sucht das Verlorene, und Er kennt
die Versprengten, die Verwundeten und Kranken;
und Er bekümmert sich um jeden Einzelnen insonderheit
nach Seiner unveränderlichen Liebe und göttlichen Weisheit.
Wir dürfen zu allen Zeiten mit Zuversicht sagen: „Der
Herr denkt an mich". (Pf. 40, 17.) Er kennt alle deine
Umstände, mein lieber Leser, und Er erwägt deinen Fall
nach allen Seiten hin, wie ein guter Arzt es macht bei seinen
Kranken. Vielleicht befindest du dich in einer Prüfung,
die du einem Mitmenschen nicht offenbaren magst oder
kannst; aber Jesu kannst du dein Leid klagen. Wenn
niemand dich versteht, Er versteht dich; wenn niemand
trösten oder helfen kann, Er kann beides. Wie bringt uns
dieses Bewußtsein Seinem Herzen so nahe!
Lieber Dulder, liebe Dulderin! Jesus will, daß du
Ihm Vertrauen schenkest. Es erfreut Ihn, wenn Seine
Liebe dir genug ist. „Er weiß, was du hast, Er trägt
deine Last und führt dich mit mächtigen Händen." Darum
laß dich nicht von Ihm „auf einem andern Felde" finden!
(Ruth 2, 22.)
Aus dem 4. Verse des oben angeführten Kapitels
112
(Hes. 34) ersehen wir, daß die Hirten Israels die Herde
schmählich vernachlässigt hatten. Das Schwache war nicht
gestärkt, das Kranke nicht geheilt und das Verwundete nicht
verbunden worden, und deshalb sagt der Erzhirte im
15. und 16. Verse, daß Er selbst jetzt alles thun wolle:
„Ich will meine Schase weiden, und ich will sie lagern,
spricht der Herr, Jehova." Das ist gerade der Charakter
unsers hochgelobten Herrn. Er kann nicht zulassen, daß
Seine geliebte Herde Mangel leide, ja Er ist mit Seinem
eignen Leben für sie eingetreten. In einer Stunde, die
allen Erlösten ewig im Gedächtnis bleiben wird, hat Er
gesagt: „Wenn ihr denn mich suchet, so lasset diese gehen!"
Darum, du leidendes Kind Gottes, vertraue dich den
treuen Händen an, die immer noch die Nägelmale tragen.
Laß die Liebe des sterbenden, jetzt aber zur Rechten Gottes
lebenden Jesus dein Trost sein in der Stunde der Drangsal.
Er achtet dein Kreuz nicht gering. Irdische Freunde sind
oft schlechte Tröster und leidige Ärzte; aber Jesus sorgt
sür dich, weil Er aus Erfahrung mit deinem Schmerze
bekannt ist.
Einer der Ehrennamen Christi, die Er sich als Mensch
hienieden erworben hat, lautet: „Mann der Schmerzen".
Seine Todesangst in Gethsemane konnten selbst Seine vier
auserwählten Jünger nicht verstehen; und unter ihnen
befand sich doch der geliebte Jünger, welcher an der Brust
Jesu gelegen hatte. Jesus war „ungefähr einen Steinwurf
weit" von ihnen entfernt. In dieser schrecklichen Stunde
wußte Gott allein, was in dem Herzen Seines Geliebten
vorging. Und dieser Jesus, der in allem versucht worden
ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde,
und der gelitten hat, wie kein Mensch jemals auch nur
im Entferntesten leiden könnte, ist unser großer Hoher-
priester, der Mitleid zu haben vermag mit unsern Schwachheiten.
Die Stimme der Fremden.
„Einem Fremden aber werden sie nicht folgen,
sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die
Stimme der Fremden nicht kennen."
(Joh. tO, 5)
Es giebt in unsern Tagen viele fremde Stimmen.
Männer stehen auf, selbst aus der Mitte der Gläubigen,
welche „verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen
hinter sich her". Die Wahrheit Gottes wird verdreht.
Die Schäflein Christi werden auf Weiden geführt, welche
Giftpflanzen enthalten, äußerlich schön und verführerisch
anzusehen, aber innerlich voll verderblichen Giftes. Die
für den Gläubigen bestimmte Speise wird mit schädlichen
Stoffen vermengt; oder, um nicht länger im Bilde zu
reden, es werden Meinungen, Ideen und Ansichten der
Menschen mit dem Worte Gottes vermischt und in einer
Weise vorgetragen, daß sie die Gedanken Gottes zu sein
scheinen und daher Anspruch auf unsere Aufnahme und
unsern Glauben machen, ja wohl gar auf unsern Dank
dem Geber aller guten Gaben gegenüber.
Woher kommen diese fremden Dinge, die mit dem
reinen, lautern Worte Gottes vermischt werden? Wir
nannten sie „Meinungen und Ideen der Menschen". Ist
das richtig? Ja und nein. Denn hinter allem diesem steht
Satan. Er ist es, der solche bösen Lehren „inspiriert",
einbläst; er ist der eigentliche Lehrer derselben. „Aber
XI-IV s
114
wie ist das möglich?" wird vielleicht mancher Leser denken.
„Wie können Kinder Gottes, die doch durch den Geist
unterwiesen sind, sich durch Lehren Satans irreleiten lassen?"
Wer so fragt, vergißt, daß Satan „die alte Schlange"
heißt, die heute noch, um den Ausdruck der Schrift zu gebrauchen,
„listiger ist als alles Getier des Feldes". Er
kommt nicht in grober, plumper Weise. Würde er einem
Gläubigen einzureden suchen, es gebe keinen Gott, oder
Christus sei nicht der Sohn Gottes, so würde er keinen
Erfolg haben. Denn um solch grobe Lügen zu durchschauen,
bedarf es keiner großen geistlichen Erkenntnis.
Jeder nur äußerlich rechtgläubige Bekenner des Christentums
wird sie mit Abscheu von sich weisen. Nein, um Seelen
zu überlisten, die ein Eigentum des Herrn sind, muß
der Feind ein feineres Netz spinnen. Er stellt das, was
er bringt, als eine tiefere Erkenntnis dar (die „fälschlich
sogenannte Kenntnis", 1. Tim. 6, 20), als eine höhere
Wahrheit, die nur von den Begabteren und Einsichtsvolleren
erfaßt werden kann, und als einen Fortschritt
im geistlichen Leben. O er weiß dem armen menschlichen
Herzen zu schmeicheln und es zu umgarnen, ehe es sich
dessen versieht. In der Gestalt eines „Engels des Lichts"
kommend, giebt er sich den Anschein, als bringe er nur
das Wort und die lautere Lehre Gottes.
Vor allem ist er bemüht, den Verstand, die Vernunft
des Menschen rege zu machen. Er sucht ihn zu
bewegen, die Dinge Gottes, die nur durch den Glauben
des Herzens erfaßt und genossen werden können, nach den
Regeln menschlicher Weisheit zu betrachten und zu behandeln.
Und indem der arme Mensch, nicht wissend was er thut,
mit seinen armseligen Werkzeugen auf diesen erhabenen
115
und unermeßlichen Bauplatz tritt, ist er der blinde Sklave
eines Gewaltigen, der ihn zu seinen Zwecken benutzt, nämlich
zu verwirren und zu verderben. „Aber", fragt man,
„wozu hat Gott mir denn den Verstand gegeben, wenn ich
ihn nicht gebrauchen soll?" Ich möchte diese Frage mit
einer einsachen Gegensrage beantworten? Wozu dienen
dem Handwerksmann seine Werkzeuge? Nicht wahr? zur
Ausführung derjenigen Arbeiten, welche seine Hand zu
verfertigen vermag und zu deren Herstellung jene Werkzeuge
geschickt sind. Wollte er sie zu andern Arbeiten verwenden,
so würden sie sich, so scharf und gut sie an und für sich
sein mögen, ja eben weil sie das sind, als verderblich
erweisen. Gerade so ist es mit dem Verstände. Er ist
gut, ja eine kostbare Gabe Gottes, wenn er an seinem
Platze bleibt, d. h. wenn er zur Beurteilung und Behandlung
derjenigen Dinge benutzt wird, die ihm unterworfen
sind. Sobald er sich aber in Dinge mischt, die
nicht in seinen Bereich fallen, wirkt er verderblich und
zerstörend.
Hat denn der Verstand gar nichts mit göttlichen
Dingen zu thun? Wird nicht durch den Verstand dem
Herzen des Menschen die Erkenntnis der Heilswahrheiten
vermittelt? Könnte der Mensch glauben, wenn er nicht
fähig wäre, das Gehörte mit Verständnis aufzunehmen? —
Nun, es ist ganz klar, daß der Mensch gerade deshalb
mit Einsicht und Verstand von Gott begabt worden ist,
um Seine Mitteilungen aufnehmen und auf diesem Wege
in eine geistige Verbindung mit Ihm treten zu können.
Aber das Verstehen und Begreifen-können dieser Mitteilungen
hat, eben weil dieselben ihre Quelle in Gott,
in dem Unendlichen, haben, seine Grenzen. Wir können
116
mit unserm endlichen Verstände nicht die unendlichen
Dinge Gottes ergründen. Wir können sie im Glauben
erfassen, darüber sinnen, uns ihrer erfreuen, Kraft und
Trost aus ihnen schöpfen; aber sie so zu erklären, daß
für unsern Verstand nichts Unfaßbares, nichts Unbegreifliches
mehr bleibt, das ist unmöglich. Sie würden aufhören,
göttlich zu sein, wenn es anders wäre.
Und wenn das schon wahr ist von göttlichen Mitteilungen,
von dem geschriebenen Wort, wie viel
mehr dann von der Person Dessen, in welchem (nicht
nur: durch welchen) Gott am Ende der Tage zu uns
geredet hat — von dem lebendigen Wort, dem Sohne
Gottes! Wenn der menschliche Verstand sich daran macht,
diese Person zu erklären und zu ergründen, so ist ein
Jrregehen die unausbleibliche Folge. Dieser kostbare
Gegenstand ist für den Menschen, der nur mit seinen eignen
armseligen Hilfsmitteln arbeiten kam, ein Geheimnis, ein
unentwirrbares Rätsel. Wir thun gut, uns immer wieder
an die Worte eines anderen bewährten Schreibers *) zu
erinnern. Er sagt: „Hüten wir uns vor der Anmaßung,
alles das erkennen zu wollen, was die Vereinigung
(oder Verbindung) von Menschheit und Gottheit
in der Person des Herrn betrifft. Diese Vereinigung
ist unerforscht ich. „Niemand erkennt den Sohn als
nur der Vater." Jesus nahm zu an Weisheit. Was
manche Christen in solche Irrtümer hat geraten lassen,
ist, daß sie gewünscht haben, den Zustand Christi als
Mensch zu unterscheiden und zu erklären. Wir
wissen, daß Er Gott war und ist; wir wissen, daß Er
Mensch wurde, und das Zeugnis von Seiner wahren
*) I. N. Darby.
117
Gottheit wird in jenem Zustande der Erniedrigung aufrecht
erhalten durch die Unerforschlichkeit der Vereinigung.
Man mag darthun, daß gewisse Ansichten
etwas von Seiner Herrlichkeit und von der Wahrheit
Seiner Person wegnehmen; aber ich wünsche ernstlich, daß
die Brüder sich nicht daran geben möchten, über Seine
Person bestimmte Lehrsätze aufzustellen. Sie würden
sicherlich in irgend einen Irrtum geraten. Ich habe nie
jemanden das thun sehen, ohne daß er in irgend eine
unbeabsichtigte Ketzerei verfallen wäre."
Der Herr bewahre uns deshalb davor, mit unserm
Verstände in die Dinge Gottes eindringen oder gar die
Person Seines Sohnes ergründen zu wollen! Laßt uns
sorgfältig acht haben, daß unser Verstand unter dem Gehorsam
des Christus und unter der Leitung Seines Geistes
stehe! Laßt uns stets mit heiliger Ehrfurcht, in einem
anbetenden Geiste und in dem Bewußtsein unsers Nichts
an die göttlichen Dinge herantreten! Hüten wir uns vor
allen Vernunftschlüssen! Maßen wir uns nicht an, in
Dinge Hineinschanen zu wollen, welche Gott Seiner
alleinigen Erkenntnis Vorbehalten hat, und deren nnheilige,
anmaßende Berührung Er mit ernstem Gericht ahnden
muß! Vergessen wir nicht, daß geschrieben steht: „Glückselig
der Mann, der sich beständig fürchtet!"
(Spr. 28, 14.) Die Gefahr ist groß. Satan ist unaufhörlich
beschäftigt, seine Fallstricke zu legen, und schon
mancher ist in dieselben hineingeraten, und nur die unergründliche
Barmherzigkeit Gottes kann ihn wieder daraus
befreien.
Angesichts dieser großen Gefahr möchte nun eine
einfältige Seele voll Bekümmernis ausrufen: „Was soll
118
ich denn thun, um vor den Netzen Satans bewahrt zn
bleiben? Was läßt mich seine Wirksamkeit erkennen, und
wie kann ich ihr entfliehen?" O liebe Seele, die du so
sprichst, laß dir erzählen von dem gesegneten Ort, an
welchem man völlig vor aller Verführung, vor allem
Betrug Satans geborgen ist. Es ist die Nähe Jesu, der
lebendige Verkehr und die innige Gemeinschaft mit Ihm.
Er „bewahrt die Einfältigen". Von diesen gilt auch
das kostbare Wort des guten Hirten: „Die Schafe folgen
Ihm, weil sie Seine Stimme kennen. Einem Fremden
aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm
fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen."
(Joh. 10, 4. 5.) Solche Seelen brauchen sich nicht zu
fürchten „vor dem Schrecken der Nacht, vor dem Pfeile,
der bei Tage fliegt, vor der Pest, die im Finstern wandelt,
vor der Seuche, die am Mittag verwüstet". Tausende
mögen an ihrer Seite fallen, aber sie werden unter den
Fittichen, wo sie Zuflucht gefunden haben, bewahrt bleiben.
Der Herr wird sie von der Schlinge des Vogelstellers,
von der verderblichen Pest erretten.
Wohl allen Seelen, die unter Seinen Flügeln geborgen
ruhen! Die höchste Segnung, der köstlichste Genuß
und die größte Sicherheit sind ihr Teil. Sie haben
nichts zu fürchten. Nicht daß sie weiser wären als andere.
Sie sind im Gegenteil in sich einfältig, unwissend; aber
der Herr ist ihre Weisheit. Sie „kennen" einfach die
Stimme der Fremden nicht. Sie können die fremde
Sprache, die ungewohnten Laute nicht erklären; sie vermögen
nicht sich auf Widerlegungen des Verkehrten einzulassen
oder die verborgenen Tiefen der Bosheit aufzudecken;
es ist eine „fremde" Stimme, ein Klang, an den sie nicht
119
gewöhnt sind, und das ist für sie genug. Sie können die
liebliche Stimme ihres teuren Hirten in jenen Tönen nicht
wiedererkennen. Daher sind sie besorgt und mehr als das:
sie fliehen! Sie gehen nicht näher hinzu, betrachten
und behorchen nicht das Neue in neugieriger Weise, oder
halten sich für klug genug, um am Ende aus der gefährlichen
Sache doch noch etwas Gutes für sich herausfinden
zu können; nein, sie wenden dem Fremden den Rücken
und fliehen nahe, nahe zu dem Hirten hin. Solche, die
sich selbst klug dünken, mögen eine solche Handlungsweise
belächeln; aber es ist das einzig richtige Verhalten eines
Schafes des guten Hirten dem „Fremden" gegenüber.
Die einzige Frage, die entschieden werden muß, ist: ob
der Geist oder die Lehre aus Gott ist. Muß dies, ich
will nur sagen „bezweifelt" werden, so ist für die einfältige
Seele alles entschieden — sie wendet sich ab, sie
flieht. Das ist ihr einziges Heil, ihre einzige Sicherheit.
Denn wenn der Geist und die Lehre nicht aus Gott sind,
woher stammen sie dann? Von dem „Vater der Lüge", dem
„Menschenmörder von Anfang". Das Wort mag hart erscheinen,
aber einen Mittelweg giebt es hier nicht. Und dürfen
wir hoffen, daß Satan allmählich von seiner Verkehrtheit
ablassen werde? Dürfen wir mit einer Sache, deren Vater
er ist, in Verbindung bleiben, in der Hoffnung, sie werde
nach und nach ihren gefährlichen Charakter verlieren, oder
in der Meinung, es sei mit dem Bösen doch noch manches
Gute vermischt, und dieses werde über jenes endlich den
Sieg erringen? Gott bewahre uns davor! Die Folge
würde nur die sein, daß wir selbst allmählich von dem
Sauerteig durchsäuert und von dem Bösen angesteckt würden.
(Gal. 5, 9.) Das Wort sagt von solchen, die verkehrte,
120
ungöttliche Dinge reden: „Ihr Wort wird um sich fressen
wie ein Krebs". (2. Tim. 2, 17.) Wohl dürfen wir für
die Seelen, welche eine Beute des Feindes geworden sind,
hoffen und für sie flehen, daß des Herrn Gnade ihnen
die Augen öffne und sie befreie; der Sache gegenüber
aber, die als böse geoffenbart ist, dürfen wir keinen
Augenblick eine unentschiedene, schwankende Stellung einnehmen.
Das würde nichts anderes heißen, als Satan
gegenüber nachgiebig sein und dem Herrn, der die verirrten
Seelen wiederherstellen möchte, entgegen arbeiten. Natürliche,
menschliche Gefühle, Rücksichtnahme auf freundschaftliche
oder verwandtschaftliche Beziehungen, so richtig beide
an ihrem Platze sein mögen, sind hier vom Übel.
Handelt es sich um böse Dinge in Wandel oder Lehre, so
erwartet der Herr von uns Entschiedenheit, völlige Absonderung.
Wie scharf lauten die Worte des Apostels
Johannes: „Jeder, der weitergeht und nicht bleibt
in der Lehre des Christus, hat Gott nicht"! Die
falsche Lehre, welche damals unter den Gläubigen verbreitet
wurde, bestand darin, daß man „Jesum Christum
im Fleische gekommen" leugnete. Heute wird dieselbe
Wahrheit angetastet, indem man leugnet, daß Jesus Christus
persönlich Mensch war, und indem man Seine Menschheit
nur als einen von dem Sohne angenommenen Zustand
bezeichnet, so daß Er nur objektiv *) als Mensch
betrachtet werden könne. Man sagt, „es sei ein Irrtum,
wenn man behaupte, die Wahrheit von der
Person Christi bestehe in der Bereinigung
von Gott undMensch inJhm; eine Lieblingsformel
*) sachlich, d. h. also nur nach Seiner äußern Gestalt, nach
dem „Fleisch- und Blutzustand", wie man es nennt.
121
derer, welche diese Behauptung aufrecht erhalten, laute:
„Gott und Mensch ein Christus"; diese Formel samt
jener Behauptung sei herabwürdigend und entehrend
für den Sohn u. s. w." — Wie haben wir uns
dem gegenüber zu verhalten? Hören wir, was der Apostel
weiter sagt: „Wenn jemand zu euch kommt und diese
Lehre (die Lehre des Christus) nicht bringt, so nehmet ihn
nicht ins Haus auf und grüßet ihn nicht. Denn wer ihn
grüßt (wer zu ihm sagt: „Gott segne dich!" oder: „Der
Herr sei mit dir!") nimmt teil an seinen bösen
Werken." (2. Joh. 10. 11.)
„Sobald die Lehre von der Person Christi angetastet
wurde, mußte eine unerbittliche Strenge geübt werden.
Vor einem jeden, der dieselbe verfälschte, war die Thür
zu verschließen. Ein solcher durfte nicht einmal gegrüßt
werden, denn wer ihn grüßte, machte sich seines schlechten
Werkes teilhaftig: er leistete den Versuchungen
Satans Vorschub. Ferner zeigt der Apostel, daß die
scheinbare Liebe, welche die Wahrheit nicht aufrecht
erhält, sondern sich dem anbequemt, was nicht Wahrheit
ist, nicht wirkliche, göttliche Liebe, sondern vielmehr ein
Mißbrauch des Namens Liebe ist, der darauf abzielt, die
Versuchungen Satans zu unterstützen. In den letzten
Tagen ist der Prüfstein der wahrhaftigen
Liebe die A ufrechthalt nng der Wahrheit.
Gott will, daß wir uns unter einander lieben; aber
der Heilige Geist, durch dessen Macht wir die göttliche
Natur empfangen haben und der die Liebe Gottes in
unsre Herzen ausgießt, ist der Geist der Wahrheit, und
Seine Aufgabe ist es, Christum zu verherrlichen. Deshalb
ist es unmöglich, daß eine Liebe, welche eine die Person
122
Christi verfälschende Lehre ertragen und gegen dieselbe
gleichgültig sein kann, vom Heiligen Geiste ist — und dies
noch weniger, wenn diese Gleichgültigkeit als der Beweis
jener Liebe hingestellt wird. . . Dieser zweite Brief des
Johannes stellt die Christen auf die Hut gegen alles,
was hinsichtlich der Person Christi zweideutig
ist, und ermahnt sie zu einer unerschütterlichen
Festigkeit in diesem Punkte." *)
*) Vergl. I. N. Darby: Betrachtungen über die Episteln des
Johannes, Seite 72 u. 73.
Doch warum, hört man oft fragen, läßt es der Herr
dem Feinde zu, in solch schmerzlicher Weise die Herde zu
sichten? Der Apostel sagt: „Es müssen auch Parteiungen
unter euch sein, auf daß die Bewährten unter euch offenbar
werden". (1. Kor. 11, 19.) Und überdies möchte ich
fragen: Müssen nicht auch diese Dinge, wie alles andere,
denen, die Gott lieben, zum Guten mitwirken? Wird ihnen
nicht Christus um so teurer werden? Werden sie Sein
Wort nicht umsomehr schätzen, nicht nur um der kostbaren
Wahrheiten willen, die es enthält, sondern weil sie Seine
Stimme in demselben wahrnehmen? Werden sie nicht von
neuem die heilsame Erfahrung machen, daß sie in ihrer
Schwachheit und Unwissenheit nicht imstande sind, sich auf
dem rechten Pfade zu erhalten, und werden sie sich nicht
umso fester an ihren unveränderlich treuen, liebevollen
und starken Herrn anklammern? Werden sie nicht —
wenn sie sehen, wie selbst begabte Brüder, zu denen sie
mit Liebe und Achtung aufzublicken gewohnt waren, mit
sortgerissen werden — tiefer als je ihre Abhängigkeit von
dem Herrn und der Leitung Seines Geistes fühlen?
Und werden sie nicht erfahren, daß Er in Gnade und
123
Erbarmen auf sie blickt in ihrer Niedrigkeit und ihr Flehen
beantwortet?
O möchte die gegenwärtige Heimsuchung bei uns allen
diese gesegneten Früchte hervorbringen! Daß wir „auf
der richtigen Seite" stehen, genügt sicherlich dem Herzen
Jesu noch nicht. Er erwartet mehr von den Seinigen.
Er sieht auf das Herz. Er untersucht die Beweggründe,
die uns leiten. Er erforscht Herzen und Nieren. Er erwartet
wahre Demütigung, ein aufrichtiges Selbstgericht
von uns. Das Wort des Psalmisten ist ernst: „Bevor
ich gedemütigt ward, irrte ich; jetzt aber bewahre
ich dein Wort". (Pf. 119, 67.) Wir leben in den
letzten Tagen, und das Wort sagt: „Dieses wisse, daß in
den letzten Tagen schwere Zeiten da sein werden". Satan
wird sein Werk nicht einstellen. Er wird immer neue
Angriffe machen, und die Macht der Verführung wird
immer mehr zunehmen, und zwar werden die Verführungen
stets unter einer Form der Gottseligkeit kommen. Und
wenn wir nicht einfältig, demütig und wachsam sind, so
werden wir nicht standzuhalten vermögen.
Darum schenke uns der Herr, daß wir, uns fernhaltend
von aller Art des Bösen, Ihm nachfolgen
und Zuflucht suchen unter dem Schatten Seiner Flügel!
Er kennt alle Gefahren, die uns auf dem Wege noch
bevorstehen, und Er kennt auch unsre ganze Schwachheit.
Er allein kann uns bewahren und sicher hindurchführen
bis ans Ziel. Darum laßt uns „wachsen in der Gnade
und Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi!
Ihm sei die Herrlichkeit sowohl jetzt, als auch auf den
Tag der Ewigkeit! Amen." (2. Petr. 3, 18.)
124
Das Lied und die letzten Worte Davids.
(2. Sam. 22 u. 23.)
Das 22. Kapitel des 2. Buches Sainuel enthält das
herrliche Lied Davids. (Vergl. Ps. 18.) Es ist der Ausdruck
des Geistes Christi in David, verbunden mit Seinem
Triumph über den Tod durch die mächtige Wirkung der
Kraft Gottes. (Eph. 1, 19.) Wie die inspirierte Über
schrift uns belehrt, preist David Jehova für seine Errettung
aus der Hand aller seiner Feinde und vornehmlich aus
der Hand Sauls. Er zählt mit dankbarem Herzen die
herrlichen Thaten Gottes auf, jedoch in einer Sprache,
welche uns von David und allen seinen Kämpfern unmittelbar
zu jenem schrecklichen Kampfe hinüberleitet, der ausgestritten
wurde, als alle Mächte der Finsternis sich in
grimmer Wut gegen Gott und Seinen Christus zusammengeschart
hatten. Furchtbar war das Schauspiel! Nie
vorher und nachher ist solch ein Kampf ausgefochten oder
solch ein Sieg erstritten worden. Nie haben solche Mächte
mit einander gerungen, und nie sind ähnliche Ergebnisse
erzielt worden. Der Himmel stand auf der einen, die
Hölle auf der andern Seite. Und was die Ergebnisse des
Kampfes betrifft, wer könnte sie aufzählen, wer sie würdig
beschreiben? Da ist zunächst die Verherrlichung Gottes
und Seines Christus, dann die Erlösung der Kirche, die
Wiederherstellung und Segnung der Stämme Israels, und
endlich die völlige Befreiung des weiten Bereichs der Schöpfung
von der Herrschaft Satans, dem Fluche der Sünde
und der Knechtschaft des Verderbnisses. Das sind einige
der herrlichen Ergebnisse jenes Kampfes, der mit teuflischer
Wut geführt wurde von feiten des großen Feindes Gottes
und des Menschen; gewaltig waren die Anstrengungen des
125
Starken, um die Wegnahme seiner Waffenrüstung zu verhindern
und nicht zu erlauben, daß sein Haus beraubt
werde. Aber alles war vergeblich; Jesus triumphierte.
„Denn mich umfingen die Wogen des Todes, die
Ströme Belials erschreckten mich; die Bande des Scheols
umringten mich, es ereilten mich die Fallstricke des Todes.
In meiner Bedrängnis rief ich zu Jehova, und ich rief
zu meinem Gott; und Er hörte aus Seinem Tempel
meine Stimme, und mein Schrei kam in Seine Ohren."
(V. 5—7.) Hier begegnen wir scheinbarer Schwachheit,
aber thatsächlicher Kraft. Der anscheinend Besiegte wurde
der Sieger. Jesus ist „in Schwachheit gekreuzigt worden",
aber „Er lebt durch die Kraft Gottes". (2. Kor. 13, 4.)
Nachdem Er Sein Blut vergosfen und sich selbst durch
den ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hatte, übergab
Er sich den Händen des Vaters, der Ihn aus den
Toten wiederbrachte. Er widerstand nicht, sondern ließ
sich willig schlagen und martern; Er bot Seinen Rücken
den Schlagenden und Seine Wangen den Raufenden, und
fo zerbrach Er-dir^Macht des Feindes. Satan ließ Ihn
durch die Hand seiner willigen Werkzeuge ans Kreuz
nageln, und als Er im Grabe lag, ließ er ein Siegel
darauf setzen, damit Er nicht auferstehen möchte. Aber
alles war umsonst; Jesus stand siegreich auf, „nachdem Er
die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hatte".
Er begab sich gleichsam mitten in das Reich des Feindes
hinein, um ihn öffentlich zur Schau stellen zu können.
In den Versen 8—20 wird uns die Dazwischenkunft
Jehovas zu Gunsten Seines gerechten Knechtes in erhabener,
gewaltig ergreifender Sprache geschildert. Die von dem
Psalmisten gebrauchten Bilder sind über alle Beschreibung
126
ernst und ausdrucksvoll. „Da wankte und bebte die Erde;
die Grundfesten des Himmels zitterten und wankten, weil
Er entbrannt war . . . Und Er neigte die Himmel und
fuhr hernieder, und Dunkel war unter Seinen Füßen.
Und Er fuhr auf einem Cherub und flog daher, und Er
erschien auf den Fittichen des Windes. Und Finsternis
machte Er rings um sich her zum Gezelt, Sammlung der
Wasser, dichtes Himmelsgewölk ... Es donnerte Jehova
vom Himmel her, und der Höchste ließ Seine Stimme
erschallen. Und Er schoß Pfeile und zerstreute sie, Seinen
Blitz, und verwirrte sie. Und es wurden gesehen die
Betten des Meeres, die Grundfesten des Erdkreises wurden
ausgedeckt durch das Schelten Jehovas, vor dem Schnauben
des Hauches Seiner Nase. Er streckte Seine Hand aus
von der Höhe, Er nahm mich, Er zog mich aus großen
Wassern: Er errettete mich von meinem starken Feinde, von
meinen Hassern." — Welch eine Sprache! Wo könnten
wir etwas Ähnliches finden? Der Zorn des Allmächtigen,
der Donner Seiner gewaltigen Stimme, das Schnauben
des Hauches Seiner Nase, die Erschütterung des ganzen
Gebäudes der Schöpfung — alle diese Gedanken, in die
glühende Sprache des Propheten gekleidet, übersteigen weit
jede menschliche Vorstellung. Das Kreuz und das Grab
Christi bildeten den Mittelpunkt, um welchen der Kampf
in all seiner Wut tobte; denn in diesem Grabe lag der
Fürst des Lebens. Satan that sein Äußerstes; er führte
die ganze „Macht der Finsternis" ins Feld, aber er konnte
seinen Gefangenen nicht behalten, er konnte das Feld nicht
behaupten. Der Herr Jesus triumphierte über Satan,
Tod und Hölle, und Er that dies (obwohl das nicht der
Gegenstand unsers Psalmes ist) in vollkommener Erfüllung
127
aller Ansprüche der göttlichen Gerechtigkeit. Und das ist
die Freude und der Friede des glaubenden Sünders. Es
würde uns nichts helfen, zu wissen, daß der Gott über
alles, gepriesen in Ewigkeit, Satan, ein Geschöpf Seiner
eignen Hand, überwunden habe. Aber zu hören, daß Er,
als der Stellvertreter des Menschen, des Sünders, als der
Bürge der Kirche, den Sieg errungen hat, das giebt der
glaubenden Seele süßen, unaussprechlichen Frieden. Und
gerade das ist es, was das Evangelium uns mitteilt, das
ist die Botschaft, die in des Sünders Ohr hineintönt.
Der Apostel sagt uns, daß „Er (Christus) unsrer Über
tretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung
wegen auferweckt worden ist". Nachdem Er unsre Sünden
auf sich genommen und das Gericht, den göttlichen Zorn,
dafür erduldet hatte, war die Auferstehung notwendig als
Beweis der vollkommenen Verherrlichung Gottes und der
ewig gültigen Vollendung des Bersöhnungswerkes. Der
Heilige Geist stellt uns Jesum vor Augen als auferstanden,
gen Himmel gefahren und nun sitzend zur Rechten der
Majestät in der Höhe, und verbannt so jeden Zweifel,
jede Furcht, jede Besorgnis aus dem Herzen des Gläubigen
„Der Herr ist wirklich auferweckt worden und dem
Simon erschienen." (Luk. 24, 34.)
Die Beweisführung des Apostels in 1. Kor. 15
gründet sich auf diese große Thatsache. Die Vergebung
der Sünden ist bewiesen durch die Auferstehung Christi.
„Wenn Christus nicht auferweckt ist, so ist euer Glaube
eitel; ihr seid noch in euern Sünden." Die Auferstehung
Christi und die Vergebung der Sünden des Gläubigen
stehen und fallen mit einander. Sobald ich anerkenne,
daß Christus auferweckt worden ist, erkenne ich auch an,
128
daß jeder, der an Ihn glaubt, Vergebung seiner Sünden
hat. Und wie lautet der triumphierende Schluß der Beweisführung
des Apostels? „Nun aber ist Christus
aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen."
Das ordnet alles. Sobald du dein Auge
von einem auferstandenen Christus abwendest, verlierst du
das tiefe, göttliche, friedengebende Bewußtsein der Vergebung
deiner Sünden. Die reichste Erfahrung und die
tiefste Erkenntnis reichen nicht aus als Grundlage deines
Vertrauens. Nichts als der gekreuzigte und auferstandene
Jesus kann dir Frieden und Ruhe geben.
Die Verse 21—25 enthalten den Grund der Dazwischenkunft
Jehovas zu Gunsten Seines Knechtes. Sie
beweisen auch hinlänglich, daß ein Größerer als David in
diesem Liede vor uns steht. David konnte nicht sagen:
„Jehova vergalt mir nach meiner Gerechtigkeit, nach der
Reinheit meiner Hände erstattete Er mir. Denn ich habe
die Wege Jehovas bewahrt, und bin von meinem Gott
nicht frevelhaft abgewichen. Denn alle Seine Rechte
waren vor mir, und Seine Satzungen, ich entfernte sie
nicht von mir. Und ich war vollkommen gegen Ihn, und
hütete mich vor meiner Ungerechtigkeit. Und Jehova erstattete
mir nach meiner Gerechtigkeit, nach der Reinheit
meiner Hände vor Seinen Augen." Ach! David hatte
Ursache, ganz anders zu reden. Seine Gerechtigkeit war
wie ein unflätiges Kleid, und wenn eine gerechte Vergeltung
seines Thuns in Frage gekommen wäre, so hätte
er die ewige Verdammnis verdient gehabt. Der Feuersee
mit seinen Schrecken war' alles, was er auf Grund dessen,
was er war, gerechterweise beanspruchen konnte.
Die Sprache in unserm Psalme ist deshalb die
129
Sprache Christi. Er allein konnte so reden. Er konnte
Gott erinnern an Seine Gerechtigkeit, an Seine Lauterkeit
und Vollkommenheit und an die Reinheit Seiner Hände.
Und auf Grund dieser Dinge, auf Grund Seines voll-
kommnen Gehorsams und Seiner Abhängigkeit von Jehova,
wurden ihm die Rettung und der Sieg zu teil. Zugleich
aber werden wir hier an die wunderbare Gnade erinnert,
welche uns aus dem Erlösungswerk entgegenleuchtet. Der
einzig Reine und Gerechte nahm den Platz des Unreinen
und Ungerechten ein. „Den, der Sünde nicht kannte, hat
Er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir
Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm." (2. Kor. 5, 21.)
Hier ist der ewige Ruheort des Sünders. Er sieht das
fleckenlose Opfer an das Fluchholz genagelt für sich,
den feindseligen Sünder; er sieht das vollkommene Werk
des Lammes Gottes und in demselben eine volle, bedingungslose
Erlösung; und er sieht auch, wie Gott zu
Gunsten seines erhabenen Stellvertreters, und deshalb
auch zu seinen Gunsten, ins Mittel tritt, und dies auf
durchaus gerechter Grundlage. Welch einen tiefen Frieden
verleiht das dem sündenbeladenen Herzen, das sich im
Glauben zu Jesu wendet!
Mein Leser! wenn du bis heute noch nicht in den
Genuß dieses Friedens eingetreten bist, so laß mich dich
fragen, warum du es noch nicht gethan hast. Kannst du
einer solchen Liebe gegenüber noch länger gleichgültig bleiben?
Oder kannst du, wenn der Geist Gottes bereits an deinem
Herzen gewirkt und dir deinen verlornen Zustand gezeigt
hat, noch einen Augenblick zögern, dich zu Jesu zu wenden
und die gesegneten Resultate des Werkes des Gekreuzigten
und Auferstandenen dir im Glauben zuzueignen? Bedenke:
130
Gott hat nichts ungeschehen gelassen, um deinen Frieden
zu verbürgen; Christus hat nichts ungeschehen gelassen,
um dich von dem ewigen Verderben zu erretten, und der
Heilige Geist legt ein so klares, unzweideutiges Zeugnis
ab von dem vollkommnen Heil, welches in Christo Jesu
ist, unserm Herrn, daß nichts anderes als böser, gottloser
Unglaube dir im Wege stehen kann. Alles ist geschehen,
was geschehen mußte. O möchte doch dein Herz in dieser
herrlichen Botschaft ruhen und hinsichtlich aller deiner
Sünden auf das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
vertrauen lernen!
Davids Lied schließt mit einem schönen Hinweis auf
die Herrlichkeiten der letzten Tage; und dies verleiht ihm
eine Vollständigkeit und einen Umfang, die überraschend
sind. „Die Söhne der Fremde unterwarfen sich mir mit
Schmeichelei; beim Hören des Ohres gehorchten sie mir.
. . . Darum, Jehova, will ich dich preisen unter den
Nationen und Psalmen singen deinem Namen." So werden
wir in diesem Liede einen wunderbaren Pfad geführt, der
an dem Kreuze beginnt und in dem tausendjährigen Reiche
endigt. Er, der einst im Grabe lag, wird bald auf dem
Throne sitzen; in denselben Händen, welche einst von den
grausamen Nägeln durchbohrt wurden, wird bald das
königliche Scepter ruhen; und dieselbe Stirn, welche mit
einer schimpflichen Dornenkrone verunziert war, wird das
glänzende Diadem der Herrlichkeit schmücken. Alle Nationen
werden sich Ihm unterwerfen, und Sein Name wird bekannt
werden bis zu den Enden der Erde. Und nicht
eher wird der Schlußstein in das Gebäude eingefügt sein,
welches die erlösende Liebe zu errichten begonnen hat, bis
der verachtete Jesus von Nazareth den Thron Davids
131
bestiegen hat und in Frieden über das Haus Jakob herrschen
wird. Dann werden die Herrlichkeiten der Erlösung ohne
Aufhören gepriesen werden im Himmel und auf Erden;
denn der Erlöser wird erhaben sein und die Erlösten
vollkommen glücklich. Dann werden wir, aus dem Glanze
dieses herrlichen und seligen Tages, unsern Blick rückwärts
wandern lassen zu dem Kreuze hin, als der Grundlage
des ganzen herrlichen Gebäudes; und die Erinnerung an
die Liebe, die dort für uns litt und starb, wird dem
neuen Liede Wärme und Kraft verleihen: „Du bist würdig,
das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn
du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft,
durch dein Blut, aus jedem Geschlecht und Sprache und
Volk und Nation"; und: „Würdig ist das Lamm, das
geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und
Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit
und Segnung". (Offbg. 5.)
In den letzten Worten Davids lernen wir eine ähnliche
Lektion. Es ist in der That interessant, in der
Geschichte aller wahren Knechte Gottes dieselbe Erscheinung
wiederzufinden: nachdem sie die völlige Leere und Unzulänglichkeit
aller menschlichen und irdischen Hilfsquellen
erfahren haben, bleibt Gott allein übrig als ihr unfehlbares
Teil und ihre sichere Zuflucht. So war es auch mit David.
Während seines ganzen langen Lebens hatte er an der
Wahrheit zu lernen, daß die göttliche Gnade allein
seinen Bedürfnissen zu begegnen vermochte; und am Schluffe
seiner Laufbahn giebt er dieser köstlichen Erfahrung Ausdruck.
Hier in seinen „letzten Worten", wie vorhin in feinem
132
„Liede", ist der leitende, alles beherrschende Gedanke die
Genügsamkeit der göttlichen Gnade.
„Es spricht David, der Sohn Jsais, und es spricht
der hochgestellte Mann, der Gesalbte des Gottes Jakobs
und der Liebliche in Gesängen Israels: der Geist Jehovas
hat durch mich geredet, und Sein Wort war auf meiner
Zunge. Es hat gesprochen der Gott Israels, der Fels
Israels zu mir geredet: Ein Herrscher unter den
Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottes-
surcht." (Kap. 23, 1—3.) Das ist der Maßstab, den
Gott an einen Herrscher legt. Aber wo werden wir
in den Reihen menschlicher Herrscher einen finden, der
diesem Maßstabe entspräche oder entsprochen hätte? Wir
mögen die alte und neue Geschichte durchforschen und die
hervorragendsten Fürsten, die je auf einem Thron gesessen
haben, an unserm Geistesauge vorüberziehen lassen, aber
wir werden nicht einen Einzigen finden, der den beiden
großen Charakterzügen entspräche, welche nach unserm
Verse einen Herrscher kennzeichnen sollten. Er muß gerecht
sein und in Gottesfurcht herrschen. Aber wo giebt
es einen solchen, selbst unter den Besten der Menschen?
Wer ist denn dieser Gerechte, dieser Herrscher in
Gottesfurcht, von welchem David redet? Es ist der wahre
David, unser geliebter Herr und Heiland; Er, von dem
es heißt: „Ein Scepter der Aufrichtigkeit ist das Scepter
deines Reiches. Gerechtigkeit hast du geliebt, und Gesetzlosigkeit
gehaßt"; und an einer andern Stelle: „Er wird
Recht schaffen den Elenden des Volkes; Er wird retten
die Kinder des Armen, und den Bedrücker wird Er zertreten.
- . Er wird herabkommen wie ein Regen auf die
gemähte Flur, wie Regenschauern, Regengüsse auf das
133
Land". (Ps. 45; 72.) Ja, „Er wird sein wie das Licht
des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne
Wolken: von ihrem Glanze nach dem Regen sproßt das
Grün aus der Erde." (V. 4.) In allen diesen Stellen
ist in prophetischer Weise die Rede von dem Kommen
des Sohnes des Menschen und von der Herrlichkeit Seines
Reiches hienieden. Mit welch inniger Freude wendet sich
das Herz von dem finstern, fünde- und schmerzerfüllten
Schauplatz, den wir durchschreiten, zu jenem „Morgen ohne
Wolken", der einmal über dieser Erde anbrechen wird!
Jetzt giebt es keinen Morgen ohne Wolken. Wie wäre
es auch möglich? Wie könnte ein gefallenes Geschlecht,
eine seufzende Schöpfung sich eines wolkenlosen Himmels,
eines reinen, unvermischten Glückes erfreuen? Das ist
unmöglich, so lange nicht die sühnende Wirkung des Kreuzes
auf alle Dinge Anwendung gefunden hat und die ganze
Schöpfung in ihre volle Ruhe eingegangen ist unter dem
Schatten der Flügel Immanuels.
Schaue um dich her, mein Leser, richte dein Auge,
wohin du willst — überall begegnen Wolken und Finsternis
deinen Blicken. Eine seufzende Kreatur, ein zerstreutes
Israel, eine verfallene Kirche, verderbte Grundsätze, ein
leeres Bekenntnis, Parteiungen und Sekten, Unglaube und
Aberglaube, Krankheit und Tod — alles, alles dient dazu,
gleich „dem Rauche aus dem Schlunde des Abgrundes",
den Gesichtskreis um uns her zu verdunkeln und unsern
Blick zu trüben. Wie klammert sich da das Herz an die
Aussicht auf einen Morgen ohne Wolken; wie sehnlich
wünscht es ihn herbei! Wohl mochte David diesen Morgen
mit „einem Glanz nach dem Regen" vergleichen. Die
Kinder Gottes haben immer gefühlt, daß diese Welt eine
134
Stätte der Wolken und des Regens, ein Thal der Thränen
ist; aber der Morgen des tausendjährigen Reiches wird
allem diesem ein Ende machen: die Sonne dieses Morgens
wird bei ihrem Aufgange alle Wolken zerstreuen, und Gott
selbst wird alle Thränen abwischen von den Augen der
Seinigen. Welch eine herrliche, beglückende Aussicht!
Dank, ewig Dank sei der göttlichen Gnade, die uns eine
solche Aussicht geschenkt, und der versöhnenden Liebe, die
uns ein unumstößliches Anrecht darauf gegeben hat!
Wir haben bereits bemerkt, daß kein menschlicher
Herrscher jemals dem göttlichen Maßstabe entsprochen hat,
welchen David hier in seinen letzten Worten aufstellt.
David selbst fühlte das; und darum hören wir ihn auch
weiter sagen: „Obwohl mein Haus nicht also
ist bei Gott". Wir haben schon früher gesehen, wie
tief und gründlich sein Bewußtsein war bezüglich des
weiten Abstandes zwischen dem, was er persönlich war,
und den gerechten Anforderungen Gottes. Damals rief er
aus: „Ich bin in Ungerechtigkeit geboren", und: „Du
hast Lust an der Wahrheit im Innern". Wenn er sich
jetzt in seiner Eigenschaft als Herrscher betrachtet, so
ist seine Erfahrung dieselbe: „Mein Haus ist nicht also
bei Gott". Weder als Mensch noch als König war
er, was er hätte sein sollen; und darum War die Gnade
seinem Herzen so köstlich. Wenn er in den Spiegel des
vollkommenen Gesetzes Gottes hineinschaute, so sah er nur
seine Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit; aber dann
wandte er sich von diesem häßlichen Bilde zu dem „ewigen
Bunde" Gottes, „geordnet in allem und verwahrt",
und darin ruhte er mit nicht zweifelnder Glaubenseinfalt.
Obwohl Davids Haus nicht geordnet war in allem, so
135
War es doch der Bund Gottes; und David konnte sagen:
„Dies ist all meine Rettung und all mein Begehr". Er
hatte gelernt, von sich und seinem Hause abzublicken und
sein Auge aus Gott und Seinen ewigen Bund zu richten.
Und wir dürfen hinzufügen: Gerade so wirklich und tief
er sein Nichts als Mensch und König erkannte, gerade so
wirklich und tief war sein Bewußtsein von dem, was die
Gnade für ihn gethan hatte. Die Erkenntnis dessen, was
Gott war, hatte ihn gedemütigt, aber dieselbe Erkenntnis
hatte ihn auch erhoben. Es war seine Freude, als er
sein Ende herannahen fühlte, in dem Bunde seines Gottes
zu ruhen, in welchem er all sein Heil und all sein Begehr
eingeschlossen und verwahrt fand.
Wie gesegnet ist es, geliebter Leser, so unser Alles
in Gott zu finden! nicht nur Ihn als Den zu kennen,
der all unsern Mangel oder die Unzulänglichkeit alles
Irdischen und Menschlichen ausfüllt, sondern als Den, der
in unsern Augen alles, Menschen und Dinge, unendlich
übertrifft. Das ist es, was wir bedürfen. Gott muß den
ersten Platz haben, über allem stehen, nicht nur im Blick
auf die Vergebung unsrer Sünden, sondern auch hinsichtlich
aller unsrer Bedürfnisse. „Ich bin Gott, und keiner
sonst." „Wendet euch zn mir!"
Es giebt viele Gläubige, die Gott wohl vertrauen
können im Blick auf ihre ewige Errettung, die aber in den
kleinen Einzelheiten des täglichen Lebens kein Vertrauen
zu Ihm zu haben scheinen; und doch wird Gott gerade
darin so sehr verherrlicht, daß wir Ihn zu dem Vertrauten
aller unsrer Sorgen und zu dem Träger aller unsrer
Lasten machen. Nichts ist so klein und geringfügig, daß
wir es nicht vor Ihn bringen könnten; aber auch nichts
136
so klein, daß es nicht unsre Krast und Fähigkeit übersteigen
könnte. Hätten wir nur ein tieferes Bewußtsein
von unsrer Unfähigkeit und unserm Nichts, so würden
wir reichere und gesegnetere Erfahrungen von der Macht
und der liebevollen Fürsorge unsers Gottes und Vaters
machen.
Doch wir finden in unserm Kapitel noch eine andere
Sache, die in Verbindung mit dein Bunde Gottes sehr
bemerkenswert ist, obwohl sie ziemlich unvermittelt eingeführt
zu sein scheint. Ich meine den Bericht über die
Helden Davids. Es gab zwei Dinge, welche das Herz
des alternden Königs erfreuten, nämlich die Treue Gottes
und die Hingebung seiner Knechte. Ähnliches finden wir
bei dem Apostel Paulus. Am Schlüsse seines bewegten
und leidensvollen Pilgerlaufes schöpfte er aus denselben
Quellen Trost und Ermunterung. In seinem zweiten
Briese an Timotheus beschreibt er den Zustand der Dinge
um ihn her; er sieht das „große Haus", welches sicherlich
nicht so war, wie Gott es zu sehen wünschte; er sieht,
daß alle, die in Asien waren, sich von ihm abgewandk
hatten; er sieht, daß Hymenäus und Philetus falsche
Lehren verkündigten und den Glauben etlicher verkehrten;
er sieht Alexander, den Kupferschmied, viel Böses thun;
er sieht viele sich selbst Lehrer aufhäufen und sich von
der Wahrheit zu den Fabeln hinwenden; er sieht die gefährlichen,
schweren Zeiten mit erschreckender Schnelligkeit
herannahen — mit einem Wort, er sieht das ganze
Gebäude, menschlich gesprochen, in Stücke gehen: aber,
gleich David, ruhte er in der Gewißheit, daß „der feste
Grund Gottes steht", nnd wurde zugleich erquickt durch
die persönliche Hingebung des einen oder andern Glaubens
137
Helden, der durch die Gnade Gottes fest stand inmitten
des allgemeinen Zusammenbruchs. Er erinnerte sich des
Glaubens eines Timotheus, der Liebe eines Onesiphorus,
und wurde überdies erinuntert durch die Thatsache, daß
selbst in den finstersten Zeiten eine Schar Treuer da sein
würde, welche den Herrn anrufen würden aus reinem
Herzen. Er ermahnt Timotheus, sich diesen letzteren anzuschließen,
nachdem er sich von den Gefäßen zur Unehre
in dem großen Hause gereinigt habe.
So war es auch mit David. Er konnte seine Helden
aufzählen und ihre Thaten rühmen. Obwohl sein eignes
Haus nicht war, wie es hätte sein sollen, und obwohl
„die Söhne Belials" nm ihn her waren, konnte er doch
reden von einem Adino, einem Eleasar und einem Schamina,
von Männern, die ihr Leben um seinetwillen aufs Spiel
gesetzt und ihre Namen durch außergewöhnliche Heldenthaten
unter den Unbeschnittenen berühmt gemacht hatten.
Gott sei Dank! Er wird sich nie ohne ein Zeugnis
lassen; Er wird stets ein Volk haben, das Seiner Sache
in dieser Welt ergeben ist. Wenn wir das nicht wüßten,
so möchten unsre Herzen in Zeiten, wie die gegenwärtigen,
wohl verzagen. Wenige Jahre haben genügt, um eine
gewaltige Veränderung in dem Verhalten vieler Christen
hervorzurufen. Die Dinge liegen nicht mehr unter uns,
wie sie einst lagen, und wir dürfen in Wahrheit sagen:
„Unser Haus ist nicht also bei Gott". Manche hohe Erwartungen
sind in Nichts zerronnen. Wir haben erfahren
müssen, daß wir uns in keiner Beziehung von Andern
unterschieden haben; oder wenn wir uns unterschieden, so
war es darin, daß wir ein höheres Bekenntnis ablegten
und infolge dessen auch eine größere Verantwortlichkeit auf
138
uns brachten und in auffallenderer Weise, als Andere, den
Mangel an Übereinstimmung zwischen unserm Bekenntnis
und Wandel kundwerden ließen. Haben wir nicht viel
Vertrauen auf Menschen gesetzt und gemeint, wir wären
etwas? Ach! wir haben uns sehr, sehr geirrt, und lernen
nun in schmerzlicher, demütigender Weise unsern Irrtum
einsehen. Der Herr gebe, daß wir die Unterweisung, die
Er uns giebt, wirklich und gründlich lernen, daß wir sie
lernen in Seiner Gegenwart, im Staube liegend, damit
wir uns nie wieder überheben, sondern in dem bleibenden
Bewußtsein unsers Nichts und unsrer Ohnmacht unsern
Weg fortsetzen bis zum Ziel! Die Worte, welche der Herr
an die Gemeinde in Laodicäa richtet, sind ernst, und es
kann uns nur von Nutzen sein, wenn wir sie uns oft ins
Gedächtnis rufen und uns Prüfen, ob wir nicht in der
einen oder andern Weise sie auf uns anwenden müssen.
Sie lauten: „Weil du sagst: Ich bin reich und bin reich
geworden und bedarf nichts, und weißt nicht, daß du der
Elende und der Jämmerliche und arm und blind und bloß
bist. Ich rate dir, Gold von mir zu kaufen, geläutert
im Feuer, auf daß du reich werdest; und weiße Kleider,
auf daß du bekleidet werdest, und die Schande deiner
Blöße nicht offenbar werde: und Augensalbe, deine
Augen zu salben, auf daß du sehen mögest.
Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun
eifrig und thue Buße!"
Wenn die Erfahrungen, die wir in den vergangenen
Tagen gemacht haben, uns dahin führen, einfältiger und
inniger an Jesu zu hangen, so haben wir Ursache, dem
Herrn für sie zu danken, so schmerzlich sie gewesen sein
mögen; und wie die Dinge liegen, können wir es nur als
139
eine Gnade betrachten, von jedem falschen Vertrauen auf
uns selbst oder ans Menschen befreit und dahin gebracht
worden zn sein, uns fester an das Wort zu klammern und
uns einfältiger der Leitung des Heiligen Geistes zu überlassen,
dieses unfehlbaren, treuen Begleiters der Kirche
auf ihrem Pfade durch die Wüste.
Auch hat es nicht an lieblichen Ermunterungen
gefehlt von feiten solcher, die dem Herrn aufrichtig ergeben
waren. Viele haben ihre Liebe zu der Person
Christi bewiesen, treu für den einmal den Heiligen überlieferten
Glauben gekämpft und die Lehre von der Kirche
Christi festgehalten. Das ist eine große Gnade. Obwohl
der Feind viel Unheil angerichtet hat, ist es ihm doch
nicht erlaubt worden, seine Pläne auszuführen. Viele
stehen nach wie vor bereit, ihre Zeit und Kraft für die
Verteidigung des Evangeliums zu verwenden. Möge der
Herr ihre Zahl vermehren und auch ihr Zeugnis voller
nnd kräftiger machen! Möge Er in uns allen eine immer
wachsende Dankbarkeit für Seine Gnade erwecken, die uns
in Seinem Worte so klar und deutlich die wahre Stellung
und den Pfad Seiner Knechte in diesen letzten bösen Tagen
vorgezeichnet hat, sowie die Grundsätze, welche uns inmitten
der immer mehr überhand nehmenden Verwirrung
allein an dem Platze erhalten können, wo Er uns haben
will! Gott sei Lob und Dank! mag auch alles wanken
und sich verändern, Seine Wahrheit wankt nnd verändert
sich nie. Alles was wir zu erwarten und zu erflehen
haben, ist, treu erfunden zu werden bis ans Ende. Wenn
wir suchen, Aufsehen zu machen in dieser Welt, etwas
aufzurichten zu unsrer Ehre und Verherrlichung, so werden
wir enttäuscht und der Name des Herrn wird verunehrt
140
iverden. Sind wir aber zufrieden, klein zu sein, ja nichts
zu sein nnd demütig mit Gott zu wandeln, so wird Er
nut uns sein, und wir werden allezeit Ursache finden, uns
zu freuen und zu loben und zu danken; und wahrlich,
unsre Mühe wird nicht vergeblich sein im Herrn.
David hatte gedacht, in seinen Tagen vieles thun
zu können, und er war aufrichtig in diesem Gedanken;
ober er mußte lernen, daß der Wille Gottes betreffs seiner
fier war, daß er „seinem Geschlecht dienen" sollte. Wir
müssen dies ebenfalls lernen. Wir müssen lernen, daß
eine demütige Gesinnung, ein hingebendes Herz, ein zartes
-Gewissen, ein aufrichtiger Herzensvorsatz weit kostbarer
sind in den Augen Gottes, als ein bloß äußerlicher Dienst,
so glänzend und anziehend er auch sein mag. „Gehorchen
ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das Fett der
Widder." Das sind gesunde Worte für eine Zeit wie die
unsrige, in welcher die göttlichen Grundsätze so wenig beachtet
und so leicht aufgegeben werden.
Der Herr erhalte uns treu bis ans Ende, damit
wir, sei es daß wir in Jesu entschlafen, wie die uns
vorangegangenen Heiligen, oder entrückt werden, um Ihm
in der Luft zu begegnen, „ohne Flecken und tadellos von
Ihm erfunden werden in Frieden"! Inzwischen aber
mögen unsre Herzen sich erfreuen an den Worten des
Apostels an sein geliebtes Kind Timotheus: „Der feste
Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr
kennt, die Sein sind; und: Jeder, der den Namen des
Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!"
Saul, der Mann nach dem Herzen des
Menschen.
Nachdem wir die Geschichte Davids, des Mannes
nach dem Herzen Gottes, mit einander betrachtet und
seinen Weg verfolgt haben von den Schafhürden Bethlehems
bis zu dem Glanze des Königtums in Jerusalem,
wird es für den Leser von doppeltem Interesse sein, einen
Blick auf die Geschichte Sauls, des Mannes nach dem
Herzen des Menschen, zu werfen, und zu untersuchen, aus
welchem Wege er König wurde und wie er den Anforderungen
seiner erhabenen Stellung sich gewachsen zeigte. Laßt uns
denn, an der Hand des 1. Buches Samuel, kurz den Gang
der Ereignisse verfolgen, welche zu der Errichtung des
Königtums in Israel führten.
In den ersten Kapiteln des genannten Buches entwirft
der Geist Gottes ein höchst belehrendes nnd ernstes
Gemälde von dem damaligen Zustande des Volkes. Das
Haus Elkanas bietet dem geweihten Schreiber Gelegenheit,
uns eine treffende bildliche Darstellung Israels nach dem
Fleische nnd Israels nach dem Geiste vor Augen zu führen.
Elkana „hatte zwei Weiber: der Name der einen war
Hanna, und der Name der andern Peninna; und Peninna
hatte Kinder, aber Hanna hatte keine Kinder."
So spielte sich in dem häuslichen Kreise dieses Ephra-'
thiters die Geschichte der Sarah und der Hagar gleichsam
XI. IV s
142
noch einmal ab. Hanna war das unfruchtbare Weib, und
sie mußte dies tief fühlen; denn „ihre Widersacherin kränkte
sie mit vieler Kränkung, um sie aufzubringen, weil Jehova
ihren Mutterleib verschlossen hatte". Das unfruchtbare
Weib wird in der Schrift stets als ein Bild des
verderbten und hilflosen Zustandes der Natur dargestellt.
Die menschliche Natur ist unfähig, etwas für Gott zu
thun; sie hat keine Kraft, Ihm irgendwelche Frucht zu
bringen; alles ist Tod und Unfruchtbarkeit. Das ist der
Zustand eines jeden Kindes Adams; es kann weder etwas
für Gott, noch für sich selbst thun, wenn seine ewige Bestimmung
in Frage kommt. Der Mensch ist durchaus
ohne Kraft; er ist ein „dürrer Baum", ein „Strauch in
der Wüste".
Der Herr aber ließ Seine Gnade die Schwachheit
Hannas überströmen und legte ein Loblied in ihren Mund.
Er setzte sie in den Stand, zu sagen: „Mein Horn ist
erhöht in Jehova; mein Mund ist weit aufgethan über
meine Feinde, denn ich freue mich in deiner Rettung".
Es ist das besondere Vorrecht Jehovas und Sein gnadenreiches
Thun, die Unfruchtbare zu erfreuen und zum Frohlocken
zu bringen. Er allein kann sagen: „Jubele, du
Unfruchtbare, die nicht geboren, brich in Jubel aus und
jauchze, die keine Wehen gehabt hat! denn der Kinder der
Vereinsamten sind mehr als der Kinder der Vermählten."
(Jes. 54, 1.)
Hanna erfuhr die Wahrheit dieser Worte, und das
verwitwete Israel wird sie binnen kurzem auch erfahren;
„denn der es gemacht hat ist sein Mann — Jehova der
Heerscharen ist Sein Name — und der Heilige Israels
ist sein Erlöser". Ter herrliche Gesang Hannas stellt in
143
prophetischer Weise die dankbare Anerkennung der Wege
Gottes mit Israel dar: „Jehova tötet und macht lebendig;
Er führt in den Scheol hinab und führt herauf. Jehova
macht arm und macht reich; Er erniedrigt und erhöht
auch. Er hebt aus dem Staube empor den Geringen,
aus dem Kote erhöht Er den Armen, um ihn sitzen zu
lassen bei den Edlen; und den Thron der Erde giebt Er
ihnen als Erbteil." Alles dieses wird sich in den letzten
Tagen im Blick auf Israel bewahrheiten, und schon heute
erfährt es jede Seele, welche durch die Gnade ihrem verderbten
natürlichen Zustande entrissen und zu dem Segen
und Frieden in Jesu geführt wird.
In jenen Tagen seufzte wohl jeder treue, gottesfürchtige
Israelit unter dem traurigen Zustand, in welchem
sich das Volk und vor allem die priesterliche Familie befand.
Denn die Interessen des Hauses Jehovas wurden
mißachtet, Seine Opfer entweiht und Seine heiligen Gebote
von den gottlosen Söhnen Elis mit Füßen getreten. In
dem Verlangen Hannas nach einem „männlichen" Kinde
gaben sich daher nicht nur die Gefühle eines Mutterherzens
kund, sondern auch diejenigen einer gottesfürchtigen
Israelitin. Sie hatte ohne Zweifel den Verfall von
allem, was mit dem Hause Jehovas in Verbindung stand,
gesehen und darüber getrauert. Das blöde Auge Elis,
die schändlichen Thaten seiner Söhne Hophni und Pinehas,
der entweihte Tempel, das verachtete Opfer — alles das
sagte der Hanna, daß ein tiefes, dringendes Bedürfnis
vorlag, welches allein durch die kostbare Gabe eines Sohnes
von feiten des Herrn befriedigt werden konnte: Deshalb
sagte sie zn ihrem Manne: „Bis der Knabe entwöhnt ist,
dann will ich ihn bringen, daß er erscheine vor
144
Jehova und daselbst bleibe auf immer". „Bleibe
auf immer" — nichts Geringeres als das konnte die verlangende
Seele Hannas befriedigen. Es war nicht nur
das Hinwegthun ihrer eignen Schmach, was Samuel so
kostbar in ihren Augen machte. Nein, sie verlangte darnach,
„einen treuen Priester" vor Jehova stehen zu sehen;
und im Glauben ruhte ihr Auge auf einem, der auf immer
dort bleiben sollte. Kostbarer, herzerquickender Glaube!
Er erhebt die Seele über den niederdrückenden Einfluß
der sichtbaren und zeitlichen Dinge und versetzt sie in das
Licht der unsichtbaren und ewigen.
In Kapitel 3 finden wir die Ankündigung des schrecklichen
Zusammenbruches des Hauses Elis. „Und es geschah
in selbiger Zeit, als Eli an seinem Orte lag — seine
Augen aber hatten begonnen blöde zu werden, er konnte
nicht sehen — und die Lampe Gottes war noch nicht
erloschen, und Samuel lag im Tempel Jehovas, woselbst
die Lade Gottes war, da rief Jehova den Samuel."
Wie ausdrucksvoll ist alles in dieser Scene!. Elis Augen
sind blöde geworden, und Jehova ruft den Samuel. Mit
anderen Worten: Elis Haus steht im Begriff zu verschwinden,
und der treue Priester tritt in den Vordergrund.
Samuel läuft zu Eli; aber ach! alles was dieser ihm
sagen konnte, war: „Lege dich wieder". Er hatte keine
Botschaft für den Knaben. Er konnte seine Zeit mit
Schlafen zubringen, während die Stimme des Herrn in
seiner nächsten Nähe ertönte. Welch eine ernste Warnung!
Eli war ein Priester des Herrn, aber er unterließ es, in
Wachsamkeit zu wandeln, sein Haus nach den Gedanken
Gottes zu ordnen, seine Söhne zu strafen; und so sehen
wir das traurige Ende, zu welchem er kam. „Und Jehova
145
sprach zu Samuel: Siehe, ich will eine Sache thun in
Israel, daß jedem, der sie hört, seine beiden Ohren gellen
sollen. An selbigem Tage werde ich wider Eli aufrecht halten
alles, was ich über sein Haus geredet habe: ich werde
beginnen und vollenden. Denn ich habe ihm kundgethan,
daß ich sein Haus richten will ewiglich, um der Ungerechtigkeit
willen, die er gewußt hat, daß seine Söhne
sich den Fluch zuzogen, und er hat ihnen nicht gewehrt."
(V. 11—13.)
„Was irgend ein Mensch säet", sagt der Apostel,
„das wird er auch ernten". Wie bewahrheitet sich dieses
Wort in der Geschichte eines jeden Kindes Adams, und
wie augenscheinlich bewahrheitet es sich in der Geschichte
eines jeden Kindes Gottes! Wie wir säen, so werden wir
ernten. Eli mußte das fühlen, und auch wir, Schreiber
wie Leser dieser Zeilen, müssen es fühlen. Es giebt viel
mehr praktische Wirklichkeit in diesem göttlichen Ausspruch,
als manche sich vorstellen. Wenn wir in Gedanken, Worten
und Werken eine verkehrte Richtung einschlagen, so müssen
wir früher oder später unvermeidlich die Früchte davon
ernten. *) Möchte diese Erwägung uns zu einer heiligeren
*) Ich brauche kaum zu sagen, daß dies nichts mit der ewigen
Beständigkeit der göttlichen Gnade oder mit der vollkommenen Annahme
des Gläubigen in Christo zu thun hat. Christus ist das
Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen, und deshalb kann der
Grund seines Friedens nie angetastet werden. Gott selbst hat
diesen Frieden auf einer unerschütterlichen Grundlage errichtet, und
ehe dieser angegriffen werden kann, müßte die Thatsache der Auferstehung
Christi in Zweifel gezogen werden; denn offenbar könnte
Christus nicht da sein, wo Er ist, wenn nicht der Friede zwischen
Gott und dem Gläubigen vollkommen gemacht wäre. Der Gläubige
besitzt einen vollkommenen Frieden. Warum? Weil er weiß, daß
146
Wachsamkeit in all unserm Wandel anspornen! Laßt uns
Sorge tragen, daß wir „für den Geist säen", damit wir
„von dem Geiste ewiges Leben ernten".
Das 4. Kapitel giebt uns eine demütigende Schilderung
von dem Zustande Israels in Verbindung mit
dem traurigen Hause Elis. „Und Israel zog aus, den
Philistern entgegen zum Streit; nnd sie lagerten sich bei
Eben-Eser, und die Philister lagerten zn Aphek. Und die
Philister stellten sich auf, Israel gegenüber; und der Streit
breitete sich aus, und Israel wurde von den Philistern
geschlagen; und sie erschlugen in der Schlachtordnung auf
dem Felde bei viertausend Mann." (V. 1.2.) Israel mußte
hier den Fluch eines gebrochenen Gesetzes au sich erfahren.
(5. Mose 28, 25.) Sie konnten vor ihren Feinden nicht
ec vollkommen gerechtfertigt ist. Und woher weiß er das? Well
er durch den Glauben an das Wort Gottes weiß, daß eine vollkommene
Sühnung für ihn geschehen ist. Das ist die göttliche
Ordnung: ein vollkommenes Versöhnungswerk ist die Grundlage
meiner vollkommenen Rechtfertigung; und meine vollkommene Rechtfertigung
ist die Grundlage meines vollkommenen Friedens. Gott
hat diese drei Dinge unauflöslich mit einander verbunden, und das
ungläubige Herz des Menschen bemüht sich vergebens, sie aus
einander zu reißen.
Aber so wahr das alles ist, kann der Gläubige doch sehr
leicht den Genuß dieser kostbaren Dinge verlieren, und er wird es
thun, sobald er in seiner Wachsamkeit nachläßt oder ungehorsam
ist. Wenn mein Kind, - trotz meines Verbotes, ans Feuer geht,
wird es sich verbrennen und sich vielleicht heftige Schmerzen zuziehen.
Nichtsdestoweniger ist und bleibt es mein Kind, so sehr
mich sein Verhalten auch betrübt.
Die Worte des Apostels sind so umfassend wie möglich:
„Was irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten". Er
redet nicht von „bekehrt" oder „unbekehrt"; die Stelle bezieht sich
auf alle ohne Ausnahme und Unterschied.
147
standhalten, da sie infolge ihres Ungehorsams schwach und
kraftlos waren.
Beachten wir ferner die Grundlage ihres Vertrauens
in dieser Zeit der Drangsal und Not. „Und als das
Volk ins Lager kam, da sprachen die Ältesten Israels:
Warum hat uns Jehova heute vor den Philistern geschlagen?
Lasset uns von Silo die Lade des Bundes Jehovas zu
uns holen, daß sie in unsre Mitte komme und uns rette
von der Hand unsrer Feinde." Ach, welch eine armselige
Grundlage des Vertrauens! Sie redeten kein Wort von
dem Herrn selbst. Sie dachten gar nicht an Ihn;
sie machten Ihn nicht zu ihrem Schirm und Schild. Sie
vertrauten auf die Bundeslade und bildeten sich ein, daß
diese sie retten könne. Welch eine Thorheit! Wie konnte
die Lade ihnen irgendwie nützen, wenn nicht Jehova der
Heerscharen, der Gott der Schlachtreihen Israels, sie begleitete?
Unmöglich! Und Er war nicht mehr in ihrer
Mitte. Sie hatten Ihn durch ihre ungerichtete Sünde
betrübt und vertrieben; und kein Symbol, kein gottesdienstliches
Gerät, keine noch so feierliche Ceremonie konnte
an Seine Stelle treten.
Israel meinte indes, die Lade würde alles für sie
ausrichten; und groß war die Freude im Lager, als die
Bundeslade erschien, begleitet nicht von Jehova, sondern
von den bösen Priestern Hophni und Pinehas. „Und es
geschah, als die Lade des Bundes Jehovas ins Lager
kam, da jauchzte ganz Israel mit großem Jauchzen, daß
die Erde erdröhnte." (V. 5.) In der That, diese lärmende
Freude war geeignet, einen tiefen Eindruck auf den Beschauer
zu machen; aber ach! es war nichts als leerer
Schein, nichts als eine hohle Form. Israels Jauchzen
148
war ebenso grundlos wie unzeitig und ungeziemend.
Wahrlich, sie hätten etwas anderes thun sollen, als ein
solch leeres, eitles Gepränge zu machen. Aber ihr
Triumphgeschrei stand in trauriger Übereinstimmung mit
ihrem niedrigen moralischen Zustand in den Augen Gottes.
Denn immer wieder wird man die Erfahrung machen,
daß solche, die sich selbst am wenigsten kennen, in anmaßendster
Weise von sich reden und das erhabenste Bekenntnis
im Munde führen. Der Pharisäer im Evangelium
schaute mit stolzer Verachtung auf den Zöllner herab;
er bildete sich ein, sehr hoch zu stehen, während er dem
Zöllner einen gar niedrigen Platz anwies; doch wie ganz
anders waren Gottes Gedanken über diese beiden Männer!
Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz ist die Wohnstätte
Gottes, und Er weiß ein solches Herz aufzurichten
und zu trösten, wie niemand anders es kann. Das ist,
gepriesen sei Sein Name! ein Werk, an welchem Er Sein
besonderes Wohlgefallen findet.
Die Menschen dieser Welt jedoch werden stolzen
Anmaßungen stets viel Wert und Wichtigkeit beimessen.
Sie lieben sie, und räumen im allgemeinen denen, die
da vorgeben, etwas zn sein, einen hohen Platz ein, während
sie andrerseits den wirklich demütigen Mann noch tiefer
herabzusetzen suchen. So legten auch in der höchst belehrenden
Scene in unserm Kapitel die Philister dem
Jauchzen und Triumphieren der Männer von Israel eine
hohe Bedeutung bei. Es glich ihnen selbst, und darum
konnten sie es auch verstehen und ihm Wert beimessen.
„Und die Philister hörten die Stimme des Jauchzens
und sprachen: Was bedeutet die Stimme dieses großen
Jauchzens in dem Lager der Hebräer? Und sie erkannten,
149
daß die Lade Jehovas ins Lager gekommen war. Da
fürchteten sich die Philister, denn sie sprachen: Gott ist
ins Lager gekommen." (B. 6. 7.) Sie dachten natürlich,
daß das Triumphgeschrei wirklich begründet sei. Sie sahen
nicht unter die Oberfläche; sie wußten nicht, was ein
verunreinigtes Priestertum, ein verachtetes Opfer und ein
entweihter Tempel bedeuteten. Sie schauten nur auf das
sichtbare Zeichen der Gegenwart Jehovas und meinten,
daß Gottes Macht dasselbe begleite. Daher ihre Furcht.
Sie wußten nicht und konnten es nicht wissen, daß ihre
Furcht gerade so unbegründet war wie das Jauchzen
Israels. „Fasset Mut", sagten sie, „und seid Männer,
ihr Philister, daß ihr nicht den Hebräern dienen müsset,
wie sie euch gedient haben; so seid denn Männer und
streitet!" Hierin lag die einzige Hilfsquelle für die Philister:
„Seid Männer!" Israel konnte nicht so reden.
Wenn die Sünde sie verhinderte, die göttlichen Hilfsquellen
sich in ihren Umständen zu nutze zu machen, so
waren sie schwächer als andere Menschen. Israels einzige
Hoffnung lag in Gott; und wenn Gott nicht mit ihnen
war, wenn es sich um einen bloßen Kampf zwischen
Mensch nnd Mensch handelte, dann war ein Israelit einem
Philister nicht gewachsen. Dies bewahrheitete sich bei der
vorliegenden Gelegenheit in schlagender Weise. „Und die
Philister stritten, und Israel wurde geschlagen." Wie hätte
es anders sein können? Israel mußte geschlagen werden
und fliehen, wenn ihr Schirm und Schild, Gott selbst,
nicht in ihrer Mitte war. Sie wurden vollständig besiegt,
die Herrlichkeit wich von ihnen, die Bundeslade wurde
genommen, nnd ihr Triumphgeschrei verwandelte sich in
Jammern und Wehklagen. Ihr Teil war Niederlage und
150
Schande, und der greise Eli, den wir als den Stellvertreter
des damals bestehenden Systems betrachten können,
fiel mit demselben und wurde unter seinen Trümmern
begraben.
Die Kapitel 5 und 6 umfassen den Zeitabschnitt,
während dessen „Jkabod" (Nicht-Herrlichkeit) auf das Volk
Israel geschrieben war. Während dieser Zeit trat Gott
nicht öffentlich für Sein Volk ein, und die Lade Seiner
Gegenwart wanderte von Stadt zu Stadt unter den Unbeschnittenen.
„Und die Philister hatten die Lade Gottes
genommen, und sie brachten sie von Eben-Eser noch Asdod.
Und die Philister nahmen die Lade Gottes und brachten
sie in das Haus Dagons und stellten sie neben Dagon."
Trauriges und demütigendes Resultat der Untreue Israels!
Mit welch sorgloser Hand und treulosem Herzen mußte
es die Bundeslade bewahrt haben, daß sie jemals eine
Stätte in dem Götzentempel der Philister finden konnte!
Wahrlich, Israel hatte schwer gefehlt- es hatte alles
seinen Händen entgehen lassen, ja, es hatte das Heiligste
aufgegeben, so daß es von den Unbeschnittenen entweiht
und verlästert werden konnte.
Nach den Gedanken der Philister war das Haus
Dagons heilig genug für die Lade Jehovas, deren Platz
im Allerheiligften sein sollte. Der Schatten Dagons trat
an die Stelle der Strahlen der göttlichen Herrlichkeit.
Aber Gott dachte anders als die Fürsten der Philister.
Mochten auch die Israeliten sich treulos erwiesen haben,
und die Philister in vermessenem Übermut den Gott Israels
ihrem Götzen Dagon gleichstellen, so konnte Gott doch
nicht anders als sich selbst und Seiner Heiligkeit treu
bleiben, und Dagon mußte auf sein Angesicht fallen vor
151
der Lade Seiner Gegenwart. „Und als die Asdoditer
am andern Tage früh aufstanden, siehe, da lag Dagon
auf seinem Angesicht zur Erde vor der Lade Jehovas;
und sie nahmen Dagon und stellten ihn wieder an seinen
Ort. Und als sie am andern Tage des Morgens früh
aufstanden, siehe, da lag Dagon auf seinem Angesicht zur
Erde vor der Lade Jehovas, und das Haupt Dagons und
seine beiden Hände abgehauen auf der Schwelle; nur der
Fischrumpf war au ihm übriggeblieben."
Es ließe sich kaum etwas Niederdrückenderes oder
Demütigenderes denken als der Zustand der Dinge, wie
er damals in Israel lag. Die Bundeslade war aus ihrer
Mitte weggeführt, sie selbst hatten sich vor den Augen
der umwohnenden Völker als unfähig erwiesen, Gottes
Zeugen hienieden zu sein, und die Feinde der Wahrheit
triumphierten: „die Bundeslade war im Hause Dagons!"
Es war in der That ein schrecklicher Zustand, von feiten
des Menschen aus betrachtet; aber Gott sei Dank! es
gab auch noch eine andere Seite. Zwar hatte Israel sich
schwer versündigt und den Feinden erlaubt, seine Ehre in
den Staub zu treten; alles war ihm genommen; aber
Einer blieb, trotz aller Fehler und Untreuen, und dieser
Eine stand über allem und konnte in unumschränkter
Gnade und Macht handeln. Welch eine Quelle des Trostes
für jedes treue Herz, das sich noch in der Mitte des abtrünnigen
Volkes befand! Ja, Gott blieb treu, und Er
offenbarte sich in wunderbarer Macht und Herrlichkeit.
Wenn Israel es unterließ, für die Wahrheit Gottes zu
streiten, so mußte Er selbst auf den Schauplatz treten;
und Er that es. Die Fürsten der Philister hatten Israel
besiegt, aber die Götter der Philister mußten auf ihr
152
Angesicht niederfallen vor derselben Lade, welche einst die
Wasser des Jordan zurückgetrieben hatte. In der Stille
und Einsamkeit des Hauses Dagons, wo kein Ange es
sah und kein Ohr es hörte, trat der Gott Israels zur
Aufrechthaltung jener großen Grundsätze der Wahrheit
ein, welche Israel so schmählich aufgegeben hatte. Dagon
fiel und verkündigte in seinem Falle laut die Ehre des
Gottes Israels. Die Finsternis jener Stunde gab der
göttlichen Herrlichkeit nur eine Gelegenheit, in all ihrem
Glanze hervorzustrahlen. Der Schauplatz war so völlig
von dem Geschöpf gesäubert, daß der Schöpfer sich selbst
in Seinem majestätischen Charakter zeigen konnte. So ist
es immer. Die Not und Hilflosigkeit des Menschen giebt
Gott Gelegenheit, Seine Macht zu zeigen. Die Untreue
des Menschen macht Raum für die Entfaltung der Treue
Gottes. Die Philister hatten sich stärker erwiesen als die
Israeliten; aber Jehova war stärker als Dagon.
Alles dieses ist höchst belehrend und ermunternd in
einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo das Volk Gottes
ini allgemeinen so wenig jene innige Hingebung und
heilige Absonderung offenbart, welche es kennzeichnen sollten.
Wahrlich, wir haben Ursache, dem Herrn für die Gewißheit
zu danken, daß Er treu bleibt. „Der feste Grund
Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt, die
Sein sind, und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt,
stehe ab von der Ungerechtigkeit." Gott wird in den
finstersten Zeiten Seine Wahrheit aufrecht erhalten und
ein Zeugnis für sich erwecken, selbst wenn es in dem
Hause Dagons sein sollte. Die Christen mögen von den
Grundsätzen Gottes abweichen, aber die Grundsätze bleiben
dieselben; ihre Reinheit, Kraft und himmlische Schönheit
153
werden in keiner Weise durch die Unbeständigkeit und den
Wankelmut untreuer Bekenner beeinträchtigt, und schließlich
wird die Wahrheit triumphieren.
Die Bemühungen der Philister, die Bundeslade bei
sich zu behalten, erwiesen sich als völlig nutzlos. Sie
konnten nicht Dagon und Jehova bei einander wohnen
lassen. Ein jeder solcher Versuch ist böse, ja lästerlich.
„Welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis? und welche
Übereinstimmung Christus mit Belial?" (2. Kor. 6.)
Keine irgendwelcher Art! Der Maßstab Gottes kann niemals
herabgestimmt werden, um so allmählich den Grundsätzen,
welche die Menschen dieser Welt regieren, sich
anzupassen. Jeder Versuch, Christum mit der einen und
die Welt mit der andern Hand fest zu halten, muß in
Verwirrung und Beschämung enden. Und doch, wie manche
machen diesen Versuch! Wie viele giebt es, die sich unaufhörlich
mit der Frage zu beschäftigen scheinen, wieviel sie
von der Welt behalten können, ohne den Namen und die
Vorrechte eines Christen völlig aufgeben zu müssen! Das
ist ein tödliches Übel, eine schreckliche und verhängnisvolle
Schlinge Satans; ja es ist im Grunde nichts anderes als
Selbstsucht in ihrer entwickeltsten Form. Es ist traurig
genug, wenn Menschen in der Gesetzlosigkeit und dem Verderben
ihrer Herzen wandeln; aber den eignen Willen
und die Begierden der Natur mit dem heiligen Namen
Christi verbinden, ist der Gipfelpunkt der Bosheit. „So
spricht Jehova der Heerscharen, der Gott Israels: Machet
gut eure Wege und eure Handlungen . . . Siehe, ihr
verlasset euch auf Worte der Lüge, die nichts nützen.
Wie? stehlen, morden und Ehebruch treiben und falsch
schwören, und dem Baal räuchern und anderen Göttern
154
nachwandeln, die ihr nicht kennet! und dann kommet ihr
und tretet vor mein Angesicht in diesem Hause, welches
nach meinem Namen genannt ist, und sprechet: Wir sind
errettet, — damit ihr alle diese Greuel verübet?" (Jer. 7,
3—10.) Auch wird uns als einer der besondern Charakterzüge
der letzten Tage angegeben, daß die Menschen „eine
Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen
werden". Die äußere Form gefällt dem Menschen, weil
sie dazu dient, das Gewissen zu beruhigen, während das
arme, begehrliche Herz die Welt und ihre Freuden genießt.
Welch ein Betrug! Wie nötig ist daher die Ermahnung
des Apostels: „von diesen wende dich weg!"
Satans Meisterstück ist die Vermengung des anscheinend
Christlichen mit dem Unheiligen; er betrügt und verführt
hierdurch weit mehr Seelen als durch offenbare, grobe
Sünden und Laster, und es ist weit mehr geistliches Verständnis
nötig, um dieses Übel in seinen schrecklichen Folgen
zu entdecken. Der Herr gebe uns ein solches Verständnis!
Er weiß, wie sehr wir es bedürfen. (Schluß folgt.)
„Ihr seid meine Freunde."
(Joh. 15, 14.)
Sehr verschiedenartig sind die Beziehungen, in welche
wir als Gläubige zu dem Herrn gebracht sind. Er ist
unser Heiland, unser Sachwalter, Hoherpriester, Hirte u. s. w.
Und Er ist das alles, unabhängig von uns und unserm
Verhalten, obwohl wir und unser Thun der Anlaß für
Ihn gewesen sind, in diese verschiedenen Beziehungen zu
uns zu treten. Unsre Sünden waren der Anlaß, daß
155
Er herniederkam und unser Heiland wurde; und Er
kam aus freier Liebe zu uns, nicht aber weil wir Ihn
begehrt hätten. Aus demselben Grunde ist Er jetzt unser
Sachwalter, unser Hohepriester und guter Hirte. Wir
haben Ihn nicht gebeten, unsre Sachen bei dem Vater
zu vertreten, aber Er thut es aus freier Liebe und ohne
Ermüden. Ebenso wenig haben wir Ihn gebeten, auf dem
Wege durch diese Welt Sorge für uns zu tragen; aber
als der gute Hirte hat Er beständig Sein Auge auf jedes
einzelne Seiner Schafe gerichtet. Er weidet und hütet sie.
Wenngleich es dem Wolfe gelungen ist, die Herde zu zerstreuen,
kann doch niemand die wahren Schafe aus Seiner
Hand rauben. Er hat sie alle unter Seiner Obhut, und
nicht eines entgeht Seiner wachsamen und treuen Hirtenpflege.
Mag es zuweilen auch scheinen, als ob sie sich
selbst überlassen, oder der Willkür des Feindes preisgegeben
wären, so ist es in Wirklichkeit doch nicht so;
nicht eines wird vermißt werden am Tage Seiner Herrlichkeit.
In derselben freien Liebe, in welcher Er für sie
starb, als sie noch tot in Sünden waren, vertritt Er sie
jetzt bei dem Vater, trägt, Pflegt und weidet Er sie. Die
Bewahrung aller unsrer Beziehungen zu Ihm wird durch
Seine unwandelbare Treue verbürgt; und darum haben
wir eine unwandelbare Gewähr für unser ewiges Heil und
unsre vollkommene Sicherheit.
Indes geht das Verlangen Seiner Liebe im Blick
auf uns viel weiter, als nur unsern Bedürfnissen entgegenzukommen.
Er wünscht mit uns zu Verkehren als mit
Seinen Freunden; Er will ein inniges und vertrautes
Verhältnis mit uns pflegen. Ein solches Verhältnis kann
nur auf gegenseitigem Vertrauen, auf gegenseitiger Offen
156
heit und Treue beruhen. Er hat es Seinerseits daran
nicht fehlen lassen. Er ist den Seinigen entgegengekommen
mit vollkommnem Vertrauen, und Er interessiert sich für
alles, was sie betrifft; nichts ist Ihm gleichgültig betreffs
ihrer Umstände und Angelegenheiten, seien es persönliche,
häusliche oder geschäftliche. Seine Treue gegen sie ist
unerschütterlich. Nichts hat Er ihnen verhehlt von dem,
was in Seinem Herzen für sie war. Ihre Freuden und
Leiden hat Er stets zu den Seinigen gemacht. Wie innig
nahm Er z. B. teil an dem Wohl und Wehe der Familie
in Bethanien! Er ließ sich von ihr bedienen, hörte die
Beschwerden der Martha an und beschwichtigte sie. Die
drei Geschwister erfuhren, daß kein Freund, und sei es der
beste auf Erden, so vertrauenswürdig und zuverlässig war
wie Er; und Er blieb dies für sie auch in ihren tiefsten
und dunkelsten Wegen. Oder war Er etwa nicht mehr
ihr Freund, als Er den Lazarns sterben ließ? Hören wir,
was Er sagt: „Lazarus, unser Freund, schläft, und ich
gehe hin, daß ich ihn aufwecke". (Joh. 11, 11.) War
auch der Himmel in diesem Augenblick schwarz bewölkt für
die beiden Schwestern, so war er es doch nicht für den
Herrn. Er wußte, was Er thun wollte. Noch wenige
Stunden, und Lazarus sollte, zu neuem Leben erstanden,
in sein Haus zurückkehren. Trotzdem nahm der Herr den
innigsten Anteil an der Trauer der Schwestern und fühlte
ihren Schmerz als Seinen eignen. Er vergoß Thränen.
Er weinte mit den Weinenden.
Und wie bei Lazarus, so wird auch das Ende Seiner
Wege mit uns ein herrliches sein. Sind diese auch für
den Augenblick noch so dunkel und nnerforschlich, ihr Ende
wird in glänzendster Weise darthun, daß Er unser treuester
157
und bewährtester Freund ist. Wie tief und innig Er uns
liebt und wie fest und unwandelbar Seine Treue ist, sei
es als Hirte oder als Freund, das hat Er ja schon in
unumstößlicher Weise erwiesen, indem Er Sein Leben für
uns gelassen hat. „Der gute Hirte läßt Sein Leben für
die Schafe." „Größere Liebe hat niemand als diese,
daß jemand fein Leben läßt für seine Freunde." (Joh.
10, 11: 15, 13.) Sollten wir Ihm also nicht unser
völliges Vertrauen schenken?
Auch hat Er uns alles mitgeteilt, was Er von
Seinem Vater gehört hat. „Ich nenne euch nicht mehr
Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr thut;
aber ich habe euch Freunde genannt, weil ich alles,
was ich von meinem Vater gehört, euch kundgethan
habe." (Joh. 15, 14.) Er hat dies gethan in der Voraussetzung,
daß wir uns als Seine Freunde für diese Mitteilungen
interessieren würden. Sie enthalten den Vorsatz
Gottes, der in erster Linie die Verherrlichung Christi
zum Zweck hat. Dieser Vorsatz, in welchem die Welten,
die Himmel und die Erde mit allen ihren Herrlichkeiten,
nur insofern Bedeutung haben, als die Herrlichkeit Christi
in ihnen geoffenbart werden soll, hat naturgemäß für das
Herz Gottes, des Vaters, das größte Interesse, und so
auch für Christum. Und nun hat der Herr uns Sein
ganzes Vertrauen bewiesen, indem Er, auf unser Interesse
für Ihn, für Seine Verherrlichung, Seine Ehre und
Freude rechnend, uns diese Mitteilungen seitens des Vaters
gemacht hat. Rechtfertigen wir dieses Vertrauen? Oder
findet Er sich in uns getäuscht? Unser praktisches Verhalten
ist die beste Antwort auf diese beiden Fragen.
Schätzen wir wirklich die Ehre, Seine Freunde genannt
158
zu werden, hoch, haben wir ein wahres Interesse, ein
Herz für Seine Mitteilungen, so wird sich dies darin
kundgeben, daß wir den Pfad der Absonderung von der
Welt Ihm nachwandeln und in der lebendigen Erwartung
Seiner Ankunft stehen. Diese beiden Dinge gehen stets
zusammen und sind das Zeichen wahrer Treue und Anhänglichkeit
an den Herrn.
Andrerseits ist es klar, daß alle, die sich mit der
Welt oder mit irgend etwas verbinden, wodurch der Name
des Herrn verunehrt wird, nicht verdienen, Seine
Freunde genannt zu werden. Wir sagen nicht, daß
sie nicht wahre Christen sein können; weit davon entfernt!
Sie sind das vielleicht; aber wie könnte der Herr sie
Seine Freunde nennen, wie ihnen Sein Vertrauen schenken,
da sie ja, unbekümmert um Seine Ehre und entgegen
Seinem Willen, ihren Platz in dem Lager Seiner Feinde
gewählt haben? Lot war ganz sicher ein Gläubiger; oberer
wählte seinen Platz in Sodom, und so wurde er nicht
Freund Gottes genannt wie Abraham. Dieser bewährte
seinen Glauben, indem er sich in dem Lande der Verheißung
aufhielt, wie in einem fremden, und, als er versucht
wurde, willig seinen Sohn Isaak ans dem Altar
opferte. (Hebr. 11, 9; Jak. 2, 21 — 23.) Auch lesen wir
betreffs derer, die gleich ihm bekannten, Fremdlinge und
ohne Bürgerschaft auf der Erde zu sein, indem sie ein
himmlisches Vaterland suchten, daß sich Gott ihrer nicht
schämte, ihr Gott genannt zu werden. (Hebr. 11, 13—16.)
Wahrlich, es ist eine traurige, tieftraurige Sache,
wenn Gläubige sich der Untreue gegen ihren treuen, guten
Herrn schuldig machen, und sich dann damit zu trösten
suchen, daß sie doch wahre Christen seien; wenn es
159
ihnen gleichgültig ist, daß der Herr sich herablassen will,
sie Seine Freunde zu nennen; gleichgültig, ob sie Sein
Vertrauen besitzen oder nicht; wenn sie sich in die
Reihen derer stellen, welche Seinen Namen verunehren.
Mögen sie bedenken, daß sie sich dadurch eins machen mit
denen, die sich unter dem Deckmantel eines christlichen Bekenntnisses
der Heuchelei gegen den Herrn schuldig machen;
eins mit denen, deren Teil sein wird mit den
Heuchlern! (Matth. 24, 51.) Ja, mögen sie bedenken,
daß auch Judas, unter dem Deckmantel der Freundschaft,
den Herrn verriet mit einem Kuß!
Der Herr gebe uns allen Gnade, die Bedingungen
aufrichtig zu erfüllen, auf Grund deren Er uns Seine
Freunde nennt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr
alles thut, was ich euch gebiete"! Er gebe uns,
treu und entschieden auf Seiner Seite zu stehen, getrennt
von der Welt und allem, was Ihn verunehrt, und Seine
Ankunft erwartend! „Siehe", ruft Er uns zu, „ich komme
bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten,
wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)
Der Wandel vor Gott.
Sobald der Gläubige versteht, wie nahe ihn das
Werk Christi gebracht hat und in welch innige Beziehungen
er zu Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesu Christo
gekommen ist, so ist es ihm auch klar, daß er in seinem
ganzen Wandel nur auf die Verherrlichung Gottes bedacht
sein darf. Wir sind Gottes Werk, geschaffen in Christo
Jesu zu guten Werken. (Eph. 2, 10.) Wir gehören
nicht mehr uns selbst an, sondern Dem, der uns so teuer
160
erkauft hat. In dem Geliebten Gottes annehmlich gemacht,
sind wir jetzt zu Seinem Dienst berufen und bereitet.
Dieser Dienst ist unser seliges Vorrecht. Die Welt kann
Gott nicht dienen; uns aber ist der Weg ins Heiligtum
geöffnet durch das Blut Jesu, und, mit diesem Blute besprengt,
sind wir fähig gemacht, als geistliche und heilige
Priester Gott die Opfer des Lobes darzubringen. Der
Vorhang ist zerrissen, und wir nahen mit aller Freimütigkeit
zu Gott, um Ihm zu dienen. Wir haben nicht mehr
nötig zu zittern, wie das Volk Israel am Berge Sinai;
Gott hat sich nicht mehr in eine dunkle Wolke gehüllt,
aus welcher Blitze und Donner hervorkommen. Nein,
Jesus hat uns das Vaterherz Gottes völlig geoffenbart
und uns als Seine Kinder Ihm nahe gebracht; und nun
sind wir berufen, unsre „Leiber Gott darzustellen als ein
lebendiges Schlachtopfer, heilig, Gott wohlgefällig", und
unsre Glieder Ihm zu weihen als Werkzeuge der Gerechtigkeit.
(Röm. 6 u. 12.)
Welch ein hohes Vorrecht! Nicht nur dürfen wir
vor Gott dienen im Heiligtum, sondern auch in unserm
Leben unter den Gläubigen und in unserm Verhalten der
Welt gegenüber kundwerden lassen, daß wir eines Andern
geworden sind, des aus den Toten Auferstandeneu. Wir
sind schuldig, uns überall als Kinder Gottes zu erweisen,
als solche, die den Geist Christi haben. Unsre Berufung
in Christo Jesu ist etwas überaus Hohes und Herrliches
und unser Wandel soll dieser Berufung würdig sein. Wir
sind durch den Heiligen Geist von dieser Welt für Gott
abgesondert und unter den Gehorsam und die Blutbesprengung
Jesu Christi gebracht. Wir sind jetzt schuldig,
nicht mehr nach dem Fleische zu leben, sondern durch den
161
Wist hie Handlungen des Leibes zu töten und uns von
t«m -Mesen und Geist dieser Welt getrennt zu halten.
W-M 8^ 12—14.) „Wenn ihr nun mit dem Christus
WferwecktMorden seid, so suchet, was droben ist, wo der
Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das,
was, droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist;
denn ihr feid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit
dem Christus in Gott." (Kol. 3, 1—3.)
Wir wissen, daß unsre Stellung vor Gott in jeder
Beziehung vollkommen ist; denn da sie einzig und allein
sich gründet auf das Werk Christi, so kann es nichts Unvollkommenes
in ihr geben. Es ist überaus köstlich und
durchaus notwendig für einen Christen, dies zu verstehen.
Denn so lange der Gläubige feine Stellung vor Gott nicht
verstanden hat, kann von einem einsichtsvollen Dienst und
Wandel keine Rede sein. So lange er nicht erkannt hat,
daß er durch den Glauben gerechtfertigt und durch die
Besprengung mit dem Blute Christi für immer gereinigt
ist, ja daß dieses Blut jeden Augenblick für ihn
redet, kann sein Gottesdienst und Wandel Gott nicht gefallen.
Denn er wird, bewußt oder unbewußt, eine
Gerechtigkeit und Heiligkeit im Fleische aufzurichten trachten:
und das ist vor Gott ein Greuel. Auch wird er nicht
imstande sein, den Vater im Geist und in Wahrheit anzubeten;
denn er kennt und genießt dieses Verhältnis nicht.
Vielleicht ist er sehr eifrig und geschäftig; er möchte
gern Gott dienen ; aber im Grunde ist all seine Geschäftigkeit
nur ein Treiben des Fleisches, das sich selbst dient
und seine eigne Ehre sucht. Wie könnte ein solcher Dienst
Gott gefallen?
Der Christ, welcher seine Stellung vor Gott in Christo
162
wirklich erkannt hat, ruht in Christo und dienL GM
im Geiste. Er ist mit dem eignen Ich zu Wde M
kommen. Er bemüht sich nicht mehr, Gott etwas zu
bringen und sich dadurch vor Ihm wohlg^Wg.Pt
machen. Er weiß, daß ihm Gott alles gebracht -h all ,
und daß er wohlgefällig geworden ist in Christo Jesu.
Als ein Kind des Vaters, geleitet durch den Geist Gottes,
dient und wandelt er vor Ihm in glückseliger Freiheit.
Er weiß, daß er aus sich selbst nichts vermag, und daß
alle seine Hilfsquellen in Gott sind; und so klammert er
sich an Den, welcher ihm den Vater geoffenbart hat,
wünscht zu gehorchen, wie Er gehorcht hat, und unverrückt
auf Ihn blickend, wird er in dasselbe Bild verwandelt.
So lange wir aber diesen glückseligen Platz in Christo
nicht kennen und noch nicht zu der Freiheit des Glaubens
durchgedrungen sind, dienen wir mit dem Fleische und
bringen dem Tode Frucht. Es ist gut, den Dienst des
Geistes und des Fleisches wohl zu unterscheiden. Der
erstere ist vor Gott angenehm, der letztere verwerflich.
Jener ist ein Dienst des Eigenwillens und der Eigenliebe,
dieser eine Frucht des Werkes Christi und ein Ausfluß
der erkannten und genossenen Liebe Gottes.
Unser Dienst vor Gott kann schwach und unvollkommen
sein; aber es ist gut, wenn wir ihn als ein
Vorrecht der Kinder Gottes erkennen. Wir werden dann
suchen, in der Erkenntnis Christi Jesn und der Kraft
Seiner Auferstehung zu wachsen. (Phil. 3, 10.) Und den
Aufrichtigen läßt Gott es gelingen. Wir werden dann
nicht immer so schwach und unvollkommen bleiben, sondern
Fortschritte machen. Der Geist Gottes wird uns weiter
führen und in alle Wahrheit leiten. Er offenbart uns
163
Jesum und die ganze Segenssülle in Ihm; der Glaube
besitzt in Ihm alles, was zum Leben und zur Gottseligkeit
notwendig ist. Ohne uns selbst Rechenschaft darüber
geben zu können oder gar mit unsern Fortschritten und
unserm Wachstum uns zu beschäftigen, werden wir von
Gott selbst immer mehr zu Seinem Dienst znbereitet. Er
ist der Gott aller Gnade, der uns zu Seiner ewigen Herrlichkeit
berufen hat in Christo Jesu und uns vollkommen
machen, befestigen, kräftigen und gründen will. (1. Petr.
5, 10.) Er beschäftigt sich mit uns im Wege der Erziehung.
Er reinigt die Reben, auf daß sie mehr Frucht
bringen; denn darin wird der Vater verherrlicht, daß wir
viel Frucht bringen. (Joh. 15.) Er züchtigtuns, damit
wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Die heilbringende
Gnade Gottes „unterweist uns, daß wir, die Gottlosigkeit
nnd die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht
nnd gottselig leben sollen in dem fetzigen Zeitlauf, erwartend
die glückselige Hoffnung und Erscheinung der
Herrlichkeit unsers großen Gottes und Heilandes Jesu
Christi". (Tit. 2, 12. 13.) Der Heilige Geist führt uns
immer weiter in die Erkenntnis des Werkes Christi ein
und läßt uns die Bedeutung Seines Todes und die Kraft
Seiner Auferstehung immer besser verstehen; und unser
Glaube findet darin Leben und Seligkeit, Kraft und Sieg.
Der Heilige Geist lehrt uns ferner alle unsre köstlichen
Beziehungen zu Gott erkennen nnd genießen und weckt
und erhält in unsern Seelen die Hoffnung auf die Herrlichkeit.
Er ermuntert und tröstet, belehrt und ermahnt,
unterweist und straft uns, ja Er vertritt uns vor Gott
mit unaussprechlichen Seufzern.
So ist also alles von Gott, nichts aus uns. Welch
164
eine Gnade, befreit zu sein von allem eignen Thun und
Wirken, ja von sich selbst, und im Glauben die kostbare Thatsache
verwirklichen zu dürfen, daß wir mit Christo gestorben
und auferstanden sind! „Wenn jemand in Christo ist —
eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist
neu geworden." (2. Kor. 5, 17.) Keine Kraft in uns,
aber eine Fülle von Kraft in Christo, unserm Herrn;
und diese Kraft steht dem Glauben allewege zu Gebote.
Der Apostel Paulus war tief in die Erkenntnis dieser
Wahrheit eingedrungen; deshalb hören wir ihn auch sagen:
„Daher will ich am allerliebsten mich meiner Schwachheiten
rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir
wohne." (2. Kor. 12, 9.) Das Gefäß ist nichts; aber
Christus ist alles.
Doch noch eins: Unsre kostbare Stellung in Christo
und unsre nahen, innigen Beziehungen zum Vater verpflichten
uns nicht nur zu einem würdigen Wandel
und einer geistlichen Gesinnung, sondern es ist auch unser
teures Vorrecht, uns in einer Gottes würdigen Weise
zu Verhalten. Wir sind Kinder Gottes, und werden
als solche aufgefordert, Seine Nachahmer zu sein
und in Liebe zu wandeln. (Eph. 5, 1.) Denke einen
Augenblick hierüber nach, geliebter Leser! Ein Nachahmer
Gottes sein zu dürfen — welch ein hohes, erhabenes
Vorrecht! Schätzest du es, und freust du dich, es ausüben
zu können? Wir waren einst fern von Gott, in
der Finsternis, hassenswürdig und einander hassend, und
nun sind wir in Christo so nahe gebracht und all der
Segnungen des Kindes-Verhältnisses teilhaftig geworden!
Ein Kind Gottes — kostbarer, herrlicher Titel! trägst
du ihn? Nun, dann sei ein Nachahmer Gottes, deines
165
Vaters, in allem nnd wandle in Liebe, gleichwie auch
der Christus uns geliebt Und sich selbst für uns hingegeben
hat. Wandle, wie Er gewandelt hat. (1. Joh. 2, 6.)
Sei gesinnt, wie Er gesinnt war. (Phil. 2, 5.) Verkündige
in deinem geringen Maße die Tugenden Dessen, der dich
aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht berufen
hat. (1. Petr. 2, 9.)
Wir sind die Brant des Lammes und warten auf
unsern geliebten Bräutigam, der uns um den Preis Seines
eignen Lebens erkauft hat. Ist es nicht ein wunderbares
Vorrecht, uns so nennen zu dürfen? Und wenn wir dieses
Vorrecht verstehen, wie könnte es dann anders sein, als daß
wir in keuscher Liebe und mit unerschütterlicher Treue an
Ihm hangen nnd auf Ihn harren? Wie könnten wir anders,
als von Herzen begehren, am Tage Seiner Ankunft
lauter und tadellos erfunden zu werden?
Wir sind der Leib Christi, Seine Versammlung,
die Er geliebt und für die Er sich selbst hingegeben hat,
auf daß Er sie sich verherrlicht darstellte, ohne Flecken und
Runzel oder etwas dergleichen. (Eph. 5, 25—27.) Er
ist unser Haupt, wir sind Seine Glieder, die Glieder Seines
Leibes. Welch eine innige Beziehung, eine unverbrüchliche,
unzertrennliche Verbindung! Wer hätte solche Gedanken
ausdenken, solche Beziehungen schaffen können, als allein
die göttliche Liebe? Aber was fordern diese Beziehungen?
Die ganze Unterwürfigkeit des Leibes und jedes einzelnen
Gliedes unter das Haupt, einen Wandel in Gemeinschaft
mit und in Abhängigkeit von Ihm. All unser Thun
und Lassen darf sich nur auf Ihn beziehen und muß unter
Seiner Leitung stehen. Sein wohlgefälliger Wille allein
darf die Triebfeder unsers Handelns sein. Er ist unser
166
Haupt, Er ist unser Herr; wie könnten wir uns noch
selbst leben wollen! O wohl uns, wenn wir diese innigen
Beziehungen zn Ihm kennen und verwirklichen! Wir
werden dann in kleinen und großen Dingen nur an die
Verherrlichung Seines Namens denken.
Wir sind ferner ein himmlisches Volk, das hie-
nieden keine bleibende Stadt hat, dessen Bürgerrecht
proben ist. Wir sind wie Davoneilende, die alles verlassen
haben, um einer unvergänglichen Krone nachzujagen,
dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in
Christo Jesu. So lange wir in dieser Hütte sind, bleibt
unser Leben ein Kampf. Unsrer Feinde sind viele, und
sie find voll List und Bosheit. Es sind die unsichtbaren
Mächte der Finsternis, die geistlichen Mächte der Bosheit
in den himmlischen Örtern. Darum bedürfen wir der
ganzen Waffenrüstnng Gottes, um ihnen gegenüber das
Feld zu behalten. Die Kraft des Herrn allein kann uns
befähigen, sie zu überwinden und in die Flucht zu schlagen.
-(Eph. 6, 10 ff.) Auch umgiebt uns die Welt mit ihren
verführerischen Reizen; die Sünde legt uns ihre geheimen
Netze, und das Fleisch in uns sucht seine Ansprüche geltend
zu machen. Also Feinde ringsum! Deshalb thut es uns
not, wachsam und nüchtern zn sein zum Gebet und in der
Kraft des Glaubens zu wandeln; anders werden wir den
Versuchungen unterliegen. Das Gebet erhält uns in dem
Bewußtsein unsers Nichts und in der Gemeinschaft mit
der Quelle unsrer Kraft. Zur Ermutigung im Kampfe
und um uns ausharrende Geduld darzureichen, hat uns
Gott die herrliche Hoffnung unsrer Berufung gegeben.
Wir wissen, daß noch „über ein gar Kleines" der Kommende
kommen wird; Er wird nicht verziehen. Und dann
„werden wir Ihm gleich sein, denn wir werden Ihn sehen,
wie Er ist". Diese Hoffnung treibt uns an, uns selbst zu
reinigen, „gleichwie Er rein ist"; sie macht und erhält uns
frei von den sichtbaren Dingen, von dem verunreinigenden
Einfluß dieser Welt. (1. Joh. ll.) Sie unterhält unsre
Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, wo Jesus als der
167
Erstgeborene vieler Brüder bereits eingegangen ist, und befähigt
uns, alles Zeitliche zu verleugnen und in den
Drangsalen dieses Lebens freudig auszuharren.
Wir haben oben gesagt, daß wir auch in unserm
Leben unter den Gläubigen kundwerden lassen sollten, daß
wir eines Andern geworden sind. Auch das ist nicht nur
eine Pflicht, sondern ein großes Vorrecht. Die Gemeinschaft
der Glieder Christi unter einander kann, wenn
sie wirklich ihrem Wesen nach verstanden wird, nur eine
innige und herzliche sein; denn sie ist gegründet auf die
Liebe, das Band der Vollkommenheit. Jeder wahre Gläubige
ist ein Kind Gottes, also mein Bruder; er ist' ein
Glied an demselben Leibe, gehört zu der Braut Christi,
zu dem himmlischen Volke Gottes. Ist dieses Bewußtsein
in mir lebendig, so wird es eine dienende und tröstende
Liebe, eine sanftmütige und geduldige Tragsamkeit in mir
Hervorrufen. Verstehe ich wirklich, wie teuer jeder Miterlöste
dem Herrn geworden ist, und mit welcher Liebe,
Barmherzigkeit und Langmut ich selbst unaufhörlich getragen
und gepflegt werde, so werde ich von Herzen an
alledem teilnehmen, was jedes Glied des Leibes Christi
betrifft. „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder
mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich
alle Glieder nut." (1. Kor. 12, 26.) Die Erkenntnis der
Gedanken Gottes über uns in Christo Jesu wird mich an-
treiben, auf das Wohl aller mit mir Geliebten bedacht zu
sein. Indem ich wünsche, daß der Name Gottes aus
Vieler Mund gepriesen und durch Vieler Wandel verherrlicht
werde, werde ich nicht müde werden, alle meine Brüder
und Schwestern durch Wort und That zur Liebe und zu
guten Werken anzureizen; und das umsomehr, jemehr ich
den Tag herannahen sehe. (Hebr. 10, 24. 25.)
Der Herr ist nahe, Geliebte! „Daher seid fest, unbeweglich,
allezeit überströmend in dem Werke des Herrn,
da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn."
(1. Kor. 15, 58.) Haltet eure Lampen geschmückt; der
Bräutigam hat sich aufgemacht. Laßt uns Ihm entgegen
168
gehen in Lauterkeit des Herzens, mit sehnendem Verlangen!
Das mitternächtliche Geschrei: „Siehe, der Bräutigam!"
wird in unsern Tagen immer lauter, und immer mehr
werden hinzugethan, welche mit Verlangen auf Den warten,
den ihre Seele liebt. „Der Geist und die Braut sagen:
Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!" (Offbg. 22, 17.)
Der Herr ruft uns zu: „Ich komme bald; halte fest,
was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!"
(Offbg. Z, 11.) O laßt uns diese Seine Verheißung festhalten
und mit liebendem Herzen nach Ihm ausschauen!
Nicht mehr lange, und unser Auge wird Ihn schauen,
und wir werden allezeit bei Ihm sein. Diese Welt vergeht
mit ihrer Lust: aber Gott sei Dank! sie ist nicht
unsre Heimat. Unsre Heimat ist droben, am Throne des
Lammes, nnd unser Erbe ist ewig, unverwelklich und unbefleckt.
Wir sind Christi Eigentum geworden, und vielleicht
giebt es um Seinetwillen Spott oder allerlei Drangsale zu
ertragen; aber getrost! wir sind bald am Ziele unsrer
Reise; sie kürzt mit jedem Tage ab. Jeder Sonnenuntergang
bringt uns jenem ewigen Tage näher, wo wir des
Lichtes der Sonne und des Mondes nicht mehr bedürfen
werden. Darum laßt uns mit Freuden unsern Lauf vollenden,
unverrückt hinschauend auf den Kampfpreis unsrer
Berufung in Christo Jesu. Bald ist der letzte Schritt gethan,
der letzte Schweißtropfen abgewischt, und dann Wird
unser Sehnen gestillt und unser Glaube in seliges Schauen
verwandelt werden. Darum laßt uns nicht ermatten und
nicht müde werden im Gutesthun; bald werden wir ernten
ohne Anfhören. „Wachet, stehet fest im Glauben;
seid männlich, seid stark!" (1. Kor. 16, 13.)
Saul, der Mann nach dem Herzen des
Menschen.
(Schluß.)
Wir kommen jetzt zu der glücklichen Wiederherstellung
Israels in Verbindung mit dem Dienst des „treuen Priesters".
Das Volk hatte unter der Zulassung Gottes manchen Tag
über die Abwesenheit der Bundeslade trauern müssen;
ihr Geist welkte hin unter dem ausdörrenden Einfluß des
Götzendienstes, aber endlich begannen ihre Zuneigungen
sich wieder Jehova zuzuwenden. Wir lesen: „Und das
ganze Haus Israel wehklagte Jehova nach". Die Lade
war zurückgekehrt, aber zwanzig Jahre lang blieb sie in
dem Hause Abinadabs zu Kirjath-Jearim. Dann erst kam
es den Israeliten allmählich zum Bewußtsein, wie viel sie
durch ihre Untreue verloren hatten.
Aber gerade dieses geistliche Aufwachen zeigte, wie
weit sie abgeirrt und wie tief sie gesunken waren. So
wird es immer sein. Ehe Jakob vor alters berufen wurde,
aus den Befleckungen Sicherns heraus nach Bethel hinaufzuziehen,
hatte er wenig Verständnis darüber, wie tief er
mit seiner Familie bereits in die Netze des Götzendienstes
geraten war. Aber der Ruf: „Ziehe hinauf nach
Bethel!" weckte sein schlafendes Gewissen auf, öffnete
sein Auge und rief die geziemenden Gefühle in seinem
Innern wach. „Und Jakob sprach zn seinem Hause und
XNIV 7
170
zu allen, die bei ihm waren: Thut hinweg die fremden
Götter, die in eurer Mitte sind, und reiniget euch, und
wechselt eure Kleider." (1. Mose 35, 2.) Die bloße
Erinnerung an Bethel übte einen belebenden, erweckenden
Einfluß ans und zeigte Jakob mit einem Schlage den
Zustand seines Hauses in Sichem. Und nachdem er selbst
wieder aufgewacht war, vermochte er auch Andere auf den
richtigen Weg zurückzuführen.
Gerade so ist es mit den Nachkommen Jakobs in
unserm Kapitel. „Und Samuel sprach zu dem ganze»
Hause Israel und sagte: Wenn ihr mit eurem ganzen
Herzen zu Jehova umkehret, so thut die fremden Götter
aus eurer Mitte hinweg und die Astaroth, und richtet
euer Herz auf Jehova und dienet Ihm allein;
und Er wird euch erretten aus der Hand der Philister."
(V. 3.) Aus diesen Worten geht hervor, welch eine abschüssige
Bahn Israel in Verbindung mit dem treulosen
Hause Elis verfolgt hatte. Der erste Schritt zum Böse»
in religiöser Beziehung besteht darin, das Wesen der
Wahrheit aufzugeben und aus eine äußere Form Vertrauen
zu setzen — auf eine Form ohne Leben, ohne Gott, ja
unter Aufgebung aller jener Grundsätze, welche die Form
schätzenswert machen. Der zweite Schritt ist: selbst diese
Form des wahren Gottesdienstes aufzugeben und sich ein
Götzenbild zu machen. Den ersten Schritt hatte Israel
längst gethan; darum hatten sie gesagt: „Laßt uns von
Silo die Lade des Bundes Jehovas zu uns holen, daß
sie in unsre Mitte komme und uns rette von der
Hand unsrer Feinde". Dem ersten Schritt war der zweite
bald gefolgt, so daß Samuel sie auffordern mußte: „Thut die
freniden Götter und die Astaroth aus eurer Mitte hinweg".
171
Mein Leser! liegt nicht in allem diesem eine ernste
Mahnung für die bekennende Kirche von heute? Unsre
Zeit wird in hervorragender Weise durch eine Form der
Gottseligkeit ohne wahres Leben und innere Kraft gekennzeichnet.
Der Geist eines kalten, herz- und gefühllosen
Formenwesens macht sich immer mehr geltend; die wahren
Gläubigen scharen sich zusammen, und das Übrige versinkt
in die totenähnliche Ruhe eines leeren Bekenntnisses oder
in den Fanatismus einer falschen Religion, bis die Stimme
des Sohnes Gottes ertönen und von allen Trägern des
christlichen Namens Rechenschaft fordern wird wegen ihres
Thuns.
Das Verhalten Israels im vorliegenden Kapitel
steht indes in völligem Gegensatz zu ihrem früheren Thun.
„Und Samuel sprach : Versammelt ganz Israel nach Mizpa,
und ich will Jehova für euch bitten. Und sie versammelten
sich nach Mizpa, und schöpften Wasser und gossen es aus
vor Jehova ; und sie fasteten an selbigem Tage und sprachen
daselbst: Wir haben gesündigt gegen Jehova." Hier begegnen
wir in der That einem echten, wirklichen Werke, und
wir dürfen Wohl sagen: Gott ist hier. Bon einem
Vertrauen auf ein bloßes Symbol oder eine leblose Form
ist keine Rede mehr; auch findet sich keine leere Anmaßung,
kein eitles Jauchzen und grundloses Rühmen —
nein, alles ist tiefe, ernste Wirklichkeit. Das Ausgießen
des Wassers, das Fasten, das Bekennen, das Rufen zum
Herrn — alles redet von der mächtigen Veränderung,
welche in dem innern Zustande Israels vorgegangen war.
Sie nahmen jetzt ihre Zuflucht zu dem treuen Priester,
und durch ihn zu Jehova selbst. Sie redeten nicht mehr
davon, die Bundeslade herbeizuholen, sondern sprachen zu
172
Samuel: „Laß nicht ab, für uns zu schreien zu Jehova,
unserm Gott, daß Er uns rette von der Hand der
Philister. Und Samuel nahm ein Milchlamm und opferte
es ganz als Brandopfer dem Jehova; und Samuel schrie
zu Jehova für Israel, und Jehova erhörte ihn." Endlich
hatte Israel die wahre Quelle seiner Kraft wiedergefunden:
die Götzen waren aus seiner Mitte hinweggethan, und es
schrie zu Jehova, seinem Gott. Das ausgegossene Wasser
war ein Zeichen seiner Buße und Zerknirschung (vergl.
2. Sam. 14, 14); das Milchlamm, welches als Brandopfer
Jehova dargebracht wurde, ein Zeichen (obwohl ein
schwaches Zeichen) seiner wiederhergestellten Gemeinschaft
mit Gott. Infolge dieses Bekenntnisses und der Opferung
des Lammes gewannen ihre Umstände sofort ein anderes
Aussehen. Wir stehen bei dieser Gelegenheit an einem
Wendepunkt in der Geschichte des Volkes.
Doch wenn Israel sich versammelt, selbst wenn
Deinütigung und Selbstgericht der Zweck ihres Zusammenkommens
ist, offenbart der Feind sofort seinen Widerstand.
Er kann nicht ertragen, daß das Volk Gottes eine Stellung
einnehme, welche Jehova als den alleinigen Gott anerkennt.
So lange es den Götzen dient, läßt er es in Ruhe; sobald
es aber zu Jehova umkehrt, zeigt sich seine Feindschaft.
„Und die Philister hörten, daß die Kinder Israel sich nach
Mizpa versammelt hatten, und die Fürsten der Philister
zogen herauf wider Israel." Diese Fürsten handelten
unbewußt als Werkzeuge Satans. Sie selbst waren ohne
Zweifel völlig unwissend über das, was zwischen Jehova
und Seinem Volke vorging. Da sie kein Triumphgeschrei
hörten, wie ehedem, mögen sie Wohl gedacht haben, daß
Israel sich in einem noch armseligeren Zustande befinde,
173
als jc vorher. Da war kein Jauchzen unter dem Volke,
daß die Erde erdröhnte, wie in Kap. 4; statt dessen ging
im Stillen ein Werk vor sich, welches das Auge eines
Philisters nicht sehen und von welchem das Herz eines
Philisters keine Ahnung haben konnte. Was verstand ein
Philister von dem Schrei der Buße, von dem Ausgießen
des Wassers vor Jehova, oder von dem Opfern eines
Milchlammes auf dem Altar Gottes? Nichts. Die Menschen
dieser Welt können nur von dem Kenntnis nehmen, was
sich dem natürlichen Auge zeigt, was an der Oberfläche
liegt. Äußerer Glanz nnd Schimmer, fleischliche Kraft
und Größe — das sind Dinge, die von der Welt verstanden
und geschätzt werden; aber von den tiesen Er
fahrungen einer vor Gott geübten Seele weiß sie nichts.
Und doch ist gerade das letztere eine Sache, nach welcher
der Christ ernstlich trachten sollte. Eine geübte Seele ist
überaus kostbar in den Augen Gottes; Er kann bei einer
solchen Seele wohnen zu aller Zeit. Laßt uns deshalb
nicht meinen und nicht begehren, etwas zu sein, sondern
laßt uns in Einfalt unsern wahren Platz vor Gott einnehmen;
dann wird Er sicher und gewiß uns Kraft und
Stärke darreichen, so wie die Gelegenheit es erfordert.
„Und es geschah, während Samuel das Brandopfer
opferte, rückten die Philister heran znm Streit wider Israel.
Und Jehova donnerte mit großem Donner an selbigem
Tage über den Philistern und verwirrte sie, und sie wurden
geschlagen vor Israel." (V. 10.) Das war das beglückende
Resultat der einfältigen Abhängigkeit von dem Gott der
Heerscharen Israels. „Jehova ist ein Kriegsmann" —
so hatte Er sich einst an den Ufern des Roten Meeres
erwiesen, und so erweist Er sich zu allen Zeiten, wenn
174
Sein Volk Seiner bedarf; und ihr Glaube kann Gebrauch
von Ihm machen in diesem Charakter. Wenn Israel
seinem Jehova zuließ, für sie zu streiten, so erschien Er
mit einem gezückten Schwert in Seiner Hand; aber die
Ehre muß auch Ihm allein bleiben. Israels Triumphgeschrei
mußte verstummen und einem stillen Warten auf
Gott Platz machen, ehe das Rollen des Donners Jehovas
gehört werden konnte. Und, mein Leser, wie gesegnet ist
es, stille zu sein und Jehova reden zu lassen! Welch
eine wunderbare Kraft liegt in Seiner Stimme! eine
Kraft, welche Frieden, tiefen Frieden in die Herzen Seines
Volkes senkt, aber Schrecken und Entsetzen unter Seinen
Feinden verbreitet. „Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten
und deinen Namen verherrlichen?" (Offbg. 15, 4.)
In Kapitel 8 kommen wir der Aufrichtung des
Königtums in Israel einen bedeutenden Schritt näher.
„Und es geschah, als Samuel alt geworden war, da setzte
er seine Söhne als Richter über Israel. . . Aber seine
Söhne wandelten nicht in seinen Wegen; und sie neigten
sich dem Gewinne nach und nahmen Geschenke und beugten
das Recht." Welch ein trauriges Gemälde! Ach! der
Mensch ist immer derselbe, wo wir ihn auch erblicken
mögen. „Ich weiß, daß nach meinem Abschiede verderbliche
Wölfe zu euch hereinkommen werden, die der Herde
nicht schonen." (Apstgsch. 20, 29.) Kaum hatte sich Israel
von den Wirkungen des sittenlosen Lebenswandels der
Söhne Elis erholt, da mußte es den schrecklichen Einfluß
der Habsucht der Söhne Samuels erfahren, und so wurde
es auf dem Pfade vorwärts getrieben, welcher in der
Verwerfung Jehovas und in der Erhebung Sauls zum
Könige endete. „Als Samuel alt geworden war, setzte
175
e r seine Söhne als Richter über Israel." In der That,
das war sehr verschieden von einer Einsetzung und Bestimmung
von feiten Gottes. Die Treue Samuels bot
keine Gewähr für das Verhalten seiner Söhne. Wir finden
dasselbe, wenn wir an die sogenannte apostolische Nachfolge
denken. Was für Nachfolger haben wir gesehen! Wie
wenig waren sie ihren Vorgängern ähnlich! Paulus
konnte sagen: „Ich habe niemandes Silber oder Gold oder
Kleidung begehrt". Können die sogenannten Nachfolger
der Apostel dasselbe sagen? Samuel konnte auch sagen:
„Hier bin ich; zeuget wider mich vor Jehova und vor
Seinem Gesalbten. Wessen Rind habe ich genommen?
oder wessen Esel habe ich genommen? oder wen habe ich
übervorteilt? wem habe ich Gewalt angethan? oder aus
wessen Hand habe ich Lösegeld genommen, daß ich dadurch
meine Augen verhüllt hätte?" (Kap. 12, 3.) Aber ach!
Samuels Söhne und Nachfolger konnten das nicht sagen;
„schmutziger Gewinn" war die Triebfeder ihres Handelns.
Nach der Aussage der Israeliten in unserm Kapitel
bot das böse Verhalten der Söhne Samuels die unmittelbare
Veranlassung zu der Forderung eines Königs. „Siehe,
du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in
deinen Wegen; nun setze einen König über uns, der uns
richte, wie alle die Nationen haben." Welch ein
beklagenswerter Niedergang! Israel ist bereit, sich auf
einen und denselben Boden mit den Völkern um sie her
zu stelle», uud zwar nur deshalb, weil Samuel alt geworden
war und seine Söhne der Habsucht fröhnten. Der Herr
wird ganz und gar ausgeschlossen. Hätten sie zu Ihm aufgeblickt,
so würden sie keinen Anlaß gehabt haben, sich
unter den Schutz eines armen Sterblichen zu stellen. Aber
17k
ach! an des Herrn Fähigkeit und Bereitwilligkeit, sie zu
leiten und zu bewahren, dachten sie nicht. Sie vermögen
nicht über Samuel und seine Söhne hinauszublicken. War
bei diesen keine Hilse zu finden, so mußten sie ihren
erhabenen Platz verlassen und sich den Nationen gleichstellen.
Glaube und Abhängigkeit ansrecht zu erhalten, ist schwierig,
wenn die Zeiten günstig sind und die Umstände uns nicht
zu Gott treiben. Im 7. Kapitel hörten wir keinen Laut
von einem König; dort war Gott alles für Israel, aber
hier ist es nicht mehr so. Gott wird ausgeschlossen, und
das einzige Begehren ist auf einen König gerichtet. Die
traurigen Folgen davon werden wir bald sehen. Nicht
Samuel war verworfen, sondern Gott selbst.
Die Kapitel 11—13 schildern den Charakter Sauls
und berichten von seiner Salbung und dem Beginn seiner
Herrschaft. Saul war in ganz besonderem Sinne der
Mann nach dem Herzen des Menschen. Er besaß alles,
was das Fleisch wünschen konnte; er war „jung und schön,
und kein Mann von den Kindern Israel war schöner als
er; von seiner Schulter an aufwärts war er höher als
alles Volk". Welch einen Eindruck mußte seine Erscheinung
auf alle machen, die nur auf das Äußere blickten! Aber
ach! welch ein Herz lag unter diesem anziehenden Äußern!
Sauls ganzes Verhalten ist durch Selbstsucht, Unaufrichtigkeit
und Stolz gekennzeichnet, die sich unter dem Mantel
einer äußerlichen Demut verbargen. Wenn Saul sich versteckt,
so geschieht es nur, um die allgemeine Aufmerksamkeit
umsomehr auf sich zu lenken. Ja, bei jeder Gelegenheit
erkennen wir in ihm einen Mann von selbstsüchtiger, ungebrochener
Gesinnung. Wohl kam der Geist zeitweilig auf
ihn, weil er mit einem Amte unter dem Volke Gottes
177
betraut war; aber er suchte in allem sich selbst und benutzte
den Namen und die Dinge Gottes nur als die Unterlage,
aus welcher er seine eigne Ehre aufbauen konnte. Zwischen
Saul in seiner amtlichen Würde und Saul als Mensch
besteht ein großer Unterschied. Wohl mochte er zeitweilig
mit den Propheten weissagen, weil der Geist Gottes über
ihn geraten war; aber niemals hat er die wiedergebährende
Kraft des Heiligen Geistes an sich erfahren. Er war ein
eigenwilliger, ungläubiger und unaufrichtiger Mann. Die
Scene in Gilgal ist durchaus charakteristisch für ihn. Unfähig,
auf Gott zu vertrauen und Seine Zeit abzuwarten, unternahm
er es selbst, das Brandopfer zu opfern, und mußte
infolge dessen von Samuels Lippen die ernsten Worte
vernehmen: „Du hast thöricht gehandelt, du hast nicht
beobachtet das Gebot Jehovas, deines Gottes, das Er dir
geboten hat; denn jetzt hätte Jehova dein Königtum über
Israel bestätigt auf ewig. Nun aber wird dein Königtum
nicht bestehen; Jehova hat sich einen Mann gesucht nach
Seinem Herzen, und Jehova hat ihn bestellt zum Fürsten
über Sein Volk; denn du hast nicht beobachtet, was Jehova
dir geboten hatte." (Kap. 13, 13. 14.)
Das war in der That die Summe der Sache, soweit
es Saul betraf: „Du hast thöricht gehandelt — du hast
nicht beobachtet das Gebot Jehovas, deines Gottes — dein
Königtum wird nicht bestehen". Welch ernste Wahrheiten!
Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen, wird
beiseite gesetzt, um für den Mann nach dem Herzen Gottes
Platz zu machen. Den Kindern Israel wurde Gelegenheit
genug geboten, um den Charakter des Mannes zu erproben,
welchen sie sich erwählt hatten, damit er vor ihnen herziehe
und ihre Kriege führe. Das Rohr, auf welches sie
178
sich so gern gestützt hätten, war bereits zerbrochen und
sollte bald ihre Hand durchbohren. Ach, was ist der König
des Menschen? Was kann er thun? Wird er auf die
Probe gestellt, so kennzeichnen Selbstvertrauen und Unaufrichtigkeit
all sein Thun. Von wahrer Würde, von einem
heiligen Vertrauen auf Gott oder einem Handeln nach den
Grundsätzen der Wahrheit ist keine Spur bei ihm zu entdecken.
Das Ich steht überall im Vordergründe, selbst bei
den feierlichsten Gelegenheiten und bei scheinbarer Thätigkeit
für Gott und Sein Volk.
Im 14. Kapitel wird uns der Gegensatz zwischen
menschlichen Auskunftsmitteln und dem einfältigen Vertrauen
auf Gott lebendig vor Augen geführt. Saul sitzt unter
einem Granatbaum, und sechshundert Mann sind bei ihm
— eine leere Entfaltung königlichen Glanzes ohne eine
Spur von wirklicher Kraft. Während er dort unthätig
sitzt, wird sein Sohn Jonathan, in dem Geiste eines ungekünstelten
Glaubens, in der Hand Gottes das glückliche
Werkzeug zur Befreiung Israels. Das Volk hatte im
Unglauben nach einem König verlangt, und hatte ohne
Zweifel gedacht, unter der Führung eines Mannes wie
Saul würde kein Feind vor ihm standhalten können. Aber
war es so? Eine einzige Zeile aus dem 13. Kapitel beantwortet
diese Frage. Sie lautet: „Und das ganze Volk
zitterte hinter ihm". Ach! ihr lange ersehnter König
war da und zog vor ihnen her, und doch zitterten sie.
Warum? Weil Gott nicht mit ihnen war. Wie ganz
anders war es einst gewesen, als Josua die Heerscharen
Jehovas gegen die mächtigen und zahlreichen Völker Kanaans
geführt hatte! Damals gab es Feinde ringsum, aber keiner
vermochte den Siegeslauf Israels einzuhalten. Heute war nur
179
e i n Volk vor ihnen, und doch erfüllten Angst und Schrecken
ihre Seelen. Einst hatte Mose Wunder gethan, mit einem
einfachen Stabe in seiner Hand; und jetzt, mit dem Manne
ihrer eignen Wahl vor ihren Augen, zitterten sie vor ihren
Feinden. So ist der Mensch. Wahrlich, „es ist besser
auf Jehova zu vertrauen, als zu vertrauen auf Fürsten."
Jonathan erprobte dies in gesegneter Weise. Er trat den
Philistern entgegen in der Kraft jenes Wortes: „Für
Jehova giebt es kein Hindernis, durch viele zu retten oder
durch wenige". Jehova füllte den ganzen Gesichtskreis
seiner Seele aus, und wenn man Ihn zur Seite hat, so
macht es nichts ans, ob „viele oder wenige" mit uns
sind. Der Glaube läßt sich durch Umstände und Schwierigkeiten
nicht beeinflussen.
Und beachten wir die Veränderung, welche in der
äußeren Lage Israels vor sich ging, sobald der Glaube
unter ihnen zu wirken begann. Das Zittern übertrug sich
von den Israeliten auf die Philister: „Und ein Schrecken
entstand im Lager, auf dem Felde und unter dem ganzen
Volke; die Aufstellung und der Berheerungszug, auch sie
erschraken; und das Land erbebte, und es ward zu einem
Schrecken Gottes." (B. 15.) Israels Stern war jetzt
entschieden im Steigen begriffen, und zwar einfach deshalb,
weil einer aus ihrer Mitte nach den Grundsätzen des
Glaubens handelte. Jonathan erwartete die Befreiung
nicht von seinem Vater Saul, sondern von Jehova; er
wußte, daß Jehova ein Kriegsmann war, und auf Ihn
stützte Er sich an dem Tage der Bedrängnis. Wie schön
ist eine solche Abhängigkeit und ein solches Vertrauen!
Nichts kommt ihnen gleich. Menschliche Einrichtungen und
Hilfsmittel verschwinden, menschliche Hilfsquellen trocknen
180
aus; aber „die auf Jehova vertrauen sind gleich dem
Berge Zion, der nicht wankt, der ewiglich bleibt". (Ps. 125,1.)
„Es ward zu einem Schrecken Gottes"; ja, Gott selbst
legte Seinen Schrecken in die Herzen der Feinde und gab
Israel Freude und Triumph. Jonathans Glaube wurde
von Gott auch darin anerkannt, daß diejenigen, welche mit
den Philistern gezogen oder aus Furcht vor ihnen von dem
Schlachtfelde in die Berge geflohen waren, nunmehr Mut
faßten und ebenfalls den Philistern nachsetzten im Streit. So
ist es immer. Wir können nicht in der Kraft des Glaubens
wandeln, ohne Andern ein Antrieb und eine Ermunterung
zu sein; und andrerseits ist oft ein furchtsames Herz
genügend, um viele schlaff und ängstlich zu machen.
Überdies treibt der Unglaube uns stets von dem Schau
platz des Dienstes oder des Kampfes weg, während der
Glaube uns gerade hinführt.
Doch wie stand es um Saul bei dieser Gelegenheit?
Handelte er in Gemeinschaft mit dem Manne des Glaubens?
Ach nein; er war völlig unfähig dazu. Er saß unter
dem Granatbaum, aber er vermochte den Herzen der
Männer, die ihn zu ihrem Anführer erwählt hatten, keinen
Mut einzuflößen; und wenn er es endlich wagte handelnd
aufzutreten, so konnte er nur durch seine Übereilung und
Thorheit den kostbaren Resultaten des Glaubens hinder
lich sein.
In Kapitel 15 finden wir die letzte Probe, auf welche
der König nach dem Herzen des Menschen gestellt wurde,
und dann seine völlige Beiseitesetzung. „Ziehe hin
und schlage Ama lek!" Das war die Probe, welche
den Zustand des Herzens Sauls völlig offenbar machte.
Wäre er in einer richtigen Stellung vor Gott gewesen, so
181
Würde er sein Schwert nicht eher in die Scheide gesteckt
haben, bis die Amalekiter völlig ausgerottet waren. Aber
der Ausgang des Kampfes bewies, daß Saul viel zn viel
mit Amalek gemein hatte, um den göttlichen Willen voll
und ganz aussiihren zu können. Was hatte Amalek gethan?
„So spricht Jehova der Heerscharen: Ich habe angesehen,
was Amalek Israel gethan, wie er sich ihm in den Weg
gestellt hat, als es aus Ägypten heraufzog." (V. 2.)
Amalek hatte einst das erste große Hindernis gebildet auf
der Reise des erlösten Volkes aus Ägypten nach Kanaan;
und wir wissen, was heute einen ähnlichen Platz ausfüllt
im Blick auf diejenigen, welche aufrichtig dem Herrn nachzufolgen
begehren.
Wie hätte nun Saul, der sich eben als ein Hindernis
in dem Wege des Mannes des Glaubens erwiesen hatte,
ja, dessen ganzes Verhalten mit den göttlichen Grundsätzen
im Widerspruch stand, — wie hätte er Amalek vernichten
können? Unmöglich. „Und Saul und das Volk verschonten
Agag und das Beste vom Klein- und Rindvieh." (V- d.)
Recht so. Saul und Agag paßten zu gut zu einander,
als daß Saul Kraft gehabt hätte, das Strafgericht Gottes
an diesem unversöhnlichen Feinde seines Volkes zu vollstrecken.
Und beachten wir hier die Unaufrichtigkeit und
Selbstgefälligkeit dieses unglücklichen Mannes : „Und Samuel
kam zu Saul; und Saul sprach zu ihm: Gesegnet seiest
du von Jehova! Ich habe das Wort Jehovas
erfüllt." (V. 13.) Das Wort Jehovas erfüllt? Und
doch lebte Agag, der König der Amalekiter, noch, und mit
ihm das Beste vom Vieh! Ach, zu welch eitler Selbsttäuschung
kann es bei einem Menschen kommen, der nicht
aufrichtig vor Gott wandelt! „Und Samuel sprach: Was
182
ist denn das für ein Blöken von Kleinvieh in meinen
Ohren?" Ernste, erforschende Frage! Vergebens sucht
Saul Schutz hinter dem so annehmbar klingenden Vorwand,
das Volk habe das Vorzüglichste vom Klein- und Rindvieh
verschont, „um es Jehova zu opfern". Als wenn
der Herr ein Opfer annehmen könnte von solchen, die in
unmittelbarer Auflehnung gegen Sein Gebot wandeln!
Aber wie viele haben seit den Tagen Sauls den Versuch
gemacht, einen ungehorsamen Geist mit dem schönen Mantel
eines „Opfers für Jehova" zu bedecken! Die Antwort
Samuels läßt die ganze Armseligkeit einer solchen Ausflucht
ans Licht treten: „Und Samuel sprach zu Saul: Hat
Jehova Lust an Brandopfern und Schlachtopfern, wie daran,
daß man der Stimme Jehovas gehorcht? Siehe, Gehorchen
ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das Fett der
Widder. Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit,
und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst."
(B. 22. 23.) Es macht nichts aus, wie kostbar
das Opfer ist; eine einzige Handlung des Gehorsams
gegenüber der Stimme des Herrn ist unendlich kostbarer
für Ihn als das reichste Opfer. Der Herr sucht nicht Opfer,
sondern Gehorsam; ein unterwürfiges Herz und ein williger
Geist verherrlichen Ihn mehr, als das Vieh von tausend Bergen.
Wie nötig ist es, uns diesen ernsten Grundsatz immer
wieder ins Gedächtnis zu rufeu! „Gehorchen ist
besser als Opfer." Es ist weit besser, den eignen
Willen unter Gott zu beugen und einfältig Seinem Worte
zu folgen, als die kostbarsten Opfer auf Seinen Altar zu
legen. Wenn der Wille unterworfen ist, wird alles andere
von selbst an seinen richtigen Platz kommen; aber von
Opfern zu reden, während das Herz sich in Auflehnung
183
gegen Gott befindet, ist nichts als eitle Täuschung. Gott
schaut nicht auf die Größe des Opfers, sondern aus den
Geist, aus welchem es hervorgeht. Auch wird man immer
finden, daß alle, welche in dem Geiste Sauls davon reden,
Gott ein Opfer darzubringen, irgend einen eigennützigen
Zweck darunter verbergen: den einen oder andern Agag,
das Beste vom Rind- und Kleinvieh, irgend etwas Anziehendes
für das Fleisch, welches mehr Einfluß auf das
Herz hat als der Dienst oder die Anbetung des hochgelobten
Gottes.
Möchten doch alle, welche diese Zeilen lesen, darnach
trachten, den Segen eines Gott völlig unterworfenen
Willens kennen zu lernen! Denn nur so werden sie jene
selige Ruhe finden, welche der sanftmütige und von Herzen
demütige Jesus einst allen denen verhieß, die Sein Joch auf
sich nehmen und von Ihm lernen würden, — die Ruhe,
welche Er selbst darin fand, daß Er sagen konnte: „Ich
Preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde . . . .
denn also war es wohlgefällig vor dir."
(Matth. 11, 25. 26.) Der ruhelose, ehrgeizige Saul
kannte hiervon nichts. Sein Wille stand nicht im Einklang
mit Gottes Willen bezüglich Amaleks. Gott hatte ihm
geboten, Amalek und alles, was er hatte, zu verbannen
und seiner nichtzu schonen; aber sein Herz verlangte
darnach, das zu verschonen, was ihm gut und begehrenswert
erschien. Er war bereit, den Willen Gottes auszuführen
betreffs alles dessen, was „gering nnd schwächlich" war;
aber er meinte, einige Ausnahmen machen zu können, als
ob der Unterschied Zwischen dem „Schwächlichen" und dem
„Besten" seinem Urteil überlassen gewesen wäre, anstatt dem
Urteil Dessen, der Amalek von dem einzig richtigen Gesichts
184
punkt aus betrachtete, und der in Agags Schönheit nichts
anderes als Verächtliches und Verwerfliches erblickte.
Er sah in ihm einen Mann, der nach wie vor Israels
erbitterter Feind bleiben würde, ja dessen ganzes Haus
und Volk schon seit lange unter Seinem gerechten Strafurteil
stand. (Vergl. 2. Mose 17, 14.)
Der Schluß unsers Kapitels zeigt nur zu deutlich,
woraus Sauls Gedanken und Wünsche gerichtet waren.
Er erscheint hier in seinem wahren Lichte. Er hatte die
ernsten Worte Samuels gehört und die Anklagen Gottes
gegen sich vernommen, welche mit dem feierlichen Urteil
schlossen: „Weil du das Wort Jehovas verworfen hast,
so hat Er dich verworfen, daß du nicht König seiest . . .
Jehova hat heute das Königtum Israels von dir abgerissen
und es deinem Nächsten gegeben, der besser ist als du."
(B. 23. 28.) Diese niederschmetternden Worte hatten sein
Ohr erreicht: aber er war so voll von seinem eignen Ich,
so verblendet von eitler thörichter Ehrsucht, daß er in
diesem ernsten Augenblick fähig war zu sagen: „Nun ehre
mich doch vor den Ältesten meines Volkes und vor Israel,
nnd kehre mit mir nm!" Ja, das war Saul. „Das
Volk", hatte er gesagt, „hat von der Beute genommen,
Klein- und Rindvieh, das Vorzüglichste des Verbannten."
Das Volk trug Schuld an dem Geschehenen, nicht er, der
König und Anführer. Mochte er auch sagen: „Ich habe
gesündigt", so war das doch nur ein eitles, leeres Bekenntnis
und wohl nur darauf berechnet, Samuel zur Umkehr mit
ihm zu bewegen. „Ehre mich doch vor den Ältesten
meines Volkes und vor Israel!" Ach, welch eine Thorheit!
Ein Herz, beladen mit Ungerechtigkeit, verlangt nach Ehrung
vor den Augen seiner Mitmenschen. Von Gott verworfen
185
als der Träger der königlichen Würde, klammert er sich
an die Möglichkeit, vor den Menschen seine Ehre und sein
Ansehen noch ein wenig aufrecht erhalten zu können. Ihm
lag wenig daran, was Gott von ihm dachte, wenn er nur
in den Augen des Volkes seinen geehrten Platz behielt.
Aber er wurde von Gott verworfen, und das Königtum
wurde von ihm abgerissen; auch nutzte es nicht viel, daß
Samuel endlich feinem Drängen nachgab, mit ihm umkehrte
und dabeistand, als Saul vor Gott anbetete. Diese
Anbetung war nur die Erfüllung einer äußern Form, um
so den Einfluß unter dem Volke nicht zu verlieren.
„Und Samuel sprach: Bringet Agag, den König der
Amalekiter, zu mir her. Und Agag kam lustig zu ihm;
und Agag sprach: Fürwahr, die Bitterkeit des Todes ist
gewichen! Und Samuel sprach: Wie dein Schwert Weiber
kinderlos gemacht hat, so sei kinderlos unter Weibern
deine Mutter! Und Samuel hieb Agag in Stücke
vor Jehova zn Gilgal." (V. 32. 33.) Wie bemerkenswert
ist es, daß dies gerade in Gilgal geschah!
Gilgal war der Ort, wo die Schande Ägyptens von
Israel abgewälzt worden war, und wenn wir die
Geschichte des Volkes verfolgen, so finden wir in Verbindung
mit Gilgal immer eine besondere Kraft dem Bösen
gegenüber. Hier nun fand jener Amalekiter sein Ende
durch die Hand des gerechten Samuel. Das ist höchst
belehrend. Wenn die Seele in dem Bewußtsein steht,
völlig von Ägypten befreit zu sein infolge des Todes und
der Auferstehung, so ist sie in der passenden Lage, das
Böse besiegen zu können. Hätte Saul etwas von der
Bedeutung und den Grundsätzen Gilgals verstanden, so
würde er Agag nicht verschont haben. Aber er verstand
186
nichts davon. Er war völlig bereit, nach Gilgal zu gehen,
„nm das Königtum zu erneuern", aber keineswegs bereit, das
was von dem Fleische war Hinwegzuthun und zu vernichten.
Samuel aber handelte mit Agag in der Kraft des Geistes
Gottes, nach den Grundsätzen der Wahrheit und nach den
Gedanken Gottes. Denn es steht geschrieben: „Die Hand
ist am Throne Jahs: Krieg hat Jehova wider Amalek
von Geschlecht zu Geschlecht". (2. Mose 17, 16; vergl.
5. Mose 25, 17—19.) Der König von Israel
hätte das wissen sollen; aber sein Herz war gefühllos
und sein Auge verfinstert. Armer, beklagenswerter Mann!
Gedanken über Apostelgeschichte 12.
i.
Die Ursache des Falles des ersten Menschen war
Hochmut; er wollte sein wie Gott. Der ^natürliche Mensch
offenbart stets diesen Charakter; sein ganzes Streben ist
darauf gerichtet, sich in der Welt Geltung zu verschaffen
und sich einen Namen zu machen. Er trachtet nach Reichtum,
nach Wissen, nach eigner Gerechtigkeit, und immer
liegt diesem Trachten das Gelüste zu Grunde, Ehre und
Ansehen zn genießen. Der Mensch will vor dem Menschen
etwas sein. Obwohl Gott ihm hinreichend bezeugt hat,
daß er ein armer, verlorener Sünder ist, und daß gar
kein Ruhm für ihn übrigbleibt, so sucht er doch entweder
sein wahres Wesen unter einem äußeren schönen Schein
zu verbergen, oder er sucht seine Ehre in der Schande.
Der natürliche Mensch denkt nie an den Ruhm und die
Verherrlichung Gottes, sondern nur an seinen eignen
187
Ruhm und an seine Verherrlichung vor den Menschen.
Ja, er haßt Gott und alle, die Ihn ehren und Ihm zu
dienen begehren.
In dem 12. Kapitel der Apostelgeschichte finden wir
einen Mann, in welchem uns der oben beschriebene Charakter
des natürlichen Menschen in auffallender Weise entgegentritt.
Es ist Herodes, der König der Juden. Von ihm
lesen wir in Vers 1—3: „Um jene Zeit aber legte
Herodes, der König, die Hände an etliche von der Versammlung,
sie zu mißhandeln; er tötete aber Jakobus,
den Bruder des Johannes, mit dem Schwerte. Und als
er sah, daß es den Juden gefiel, fuhr er fort, auch Petrus
festzunehmen."
Herodes war ein Feind Gottes und Seines Volkes.
Er fand seine Freude daran, die Auserwählten und Geliebten
Gottes zu mißhandeln und zu töten. Er begann
Krieg zu führen wider Gott, und das Wohlgefallen der
Juden trieb ihn an, auf dem eingefchlagenen Wege voranzugehen.
Das Wohlgefallen Gottes galt ihm nichts.
Dem vergänglichen Ruhm bei den Menschen, die doch
weniger sind als nichts und die dem Fluch und dem Gericht
verfallen sind, brachte er gern alles zum Opfer.
Er haßte Christum, und Er tötete Seine Diener, weil
Er sah, daß es den Juden wohlgefiel, so daß er hoffen
konnte, auf diesem Wege seine Macht und Herrschaft zu
befestigen.
Doch der Mensch ist nicht nur eigenwillig und ruhmsüchtig,
er möchte sogar sein wie Gott. Das war das
begehrliche Ziel, welches Satan einst dem Menschen im
Paradiese mit den Worten vorhielt: „Mit Nichten werdet
ihr sterben, sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr
188
davon esset, so werden eure Augen aufgethan, und ihr
werdet sein wie Gott." (1. Mose 3, 4. 5.) Dasselbe
Ziel suchte Herodes zu erreichen. „An einem festgesetzten
Tage aber hielt Herodes, nachdem er königliche Kleider
angelegt und sich auf den Thron gesetzt hatte, eine öffentliche
Rede an sie. Das Volk aber rief ihm zu: „Eines
Gottes Stimme, und nicht eines Menschen!" (B. 21.22.)
So raubte Herodes Gott, was Ihm gehörte. Er stellte
sich neben Gott und ließ sich göttliche Ehre erweisen.
Das Volk, dem Gottes Ehre nichts galt, zollte sie ihm;
das was allein Gott gebührte, brachten sie einem sterblichen
Menschen dar.
Doch, wie einst im Paradiese, so traf auch hier ein
unmittelbares Gericht die Vermessenheit des Menschen:
„Alsbald aber schlug ihn ein Engel des Herrn, darum
daß er nicht Gott die Ehre gab; und von Würmern gefressen,
verschied er." (V. 23.) Der Sünder nimmt ein
Ende mit Schrecken. Er will in seinem Hochmut sein wie
Gott und sich neben Ihn setzen; aber sobald Gott nur
ein wenig Seine Macht offenbart, stürzt der Mensch in
die tiefsten Tiefen. Der Gottlose und Hochmütige kann
nicht vor Gott bestehen; das Gericht rafft ihn hinweg.
Herodes ist ein treffendes Vorbild von dem Menschen
der Sünde, dem Antichristen. Bon diesem heißt es in
2. Thess. 2, 4: „Welcher widersteht und sich selbst
erhöht über alles, was Gott heißt oder ein
Gegenstand der Verehrung ist, so daß er
sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst
dar stellt, daß er Gott sei". Er „wird nach
seinem Gutdünken handeln, nnd er wird sich erheben
und groß machen über jeden Gott, und
189
wider den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden".
(Dan. 11, 36.) Seine Sprache ist: „Zum Himmel will
ich hinaufsteigen, hoch über die Sterne Gottes meinen
Thron erheben . . . Ich will hinauffahren auf Wolkenhöhen,
mich gleich machen dem Höchsten." (Jes. 14, 13. 14.)
In dem Antichristen werden der Hochmut Adams
und die Selbstverherrlichung des Menschen ihren Gipfelpunkt
erreichen. Eigenwille und Hochmut, Vermessenheit
gegen Gott und Selbstvergötterung inmitten eines abtrünnigen
Volkes werden ihn kennzeichnen. Er trägt
darum auch den Namen Antichrist oder Widerchrist, weil er
in allem das schroffste Gegenbild von Christo ist. In
Christo erblicken wir eine vollkommene Selbstverleugnung
nnd Unterwerfung unter den Willen Seines Vaters. Obgleich
Er in Gestalt Gottes, ja Gott selbst war, machte
Er sich selbst zu nichts, nahm Knechtsgestalt an und ward
gehorsam bis zum Tode am Kreuze. (Phil. 2.) Er suchte
nie Seine eigne Ehre, sondern nur die Verherrlichung
Gottes. Darum hat Gott Ihn auch hoch erhoben und
Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist.
Bor Ihm, dem demütigen Menschensohne, wird sich bald
jedes Knie beugen, und jede Zunge wird bekennen müssen,
daß Er Herr ist.
So wie Herodes in seinem Übermut ein plötzliches
Ende nahm, so wird auch der Antichrist dereinst unversehens
zu seinem Ende kommen und keinen Helfer haben.
Der Herr Jesus „wird ihn verzehren durch den Hauch
Seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung
Seiner Ankunft". (2 Thess. 2, 8.) „Gott widersteht den
Hochmütigen, den Demütigen aber giebt Er Gnade."
(1. Petr. 5, 5.) Er wird den Abfall und den Hochmut
190
des Menschen richten; denn „Jehova der Heerscharen hat
einen Tag über alles Hoffärtige und Hohe und über alles
Erhabene, und es wird erniedrigt werden . . . Und der
Hochmut des Menschen wird gebeugt und die Hoffart des
Mannes erniedrigt werden; und Jehova wird hoch erhaben
sein, Er allein, an jenem Tage." (Jes. 2, 12. 17.)
Der Gedanke hieran sollte in uns eine heilige Furcht
erwecken, in keinerlei Weise eitler Ehre geizig zu sein oder
nach Menschengnnst zn trachten. Wie nahe liegt uns diese
Gefahr! Möchten wir vielmehr in allen Dingen die Ehre
nnd Verherrlichung Gottes suchen; denn Ihm allein gebührt
Ruhm und Ehre und Herrlichkeit bis in alle Ewigkeit!
Vergessen wir auch nicht, daß wir nicht uns selbst, sondern
Dem angehören, der uns um einen so teuren Preis erkauft
hat. Christus hat sich hingegeben für Seine Versammlung,
welche Sein Leib ist; Er hat sie erlöst und
versöhnt. Sie ist Seine Braut, die Er sich erworben hat
durch Sein eigenes Blut und die deshalb Ihm allein
gehört. Ihre Neigungen und Wünsche dürfen nur auf
Ihn gerichtet sein; ihr ganzes Leben darf nur Ihm gehören,
in welchem Gott sich uns völlig geoffenbart hat.
Sein Gott und Vater ist unser Gott und Vater geworden.
Das stete Bewußtsein dieser innigen Beziehungen zu Gott
als Kinder und Erben, die um Christi willen mit einer
vollkommenen Liebe geliebt sind, wird in unsern Herzen
die geziemenden Gefühle und Wünsche wachrufen. Das
Kind gehört ganz dem Vater an nnd sollte seinem Willen
allein unterworfen sein.
2.
In unserm Kapitel giebt es indes noch eine andere
Person, die unsre Aufmersamkeit in hervorragender Weise
191
in Anspruch nimmt und im schroffsten Gegensatz steht zu
der Person des Herodes. Es ist der Apostel Petrus.
In ihm erblicken wir eine völlige Hingabe an Gott. Er
hatte nicht das Wohlgefallen und die Gunst der Menge
gesucht; nein, er hatte Christum bekannt, und wer das
thut, findet in der Welt keine Anerkennung. Seine Ketten
zeugten von seiner Treue für feinen Herrn. Der Christ
darf niemals auf Anerkennung in dieser Welt rechnen.
Thut er es, so wird er bald mutlos werden oder sich der
Welt anbequemen.
Petrus war wohl verwahrt, wenigstens nach menschlichem
Urteil. Herodes „setzte ihn ins Gefängnis und
überlieferte ihn an vier Abteilungen von je vier Kriegsknechten
zur Bewachung, indem er willens war, ihn nach
dem Passah dem Volke vorzuführen." (V. 4.) In der
Nacht vor dem zur Hinrichtung bestimmten Tage nun
„schlief Petrus zwischen zwei Kriegsknechten, gebunden
mit zwei Ketten, und Wächter vor der Thür verwahrten
das Gefängnis". Es könnte uns Wohl wundern, Petrus
in einer solchen Lage so ruhig schlafend zu finden. Ein
schrecklicher Tod stand vor ihm; denn sein Richter war ein
bittrer Feind Gottes, ein grausamer, gewissenloser Tyrann.
Alle Hoffnung auf Entrinnen war ausgeschlossen. Dennoch
schlief Petrus. Es war der Schlaf eines Christen, der
ein ruhiges Gewissen hat und nicht an sich selbst, sondern
nur an die Verherrlichung Gottes denkt; der Schlaf eines
Kindes Gottes, welches sich überall in den guten Händen
Seines himmlischen Vaters weiß; der Schlaf eines Dieners
Christi, der sich willenlos seinem treuen Herrn übergeben hat
und sich freut, um Seines Namens willen leiden zu dürfen.
In Petrus finden wir den Glauben wirksam, der sich
192
nicht durch das Sichtbare leiten läßt, sondern in jeder
Lage auf Gott vertraut. Wir sehen sein Herz mit Liebe
erfüllt, die bereit ist, sich zur Verherrlichung Gottes selbst
zum Opfer zu bringen; und es offenbart sich eine lebendige
Hoffnung, die da weiß, daß Sterben Gewinn ist, die
auf Erden nichts sucht, sondern eine unvergängliche Herrlichkeit
bei Christo im Himmel erwartet. Wir werden
immer finden, daß, wenn in dem Christen diese drei
Stücke: Glaube, Liebe und Hoffnung, wirksam sind, sein
Herz auch in der schwierigsten Lage ruhig und getrost bleibt.
Andrerseits tritt uns die Treue Gottes hier in lieblicher
Weise entgegen. Er weiß in den trostlosesten Umständen
die Seinigen mit Mut und Zuversicht zu erfüllen.
Ist unser Glaubensauge ans Ihn gerichtet, so werden wir
selbst da ganz ruhig bleiben, wo Andere mit Furcht und
Schrecken erfüllt sind. Das Härteste, das einem Menschen
in dieser Welt begegnen kann, nämlich als ein Missethäter
zu sterben, sollte das Los Petri sein. Der Haß des
Herodes, die Erwartung des blutdürstigen, jüdischen Volkes,
die strenge Überwachung im Gefängnis — alles war da
zu angethan, den letzten Hoffnungsschimmer auf Befreiung
zu zerstören und das Herz niederzudrücken. Allein Petrus
ruhte selbst inmitten des Kerkers, angesichts des Todes,
füll und friedlich in seinem Gott. So läßt uns der
Glaube überall sicher ruhen und Gott preisen. Paulus
und Silas sangen nicht lange nachher im Gefängnis zu
Philippi um Mitternacht Loblieder zur Ehre ihres Herrn,
und zwar mit solcher Kraft und Freudigkeit, daß die übrigen
Gefangenen davon erwachten.
Und wie herrlich entfaltet sich jetzt die Macht Gottes
zur Errettung Seines Knechtes! Ein Engel des Herrn
193
erscheint; ihn hindern weder Thüren noch Riegel, weder
Wachen noch Kriegsknechte. Er weckt Petrus auf und
gebietet ihm, sich anzukleiden und ihm zu folgen. Die
Ketten fallen zu Boden, die Thüren öffnen sich, die Wachen
sind mit Blindheit geschlagen, und Petrus geht ungehindert
durch ihre Mitte hindurch. „Und sie traten hinaus und
gingen eine Straße entlang, und alsbald schied der Engel
von ihm. Und als Petrus zu sich selbst kam, sprach er:
Nun weiß ich in Wahrheit, daß der Herr Seinen Engel
gesandt und mich gerettet hat aus der Hand des Herodes
und aller Erwartung des Volkes der Juden." (V. 7 — 11.)
Der Eindruck, welchen diese Offenbarung der Macht
Gottes auf Petrus machte, war ein gewaltiger. Anfänglich
meinte er ein Gesicht zu sehen, aber bald überzeugte er
sich von seiner wirklichen Errettung. Ja, unser Gott ist
ein wunderbarer Gott. „Weg' hat Er allerwegen, an
Mitteln fehlt's Ihm nicht." Wie sollte dieses Bewußtsein
unsre Herzen erheben und im Vertrauen befestigen! Gott
ist den Seinigen stets nahe. Seine Treue ist unwandelbar,
und Er weiß sich an denen zu verherrlichen, welche die
Ehre Seines Namens suchen. Möchte uns das ermuntern,
uns allezeit Seinem Willen und Seiner Führung vertrauensvoll
zu überlassen! Er hält immer bei uns aus;
und wo Er ist, da giebt es keinen Mangel. Seine Treue,
Gnade und Macht übersteigen alles. Darum ist Er auch für
eine Seele, die auf Ihn harrt, in allen Lagen genug.
Sie bedarf nichts anderes als Seinen starken Arm und
Sein liebendes Herz.
Doch noch eins. Während Petrus im Gefängnis
für einen baldigen Tod aufbewahrt wird, sehen wir die
Versammlung zu Jerusalem im Gebet für ihn thätig.
194
„Von der Versammlung geschah aber ein anhaltendes
Gebet für ihn zu Gott." (V. 5.) „Wenn ein Glied leidet,
so leiden alle Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht
wird, so freuen sich alle Glieder mit." (1. Kor. 12, 26.)
Das wird sich stets bewahrheiten, wenn die Glieder des
Leibes Christi sich ihrer Gemeinschaft und Einheit lebendig
bewußt sind. Dieses Bewußtsein erweckt herzliche Liebe
und aufrichtige Teilnahme. Im Hause der Maria waren
viele im Gebet vereinigt. Ihr Vertrauen war, wie bei
Petrus, allein auf Gott gerichtet. Mochten sie auch jede
Hoffnung auf Wiedervereinigung mit ihrem geliebten Apostel
aufgegeben haben, so verharrten sie doch im gemeinsamen
Gebet für ihn. Und über alles Erwarten wurde ihr
Flehen erhört. Petrus selbst bringt ihnen die frohe
Botschaft von feiner Errettung, und sie sind nicht weniger
überrascht, wie er selbst es gewesen war. „Als er aber
an der Thür des Thores klopfte, kam eine Magd, mit
Namen Rhode, herbei, um zu horchen. Und als sie die
Stimme des Petrus erkannte, öffnete sie vor Freude das
Thor nicht; sie lief aber hinein und verkündete, Petrus
stehe vor dem Thore. Sie aber sprachen zu ihr: Du
bist von Sinnen. Sie aber beteuerte, daß es also sei.
Sie aber sprachen: Es ist sein Engel. Petrus aber blieb
am Klopsen. Als sie aber aufgethan hatten, sahen sie ihn
und waren außer sich." (B. 13—16.)
So weiß der Herr unsere Gebete zu erhören, unser
Vertrauen überströmend zu belohnen und die Gerechten
aus der Versuchung zu erretten. Wer auf Ihn harrt,
wird nimmermehr beschämt werden. Aber dieses Ausharren,
dieses Warten auf Ihn, wird uns oft schwer.
Ohne Glauben ist es ganz und gar unmöglich. Darum
195
ermuntert der Apostel die gläubigen Hebräer mit den
Worten: „Werfet nun eure Zuversicht nicht weg, die
eine große Belohnung hat. Denn ihr bedürfet
des Ausharrens, auf daß ihr, nachdem ihr den Willen
Gottes gethan habt, die Verheißung davontraget."
(Kap. 10, 35. 36.) So laßt denn auch uns die Zuversicht
nicht wegwerfen, sondern mit Ausharren laufen den
vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesum, den
Anfänger und Vollender des Glaubens! Das Ende wird
herrlich sein. So schrecklich der Ausgang des Herodes
war, der auf sich selbst vertrante und Ehre bei Menschen
suchte, so herrlich war der Ausgang Petri, der sich selbst
vergaß und nur an die Verherrlichung Gottes dachte.
Wir haben oben gesagt, daß wir in dem gottlosen
König Herodes ein Vorbild des Antichristen erkennen
könnten. Nun, in den Drangsalen des Petrus und der
betenden Versammlung, sowie in der wunderbaren Errettung
des Apostels sehen wir ein Bild von den Leiden des
gläubigen Überrestes von Israel in den letzten Tagen und
von seiner Errettung durch die Erscheinung Christi. Wie
unter Herodes, so werden auch unter dem Antichristen die
Gläubigen mißhandelt und verfolgt werden, und viele
werden nm ihres Zeugnisses willen den Märtyrertod erleiden.
Aber wenn die Not ihren Gipfelpunkt erreicht
hat und nirgendwo ein Ausweg mehr zn sehen ist, dann
wird Plötzlich der Erlöser ans Zion erscheinen. Die
Füße des Herrn werden wieder auf dem Ölberge stehen,
und angesichts ihres verherrlichten Messias wird der Über
rest ausrufen: „Gesegnet, der da kommt im Namen des
Herrn!" Und dann wird auch der 126. Psalm seine
völlige Erfüllung finden. Israel wird singen und sagen:
196
„Als Jehova die Gefangenen Zions zurückführte, waren
wir wie Träumende. Da ward unser Mund voll Lachens
nnd unsre Zunge voll Jubels; da sagte man unter den
Nationen: Jehova hat Großes an ihnen gethan. —
Jehova hat Großes an uns gethan: wir waren fröhlich!
Führe unsre Gefangenen zurück, Jehova, gleich Bächen
im Mittagslande! Die mit Thränen säen, werden mit
Jubel ernten."
Der Herr aber befestige unsre Herzen in der Wahrheit
und schenke uns Gnade, den herrlichen Ausgang der
Gerechten anzuschauen und ihren Glauben nachznahmen!
„Mein Angesicht wird mrtgehen, und
ich werde dir Ruhe geben."
(2. Mose 83, 14.)
Sorge nicht, banges Herz,
Gieb dich in Ruh'!
Mach' dir nicht tanger Schmerz,
Sieh stille zu,
Wie dich dein Bater führt,
Alles so treu regiert,
Bringt dich durch diese Welt,
Wie's Ihm gefällt.
Decket auch Finsternis
Ringsum Len Pfad,
Bringt dich hindurch gewiß
Doch Seine Gnad'.
Sein Herz schlägt treu und warm,
Sein starker Wunderarm
Führt dich aus böser Zeit
Zur Herrlichkeit.
Gieb nicht den Zweifeln Raum,
Traue Ihm nur;
Hältst sonst im Auge kaum
Himmlische Spur.
Siehe, Sein Angesicht
Strahlet so mild und licht,
Leuchtet dir heimatwärts;
Freu' dich, mein Herz!
Blicke nur stets aufs Ziel,
Nicht um dich her;
Weile im Himmel viel,
Unten nicht mehr!
Naht dann auch Schmerz und Pein,
Kannst dennoch glücklich sein;
Rühmst deines Vaters Treu'
Tagtäglich neu.
Gesichtet wie Weizen.
(Gedanken über Lukas 22, 14—34.)
Wie gut ist es, daß wir zu allen Zeiten auf den
Herrn blicken können; denn wenn unser Auge stets auf
uns selbst gerichtet sein müßte, so würden wir nicht nur
keine Fortschritte machen, sondern auch durch den Gedanken
an das Böse in uns völlig entmutigt werden. Wir würden
uns immerfort mit diesem Bösen beschäftigen und uns so
der Kraft berauben, es überwinden zu können.
Die Natur des Fleisches und die Blindheit des
menschlichen Herzens sind erstaunlich. Welch thörichte
Dinge treten oft zwischen Gott und uns, um vor unsern
Blicken das zu verbergen, was wir sehen sollten! Wie
folgen die Gedanken des natürlichen Herzens so leicht ihrem
natürlichen Lauf sselbst wenn der Herr uns nahe ist) und
machen uns gefühllos für die eindrucksvollsten Dinge um
uns her! Wir finden ein schlagendes Beispiel dafür in
dem oben angegebenen Schriftabschnitt. Der Herr war
im Begriff, jenes Werk zu vollbringen, welches mit keinem
andern verglichen werden kann. Er stand auf dem Punkte,
den Zorn Gottes für uns arme Sünder zu tragen. Er
befand sich in Umständen, welche das Herz Seiner Jünger
hätten tief bewegen sollen. Er hatte gerade in den
rührendsten Ausdrücken von dem Passahmahle gesprochen,
welches Er noch einmal mit ihnen essen wollte, ehe Er
XUIV 8
198
litt. Auch hatte Er ihnen gesagt, daß einer von ihnen
Ihn verraten würde. Alles das hätte sie niederbeugen
und ihre Herzen mit ernsten Gefühlen erfüllen sollen.
Aber wie stand es mit ihnen? Sie stritten mit einander,
wer Wohl von ihnen der Größte sei!
Für uns ist jetzt der Vorhang weggezogen, und wir
können kaum verstehen, wie die Jünger in jenem Augenblick
mit solchen Dingen beschäftigt sein konnten; aber vergessen
wir nicht, daß w i r wissen, was bald nachher sich ereignen
sollte. Und wenn wir an uns selbst denken, wie viele
Dinge vermögen selbst uns, die wir mehr Licht haben als
die Jünger damals, von den Gedanken abzulenken, welche
in jener Stunde das Herz Jesu erfüllten! Ach! so ist
das Herz des Menschen angesichts der ernstesten und
feierlichsten Dinge. Fragen wir uns: Welchen Einfluß
übt der Tod Christi auf unsre Herzen aus? Ist er kostbar
für uns? Wenn wir zu zweien oder dreien in dem
Namen Jesu versammelt sind, so ist der Herr bei uns;
und doch, welche Gedanken durchkreuzen dann oft unsern
Geist und beschäftigen unsre Herzen! Wir sehen hier das
selbe bei den Jüngern, und zwar unter Umständen, die,
wie gesagt, in besonderer Weise geeignet waren, ihre
Herzen zu rühren. Jesus sagt ihnen, daß Sein Blut
für sie vergossen werden würde. „Siehe, die
Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir über Tische
. . . wehe aber jenem Menschen, durch welchen Er überliefert
wird!" (V. 21. 22.) Daraufhin fangen die Jünger
an, sich unter einander zu befragen, wer es Wohl von
ihnen sein möchte, der dies thun würde; und man
sollte meinen, sie hätten an nichts anderes mehr denken
können, als an den bevorstehenden Tod ihres gnaden-
199
-reichen Herrn. Aber nein! „Es entstand ein Streit
unter ihnen, wer von ihnen für den Größten
zu halten sei." Welch ein Gegensatz! Aber wir
brauchen uns nicht so sehr darüber zu verwundern; denn
wenn wir unsre eignen Herzen erforschen, so werden wir
sehr oft diese beiden Dinge neben einander finden, nämlich
wirkliche Gefühle, die von unsrer Liebe zu Jesu Zeugnis
geben, und zugleich (vielleicht in derselben halben Stunde)
Gedanken, die gerade so unwürdig sind wie jener Streit
unter den Jüngern. Das zeigt uns die Eitelkeit und
Thorheit des Herzens des Menschen; wahrlich, er ist
gleich dem feinen Staube auf der Wagschale.
Der Herr, stets voll Güte und Sanftmut, vergißt
sich selbst in Seiner Sorge für Seine Jünger und sagt
zu ihnen: „Der Größte unter euch sei wie der Jüngste,
und der Leiter wie der Dienende". Er weiß sie durch
Sein eignes Beispiel darüber zu belehren, was die Liebe
Gottes ist; und zugleich zeigt Er ihnen die Gnade, welche
in Ihm ist, und alle die Treue, die sie Ihm allein zu
verdanken hatten. Er sagt gleichsam zu ihnen: Ihr
habt nicht nötig, euch selbst zu erheben;
mein Vater wird euch erheben. „Ihr seid es,
die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen;
und ich verordne euch, gleichwie mir mein Vater verordnet
hat, ein Reich, auf daß ihr esset und trinket an meinem
Tische in meinem Reiche und auf Thronen sitzet, richtend
die zwölf Stämme Israels." (V. 28—30.)
Anstatt durch das verabscheuungswürdige Verhalten
Seiner Jünger erregt zu sein, zeigt Er ihnen, daß, wenn
auch in den Menschen keine Gnade zu finden war, es
doch Gnade in einem Menschen gab, in Ihm selbst.
200
Diese Gnade in Ihm ist vollkommen, und Er versetzt
Seine Jünger in dieselbe, so häßlich auch ihr Verhalten
gegen Ihn gewesen sein mochte. Er befestigt sie in dem
Grundsatz der Gnade, gegenüber der Thorheit des Fleisches,
welche sich eben bei ihnen geoffenbart hatte. Er sagt
gleichsam: Möget ihr sein, wie ihr wollt, ich bin nichts als
Gnade gegen euch, und ich vertraue euch das Reich an.
Wir sind, Gott sei dafür gepriesen! unter Gnade
gestellt, und diese Gnade redet. Sie versichert uns, daß
wir, trotz aller unsrer Schwachheit, mit Jesu ausgeharrt
haben, und daß Er uns das Reich geben will, gleichwie
der Vater es Ihm gegeben hat. Nichtsdestoweniger muß
die Seele, um diese kostbaren Dinge genießen zu können,
geübt werden. Das Fleisch muß uns geoffenbart werden,
und dies läßt uns die Notwendigkeit aller jener Prüfungen
erkennen, durch welche wir gehen. Aber Jesus befähigt
uns, auszuharren, weil wir Ihm angehören. Wenn Er
Seinen Jüngern einerseits sagt: „Ich verordne euch ein
Reich, und ihr sollt auf Thronen sitzen rc.", sorgt Er
andrerseits dafür, daß sie erfahren, was das Fleisch ist.
„Simon, Simon!" sagt der Herr, „siehe, der Satan
hat euer begehrt, euch zu sichten wie den Weizen. Ich
aber habe für dich gebetet, auf daß dein Glaube nicht
aufhöre." (V. 31. 32.) Er sagt nicht: „Du sollst nicht
versucht werden; ich werde Satan verhindern, dich zu
sichten". Nein; auch verhindert Er die Sichtung nicht.
So läßt Gott oft Seine Kinder in der Gegenwart des
Feindes; aber indem Er das thut, wacht Er über sie.
In Offbg. 2, 10 lesen wir: „Siehe, der Teufel wird etliche
von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr geprüft
werdet . . . Sei getreu bis zum Tode, und ich werde dir
201
die Krone des Lebens geben." Gott erlaubt dem Feinde
zuweilen, bis zum Äußersten zu gehen, zur Prüfung des
Glaubens der Seinigen; aber Er verläßt sie niemals, und
das Ende der Prüfung ist immer Segen.
Petrus hätte zum Herrn sagen können: „Du kannst
es verhindern, daß ich also gesichtet werde". So meinten
auch Martha und Maria, Jesus hätte den Tod ihres
Bruders verhindern können; und wahrlich, Er, der die
Krone des Lebens zu geben vermag, kann uns auch behüten,
daß Satan uns nicht antasten darf. Aber Er
thut es nicht, auf daß wir geprüft werden. Satan begehrte
einst Hiob zu sichten wie den Weizen, und Gott erlaubte
es ihm. Ähnliches widerfährt auch uns. Wie oft sagen
wir zu uns selbst: „Warum handelt Gott so mit mir?
Warum hat Er mich in diesen oder jenen Schmelztiegel
geworfen?" Nun, Satan hat es begehrt, und Gott hat
es erlaubt. Es geschehen oft Dinge, die wir nicht verstehen
können; und wozu sollen sie dienen? Sie sollen
uns zeigen, was das Fleisch ist.
Wenn Gott einen Gläubigen in Seinem Werke gebrauchen
will, so nimmt Er gerade den, der am weitesten
auf dem Pfade der Prüfung vorgeschritten ist. So wird
auch hier die Gefahr zwar allen Jüngern vorgestellt, aber
dann sagt der Herr zu Petrus: „Ich habe für dich gebetet",
für dich insonderheit. Jesus unterscheidet ihn von
allen übrigen Jüngern, weil er eine hervorragendere Stellung
eingenommen hatte als die andern und deshalb der Gefahr
mehr ausgesetzt war, obgleich alle bei dem Tode Jesu
gesichtet wurden. Weiter sagt der Herr zu Petrus: „Und
du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder".
Keinem Seiner Jünger sollte die Sichtung erspart bleiben;
202
aber Petrus sollte 'am ernstesten gesichtet werden, und des
halb war er nachher auch am besten geeignet, seine Brüder
zu stärken. Trotz allem diesem war Petrus voll Selbstvertrauen
und erkühnte sich zu sagen: „Herr, mit dir bin
ich bereit, auch ins Gefängnis und in den Tod zu gehen".
Doch der Herr antwortete ihm: „Ich sage dir, Petrus,
der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet
hast, daß du mich kennest". (B. 33. 34.)
Das Fleisch in Petrus hatte nur Kraft, ihn bis zu
der Stunde der Prüfung zu führen; dann ließ es ihn im
Stich. Petrus verleugnete seinen Herrn sogar in dessen
Gegenwart. Er hätte seinen Heiland sehen können, wenn
sein Herz sich nicht von Ihm abgewandt hätte. Das
Wort einer Magd genügte, um sihn zu dem Ausruf zu
bringen: „Weib, ich kenne Ihn nicht!" Er war gewarnt
worden; aber der Herr erlaubte nicht, daß er in jenem
Augenblick durch göttliche Macht bewahrt wurde, weil er
nötig hatte, durch Erfahrung zu lernen, was in ihm war.
Mit welcher Sorgfalt und Liebe aber wachte Jesus andrerseits
über Seinen armen Jünger! Seine Gnade kam ihm
entgegen und trug Sorge für ihn während der ganzen
Versuchung.
Das Erste, was Jesus ihm sagt, ist, daß Er für
ihn gebetet habe. Es führte also nicht etwa die Buße
Petri die Fürbitte des Herrn herbei, sondern umgekehrt
brachte die Fürbitte Jesu die Buße bei Petrus hervor.
„Ich habe für dich gebetet"; und später lesen wir: „Der
Herr wandte sich um und blickte Petrus an".
(B. 61.) Auch Judas verleugnete den Herrn, und als
Sein Gewissen erwachte, tötete er sich. Sobald das Verbrechen
begangen war, verließ ihn alles Vertrauen, und
203
er ging hin und erhängte sich. Bei Petrus aber bewirkte
die Fürbitte Jesu die Bewahrung des Glaubens in der
Tiefe seines Herzens, so daß er, als Jesus ihn anblickte,
zusammenbrach. Erstens also hatte der Herr für Petrus
gebetet, und zweitens hatte Er stets seiner gedacht, und
sobald der Hahn krähte, wandte Er sich um und blickte
ihn an; und dann ging Petrus hinaus und weinte
bitterlich.
Das ist die Art und Weise, wie der Herr mit uns
handelt. Er betet für uns und erlaubt dann, daß wir
in die Versuchung kommen. Aber ob Er uns auch leitet,
wenn wir in der Versuchung sind, so fordert Er uns doch
auf, zu beten, daß wir nicht hineinkommen; und Gott
erlaubt alles dieses, weil Er das Ende davon sieht. Wäre
Petrus sich seiner Schwachheit bewußt gewesen, so würde
er es nicht gewagt haben, sich vor dem Hohenpriester zu
zeigen. Die Prüfung war die naturgemäße Folge dessen,
was er im Fleische war; aber es war Gottes Vorsatz, ihn
zu benutzen und ihm selbst einen hervorragenden Platz in
Seinem Werke zu geben. Die Ursache seines Falles war
Selbstvertrauen; das Fleisch war da und war wirksam.
Gott machte alles Wohl für Petrus, und dieser erkannte,
wie groß die Macht der Sichtung Satans war.
Die übrigen Jünger besaßen nicht dieselbe fleischliche Kraft
und flohen deshalb sofort. Sie hatten nicht so viel Vertrauen
wie Petrus; aber Gott ließ ihn mit Satan streiten,
und Jesus betete für ihn, trotz seines tiefen Falles, damit
sein Glaube nicht aufhöre. Sobald Petrus den Fall gethan
hatte, wandte sich das Auge Jesu auf ihn. Dieser Blick
gab ihm keinen Frieden, sondern verursachte Beschämung
des Angesichts und Zerknirschung. Petrus weinte bitterlich.
204
Er ging hinaus, und alles war vorüber. Er hatte gelernt,
was er war. Der Fall war gethan, die Sünde war geschehen
und konnte nie wieder ungeschehen gemacht werden.
Sie mochte vergeben werden; aber sie auslöschen, als nie
geschehen, war unmöglich. Petrus hat sicherlich nie wieder
vergessen können, daß er den Herrn verleugnet hatte; aber
Jesus benutzte seinen Fall, um ihn von seiner Anmaßung
und Überhebung zu heilen.
Gerade so ist es mit uns. Wir begehen oft, aus
zu großem Vertrauen auf das Fleisch, Fehler, die nicht
Wieder zu heilen sind. Aber wenn nun keine Möglichkeit
vorliegt, unsre Fehler wieder gut zu machen, was muß
dann geschehen? Die einzige Zuflucht ist, sich auf die
Gnade Gottes zu werfen. Wenn das Fleisch zu stark ist,
erlaubt Gott oft, daß wir fallen, weil wir nicht in jenem
gesegneten Stande der Abhängigkeit sind, welcher uns vor
dem Fall bewahren würde. Wenn Gott das Herz in
dieser Weise Prüft, überläßt Er es zuweilen den Händen
Satans; niemals aber überläßt Er das Gewissen Seiner
Kinder den Händen des Feindes. Das Gewissen des
unglücklichen Judas war in den Händen Satans, und deshalb
geriet er in Verzweiflung. Das Herz Petri war
für eine Zeit in seinen Händen, niemals aber sein Gewissen;
und darum, anstatt zu verzweifeln, wie Judas,
hatte die Liebe Jesu, die sich in jenem Blick ausdrückte,
Gewalt, sein Herz zu rühren.
Sobald die Gnade in dem Herzen wirkt, erwacht das
Bewußtsein von der Sünde, die geschehen ist; aber zu
gleicher Zeit erreicht die Liebe Christi das Gewissen und
vertieft dieses Bewußtsein. Und weshalb und in welchem
Maße wird dieses Bewußtsein von der Sünde vertieft?
205
Weil, und in demselben Maße wie, das Bewußtsein von
der Liebe Christi ties ist.
Die Vergebung, welche Petrus zu teil wurde, war
vollkommen. Aber nicht nur wurde ihm Vergebung zu
teil, sondern sein Gewissen war auch in den Händen des
Herrn, als der Heilige Geist ihm die Fülle des Herzens
Jesu offenbarte. Sein Gewissen wurde so völlig gereinigt,
daß er hernach die Juden gerade jener Sünde beschuldigen
konnte, die er selbst unter den ernstesten Umständen begangen
hatte. „Ihr habt den Heiligen und Gerechten
verleugnet", so lautet seine Anklage wider
sie. (Apstgsch. 3, 14.) Das Blut Christi hatte sein Gewissen
vollkommen gereinigt. Aber wenn es sich um ihn
und seine Kraft in dem Fleische handelte, so hat er seine
Sünde nie wieder vergessen; von sich selbst konnte er
nichts anderes sagen als: Ich habe den Herrn verleugnet;
und, wäre es nicht aus Grund Seiner reinen, unvermischten
Gnade, so wäre ich nicht imstande, meinen Mund zu öffnen.
Jesus warf Seinem Jünger in den Unterredungen,
die Er später mit ihm hatte, niemals seine Sünde vor.
Wir hören nicht die Frage: Warum hast du mich verleugnet?
Oder: Wie war es nur möglich, daß du so
handeln konntest? Nein; Er erinnert ihn nicht einmal an
seinen schweren Fall. Er handelt im Gegenteil nach jenem
kostbaren Ausdruck der Liebe: „Ihrer Sünden und ihrer
Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken". Jesus
hatte gleichsam alles vergessen. Aber eine Sache gab
es, die Er Petrus zeigen mußte, und das war die Wurzel
seiner Sünde, der Punkt, wo er gefehlt hatte. Satans
Versuchung, verbunden mit seinem Mangel an Liebe, war
die Ursache seines Falles gewesen und hatte sein Vertrauen
206
zerstört. Jetzt aber, nachdem sein Gewissen aufgewacht
war, war es notwendig, daß ein geistliches Verständnis in
ihm wachgerufen wurde. Petrus hatte sich gerühmt,
Jesum mehr zu lieben als alle die übrigen Jünger; und
Petrus war tiefer gefallen als sie alle.
So sagt denn der Herr zu ihm: „Simon, Sohn
Jonas', liebst du mich mehr als diese?" Wo ist jetzt das
Selbstvertrauen Petri? Jesus fragt dreimal: „Liebst du
mich?" aber Er erinnert Seinen Jünger nicht an das,
was geschehen war. Petrus antwortet: „Ja, Herr, du
weißt, daß ich dich lieb habe". Er beruft sich auf Jesum
selbst und auf Seine göttliche Kenntnis: „Herr, du weißt
alles; du erkennst, daß ich dich lieb habe." So also
handelte Jesus mit Seinem Jünger; das that Er für
Petrus, und zwar nach seinem Falle. Er hatte ihm diesen
Fall vorhergesagt, und jetzt fragt Er ihn: „Liebst du mich
mehr als diese?" Petrus kann nichts sagen, ausgenommen
daß er seine Schwachheit kennen gelernt und daß er Jesum
weniger geliebt habe als die andern Jünger. Das Verhältnis
zwischen Jesu und Petrus ist ausschließlich ein
Verhältnis der Gnade. Petrus hatte keine andere Zuflucht
mehr, als auf Jesum zu vertrauen; alles Selbstvertrauen
war zerstört, und nun konnte er ein Zeuge für seinen
Herrn sein. Er hatte die Kraft eines Blickes Jesu an
sich erfahren.
Es ist, als ob Petrus sagen wollte: Ich setze mein
Vertrauen auf dich, Herr; du weißt, wie ich dich verleugnet
habe. Thue mit mir, was dir gut dünkt. Und Jesus
hatte bereits dafür gesorgt, daß Satan dem Herzen Seines
Knechtes das Vertrauen nicht rauben konnte, indem Er
ihm gesagt hatte: „Bist du einst zurückgekehrt, so stärke
207
deine Brüder". Was machte ihn dazu fähig, seine Brüder
zu stärken? Seine Verleugnung des Herrn hatte ihn so
eindringlich darüber belehrt, was das Fleisch war, daß er nicht
mehr daran dachte, sich zu irgend etwas zu verpflichten;
er wußte, daß er nichts anderes zu thun hatte, als auf
Gott zu vertrauen. Wie groß auch seine eigne Unfähigkeit,
Satan zu widerstehen, sein mochte, er konnte sich
auf die Gnade Dessen berufen, der alles weiß. Die Erkenntnis,
daß er auf Jesum vertrauen konnte, war es, was
ihn stark machte; und erst nachdem der Herr Seinen
Jünger an die völlige Unfähigkeit des Fleisches erinnert
hatte, vertraute Er ihm Seine Schafe an: „Weide meine
Lämmlein!" Und auch erst dann war Petrus fähig,
seine Brüder zu stärken.
Das Fleisch setzt immer ein gewisses Vertrauen auf
das Fleisch, und in diese Thorheit verfallen auch wir oft.
Es wird dann notwendig für uns, durch den Kampf mit
Satan uns selbst kennen zu lernen. Ein jeder Christ
hat durch die Umstände, in welche er versetzt ist, zu lernen,
was er ist. Gott läßt es zu, daß wir darin von Satan
gesichtet werden, damit wir unsre Herzen kennen lernen.
Besäßen wir Demut und Treue genug, um zu sagen:
„Ich kann nichts thun ohne dich, Herr", so würde Gott uns
diese traurige Erfahrung unsrer Schwachheit nicht machen
zu lassen brauchen. Wenn wir wirklich schwach sind, hat
Gott nicht nötig, uns einen Augenblick uns selbst zu überlassen;
wenn wir uns aber unsrer Schwachheiten nicht
bewußt sind, so müssen wir sie auf dem Wege schmerzlicher
Erfahrung kennen lernen. Wandelt ein Christ nicht in
dem steten Gefühl seiner Schwachheit, so läßt Gott ihn
in der Gegenwart des Feindes, damit er sie dort kennen
208
lerne. Gerade dann macht er auch Fehler, welche oft
unheilbar sind; und das ist das Schmerzlichste von allem.
Jakob hinkte sein ganzes Leben lang. Warum das?
Weil er einundzwanzig Jahre lang in moralischem Sinne
gehinkt hatte. Er rang mit aller Macht an der Furt des
Jabbok (1. Mose 32); doch muß er sich bewußt gewesen
sein, welch ein schwaches Geschöpf er im Fleische war,
obwohl Gott nicht zuließ, daß er mit Esau kämpfen
mußte. Er überließ ihn nicht dem Hasse seines Bruders,
sondern gab ihm so viel Glauben, daß er durch die
Schwierigkeit hindurchkam; und Jakob konnte am Ende
seines Lebens sagen: „Der Gott, der mich geweidet hat,
seitdem ich bin bis auf diesen Tag, der Engel, der mich
erlöst hat von allem Übel u. s. w." (1. Mose 48, 15. 16.)
Wir dürfen niemals überrascht sein, wenn der Herr
uns in einer Schwierigkeit läßt. Er thut es, weil es
irgend etwas in uns giebt, was gebrochen werden muß,
und weil es nötig ist, daß wir ein Gefühl darüber bekommen.
Aber hinter allem steht die Gnade. Christus
ist lauter Gnade, und wenn Er uns auch zuweilen uns
selbst zu überlassen scheint, damit wir unsre Schwachheit
kennen lernen, so ist Er doch Gnade, vollkommene Gnade
gegen uns. Nicht als Petrus seinen Blick Jesu zuwandte,
zeigte sich ihm der Herr, (wenn es sich um den Genuß
der Gemeinschaft handelt, so ist es allerdings so,) sondern
schon vor seinem Falle hatte Jesus gesagt: „Ich
habe für dich gebetet". Die Gnade kommt uns stets zuvor.
Jesus sieht, was Satan begehrt, und Er überläßt
uns diesem Begehren, aber Er trägt Sorge, daß wir bewahrt
bleiben. Nicht als Petrus auf Jesum blickte, sondern
als dieser Petrus ansah, ging der letztere hinaus und
209
weinte bitterlich. Die Liebe Christi begleitet uns allezeit,
kommt uns zuvor in unsern Schwierigkeiten und bringt
uns durch alle Hindernisse hindurch. Während Er uns
den Händen Satans überläßt, damit wir durch Erfahrung
lernen, was wir sind, ist Er uns allezeit nahe und weiß
uns vor den Listen Satans zu beschützen. Welch eine
vollkommene Güte und Gnade! Unser teurer Herr liebt
uns nicht nur, wenn unsre Herzen Ihm zugewandt sind,
sondern Er paßt sich jedem Fehler in unserm Charakter
an, damit wir völlig und überströmend gesegnet werden
möchten gemäß der Ratschlüsse Gottes.
Alles das sollte uns lehren, uns unter die mächtige
Hand Gottes zu demütigen, damit Er uns erhöhe zu
seiner Zeit. Wenn ich mich nach einem Falle niedergebeugt
und schmerzlich bewegt fühle bei dem Gedanken an
mich selbst, so sollte ich nicht sofort Trost zu finden suchen,
so natürlich das auch erscheinen mag, sondern zu allererst
Christum. Ich habe die Unterweisung zu lernen, welche
Gott für mich vorgesehen hat. Und wenn du, mein Leser,
inmitten schmerzlicher Umstände sagst, du könnest die Belehrung
Gottes nicht verstehen, so weiß Gott, worin sie
besteht, und Er läßt deine Sichtung zu, damit du auf
diesem Wege zu einer tieferen Erkenntnis Seiner und deiner
selbst kommen mögest. Er wünscht dir alles das zu zeigen,
was Er in dir gesehen hat, so daß du nicht vor einer
solchen Sichtung zurückschrecken, sondern lieber suchen solltest,
dir die kostbare Belehrung zu eigen zu machen, welche
der Herr dir durch dieselbe darbietet. Thun wir das,
so werden wir eine viel tiefere Erkenntnis von dem
erlangen, was Er für uns ist.
Wir müssen lernen, uns Seiner mächtigen Hand zu
210
überlassen, bis Er uns erhöht. Möge Gott uns geben,
Ihn allein zu kennen! Wenn wir nur zu lernen hätten,
was wir sind, so würden wir zusammenbrechen und völlig
verzagen müssen'; aber Gott läßt uns erfahren, was wir
sind und was Seine Gnade ist, um uns zu einem herrlichen,
ersehnten Endziel zu führen. Wir können darum sagen:
„Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage
meines Lebens; und ich werde wohnen im Hause Jehovas
auf Länge der Tage." (Pf. 23, 6.)
„Wenn du umkehrst, so will ich dich
zurückbringen."
(Jer. 15, 19.)
Die Zeit, in welcher Jeremia von Jehova in Seinen
Dienst berufen wurde, war eine äußerst schwierige. Der
Verfall des Volkes Gottes war aufs Höchste gestiegen,
und keine Aussicht auf Heilung mehr vorhanden. Es bedurfte
daher zur Ausführung des ihm gewordenen Auftrags
einer besonderen Treue, Hingabe und Energie, sowie
einer besonderen Ausrüstung von feiten des Herrn. Denn
voraussichtlich standen schwere Leiden und Prüfungen für
den Propheten zu erwarten, die umso fühlbarer für ihn
sein mußten, weil er sein Volk von ganzem Herzen liebte.
Im Gefühl der Schwere der ihm gestellten Aufgabe versuchte
er deshalb Einwendungen zu machen. „Ach, Herr,
Jehova!" sagte er, „siehe, ich weiß nicht zu reden, denn
ich bin jung." (Jer. 1, 6.) Aber gerade dieser Umstand,
daß er seine Unfähigkeit fühlte und frei von Selbstvertrauen
war, ließ ihn in den Augen des Herrn als das
passende Werkzeug für diese Aufgabe erscheinen. Er war
211
ein Gefäß, in welchem Er Seine Kraft offenbaren konnte.
„Da sprach Jehova zu mir: Sage nicht: Ich bin jung;
denn zu allen, wohin ich dich senden werde, sollst du gehen,
und alles was ich dir gebieten werde, sollst du reden.
Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir,
um dich zu erretten, spricht Jehova. Und Jehova streckte
Seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und Jehova
sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in
deinen Mund. Siehe, ich bestelle dich an diesem Tage
über die Nationen und über die Königreiche, um auszurotten
und niederzureißen und zu zerstören und abzubrechen,
um zu bauen und um zu Pflanzen." (V. 7—10.)
So empfing denn Jeremia seine Kraft und Fähigkeit unmittelbar
vom Herrn selbst, und zwar gerade wie sie der
ihm gestellten Aufgabe angemessen waren. Auf die Art
der Aufgabe kam es jetzt nicht mehr an; er hatte nur in
der Kraft Jehovas die Worte zu reden, die dieser in seinen
Mund legte. Ob dieselben gegen einzelne Personen oder
gegen ganze Völker und Königreiche gerichtet waren, ob
sie diesen gefielen oder mißfielen, ob man ihn dafür liebte
oder haßte und verfolgte, das kam nicht in Betracht. Er
bedurfte nur der Einfalt, der Treue und Hingebung gegen
den Herrn, der ihm verheißen hatte, für ihn einzustehen
und ihn zu erretten, mochte kommen was da wollte. Ihm
konnte er getrost alles überlassen.
Wie gnädig und herablassend kam der Herr Seinem
schwachen Diener zu Hilfe! Wie gern reicht Er den
Seinigen dar, was sie selbst in den schwersten Zeiten bedürfen,
wenn sie nur treu und einfältig an Ihm hangen,
frei von eingebildeter Kraft und thörichtem Selbstvertrauen!
„Siehe, die Hand Jehovas ist nicht zu kurz,
212
um zu retten, und Sein Ohr nicht zu schwer, um zu hören".
(Jes. 59, 1.) Er will für alles aufkommen, ist an nichts
gebunden und in nichts beschränkt; für Ihn giebt es weder
Hindernisse noch Schwierigkeiten. Alles was Er von uns
verlangt, ist Treue und Entschiedenheit.
Sicher waren die Zeiten und der Zustand des Volkes
Gottes böse in den Tagen Jeremias; aber für diesen galt
das Wort: „Du aber gürte deine Lenden". (Kap. 1, 17.)
Er hatte nur über sich selbst zu Wachen und die Neigungen
seines Herzens getrennt zu halten von dem Geiste, welcher
das abtrünnige Volk beseelte. Wir können unmöglich
gegen das Böse um uns her ein nachdrückliches Zeugnis
ablegen, wenn unsre eignen Herzen nicht frei davon sind,
wenn wir insgeheim die Dinge lieben und Pflegen, welche
das Wort Gottes verurteilt. Unsre Treue besteht zunächst
darin, daß wir bei uns selbst das Böse, jeden unlautern
Gedanken, verurteilen und in beständigem Selbstgericht
wandeln. So sagt auch Paulus, der treue Diener des
Herrn: „Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in
allem; jene freilich, auf daß sie eine vergängliche Krone
empfangen, wir aber eine unvergängliche. Ich laufe daher
also, nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe also, nicht wie
einer, der die Luft schlägt; sondern ich zerschlage
meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft,
auf daß ich nicht, nachdem ich Andern gepredigt, selbst
verwerflich werde." (1. Kor. 9, 25—27.)
Indes hatte Jeremia noch über eine andere Sache
zu Wachen. Die menschliche Natur ist nicht nur böse,
sondern auch verzagt und läßt sich leicht einschüchtern.
Darum ruft der Herr ihm zu: „Verzage nicht vor ihnen,
damit ich dich nicht vor ihnen verzagt mache". (Vers 17.)
213
Wir müssen unsre zaghafte Natur ebenso entschieden verurteilen,
wie alles Böse in uns; denn auch die Menschenfurcht
ist ein Hindernis im Dienste des Herrn. Sie
verrät, daß wir den Menschen mehr fürchten als den Herrn,
vor dem doch „Nationen geachtet sind wie ein Tropfen
am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Wagschale".
(Jes. 40, 15.) Wir können aber nicht auf die Dazwischenkunft
des Herrn zu unsern Gunsten rechnen, wenn wir
Ihm nicht den ersten Platz in unsern Herzen einräumen
und Ihm nicht unser ganzes Vertrauen schenken. Er muß
uns alsdann verzagt machen und beschämt werden lassen
vor den Menschen; denn es steht geschrieben: „Ich bin
Jehova, das ist mein Name; und meine Ehre gebe ich
keinem andern, noch meinen Ruhm den geschnitzten Bildern".
(Jes. 42, 8.) Er macht uns verzagt, wenn wir auf
Menschen blicken, wer sie auch sein mögen; ruht unser
Auge aber auf Ihm, auf Ihm allein, so macht Er uns
fest und stark. „Und ich, siehe, ich mache dich heute zu
einer festen Stadt und zu einer eisernen Säule und zu
einer ehernen Mauer wider das ganze Land, sowohl
wider die Könige von Juda als auch dessen Fürsten,
dessen Priester und das Volk des Landes. Und sie werden
gegen dich streiten, aber dich nicht überwältigen; denn ich
bin mit dir, spricht Jehova, um dich zu erretten." (Vers
18. 19.)
Dies war also die feste, sichere und unerschütterliche
Stellung Jeremias, so lange er einfältig und treu an dem
Herrn hing, das Böse bei sich selbst verurteilte und in allem
nur die Ehre Seines Herrn suchte. Mochte er auch den
Angriffen eines ganzen Landes, seiner Könige und Fürsten
ausgesetzt sein; mochte das ganze Volk gegen ihn streiten
214
nnd ihn zu verderben suchen — er war uneinnehmbar gleich
einer festen Stadt, fest wie eine eiserne Säule und eherne
Mauer. Und nicht nur das, er genoß auch etwas, das
sein Herz mit Freude erfüllte: die Worte Jehovas und
die Gemeinschaft mit Ihm. „Deine Worte waren vorhanden,
und ich habe sie gegessen, und deine Worte waren mir
zur Wonne und zur Freude meines Herzens; denn ich bin
nach deinem Namen genannt, Jehova, Gott der Heerscharen."
(Kap. 15, 16.) Was kümmerten ihn die Flüche, Verwünschungen
und Lästerungen seiner Widersacher, wenn er
die Worte Jehovas vernahm? Worte, die jenen ein
Schrecken waren, weil sie sich nicht darunter beugen wollten,
die ihm aber zur Nahrung dienten; er hatte sie gegessen, und
die Wirkung war Wonne und Freude für sein Herz gewesen.
Er wußte sich im Einklang mit dem Worte Gottes, und er
genoß die Anerkennung Gottes, was ihm nicht nur die
Leiden um seines Zeugnisses willen versüßte, sondern ihm
auch mehr galt als die Anerkennung von Königen und Fürsten.
Gerade so ist es heute. Wir leben auch in einer
Zeit allgemeinen Verfalls. Aber das Wort Gottes ist die
Stütze des Treuen. Es zeigt ihm in klarer und unzweideutiger
Weise den wohlgefälligen Willen Gottes betreffs
des Weges, der ihn sicher und wohlbehalten durch das
Labyrinth menschlicher Meinungsverschiedenheiten führt,
vorbei au den zahllosen Ab- und Irrwegen menschlicher
Betrügereien. Es ist sein Leuchtturm in finstrer Nacht
auf sturmbewegtem Meere, dessen Licht der Herr selbst angezündet
hat, ja dessen Licht nimmer erlischt. Wohl haben
die Menschen es auszulöschen versucht, aber Jahrhunderte
und Jahrtausende hindurch sind ihre Anstrengungen erfolglos
geblieben. „Deine Worte waren vorhanden",
215
konnte Jeremias sagen; und wir können es ihm heute
noch zum Preise Gottes nachsprechen. Und indem wir
uns von diesen Worten nähren und uns betreffs unsers
Verhaltens im Einklang mit ihnen wissen, erfreuen wir
uns der Anerkennung und Billigung Gottes, des Vaters
und des Sohnes. „Wenn jemand mich liebt", sagt der
Herr, „so wird er mein Wort halten, und mein Vater
wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und
Wohnung bei ihm machen". (Joh. 14, 23.)
„Denn ich bin nach deinem Namen genannt, Jehova,
Gott der Heerscharen." Jeremia wußte, daß sich Gott
unter dem Namen „Jehova" mit Seinem irdischen Volke
verbunden hatte, und zwar zu dem Zwecke, es zu befreien
und zu segnen. „Ich bin Jehova. Und ich bin Abraham,
Isaak und Jakob erschienen als Gott, der Allmächtige,
aber mit meinem Namen Jehova bin ich ihnen nicht bekannt
gewesen." Gott, der Allmächtige, der Gott der Heerscharen,
wollte Sein Volk Israel unter dem Namen Jehova aus
Ägypten befreien und sie in das Land Kanaan führen.
„Darum sprich zu den Kindern Israel: Ich bin Jehova,
und ich werde euch herausführen unter den Lastarbeiten
der Ägypter hinweg . . . und ich werde euch bringen in
das Land, welches dem Abraham, Isaak und Jakob zu
geben ich meine Hand erhoben habe, und werde es euch
zum Besitztum geben, ich, Jehova." (2. Mose 6, 2—8.) An
diesen Namen „Jehova" knüpfte sich für Jeremia die Erinnerung
an die freie, bedingungslose Gnade, in welcher Gott
Sein irdisches Volk mit sich verbunden hatte, und in
welcher Er Seine Macht zu dessen Gunsten verwenden
wollte. Wie traurig auch der augenblickliche Zustand Israels
sein mochte, Jeremia erfreute sich für seine Person der
216
Süßigkeit der in diesem Namen ausgedrückten Gnade und
Gunst des Herrn: „Ich bin nach deinem Namen genannt,
Jehova, Gott der Heerscharen".
Für uns ist es der Name Jesu, in welchem sich
Gott in all Seiner Gnade und Liebe geoffenbart hat, an
welchen sich alle unsere Segnungen knüpfen. In ihm
besitzen wir die Erlösung und die Bürgschaft der ewigen
Herrlichkeit. Unser ganzes Heil, die Gunst Gottes, des
Vaters, der offene Zugang in Seine unmittelbare Gegenwart,
alles das ist uns in diesem Namen gesichert und
verbürgt, was auch der gegenwärtige Zustand der Kirche
sein mag. In diesem Namen findet der Glaube die vollkommene
Befriedigung seines Herzens auf seinem Wege
durch die Wüste, wo weder Brot noch Quelle ist. Und
wie Jeremia seiner Zeit in den Worten und dem Namen
Jehovas einen reichen Ersatz fand für die Leiden und
Drangsale, welche ihm aus der allgemeinen Untreue des
Volkes erwuchsen, so und noch weit mehr findet der Glaube
heute in dem Worte Gottes und dem Namen Jesu alles
was er bedarf, um in der Zeit der überhandnehmenden
Untreue unsrer Tage stark und widerstandsfähig zu sein.
Wie damals der Herr eines Zeugen bedurfte, der gleich
einer ehernen Mauer dem Anprall des überhandnehmenden
Verderbens stand hielt, so bedarf Er auch heute, wo der
Strom des Verderbens alles überflutet, und die Tage des
Abfalls vor der Thüre stehen, nicht minder treuer Zeugen.
Er kann keinen gebrauchen, der wie die Meereswoge vom
Winde bewegt und hin und her getrieben wird (Jak. 1, 6. 8);
keinen, der sich der öffentlichen Meinung, oder doch wenigstens
der großen Mehrheit anzupassen sucht; keinen, dem die Autorität
der Heiligen Schrift nnd der Name Jesu nicht über
217
alles geht; keinen, der sich mit einer bloßen Erkenntnis
gewisser Wahrheiten begnügt, während sein Herz sich nicht
nährt von dem Worte Gottes und sich nicht erfreut an
der kostbaren Person des Herrn Jesu.
Aber selbst wenn wir mit Herzensentschluß bei dem
Herrn zu verharren und Ihm allein zu folgen begehren,
bedürfen wir doch der beständigen Wachsamkeit über uns selbst,
damit wir stets unsre Lenden umgürtet halten. Denn
infolge des uns umgebenden Zeitgeistes und der Schwachheit
unsrer menschlichen Natur siud wir stets in Gefahr,
aus unsrer Festigkeit zu fallen. (2. Petr. 3, 17.) Selbst
ein Jeremia wurde durch den anhaltenden Widerstand von
außen und durch seine natürlichen Gefühle überwältigt und
ließ sich mit Betrachtungen über feine schwierige Lage ein.
„Wehe mir, meine Mutter", ruft er aus, „daß du mich
geboren hast, einen Mann des Haders und einen Mann
des Zankes für das ganze Land! Ich habe nicht ausgeliehen,
und man hat mir nicht geliehen; alle fluchen mir."
(Kap. 15, 10.) Seine Festigkeit schien für einen Augenblick
zu wanken, und die Freude, mit welcher er einst die Worte
Jehovas gegessen hatte, war einer großen Niedergeschlagenheit
gewichen. Selbst sein Vertrauen auf die unerschöpflichen
Hilfsquellen Jehovas schien erschüttert zu sein:
„Willst du mir wirklich wie ein trügerischer Bach sein,
wie Wasser, die versiegen?" Ach, das ist der Mensch!
Selbst der Stärkste kann ermatten und fehlen. Gideon,
David, Elias, Johannes der Täufer, Paulus rc. rc., sie alle
hatten ihre Stunden des Kleinglaubens und der Verzagtheit.
Diese Erde hat nur einen vollkommnen Menschen gesehen,
der nie gewankt und nie gefehlt hat, und dieser Eine ist
unser anbetungswürdiger Herr und Heiland.
218
Doch welche Antwort wurde dem klagenden und völlig
mutlos gewordenen Propheten zu teil? Hören wir, was
Gott ihm sagt, und möchte es tief in unsre Herzen dringen:
„Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbringen, daß
du vor mir stehest; und wenn du das Köstliche vom Gemeinen
ausscheidest, so sollst du wie mein Mund sein.
Jene sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen
umkehren." (Kap. 15, 19.) Der Leser möchte sich versucht
fühlen zu fragen: War denn Jeremia schon zu den
Widersachern Jehovas übergegangen, daß er zur Umkehr
aufgefordert werden mußte? Nein; aber sein Herz hatte
sich vom Herrn entfernt, war nicht mehr fest und entschieden;
er hatte angefangen zu überlegen und sich mit dem Sichtbaren
zu beschäftigen, und so war er verzagt geworden.
Das war der erste Schritt aus unheilvoller Bahn, und
wollte er wieder in seine frühere Stellung der Kraft und
Freude eintreten, so mußte er umkehren, ohne Zaudern
und mit aller Entschiedenheit. „Wenn du umkehrst, so
will ich dich zurückbringen, daß du vor mir stehest."
Haben wir nicht Ursache, geliebte Brüder, uns mit
allem Ernst zu fragen, ob wir uns nicht auch in der einen
oder andern Weise vom Herrn entfernt haben? Vielleicht
nicht so, daß es allen offenkundig geworden ist; aber unsern
Herzen nach? Stehen diese noch in der ersten Liebe
zu Ihm? Ist das Wort Gottes wirklich unsre tägliche
Nahrung und ein Genuß für unsre Herzen? Stehen wir
noch so entschieden getrennt von dieser Welt und in der
lebendigen Erwartung des Herrn, wie ehedem? Ist unser
Leben in Wort und Werk ein entschiedenes Zeugnis gegen
das Verderben um uns her? Oder geben wir uns menschlichen
Berechnungen und Überlegungen hin, indem wir zag-
219
haft und mutlos auf die Umstände und die Verwirrung in unfern
Tagen Hinblicken? Ist dies der Fall, so haben wir schon
den ersten Schritt auf dem Wege gethan, der uns immer
weiter von dem Herrn und aus der Stellung der Kraft
und Festigkeit, des frohen Mutes und der Freude entfernt.
Und wir haben nötig, uns allen Ernstes die Warnung
ins Gedächtnis zu rufen: „Verzage nicht vor ihnen, damit
ich dich nicht vor ihnen verzagt mache". Es ist
alsdann ein ernstes Sichaufraffen und ein aufrichtiges Selbstgericht
erforderlich. Denn wenn der Herr nicht mehr den
ersten Platz in unsern Herzen hat, so gilt uns dasselbe
Wort, wie einst der Kirche, als sie ihre erste Liebe verlassen
hatte: „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und
thue Buße und thue die ersten Werke". (Offbg. 2, 5.)
Der Herr sieht das Herz an, und Er will es nicht halb,
sondern ganz haben. Aber Er ist auch bereit, zu vergeben
und wiederherzustellen. Kehren wir mit Aufrichtigkeit zu Ihm
um, so dürfen wir darauf rechnen, daß E r uns zu unsrer
früheren Kraft und Freude zurückführt, nach Seiner zuverlässigen
Verheißung: „so will ich dich zurückbringen". Man
meint oft, durch Nachgiebigkeit Andere von dem Irrtum ihres
Weges zurückführen zu können, indem man sich ihren Anschauungen
etwas anzupassen sucht und ihnen zu Liebe
etwas von der Wahrheit aufgiebt. Aber das ist nicht die
göttliche Weise, und in Wirklichkeit wird nur das Gegenteil
dadurch erreicht. Anstatt jene zurückzuführen, bestärkt
man sie nur noch in ihrem verkehrten Wege und wird
vielleicht schließlich selbst mit fortgerissen. Stehen wir
aber treu und unentwegt zum Herrn und zu Seinem
Worte, so wird Er uns gebrauchen zum Wohle Anderer;
wir können diesen dann zum Segen und Wegweiser dienen.
220
„Wenn du das Köstliche vom Gemeinen ausscheidest, so-
sollst du wie mein Mund sein. Jene sollen zu dir
umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen umkehren."
„Wenn sich jemand reinigt von den Gefäßen
der Unehre, der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt
und nützlich dem Hakus Herrn, zu allem guten Werke
bereitet." (2. Tim. 2, 21.)
Erst nachdem Jeremia von seinem zaghaften Herzenszustand
genesen und zn seiner früheren Entschiedenheit zurückgekehrt
war, führte der Herr ihn in seine frühere Stellung
der Kraft zurück. „Und ich werde dich diesem Volke zu einen
festen ehernen Mauer machen, und sie werden wider dich streiten,
aber dich nicht überwältigen. Denn ich bin mit dir, nm
dich zu retten und dich zu befreien, spricht Jehova. Und
ich werde dich befreien aus der Hand der Bösen und dich
erlösen aus der Faust der Gewältthätigen." (Vers 20. 21Z
Wie gnädig ist der Herr und wie bereitwillig, den
Ermatteten zu stärken und wieder aufzurichten, wenn dieser
sich Ihm nur aufrichtig und einfältig übergiebt! Mochten
wir dies stets thun und Ihm im Blick auf alles vertrauen!
Wir dürfen dann zuversichtlich auf Seine Hilfe rechnen
bis zum Ende hin. — „Siehe, ich bin bei euch alle Tage,
bis zur Vollendung des Zeitalters." (Matth. 28, 20.)
Erklärung.
Auf den Aufsatz in Nr. 5 des „Botschafter" —
„Die Stimme der Fremden" — ist eine Erwiderung erschienen
und vielen Lesern unsers Blattes zugesandt worden.
Wir beabsichtigen nicht daraus zu antworten, wie es überhaupt
nicht unser Zweck war, mit unsern Brüdern zn
221
streiten, sondern nur vor den bösen Lehren, *) welche der
Feind in unsre Mitte einzuführen trachtet, zu Warnen.
Nachdem dies geschehen ist, könnten wir füglich schweigen
und alles Weitere Dem überlassen, der recht richtet, wenn
nicht in genannter Erwiderung bezüglich mehrerer, vorgeblich
von uns festgehaltener Lehren Behauptungen
aufgestellt wären, welche jeglicher Begründung entbehren.
Da nun ein Schweigen hierüber als eine Anerkennung
jener Behauptungen aufgefaßt werden könnte, so fühlen
wir uns verpflichtet, noch ein kurzes Wort zu sagen.
*) Von solchen Lehren haben wir gesagt, daß sie vom Satan
inspiriert (eingeblasen) würden. Haben wir damit zuviel gesagt?
Wenn eine Lehre wirklich böse ist, woher stammt sie dann? Aus
der Wahrheit oder aus der Lüge? Ohne Zweifel aus der Lüge.
Und wenn sie aus der Lüge ist, wer ist der Vater der Lüge?
Es wird uns vorgeworfen, daß wir die Worte in
Joh. 1, 14: „Das Wort ward Fleisch" umdrehten und
sagten: „Das Fleisch war das Wort", und ferner, daß
wir damit sagten, das Wort sei zu Fleisch geworden.
Wir erklären hiermit, daß wir nie daran gedacht
haben, so etwas zu thun; denn zu sagen: „Das Wort
ward zu Fleisch" oder gar: „Das Fleisch war das
Wort", wäre nicht nur eine Verdrehung des Wortes
Gottes, sondern geradezu eine Gotteslästerung. Die
Schrift sagt einfach: „Das Wort ward Fleisch". Das
glauben wir, ohne daran zu deuteln oder darüber zu
vernünfteln; auch ohne den Versuch zu machen, es erklären
und verstehen zu wollen. Denn es ist nicht zu erklären
und zu verstehen; es ist einfach ein Gegenstand des
Glaubens. Es ist das wunderbare Geheimnis der
Gottseligkeit: „Gott ist geoffenbart worden im Fleische".
222
Es ist auch nicht etwa eine Weissagung (wie es in
jener Schrift heißt), deren Sinn erst durch andere Stellen
der Schrift ausgelegt und verstanden werden könnte, sondern
die einfache Mitteilung eines Vorgangs, einer geschichtlichen
Thatsache.
Nachdem Johannes uns im Anfang des 1. Kapitels
Seines Evangeliums mitgeteilt hat, was Christus von
Ewigkeit her war, sagt er uns im 14. Verse, was Er
geworden ist. „Das Wort ward Fleisch und wohnte
unter uns." Gerade so lesen wir in Hebr. 2, 14: „Weil
nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, so hat
auch Er gleicherweise an denselben teilgenommmen".
Er ist Mensch geworden, Er hat teilgenommen an Fleisch
und Blut. Er ist Mensch geworden, in dem wahrsten
Sinne des Wortes, nach Leib und Seele; aber Er heißt
selbst in diesem Sinne Gottes Sohn, Er war von
Gott gezeugt. „Du bist mein Sohn; heute habe ich
dich gezeugt." (Hebr. 1, 5.) Die Kraft des Höchsten
war die göttliche Quelle Seines Bestehens als Mensch
auf dieser Erde. Sein Geborenwerden im Fleische geschah
durch die Kraft des Heiligen Geistes. Der Engel
sagt zu Maria: „Der Heilige Seist wird über dich kommen,
und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum
wird auch das Heilige, das geboren werden
wird, Sohn Gottes genannt werden". (Luk. 1, 35.) Er
war also hinsichtlich des Fleisches von Gott geboren, heilig,
der Sohn Gottes. Er wurde, durch göttliche Kraft und
durch die Einwirkung des Heiligen Geistes auf jene Hochbegnadigte
Magd des Herrn, als „das Heilige", als Mensch
geboren. Das ist das wunderbare Geheimnis, und darum
kann niemand den Sohn erkennen als nur der Vater.
223
Weiter heißt es in jener Erwiderung: „Unsre Gegner
machen also das ewige Wort zu Fleisch oder Stoff,
und sie suchen ihre Meinung durch das Speisopfer
(Feinmehl gemengt mit Öl) zu stützen, indem sie sagen,
daß das Mehl die Menschheit, das Öl dagegen die
Gottheit unsers Herrn vorbilde".
Wiederum müssen wir erklären, daß diese Behauptung
durchaus grundlos ist. Wir haben stets geglaubt und
verkündigt, daß die vorbildliche Bedeutung des Speisopfers
die folgende sei: Das feine Weiße Mehl ist das Bild
der reinen, fleckenlosen Menschheit Christi, das Öl das
Bild des Heiligen Geistes. Das Mehl wurde mit dem
Öl gemengt; das will sagen: Die menschliche Natur Christi
war göttlichen Ursprungs, ein Ausfluß des göttlichen Willens;
sie war durch den Heiligen Geist empfangen. Der Wille
des Fleisches hatte nicht das Geringste mit der Geburt
Christi zu thun. Das Heilige, das von Maria geboren
wurde, war Gottes Sohn — ein wirklicher, wahrhaftiger
Mensch, von Maria geboren; aber zugleich ein
Mensch, von Gott geboren. Jesus war Gott und
Mensch in einer Person; persönlich Gott und Persönlich
Mensch. Beide Naturen, Gottheit und Menschheit, waren
in Ihm in unbegreiflicher Weise vereinigt, nicht aber
vermengt oder vermischt. Er war Gott; und Er
wurde Mensch, ohne aufzuhören, Gott zu sein. „Das
Menschliche in Ihm war wirklich menschlich, und das
Göttliche wirklich göttlich." Das ist das wunderbare, un-
erforschliche Geheimnis, die Wahrheit von der Person
des Christus.
Was schließlich den Vorwurf betrifft, daß wir in
dem Vorhänge „die Menschheit und Gottheit
224
Christi" erblickten, so ist es uns nicht bekannt, daß
jemals ein derartiger Ausspruch gethan worden ist. Der
Vorhang in der Stiftshütte war gemacht von Blau und
Purpur und Karmesin, in Kunstweberarbeit, mit Cherubim.
(2. Mose 26, 31.) Der weiße gezwirnte Byssus ist wiederum
ein Bild von der fleckenlosen Reinheit der menschlichen
Natur Christi; er war kunstvoll durchwebt mit Blau und
Purpur und Karmesin, d. h. mit allen göttlichen Gnaden
und himmlischen Tugenden, bestickt mit Cherubim, dem
Bilde richterlicher Gewalt. (Vergl. Joh. 5, 22. 27.) Und
nun sagt die Schrift: „Der Vorhang, das ist Sein
Fleisch". Mehr als das ist unsers Wissens nie gesagt
worden. Aber sollte wirklich einmal von Einzelnen ein
unüberlegter Ausdruck in dieser Beziehung gebraucht worden
sein, so wäre es doch ungerecht, die Gesamtheit dafür
verantwortlich zu machen.
Es würde nicht schwer sein, die Haltlosigkeit noch
mancher anderer, in jener Erwiderung erhobener Beschuldigungen
zu beweisen; wir möchten uns aber nur aus die
obigen Punkte beschränken, umsomehr als jene Beschuldigungen
zum großen Teil einen mehr persönlichen Charakter tragen.
Was wir begehren, ist nicht, unser Recht zu suchen,
sondern die Wahrheit, das was wir von Anfang gehört
haben, festzuhalten in Liebe und Einfalt; und dazu
wolle der Herr dem Schreiber und Leser dieser Zeilen in
Gnaden helfen!
Das Buch Ruth
Kapitel 1.
Die Ereignisse des Buches Ruth spielen sich zwar
innerhalb der traurigen Zustände und Verhältnisse ab,
welche die Herrschaft der Richter kennzeichneten, doch giebt
es zwischen dem Gedankengang dieser Erzählung und dem
der vorhergehenden nichts Gemeinsames. Das Buch der
Richter beschreibt uns den Verfall des seiner Verantwortlichkeit
überlassenen Volkes Israel, einen Verfall, der
trotz der zärtlichen Bemühungen des göttlichen Erbarmens,
welches das Volk wiederherzustellen suchte und ost auch
teilweise wiederherstellte, unheilbar war. Im Gegensatz
zu der Dürre und Unfruchtbarkeit der Wege des untreuen
Menschen im Buche der Richter ist das Buch Ruth voller Frische.
Man findet hier die „Wasserbäche, Quellen und Gewässer",
von denen Mose spricht (5. Mose 8, 7); es weht uns an
wie die Frische bei aufsteigendem Morgenrot. Alles
atmet hier Gnade, und kein Mißklang stört die liebliche
Harmonie. Es ist gleichsam eine grünende Oase in
der Wüste, eine freundliche Idylle inmitten der düstern Geschichte
Israels. Wenn wir dieses kleine Buch mit seinen
vier Kapiteln betrachten, so nimmt es für unsere Seele
unendliche Verhältnisse an. Der Schauplatz hat sich nicht
verändert, und doch sollte man meinen, daß die Gefühle
XI.iv s
226
und Zuneigungen des Himmels sich auf der Erde häuslich
niedergelassen hätten. Es fällt uns schwer, zu verstehen,
daß dasselbe Land, welches Zeuge von so vielen Kriegen,
Schandthaten und abscheulichen Götzendienereien war, zu
gleicher Zeit den Schauplatz von Ereignissen bilden konnte,
deren erhabene Einfachheit an die gesegneten Tage der
Patriarchen erinnert.
Und doch ist dies erklärlich. Seit dem Sündenfalle
laufen zwei geschichtliche Entwickelungen nebeneinanderher:
diejenige der Verantwortlichkeit des Menschen mit ihren
Folgen, und diejenige der Ratschlüsse und Verheißungen
Gottes mit der Art und Weise, wie Er dieselben trotz
allem erfüllen wird. Dies geschieht durch die Gnade.
Diese allein kommt in Betracht, wenn es sich um göttliche
Ratschlüsse und Verheißungen handelt; denn der verantwortliche
Mensch kann sie nicht erringen, seine Schuld
kann sie nicht umstoßen, eine Scene des Verfalls ist nicht
imstande ihnen Fesseln anzulegen, und Gott schilt Satan
selbst, wenn dieser ihren Lauf aufzuhalten sucht. (Sach. 3, 2.)
In dem Maße, wie sich das Böse ausdehnt, entwickelt
sich, stets zunehmend, die Geschichte der Gnade und
schreitet unwiderstehlich voran, bis sie das vorgesteckte Ziel
erreicht hat. Ihr Ausgangspunkt ist das Herz Gottes,
ihr Mittelpunkt die Person des Herrn Jesu, und sie endet
in der strahlenden Herrlichkeit des zweiten Menschen und
in den Segnungen, welche wir mit Ihm teilen werden.
Darum schließt auch das Buch Ruth mit der prophetischen
Erwähnung Desjenigen, welcher die Wurzel und das
Geschlecht Davids ist, des ruhmreichen Erlösers, der Israel
verheißen war.
Doch wenn das Buch Ruth ein Buch der Gnade ist,
227
so ist es notwendigerweise auch ein Buch des Glaubens.
Gnade und Glaube gehen immer mit einander; der Glaube
ergreift die Gnade und eignet sie sich zu, schließt sich den
göttlichen Verheißungen und dem Volke der Verheißungen
an und findet endlich seine Wonne an Dem, welcher der
Träger und der Erbe jener Verheißungen ist. Das also
ist der wunderbare Charakter des Buches, welches wir betrachten
wollen.
„Und es geschah in den Tagen, als die Richter
richteten, da ward eine Hungersnot im Lande." (B. 1.)
Diese Worte schildern die besonderen Umstände der Scene.
Wir befinden uns in den Tagen der Richter, im Lande
Israel. Aber Hungersnot herrscht im Lande,- es
ist eine Zeit, wo die Borsehungswege Gottes sich im
Gericht gegen Sein Volk offenbaren. „Und es zog ein
Mann von Bethlehem-Juda hin, um sich aufzuhalten in
den Gefilden Moabs, er und sein Weib und seine beiden
Söhne." Bethlehem, die Stadt, welche der irdische Geburtsort
des Messias werden (Micha 5,1) und das Vorrecht
haben sollte, den von Israel erwarteten Stern bei seinem
Aufgehen erglänzen zu fehen, erblickte in den Tagen
Noomis nur die Armut und unbedingte Hilfslosigkeit des
Menschen. Die Hand, welche das Volk aufrecht gehalten
hatte, war zurückgezogen, und es mangelte an allem. Diese
in dem Buche der Richter eingehend entwickelte Wahrheit
wird in dem Buche Ruth nur festgestellt, jedoch unter Hinzufügung
gewisser wichtiger Thatsachen. (V. 2—5.)
Während dieser Tage des Verfalls und unter der
züchtigenden Hand Gottes wandert Elimelech, dessen
228
charakteristischer Name „Gott, der König," bedeutet, mit
Noomi („Lieblichkeit") und seinen Kindern aus. Unter
göttlicher Leitung suchen sie einen Zufluchtsort bei den
Heiden. In dieser großen Trübsal ist Noomi immerhin
noch mit ihrem Manne und ihren Kindern verbunden.
Ihr Name hat sich noch nicht verändert; sie trägt ihn
noch, trotz des Verfalls. Aber Elimelech, „Gott, der
König," stirbt, und Noomi bleibt als Witwe zurück.
Durch die Verbindung mit der götzendienerischen Nation
Moabs entweihen sich ihre Söhne und sterben gleichfalls.
Allem Anschein nach ist das Geschlecht Elimelechs ohne
Hoffnung auf Nachkommenschaft erloschen, und Noomi
(„Lieblichkeit"), in Trauer und von nun an unfruchtbar,
ist in bittere Betrübnis versetzt.
„Und Noomi machte sich auf, sie und ihre Schwiegertöchter,
und kehrte zurück ans den Gefilden Moabs; denn
sie hatte im Gefilde Moabs gehört, daß Jehova Sein
Volk heimgesucht habe, nm ihnenBrotzu
geben. Und sie zog aus von dem Orte, wo sie gewesen
war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr; und sie
zogen des Weges, um in das Land Juda zurückzukehren."
(V. 6. 7.) Sobald die Nachricht, daß Jehova Seinem
Volke wieder Gnade erwies, zu Noomi drang, machte sie sich
auf, um in ihr Land zurückzukehren. Der Zustand Israels
war unverändert geblieben; Gott selbst aber hatte den
Tagen des Gerichts, welches schwer auf dem Volke gelastet
hatte, ein Ende gemacht, und diese arme, unter der Bürde
ihres Kummers gebeugte Witwe durfte wieder auf bessere
Tage hoffen. Die Gnade ist eben, wie wir schon gesagt
haben, die erste und vorherrschende Note in dem Buche Ruth.
Alle Segnungen, von denen es spricht, hängen von der
229
Thatsache ab, daß „Gott Sein Volk heimgesucht hatte, um
ihnen Brot zu geben". Mit diesem wohlbekannten Ausdruck
bezeichnet das Alte Testament die Wohlthaten, welche
Israel durch den Messias zufließen werden. „Seine Speise
will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen."
(Ps. 132, 15). Ach! wenn das Volk gewollt hätte, so
würden diese Guter ihr dauerndes Teil geworden sein,
als der Christus in ihrer Mitte erschienen war und den
5000 und den 4000 Männern die Brote vervielfältigte!
Die Schwiegertöchter Noomis begleiten sie, von dem
Gedanken beseelt, „mit ihr zu ih rem Vo lke zurückzukehren."
(B. 10). Aber der gute Wille thut's
nicht allein; denn um mit der Gnade in Berührung zu
kommen, bedarf es nichts Geringeres als des Glaubens.
Das Verhalten Orpas und Ruths erläutert diesen Grundsatz.
Scheinbar unterschieden sich die Beiden in nichts von
einander. Gemeinsam brechen sie mit Noomi auf, reisen
mit ihr zusammen und beweisen ihr so ihre Anhänglichkeit.
Die Zuneigung Orpas entbehrt auch nicht der Wirklichkeit:
sie weint schon bei dem Gedanken, ihre Schwiegermutter verlassen
zu müssen, und vergießt voller Mitgefühl noch viele
Thränen, als sie wirklich Abschied nimmt. Sie, die
Moabiterin, liebt auch das Volk Noomis. „Sie sprechen
(also beide) zu ihr: Doch, wir wollen mit dir zu deinem
Volke zurückkehren." (V. 10.) Man kann aber einen
sehr liebenswürdigen Charakter haben, ohne den Glauben
zu besitzen. Der Glaube ist es, der zwischen diesen beiden,
in vielen Beziehungen so ähnlichen Frauen eine Kluft gräbt.
Das natürliche Herz weicht im Kampf mit unübersteig-
lichen Schwierigkeiten zurück, während der Glaube sich
gerade von denselben nährt und seine Kräfte in ihnen wachsen
230
sieht. Orpa verzichtet auf einen Weg, der keinen Ausgang
zeigte. Was konnte ihr Noomi bieten? Hatte diese,
ruiniert wie sie war, von Gott geschlagen und mit Bitterkeit
erfüllt, noch Söhne in ihrem Schoße, welche sie ihren
Schwiegertöchtern hätte zn Männern geben können? Orpa
küßt ihre Schwiegermutter und kehrt zu ihrem Volke und
zu ihren Göttern zurück. (V. 15.)
So enthüllt sich schließlich das Innere des natürlichen
Herzens. Es kann sich dem Volke Gottes anschließen,
ohne ihm anzugehören. Eine Frau, wie Noomi, ist wohl
wert, Sympathieen zu erwecken; aber Sympathien sind
noch kein Zeichen des Glaubens. Dieser trennt uns zu
allernächst von den Götzenbildern, läßt uns unsre
Götter aufgeben und treibt uns zu dem wahren Gott.
Das war auch der erste Schritt der Thessalonicher auf
dem Wege des Glaubens. (1. Thess. 1, 9.) Orpa hingegen
wendet sich von Noomi und dem Gott Israels ab,
um zu ihrem Volke und zu ihren Göttern zurückzukehren.
Angesichts der Schwierigkeit zeigt sie sich unfähig, die
Probe zu bestehen. Sie geht zwar weinend weg, aber
sie geht weg, ähnlich jenem liebenswürdigen Jüngling,
der traurig wegging, da er sich nicht entschließen konnte,
sich von seinen Gütern zu trennen, um einem armen und
verachteten Herrn nachzufolgen.
Ganz anders ist es mit Ruth. Ein kostbarer Glaube,
voll Bestimmtheit, Entschlossenheit und Entschiedenheit zeigt
sich bei ihr. Da giebt es keinen Einwand, der sie umzustimmen
vermocht hätte. Das Ziel steht ihr klar vor Augen.
Sie hört Wohl die Worte Noomis an, aber ihr Entschluß
ist gefaßt; sie kennt nur einen Weg, der für sie ein
Weg des Müssens ist. Was sind die Unmöglich
231
keiten der Natur gegenüber dem Muß des Glaubens?
Ruth läßt sich weder durch die Aussicht abhalten, nie
wieder einen Mann zu bekommen, noch selbst durch das
Bewußtsein, daß die Hand Jehovas gegen ihre Schwiegermutter
ausgestreckt war; sie erkennt in den sich häufenden
Schwierigkeiten nur umsomehr Gründe, ihrem Entschluß
treu zu bleiben. Noomi ist für Ruth alles, und „Ruth
hing Noomi an".
„Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir
weg umzukehren; denn wohin du gehst, will ich gehen,
und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein
Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will
ich sterben, und daselbst will ich begraben werden. So
soll mir Jehova thun und so hinzufügen, nur der Tod
soll scheiden zwischen mir und dir!" (V. 16. 17.)
Noomi zu begleiten und mit ihr, die für Ruth die einzig
mögliche Verbindung mit Gott und Seinem Volke bildete,
zu ziehen, zu leben und zu sterben, das ist das Begehren
dieser Frau des Glaubens. Indes gehen ihre Gedanken
weit über einen bloßen Anschluß an Israel hinaus; sie
macht sich eins mit dem Volke, wie niedrig auch dessen
Zustand sein mochte, um so dem Gott Israels anzugehören,
dem wahren Gott, der sich nie verändert: „Dein Volk
ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott". Nachdem
sie Moab und seinen Götzen den Rücken gekehrt hat, gehört
sie von nun an einer neuen Sache an, mit der sie sich
eins macht, mit Ausschluß jeder Möglichkeit einer Trennung.
Nur der Tod kann solche Bande zerreißen. Man sieht
hier, wie Gott und der Glaube sich begegnen, sich verstehen
und sich mit einander verbinden. Wie klar und deutlich
läßt uns diese Erzählung erkennen, daß der Glaube das
232
einzige Mittel ist, um den sündigen Menschen mit Gott
in Beziehung zu bringen ! Ähnlich wie Ruth Noomi
anhing, klammert sich der Glaube an den Mittler, den
Gegenstand der Ratschlüsse Gottes, welcher allein ihm
eine gesicherte Verbindung mit dem wahren Gott und eine
unerschütterliche Stellung vor Ihm geben kann.
In der That, es war eine rührende, köstliche Reise,
welche diese beiden betrübten Frauen nach Bethlehem
machten! Reich und voll war Noomi einst von dort
weggezogen, und arm und leer kehrte sie jetzt dahin
zurück. Gab es eine Lage, die an Trostlosigkeit der ihrigen
zu vergleichen gewesen wäre? Ihres Gatten und ihrer
beiden Söhne beraubt, zu alt, um nochmals einem Manne
anzugehören, ohne menschliche Hoffnung auf einen Erben,
ein wahres Bild von Israel, war von feiten der Natur
und des Gesetzes alles für sie zu Ende. Ja, noch mehr;
die Hand Jehovas war gegen sie ausgestreckt und der Allmächtige
selbst, welcher anscheinend die Stütze ihres Glaubens
hätte sein sollen, erfüllte sie unter der Schwere Seiner
Züchtigung mit Bitterkeit. Ihren Namen „Noomi" (Lieblichkeit)
hatte sie gegen „Mara" (Bitterkeit) umgetauscht,
weil „der Gott Israels gegen sie gezeugt und des Allmächtige
ihr Übles gethan hatte". Und Ruth, ihre Ge
fährtin, Witwe und kinderlos wie sie, (die aber niemals
Kinder geboren hatte), dazu eine Fremde, die Tochter
eines verfluchten Volkes, hatte die einstmaligen Segnungen
Israels nie gekannt und besaß auch kein Anrecht auf seine
Verheißungen. So gingen denn beide mit einander; die
eine in vollem Verständnis ihres Zustandes und der auf
ihr lastenden züchtigenden Hand, die andere nur im Besitz
ihres Glaubens und der Noomi, als der einzigen Bande,
233
welche sie mit Gott verknüpften. Ihr Weg ist mit
Schwierigkeiten übersät, aber sie sehen einen Stern erglänzen,
der sie leitet. Die Gnade hat zn leuchten begonnen:
Gott hat Sein Volk heimgesucht, um ihm Brot
zu geben. Die beiden Frauen kommen nach Bethlehem
beim Beginn der Gerstenernte, erreichen also den Ort der
Segnung gerade in dem Augenblick, als die Segnung ausgeteilt
wird. Und dort sollten sie Boas treffen!
Die mit der Prophezeiung nur einigermaßen vertrauten
Leser können nicht verfehlen, in dieser ganzen
Scene ein Gemälde von der bisherigen Geschichte Israels,
sowie von den zukünftigen Wegen Jehovas mit diesem
Volke zu erkennen. Obgleich die Israeliten wegen ihrer
Untreue unter die Heiden vertrieben wurden, blieben doch
noch gewisse Bande zwischen dem Volke und Gott bestehen.
Jehova hatte ja durch einen ihrer Propheten gesagt:
„Obgleich ich sie unter die Nationen entfernt, und obgleich
ich sie in die Länder zerstreut habe, so bin ich ihnen doch
ein wenig zum Heiligtum geworden in den Ländern, wohin
sie gekommen sind." (Hes. 11, 16.) Ihr Elimelech aber
ist tot; das einzige Familienhaupt Israels, Christus, der
Messias, ist „abgeschnitten" worden. Darauf wurde die
Nation inmitten der Heiden gleich einer unfruchtbaren und
ihrer Kinder beraubten Witwe. Wenn sie aber zur
Einsicht kommt, das Gericht Gottes über sich anerkennt
und in Demut diesen Kelch der Bitterkeit trinkt, so wird
das Morgenrot eines neuen Tages für dieses arme Volk
anbrechen. Das alte Israel Gottes, welches in seinem
„Greisenalter" der Gegenstand der Wege Gottes in der
Fremde sein wird, macht sich dann in der Bitterkeit seiner
Seele auf, um die Segnungen der Gnade wiederzufinden.
234
Mit ihm erhebt sich ein neues Israel, ein Lo-Ammi,
welches „nicht sein Volk" war, das aber, in Ruth seinen
Ursprung findend, als ein armer Überrest aus den Ge
filden Moabs zurückkehrt, um wieder „das Volk Gottes" zu
werden. Es wird uns hier unter dem Bilde einer Fremden
vorgestellt, weil es auf Grund des Gesetzes kein Anrecht
auf die Verheißungen hat und durch neue Grundsätze,
durch Gnade und Glauben, in Verbindung mit Jehova
gebracht wird. Auf diesem Boden stehend, wird Gott es
als Sein Volk anerkennen und ihm einen erhabenen Ehrenplatz
geben, indem Er es mit der Herrlichkeit Davids und
des Messias in Verbindung bringt. Dem unfruchtbaren
Boden ist eine frischsprudelnde Quelle entsprungen, welche
aber erst in dem Augenblick hervorkam, als alle menschliche
Hoffnung verloren war. Diese Quelle wird zu fließendem
Wasser, ja zu einem breiten und tiefen Strome, zu dem
Strome der göttlichen Gnade, welcher Israel hinträgt bis
zu dem Meere der messianischen und tausendjährigen
Segnungen.
Kapitel 2.
Wir haben im ersten Kapitel gesehen, wie wunderbar
der Glaube Ruths zum Ausdruck kam. Wunderbar, in
der That, wie ja alles wunderbar ist, was von Gott
kommt! Wunderte sich nicht Jesus selbst über den Hauptmann
von Kapernaum, der durch den Glauben sowohl seine eigene
Unwürdigkeit, als auch die Allmacht des Wortes des Herrn
zur Heilung seines Knechtes erkannte? Das vorliegende
zweite Kapitel stellt uns die verschiedenen Charakterzüge
dieses Glaubens vor, sowie die Segnungen, welche die
Gnade ihm zufließen läßt.
235
Der Glaube Ruths stützte sich bis dahin auf das
Werk der Gnade, welches Gott zu Gunsten Seines Volkes
gethan hatte. Sie bedarf aber eines Gegenstandes für
ihren Glauben, eines persönlichen Gegenstandes, und
es ist unmöglich, daß sie ihn nicht finden sollte. Sie
kennt zwar jenen vermögenden Mann noch nicht, von
welchem im ersten Verse dieses Kapitels die Rede ist;
sie hofft aber auf dem Boden der Gnade mit ihm zusammenzutreffen.
Sagt sie doch zu Noomi: „Laß mich
doch aufs Feld gehen und unter den Ähren auflesen
hinter dem her, in dessen Augen ich Gnade
finden werde." (V. 2.) Dieses Land Israel, wo
Gott Sein Volk heimgesucht hatte, um ihm Brot zu geben,
wird auch wohl einige Ähren für sie übrig haben. Ob
schon arm und ohne Rechte, weiß sie doch, daß sie auf
die Hilfsquellen Jehovas rechnen kann. Ihr Weg ist
klar, wie das ja der Weg des Glaubens stets ist; aber
sie schlägt ihn nicht eigenwillig ein. Wir sind oft geneigt,
das Resultat unsrer eignen Gedanken, oder die Frucht
der Wünsche unsrer natürlichen Herzen als den Weg des
Glaubens zu betrachten, während der Glaube niemals
anders als in voller Abhängigkeit von dem Worte Gottes
handelt. Ruth fragt Noomi um Rat, und diese antwortet
ihr: „Gehe hin, meine Tochter". Sicherlich würde Gott
sie auf diesem Wege in Seine Führung nehmen. Seine
vorsorgliche Gnade läßt sie denn auch das Feldstück des
Boas treffen.
Boas, ein Glied der Familie des verstorbenen Eli-
melech, tritt sozusagen an dessen Stelle. Noomi hat in
Israel einen Beschützer, ein reiches und mächtiges Haupt
ihrer Familie. „In ihm ist die Stärke", um dieses arme,
236
gänzlich verfallene Haus wiederherzustellen. Er trägt den
Namen einer der beiden Säulen des späteren Salomonischen
Tempels (1. .Mn. 7, 21), welche von Salomo aufgestellt
wurden als Zeugen der Aufrichtung seines Reiches, dieser
herrlichen Zeit, welche auf die Drangsale der Regierung
Davids folgte. Boas kommt von Bethlehem, ruft seinen
Leuten den Erntegruß zu (Ps. 129, 8) und erblickt alsbald
Ruth inmitten der Schttitter. So kommt die Gnade dem
Glauben zuvor. Der über die Schnitter bestellte Knecht
giebt auf Befragen von der Moabitin Zeugnis. Arm
und demütig bittend, sagt er, ist sie gekommen; sie hat
sich gleich an die Arbeit gegebsn und sich kaum Ruhe
gegönnt. Ähnlich wie dieser Knecht, giebt heute der
Geist Gottes von dem Charakter und der Thätigkeit unsers
Glaubens Zeugnis. „Unablässig eingedenk euers Werkes
des Glaubens", schreibt der Apostel an die Thessalonicher.
Der Glaube müht sich und ruht nicht eher, bis er die
Segnungen, die Gott auf seinen Weg gestreut, eingesammelt
hat.
Bon welch rührender Schönheit ist dieses erste Zusammentreffen
zwischen Boas und Ruth! Die Worte,
welche über die Lippen des vermögenden Mannes kommen,
tönen wie himmlische Musik in den Ohren der armen
Fremden. Macht er ihr Vorstellungen über ihr unberechtigtes
Eindringen? Wer könnte das von ihm denken!
Nein, er sagt: „Hörst du, meine Tochter?" Gerade auf
meinem Felde und auf keinem andern wollte und will ich
dich haben. Nichts soll dich zwingen, es zu verlassen. —
Boas gesellt sie seinen Schnitterinnen zu. Auch hat sie
niemanden zu fürchten; hat er nicht ihretwegen Befehl gegeben
? Und wie ihr das Feld des Boas Nahrung bietet,
237
so findet sie dort auch Gelegenheit, ihren Durst zu löschen.
Wie häufen sich hier die Gnadenbeweise für Ruth! Doch
Geduld! dieses Kapitel berichtet noch von anderen, und die
folgenden Kapitel wieder von anderen Gunsterweisungen.
Sie vervielfältigen sich und wachsen bis zu den Grenzen
der Ewigkeit! Was sollte Ruth dazu sagen? Wenn der
Glaube eine wunderbare Sache ist, wie viel wunderbarer
noch ist Er, der Gegenstand des Glaubens! Welch eine
Majestät, verbunden mit tiefster Herablassung, ja mit einer
fast mütterlichen Zärtlichkeit zeigt sich in ihm! Er erhebt sich
wie die eherne Säule des Tempels Salomons und läßt sich
herab bis zu der eingehendsten und lieblichsten Fürsorge
der Liebe — einer Liebe, die nichts mit menschlicher
Leidenschaft gemein hat, welche voll heiliger und barmherziger
Würde den geliebten Gegenstand zu sich erhebt,
nachdem sie sich vorher zu ihm herabgelassen hat. So ist
Boas, und so ist unser Jesus!
Nicht auf einmal kommt uns die Kenntnis der Hilfsquellen
der Gnade. Diese werden erst nach dem Maße
der Thätigkeit unsers Glaubens unser Teil. Nach und
nach eröffnet uns Christus den Genuß der unendlichen
Schätze Seines Herzens.
Das Erste, was Ruth thut, ist, auf ihr Angesicht zu
fallen und sich zur Erde zu bücken. Sollte sie nicht
dankbar sein, wenn Boas so zu ihr sprach? — Ihr, die ihr
behauptet, Christum zu kennen, ihr habt niemals an Ihn
geglaubt, wenn nicht die Worte Seines Mundes euch zu
Seinen Füßen haben niedersinken lassen! Ihr Rationalisten
unsrer Tage, mit euern trockenen Herzen und dürren
Seelen, die ihr den Namen „Christen" zu tragen waget,
aber über das Wort unsers Herrn zu Gericht sitzet, anstatt
238
es aufzunehmen; Unsinnige, die ihr euch stolz in Seiner-
Gegenwart erhebt und eure Kritiken und Zerstückelungen
jenes Wortes Ihm entgegenschleudert, welche im Grunde
beschimpfender sind als die lästerlichen Flüche roher Soldaten
— während ihr vernichtet euch Ihm zu Füßen werfen solltet
. . . . gehet, ziehet euch zurück, verharret bei euerm
Stolze, bis das Gericht euch erreicht! Die Felder des
Boas, seine Verheißungen und seine Person werden euch
niemals angehören.
Ruth öffnet jetzt ihrerseits den Mund. „Warum",
fragt sie, „habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, daß
du mich beachtest, da ich doch eine Fremde bin?" Dieses
„Warum" ist schön; es bekundet eine tiefe Demut bei
diesem jungen Weibe. Sie sagt damit gleichsam: Ich
habe kein Recht auf solche Gunst. Sie beschäftigt sich
mit sich selbst nur, um ihre Unwürdigkeit zu bekennen;
wie aber schätzt sie ihn! „Du hast mich beachtet, als ich
nichts war für dich!"
Der Knecht hatte von der armen Moabitin bereits
Zeugnis abgelegt; jetzt ist es der Herr selbst, welcher ihr
sagt, was er in ihr findet. Sie war ihm nicht mit ihrer
Gerechtigkeit entgegengetreten, wie einst Hiob vor Gott
trat. Ihre Erfahrungen hatten da begonnen, wo Hiob
die seinigen beendet hatte, und Derjenige, zu dessen Füßen
sie niedergesunken war, übernimmt es jetzt, ihren Charakter
ans Licht zu stellen; denn er wußte alles. „Es ist mir
wohl berichtet worden, alles was du gethan hast an
deiner Schwiegermutter, nach dem Tode deines Mannes,
indem du deinen Vater und deine Mutter und das Land
deiner Geburt verlassen hast und zu einem'Volke gezogen
bist, das du früher nicht kanntest." Boas stellt bei Ruth
239
die Bemühung der Liebe, die Frucht des Glaubens, fest;
ihre Sorge für Noomi, dieses Vorbild des bekümmerten
und bedrängten Volkes, war von ihm nicht unbeachtet geblieben.
Ja, diese arme Tochter Moabs war eine wahre
Israelitin, in welcher kein Trug war. Auch hatte sie,
als wahre Tochter Abrahams, ihr Land und ihre Verwandtschaft
verlassen und sich zu einem ihr unbekannten
Volke begeben. Boas drückt das Siegel seiner Zustimmung
auf soviel Liebe und Glauben und verheißt ihr dann eine
Belohnung: „Jehova vergelte dir dein Thun, und voll
sei dein Lohn von Jehova, dem Gott Israels, unter dessen
Flügeln Zuflucht zu suchen du gekommen bist!" Der
Lohn ist nicht das Endziel des Glaubens, aber er dient
zu seiner Ermunterung.
Ruth antwortet wie einst Mose in 2. Mose 33, 13.
Das Lob des Boas macht sie nicht stolz; sie fühlt, daß
alles Gnade ist, und wünscht noch mehr Gnade zu finden.
Sie erkennt seine Autorität über sich an und nennt sich
seine unwürdige Dienerin. Dann zeichnet Boas sie dadurch
aus, daß er sie zu seiner Mahlzeit einladet. Ruth sitzt
an der Tafel des Boas! Welch eine Gunstbezeigung für
die arme Fremde! „Sie aß, und wurde satt und ließ
übrig." Ist es nicht, als wenn wir der Vermehrung der
Brote durch Jesum beiwohnten?
Die Gemeinschaft, welche Ruth soeben an der
Tafel des Boas gefunden hat, läßt sie indes ihre Pflicht
nicht vergessen. Im Gegenteil schöpft sie daraus neue
Kraft zu frischer Thätigkeit, und zwar mit Ergebnissen,
welche noch reicher und gesegneter sind als die vorhergehenden.
Unser Werk muß, wenn es erfolgreich sein
soll, aus dem entspringen, was wir für uns selbst empfangen
240
haben, und wird um so größere Erfolge aufweisen, je
mehr wir Persönlich die Gegenwart des Herrn genossen
haben.
Ein Herz, das von Christo Speise und Trank
empsangen hat, kann niemals selbstsüchtig sein. Steht
nicht geschrieben: „Aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen
Wassers fließen"? (Joh. 7.) Ruth denkt an Noomi
und bringt ihr bei ihrer Rückkehr die Reste der Mahlzeit
und was sie an Ähren aufgelesen hat mit, damit ihre
Schwiegermutter gleichfalls gesättigt werde. So widmet auch
der Gläubige seine Arbeit dem Volke Gottes und sucht
dessen Wohl zu befördern. Wie wenige Christen verwirklichen
das! Welche Wichtigkeit hat das Wohl der Kirche Christi
für solche, welche die eigene Kirche oder ihr Volk mit
seinen Göttern ihr vorziehen? Das arme, bekümmerte
Volk Jehovas erscheint diesen gleichgültigen Herzen der
Sorgfalt nicht wert. Sie bestehen vielleicht auf dem
Werke des Evangeliums der Welt gegenüber; aber ein
Herz, das mit dem Herrn in Gemeinschaft ist, bringt
nicht das Eine dem Andern zum Opfer. Der Apostel
Paulus war ebensowohl Diener der Versammlung als
Diener des Evangeliums. Er liebte die Kirche, welche
Christus in Seiner Liebe mit Seinem eignen Blute erkauft
hatte. Weit davon entfernt, an einer Sekte oder einer
Kirche nach seinen Gedanken zu hängen, kannte er nur
die Versammlung Christi, und wachte über sie mit einer
göttlichen Eifersucht, um sie dem Herrn als eine keusche
Jungfrau darzustellen.
Noomis Herz ist voll Dankbarkeit gegen den Mann,
der Ruth beachtet hatte, als er sie wie eine Fremde hätte
zurückweisen können. Wie lieblich ist die Unterhaltung
241
zwischen diesen beiden gottesfürchtigen Frauen! Ruth
spricht den schönen Namen Boas aus, und Noomi antwortet
mit Danksagungen gegen Den, dessen Güte nicht
abgelassen hatte von den Lebenden und von den Toten.
Der Charakter Noomis ist wahrhaft rührend. Ruth
zeigt mehr von dem ersten Feuer eines jungen Glaubens,
während Noomi die Erfahrung eines Glaubens verrät,
der in der Schule der Prüfung gereift ist. — Geht nicht,
ihr jungen christlichen Seelen, achtlos an der Erfahrung
solcher vorüber, welche den Herrn lange Zeit vor euch
gekannt hüben! — Noomi hilft ihrer Schwiegertochter zu
besserem Verständnis: „Der Mann ist uns nahe verwandt",
sagt sie, „er ist einer von unseren Blutsverwandten"
(eigentl. Lösern; vergl. 3. Mose 25, 25 ff.; 5. Mose 25, 5).
Die Erfahrung ist stets mit Verständnis verbunden.
Noomi hat ein Bewußtsein davon, was sich in Israel
geziemt, von der Ordnung, welche das Haus Gottes zieren
soll. Die Ratschläge christlicher Erfahrung fesseln die
Seele stets an die Familie Gottes und an Christum, so
wie der Rat Noomis Ruth an die Umgebung des Boas
fesselte. Zugleich trennen sie die Seele von allen andern
Feldern. (V. 22.) Vielleicht würden diese letzteren den
Lesenden ebenso viele Ähren darbieten, aber die Gegen
wart desjenigen, mit welchem das Herz Ruths von jetzt
an unauflöslich verbunden war, sowie der Frieden und
die Freude, die er austeilt, würden fehlen. Es ist dies
eine kostbare Erfahrung solcher, die auf dem Wege des
Glaubens alt geworden sind; denn sie trägt dazu bei, bei
jungen Seelen einen Wandel in Heiligkeit zu bewirken.
So ist es auch der Mund der Erfahrung, der
stets am besten zu danken verstehen wird; denn er kennt
242
die Gnade und Güte Jehovas in der Vergangenheit wie
in der Gegenwart. — Ruth hält sich zu Boas und
wohnt bei ihrer Schwiegermutter.
(Schluß folgt.)
Sünde, Tod und Sieg.
„Der Stachel des Todes aber ist die Sünde,
die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz. Gott
aber sei Dank, der uns den Sieg giebt durch unsern
Herrn Jesum Christum!" (1. Kor. 15, 56. 57.)
Sünde und Tod sind beide Eindringlinge in die
herrliche Schöpfung Gottes. Beide sind durch den Menschen
in die Welt gekommen, obwohl Gott das erste Menschenpaar
aufrichtig erschaffen und in Seinem eigenen Bilde
gemacht hatte. „Durch einen Menfchen ist die Sünde in
die Welt gekommen." „Durch einen Menschen kam der
T od." (Röm. 5, 12; 1. Kor. 15, 21.) Wie schmerzlich und
demütigend ist der Gedanke an das, was der Mensch gethan
hat! Wir sind vertraut mit Sünde und Tod. Sie stehen jeden
Tag vor unsern Augen. Die Sünde mit ihren schrecklichen
Ergebnissen, als da sind: Raub und Mord, Auflehnung
gegen göttliche und menschliche Autorität, Neid
und Streit, Jammer und Elend, Schmerzen und Krankheiten
— die Sünde umgiebt uns von allen Seiten; und
der Tod in seinen mannigfaltigen, erschreckenden Gestalten,
mit all seinen niederbeugenden und oft herzzerreißenden Neben-
nmständen, fordert unaufhörlich seine Opfer. Die Sünde
frißt, gleich einem Krebse, an der Lebenskraft des Menschen,
und durch seine vielgestaltigen Wirkungen sind die Krankenhäuser
überfüllt, die Irrenhäuser und Besserungs-Anstalten
bis zum letzten Platze besetzt, und die Gefängnisse mit
243
Tausenden und aber Tausenden von Menschen aus jung
und alt, vornehm und gering bevölkert. Man seufzt und
klagt, man weint und jammert, man flucht und tobt.
Man ist unzufrieden mit allem, und viele sind eifrig beschäftigt,
jede Sitte und Ordnung abzuschaffen und den
Umsturz alles Bestehenden vorzubereiten. Die Sünde erniedrigt
nicht nur, sie verdirbt auch; sie gräbt ihre furchtbaren
Zeichen in die Tafeln der Zeit und führt ihre
Opfer blindlings der finstern Ewigkeit zu. Wie schön muß
diese Erde gewesen sein, ehe die Sünde kam! Wie ungleich
muß sie heute ihrem ursprünglichen Bilde sein, nachdem
seit nahezu sechstausend Jahren die Sünde geherrscht hat
zum Tode!
Auf die Sünde gründen sich die unbeugsamen Ansprüche
des Todes. Kein Einziger aus der Nachkommenschaft
Adams steht außerhalb seines Bereichs. Der Tod
nimmt keine Entschuldigung an, gewährt keinen Aufschub.
Nichts kann ihm den Zutritt verwehren. Er macht keine
Ausnahme, und derer, welche täglich und stündlich seiner
kalten Umarmung anheimfallen, sind so viele, daß die Welt
eifrig beschäftigt ist, seine Opfer den Blicken der Lebenden
zu entziehen. Die Grabstätten füllen sich mit unglaublicher
Schnelligkeit, und die Zahl der Totenäcker mehrt
sich zusehends. Alles was da lebt und sich regt um uns
her, ist dem Tode unterworfen und geht ihm entgegen.
Die Menschen wissen das und handeln demgemäß. Sie
machen ihr Testament, versichern ihr Leben und sorgen für
ihre Nachkommen, weil sie sterblich sind; und obwohl die
meisten den Tod von sich persönlich weit entfernt wähnen,
zweifelt doch niemand an der Thatsache, daß er still, aber
sicher, sein Werk verrichtet. Kaum ist ein Kind in diese
244
Welt hineingeboren, so beginnen auch schon die Verwandten
um sein Leben zu bangen.
Doch der Tod wird einmal gänzlich aus der Welt
geschasst werden. „Der letzte Feind, der weggethan wird,
ist der Tod." Jesus hat den Tod zunichte gemacht, und
Er wird die Werke des Teufels zerstören und alle Dinge
Seiner Herrschaft unterwerfen. Tod und Hades werden
in den Feuersee geworfen werden. In dem neuen
Himmel und auf der neuen Erde werden keine Thränen
mehr fließen; „der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer,
noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das
Erste ist vergangen." (Offbg. 20, 14; 21, 4.) Herrliche,
beglückende Aussicht!
Jetzt sind wir uns in schmerzlicher Weise bewußt,
daß die Sünde herrscht zum Tode, und daß sie die Gebieterin
des Sünders ist. Und in der Gefolgschaft der
Sünde lauert der Tod. „Der Tod ist der Sünde Sold."
Welch ein furchtbarer Sold! Und so wie der Tod der
Sünde folgt, so folgt das Gericht dem Tode. „Es ist
den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, darnach aber
das Gericht." (Hebr. 9, 27.) Ernste Wahrheit! Die
Menschen können Sünde nnd Tod nicht aus ihrem Gesichtskreis
verbannen, obwohl viele ihrer armen Opfer so verborgen
gehalten werden, daß ein Fremder, der durch eine
volkreiche Stadt geht, sich zu der Frage versucht fühlen
könnte, ob es überhaupt Wohl Kranke und Sterbende in
ihr gäbe. Und doch ruhen beinahe in jeder Straße
Kranke auf ihren Schmerzenslagern, und in vielen Häusern
stehen unsterbliche Seelen an der Schwelle der Ewigkeit.
Die Menschen geben sich Mühe, jeden Gedanken an
das kommende Gericht ,aus ihrem Herzen zu verbannen;
245
Weil sie es nicht sehen, wollen sie nicht daran glauben,
obwohl nichts deutlicher sein könnte, als der inspirierte
und unwiderrufliche Ausspruch der göttlichen Wahrheit:
„Darnach (d. h. nach dem Tode) das Gericht''. Der
Mensch sucht die „Sünde" zu entschuldigen, sich dem
„Tode" gegenüber stark zu machen und jeden Gedanken an
das kommende „Gericht" von sich fern zu halten; trotzdem
geschrieben steht: „Wisset, daß eure Sünde euch finden
wird", und: „Also wird ein jeder von uns für sich selbst
Gott Rechenschaft geben". (4. Mose 32, 23; Röm. 14, 12.)
Auch im Blick auf den Tod sucht sich der Mensch zu
betrügen. Der Lieblingswnnsch vieler ist, „einen leichten
Tod" zu haben. Der Soldat schmeichelt sich damit, daß
er, wenn er auf dem Schlachtfelde fallen sollte, seine Pflicht
gethan habe und eines ehrenvollen Todes sterbe; an die
ernste Thatsache, daß nach dem Tode das Gericht kommt,
denkt er nicht. Der freigebige Menschenfreund, der seinen
wachsenden Reichtum dazu benutzt, die Not seiner Mitmenschen
zu lindern, sucht sich mit der falschen Vorstellung
zu trösten, seine Werke seien so verdienstvoll, daß es im
Jenseits sicher wohl um ihn stehen werde; als wenn Gott
nicht wieder und wieder erklärt hätte, daß niemand aus
Werken gerechtfertigt wird, auf daß sich kein Fleisch rühme.
Der sittliche, sich selbst verleugnende Mensch erkühnt sich
zu sagen: „Ich schrecke nicht vor dem Tode zurück; denn
ich bin stets ein aufrichtiger, ehrlicher Mensch gewesen.
Ich habe mich mein Lebenlang redlich bestrebt, gegen Gott
und Menschen meine Pflichten zu erfüllen" ; trotzdem die
Schrift klar und deutlich beweist, daß alle „unter der
Sünde" sind und daß die, „welche im Fleische sind, Gott
nicht gefallen können". Thatsache ist, daß Hunderttausende
246
und Millionen blindlings und gedankenlos der Ewigkeit
entgegen eilen, als wenn sie „ohne Sünde" wären, anstatt
„Sünder", die einen heiligen, die Sünde hassenden Gott
tausendfach beleidigt haben.
Aber der Tod hat seinen Stachel: „Der Stachel
des Todes ist die Sünde". Es ist in der That etwas
Furchtbares, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.
Der Mensch muß Gott Rechenschaft geben von all seinem
Thun und Lassen. Die Sünde stachelt das Gewissen.
Der Mensch kann nicht sterben, wie er es gern möchte.
Es giebt etwas in dem menschlichen Herzen, das durch
nichts anderes als durch die ewigen Dinge befriedigt
werden kann. „Gott hat die Ewigkeit in ihr Herz gelegt."
iPred. 3, 11.) Allerlei Vorkehrungen, mit welchen freundliche
Hände ein Sterbebett zu erleichtern suchen, und nicht
selten auch eine Menge trügerischer Einflüsse und Einflüsterungen
vereinigen sich, um den armen Sterbenden
über den Ernst seiner Lage hinweg zu täuschen und ihm
den Übergang aus dem Zeitlichen in das Ewige so leicht
wie möglich zu machen. Aber ach! wie mancher hat in
seinen letzten Stunden zu seinem Schrecken erkennen
müssen, daß nicht alles stand, wie es stehen sollte; denn
die Sünde hat ihren furchtbaren Stachel. Der Gedanke,
vor dem dreimal heiligen Gott erscheinen und sogar von
jedem unnützen Wort Rechenschaft geben zu müssen, ist
schrecklich. Das Gewissen erhebt seine anklagende Stimme;
die vielen verlornen Tage, das Trachten nach den vergänglichen
Schätzen dieser Welt, die Sucht nach ihren sündhaften
Vergnügungen, die Erinnerung an so manche häßliche
Gedanken, Worte und Werke — alles das erhebt sich
vor dem Geistesauge des Sterbenden, während er erzittert
— 247
unter der harten, erbarmungslosen Faust, die sich nach
ihm ausstreckt. Gleich jenem Könige, der, an prunkender
Tafel sitzend, die geheimnisvolle Schrift auf der Wand
seines Palastes erscheinen sah, lösen sich die Bänder seiner
Hüften, seine Kniee schlagen an einander, und die Seelenangst
wird unerträglich. Tod und Gericht, Himmel und
Hölle, Sünde und Schuld, ziehen an den Blicken des
Unglücklichen vorüber, der seine Kräfte immer mehr schwinden
fühlt und für eine einzige Stunde Frist sein ganzes Vermögen
hingeben möchte. Aber es ist umsonst, die Gnadenzeit
ist abgelaufen. Schrecklich, so in die Ewigkeit hinüberzugehen,
ohneHoffnung und mit seinen Sünden.— Wahrlich,
der Tod hat seinen Stachel, und dieser Stachel ist die Sünde!
Nichts auf Erden vermag diesen scharfen, verwundenden
Stachel zu entfernen, nichts dessen Schärfe zu mildern;
selbst das Gesetz Moses nicht, das doch heilig, gerecht und
gut ist. Im Gegenteil, je mehr eine beunruhigte Seele
sich an die zehn Gebote als Heilmittel klammert, desto
größer wird ihre Not, desto tiefer und fühlbarer ihr Elend;
denn die Kraft der Sünde ist das Gesetz. „Aus
Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt
werden, denn durch Gesetz kommt Erkenntnis
der Sünde." — „Das Gesetz aber kam daneben ein,
auf daß die Übertretung überströmend würde." (Röm. 3,
20; 5, 20.) So nützlich also das Gesetz ist, um dem
Menschen zu zeigen, daß er ein Sünder ist, so stellt es
doch nur die Sünde ans Licht, anstatt sie zu entfernen,
und es verurteilt den Sünder; und anstatt dem beunruhigten
Gewissen Ruhe zu bringen, verschärft es nur noch das
Schuldbewußtsein und vermehrt die Schwere der Bürde.
Das Halten des Gesetzes ist nicht das göttliche Heilmittel
248
für den Sünder; nein, „die Kraft der Sünde ist das
Gesetz". Je mehr ein Mensch sich vornimmt sich zu bessern,
je mehr er seine Anstrengungen zu verdoppeln sucht, desto
mehr wird sein Gewissen aufwachen, und desto elender
und hoffnungsloser wird er sich fühlen. Ja, mehr als
das; da die fleischliche Gesinnung Feindschaft ist gegen
Gott und Seinem Willen nicht Unterthan, so ist der Mensch
geneigt, jedes Gebot, das Gott giebt, sofort zu übertreten.
Anstatt sich zu unterwerfen, lehnt sich das Fleisch
gegen das Gebot auf, „so daß", wie der Apostel sagt,
„die Sünde, auf daß sie als Sünde erschiene, durch das
Gute (das Gesetz) in mir den Tod bewirkt". Denn das
Gesetz ist heilig, und das Gebot heilig und gerecht und
gut. (Röm. 7, 12. 13.) Mein Zustand ist so verderbt,
mein Fleisch so unverbesserlich böse, daß das Erlassen
eines Gebotes nur die Sünde in mir auflebeu läßt. Es
bewirkt die Lust in mir, gerade das Entgegengesetzte des
Gebotenen zu thun. Ist also die Sünde der Stachel
des Todes, so ist das Gesetz die Kraft der Sünde.
So stehen denn Sünde, Tod und Gericht mit dem
Menschen als Sünder in Verbindung, und so weit es ihn
betrifft, ist diese Verbindung unauflöslich. „Ich elender
Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des
Todes?" So lautet die verzweifelte Frage am Ende des
7. Kapitels des Römerbriefes. Das ist das Ende aller
Anstrengungen in eigner Kraft, das Gute zu thun und
das Böse zu lassen. Doch der Glaube hat eine triumphierende
Antwort; sie lautet: „Ich danke Gott durch Jesum
Christum, unsern Herrn." Ja, Gott sei gepriesen!
Er hat Sünde, Tod und Gericht mit Seinem fleckenlosen
Opfer auf Golgatha in Verbindung gebracht, damit wir
249
davon befreit würden. Das ist nicht Gesetz, sondern Gnade-
Es zeigt, was Gott gethan hat für das ewige Heil und
die ewige Segnung aller derer, welche an Jesum glauben.
Die Sünde mußte gerichtet und ihr Sold ausbezahlt werden.
Deshalb hat Jesus für die Sünden gelitten, ist für unsre
Sünden gestorben und hat Sein Blut vergossen zur Vergebung
der Sünden Vieler. Der Ungläubige geht dem
großen weißen Throne entgegen, um dort für seine Sünden
gerichtet und in den Feuersee geworfen zu werden, welches
ist der zweite Tod. Dort, an jener schrecklichen Stätte,
werden alle Nichterlösten mit Sünde, Tod und Gericht
für alle Ewigkeit in Verbindung sein. Der Gläubige
aber ist, Gott sei Dank! kraft des Versöhnungswerkes
Seines Sohnes von aller Sünde gereinigt und wird nicht
ins Gericht kommen, weil alle seine Sünden bereits an
seinem Heilande gerichtet worden sind und er aus dem
Tode in das Leben hinübergegangen ist. Tod und Gericht
liegen hinter dem Gläubigen, und die Hoffnung der Herrlichkeit,
welche bei der Ankunft Christi sein Teil sein wird,
unmittelbar vor ihm. Alles ist von Gott und kann heute
gekannt und genossen werden. Preis und Anbetung geziemt
uns deshalb gegenüber dem Gott und Vater unsers
Herrn Jesu Christi für Seine überströmende Gnade und
Seine wunderbare Gabe. Er hat uns, den ohnmächtigen
Sklaven Satans, „Sieg" verliehen. Deshalb wird auch in der
Stelle, die wir betrachten, sogleich hinzugefügt: „Gott
aber sei Dank, der uns den Sieg giebt durch unsern
Herrn Jesum Christum!"
Der Leser wolle sorgfältig beachten: 1) Daß Gott
die Quelle all unsers Heils und Segens ist, der Gott,
welcher heilig ist in allen Seinen Wegen und gerecht in
250
all Seinem Thun — „Gott aber sei Dank!" 2) Daß
der Sieg eine freie, unverdiente Gabe ist — „der uns
den Sieg giebt" —nicht erworben oder verdient, sondern
gegeben, und zwar jetzt gegeben; nicht erst später, sondern
jetzt. Es ist die unverdiente Gabe des Gottes, der
Liebe ist und uns also geliebt hat, daß, während wir noch
Sünder waren, Christus für uns gestorben ist. 3) Daß
das, was Gott uns giebt, der Sieg ist, nicht Hilfe, nicht
Religion, nicht nur Vergebung, sondern Sieg — „Gott
aber sei Dank, der uns den Sieg giebt!" — den Sieg
über die Schuld und Herrschaft der Sünde, über alle
Mühsale nnd Beschwerden der Wüstenreise, den Sieg über
Tod und Grab (der Tod ist unser, 1. Kor. 3, 22),
ja selbst über Satan, der die Macht des Todes hat; ein
Sieg durch Den, der das Gericht über unsere Sünden
getragen und in der Auferstehung über alle unsere Feinde
triumphiert hat. Diesen Sieg, den Christus errungen
hat, giebt uns Gott, und zwar, weil alle unsere Sünden
gemäß der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ihr Gericht
empfangen haben, und weil Er, der am Kreuze unter der
ganzen Last unsrer Sünden in den Tod ging, siegreich
aus den Toten auferstanden und als Mensch in die Herrlichkeit
Gottes zurückgekehrt ist. Wir, mit Ihm im Leben
nnd durch den Heiligen Geist verbunden, stehen nun vor
Gott, annehmlich gemacht in Ihm, dem Geliebten, gesegnet,
vollkommen gemacht und bewahrt in Ihm.
Beachten wir 4l, daß alles von Gott ist und alles
durch Jesum Christum. „Gott aber sei Dank, der
uns den Sieg giebt durch unsern Herrn Jesum
Christum!" Welch eine Gnade, welch eine Segnung,
alle unsre.Bedürfnisse als Sünder in dem Tode Christi
251
beantwortet zu finden! Und nicht nur das; auch ein
gegenwärtiger Sieg ist uns geschenkt in Ihm und
durch Ihn, der unser Leben ist und sich auf immerdar
jenseits des Todes und Grabes befindet. Ein gegen
wärtiger Sieg für alle, die Christum als ihren Heiland
im Glauben aufnehmen! Wie tief und reich ist doch die
Gnade Gottes! Alle unsere ewigen Segnungen sind in
Gerechtigkeit gegründet auf das Sühnungswerk Christi,
und der Sieg ist uns gegeben über die Herrschaft und
Strafe der Sünde! Der Sieg über den Tod! der Sieg
über das Grab! Denn wenn Jesus kommt, so lange
wir hienieden leben, werden wir weder sterben noch ins
Grab hinabsteigen, sondern in einem Augenblick verwandelt
und entrückt werden; und wenn wir in Jesu entschlafen,
ehe Er kommt, so ist der Stachel des Todes durch
Sein Blut hinweggenommen, so daß wir die Schrecken des
Todes nicht schmecken, und bei Seiner Ankunft werden unsere
Leiber auferweckt und verwandelt werden, so daß es immer
wieder Sieg über Tod und Grab, über Satan und alle
Mächte der Finsternis ist. — Mein Leser, kannst du sagen,
daß alles dieses dein Teil ist durch die Gnade Gottes
und durch den Glauben an Jesum Christum, Seinen geliebten
Sohn?
Es ist Gott, der uns, den Glaubenden, diesen Sieg
giebt. In Glaube und Hoffnung singen wir jetzt schon
Siegeslieder, und wenn der Herr kommt, wird der Himmel
wiederhallen von dem Siegesjubel der ins Vaterhaus einziehenden
Erlösten. Sollte es unser Los sein, in Jesu
zu entschlafen, so befähigt uns Seine Gnade, zu sagen:
„Wo ist, o Tod, dein Stachel? Wo ist, o Tod, dein
Sieg? . . . Gott aber sei Dank, der uns den Sieg giebt
252
durch unsern Herrn Jesum Christum!" — Welch ein
Sieg! Er ist Dessen würdig, der ihn für uns auf Kosten
Seines Lebens errungen hat. Ihm sei Lob und Dank
dafür in Ewigkeit!
O hochbeglückte Seele!
O hochbeglückte Seele,
Die es für Freude hält,
Zu thun des Herrn Befehle
Aufrichtig, unverstellt.
Die sich recht dankbar, kindlich
Ihm stets zu dienen freut,
Und herzlich und empfindlich
Den kleinsten Fehl bereut.
Sie lässet kaum sich's merken,
Wenn eine Last sie drückt;
Sie denkt: E r wird schon stärken,
Der mir die Last geschickt.
Sie lächelt durch die Thränen;
Und beugt sie auch der Schmerz,
Kann sie sich müde lehnen
An des Geliebten Herz.
Sie hänget Herz und Blicke
An den geliebten Herrn,
In keinem Augenblicke
Ist sie Ihm fremd und fern.
Er braucht nicht laut zu mahnen,
Sie folgt Ihm froh und still;
Die Liebe weiß zu ahnen,
Was der Geliebte will.
Da kann sie selig weinen,
Sie fühlt: Er fühlt es mit,
Der mehr als solchen kleinen,
Geringen Schmerz erlitt.
Ihm kann sie alles klagen,
Er hört sie an voll Huld,
Der, fremden Schmerz zu tragen,
Sich hingab voll Geduld.
Wie ist ihr Los erfreulich,
Wie geht es ihr so gut!
Drum dienet sie so treulich
Dem Herrn mit Gut und Blut.
In gut und bösen Tagen,
Gemach und Ungemach,
In Freuden und in Plagen
Geht sie Ihm folgsam nach.
(Nach SPitta)
Das Buch Ruth.
(Schluß.)
Kapitel 3.
Naomi liefert uns, wie bereits bemerkt, nicht nnr
ein Beispiel von Erfahrung, sondern auch von Verständnis.
Ein Glück für Ruth, daß sie eine solche
Führerin gefunden hat! Noomi gebietet; aber ihre Gebote
enthalten nichts Beschwerliches, weil es Gebote der Liebe
sind. „Meine Tochter, sollte ich dir nicht Ruhe suchen,
daß es dir Wohl gehe?" (V. 1.) Was sie anordnet,
geschieht im Blick auf das Wohlergehen der von ihr geliebten
Ruth, aber auch weil sie das Herz des Boas kennt: „Ist
er nicht unser Verwandter?" Ruth, die Frau des Glaubens,
gehorcht: „sie that nach allem, was ihre Schwiegermutter
ihr geboten hatte". (V. 6.) Möchten wir stets in gleicher
Weife gehorsam sein! Der Gehorsam fällt denen leicht,
welche wissen, daß Gott sie liebt und nur ihre Ruhe und
ihr Glück will; daß Christus sie liebt und sie stets auf
Seinem Herzen trägt. Das Gehorchen wird aber schwer,
wenn die Seele sich selbst befriedigen und Glück und Ruhe
außer Christo finden will.
Die Arbeit des Boas nahte ihrem Ende; nachdem
das Getreide eingeerntet war, mußte es auf der Tenne
geworfelt und dann in die Scheuern eingesammelt werden.
XUIV Ui
254
Sein Herz war fröhlich; wird er wohl die arme Moabitin
von sich stoßen? Noomi ist voll Vertrauen nnd weiß der
Ruth den Weg der Segnung anzudeuten. „Bade dich
und salbe dich nnd lege deine Kleider an, und gehe hinab
zur Tenne; laß dich nicht bemerken von dem Manne, bis
er fertig ist mit Essen und Trinken. Und es geschehe,
wenn er sich hinlegt, so merke den Ort, wo er sich hinlegt,
und gehe nnd decke auf zu seinen Füßen nnd lege dich
hin; er aber wird dir kundthun, was du thun sollst."
(V. 3 u. 4.) Ruth muß sich für diese Zusammenkunft
vorbereiten, sich zu seinen Füßen niederlegen und auf sein
Wort warten. Das wird auch den armen Überrest Israels
charakterisieren, welcher bei dem Wiederanfwachen des
Messias nach der langen Nacht, des Wartens treu erfunden
werden wird. Aber, möchte ich fragen, sollte das nicht
mit noch größerem Recht auch uns kennzeichnen? Wir
haben die Aufforderung gehört, uns zu waschen, zu salben
und uns für Ihn allein zu schmücken. Haben wir das
vergessen? Wo befinden wir uns in diesem Augenblick?
Sind wir in Seine Tenne eingetreten, um dort die Nacht
zu verbringen, oder befinden wir uns in der Tenne der
Fremden? Haben wir, wie Ruth, aus der Tiefe unsrer
Herzen geantwortet: „Alles was du gesagt hast, will ich
thun" ? Ja, Er will, daß wir Praktisch Seiner würdig
seien, daß wir, zu Seinen Füßen liegend nnd Seine Rechte
über uns anerkennend, während der Stunden der Nacht
still und friedlich auf Sein Wort warten. Bald wird
unser Boas Sein Schweigen brechen. Wird es geschehen,
um uus streng zu tadeln, oder um Seinem Beifall betreffs
unsers Verhaltens Ausdruck zu geben?
Mitten in der Nacht erkennt Boas sie, die sich unter
255
seinen Schutz gestellt hat, und er segnet sie. Das Buch
Ruth, diese Geschichte der Gnade, ist voll von Segnungen
des Gebers sowohl wie der Empfänger. Alle Herzen
sind fröhlich, sobald Boas den Schauplatz betritt. Seine
Gegenwart ruft Lob und Dank hervor; denn er streut
alle Güter der Gnade rund um sich her aus. Welch ein
unendliches Glück, unsern Boas Preisen zu dürfen! Aber
ist es nicht auch ein Glück, gleich Ruth, das Zeugnis
Seiner Zufriedenheit in Bezug auf uns zu empfangen?
O möchten wir begierig sein nach dem Beifall Christi!
Es ist demütigend für uns, daran zu denken, daß wir
diesen Beifall so wenig suchen. Das Lob der Menschen
bläht uns auf, das Seinige niemals. Er giebt dem Seinen
Beifall, was Seine unendliche Gnade an uns sieht, und
Er sieht an uns das, was Seine Gnade hervorgebracht
hat und was Seinen Gedanken entspricht.
Boas lobt Ruth, weil sie „ihre letzte Güte npch besser
erwiesen habe als die erste". Anfangs hatte sie Liebe
gegen ihre Schwiegermutter geübt, welche für sie das Volk
Gottes darstellte, und jetzt handelte sie aus Liebe zu Boas.
Sie war nicht zu jungen, ob reichen oder armen, Männern
gegangen; sie hatte keine Gefährten nach ihren natürlichen
Neigungen gesucht, sondern war zu ihm gekommen, dessen
Rechte über ihre Person sie anerkannte. Er flößt ihr
wiederum Mut ein und verspricht ihr die Erfüllung aller
ihrer Wünsche. (B. 11.) Welch eine Ermunterung für die
Treuen! Wir empfangen alles von Seiner Gnade, aber
Er giebt uns auch nach dem Maße unsers Gehorsams
und unsrer Hingabe an Ihn. „Gebet, und es wird euch
gegeben werden: ein gutes, gedrücktes und gerütteltes und
überlaufendes Maß wird man in euern Schoß geben."
256
(Luk. 6, 38.) Sobald Ruth den Boas kennen gelernt
hatte, that sie alles im Hinblick ans ihn; und jetzt thut er
alles für sie. Es genügt unserm Herrn nicht, in keiner.
Weise unser Schuldner zu bleiben; nein, Er will auch
dem treuen Herzen nach allen seinen Bedürfnissen geben.
„Das ganze Thor meines Volkes weiß, daß du ein
wackeres Weib bist." (V. 11.) Ruth vereinigt in sich die
Eigenschaften, von denen der Apostel Petrus spricht und
welche bewirken, daß man nicht träge noch fruchtleer in der
Erkenntnis des Herrn ist. Sie fügt zu ihrem Glauben die
Tugend, zur Tugend die Kenntnis, zur Kenntnis die Enthaltsamkeit,
zur Enthaltsamkeit das Ausharren, und zum
Ausharren die Gottseligkeit. Sie fügt zur Bruderliebe die
Liebe und erweist mehr Güte am Ende als am Anfang.
Auch wird ihr reichlich dargereicht der Eingang in das Reich.
Das Herz des Boas wird durch eine solche Treue gerührt:
„Alles was du sagst, werde ich dir thun". Welch ein
Beispiel für uns! Laßt uns eifrig darnach streben, auch
eine solche Antwort zu erhalten! Die Versammlung von
Philadelphia empfängt sie. Sie hat das Wort Jesu
bewahrt und, wie Ruth, in Seinem Ausharren und in
praktischer Heiligkeit gewandelt; darum sagt Jesus zu ihr:
Ich werde alles für dich thun! Auch den armen jüdischen
Überrest wird der Herr am Ende segnen nach der Tugend,
Heiligkeit und praktischen Gerechtigkeit, welche derselbe in
seinem Wandel zeigen wird. Uns segnet Er heute in gleicher
Weise: „Was irgend wir bitten, empfangen wir von Ihm,
weil wir Seine Gebote halten und das vor Ihm Wohlgefällige
thun." (1. Joh. 3, 22.)
Es war jedoch noch ein näherer Blutsverwandter da,
der ein größeres Recht auf die Lösung Ruths hatte als
257
Boas. Wird oder kann er von diesem Rechte Gebrauch
machen? Wir werden später darauf zurückkommen.
' " Ruth hat inzwischen das Borrecht, bis zum Morgen
zu den Füßen des Boas liegen zu dürfen. Das wird
das Teil des Überrestes sein, und ist auch das unsrige.
So lange die Nacht währt, können wir zn Seinen Füßen
ruhen. Ist das nicht ein gesegneter Platz? Zu Seinen
Füßen, in dem Besitz Seines Beifalls betreffs unsers
Wandels, als die Empfänger und die Gegenstände Seiner
Verheißungen, erfüllt mit der Gewißheit, daß Er uns
gehört hat, und daß all die Mühsal dieses elenden Lebens
bald ein Ende nehmen und der allen sichtbaren Offenbarung
unsrer Beziehungen zu Ihm, sowie dem Besitz der herrlichen
Früchte Seines Werkes Platz machen wird?
Jetzt ist es Boas (V. 14), der für den guten Ruf
Ruths Sorge trägt und die Heiligkeit derjenigen rechtfertigt,
welche er zu seiner Genossin machen will. Bevor
er jedoch ihre Sache öffentlich in die Hand nimmt, füllt
er ihren Mantel mit Gerste, und giebt ihr so im Verborgenen
ein Unterpfand für das, was er für sie thun
will. (V. 15.) Gerade so handelt der Herr mit uns.
Der Morgen bricht bald an; bevor wir jedoch Ihn sehen
und „erkennen" können, hat Er uns schon den Heiligen
Geist der Verheißung gegeben, als Unterpfand unsers
zukünftigen Erbteils.
Reich beladen kehrt Ruth zu ihrer Schwiegermutter
zurück und erzählt ihr, nicht, was sie für Boas gethan,
sondern „alles was der Mann ihr gethan hatte". Ihr
Herz ist voll von ihm, und sie bedarf, von ihrer Mutter
zur Geduld ermahnt zu werden. Sie wird nicht mehr-
lange zu warten haben; denn derjenige, welcher ihre
258
Sache in seine Hand genommen hat, wird nicht lange
zögern, sie zum Siege zu führen. „Er wird nicht ruhen",
sagt Noomi, „er habe denn die Sache heute beendigt."
Warum? Weil er Ruth liebt. Das ist der große und
einzige Beweggrund für seine Bemühungen zu ihren Gunsten.
Geliebte Brüder! Reden wir auch wie Noomi?
Besitzen wir dieses beglückende Bewußtsein von der Liebe
Jesu zu uns? Erwarten wir Ihn als Den, der sich
keine Ruhe gönnen wird, bis Er die Sache heute beendigt
hat? Dieses „Heute" bedeutet die tägliche Erwartung
unsers Herrn. Er will uns bei sich haben. Nur noch
ein wenig Geduld, und der Kommende wird kommen und
nicht verziehen!
Kapitel 4.
Noomi hatte wahr gesprochen. Boas gönnte sich
nicht eher Ruhe, bis das Werk, das er in seiner Güte
und Energie unternommen hatte, vollbracht war. Er
wollte, daß die Geliebte Ruhe fände und glücklich wäre
(Kap. 3, 1), und er wußte, daß sie das nur in Gemeinschaft
mit ihm sein konnte. Genau so verhält es sich mit
dem Herrn im Blick auf uns. Sein Leben hienieden war
ein Leben der Arbeit für uns und fand seinen Höhepunkt
in der unsäglichen „Mühsal Seiner Seele" auf dem Kreuze.
Damit hat Er Sein Versprechen: „Ich werde euch Ruhe
geben", erfüllt. Wir besitzen bereits eine Ruhe des Gewissens
durch die Kenntnis Seines Werks, sowie eine
Ruhe des Herzens durch die Kenntnis Seiner anbetungswürdigen
Person. Aber heute noch wirkt der Herr fort, um
uns in die zukünftige Ruhe, welche „dem Volke Gottes noch
übrigbleibt", einzuführen, in eine Ruhe der befriedigten
259
Liebe, in welcher alles ans immerdar den Gedanken Seines
Herzens entsprechen wird.
Boas wünschte auch darum seiner Vielgeliebten Ruhe
zu verschaffen, weil sie gearbeitet und mit dem Volke
Gottes gelitten hatte. So sagt der Heilige Geist auch zu
uns: „Es ist bei Gott gerecht, euch, die ihr bedrängt
werdet, Ruhe zu geben mit uns bei der Offenbarung des
Herrn Jesu vom Himmel". (2. Thess. 1, 7.) „Gott ist
nicht ungerecht, euers Werkes zu vergessen, und der Liebe,
die ihr gegen Seinen Namen bewiesen, da ihr den Heiligen
gedient habt und dienet." (Hebr. 6, 10.)
Das Buch Ruth spricht viel von Arbeit und
Ruhe: von Arbeit und Ruhe im Dienst, von Arbeit und
Ruhe des Glaubens, von Arbeit und Ruhe der Gnade.
Die Schnitter arbeiten und ruhen, ebenso der Herr der
Ernte, nnd so auch Ruth, die Braut seiner Wahl. Wie
friedlich ruht sie zu den Füßen des Boas während der
Stunden der Nacht! und wie ruht sie nachher in der
stillen Erwartung, daß die Bemühungen ihres Lösers ihr
die Ruhe verschaffen werden, von welcher dieses Kapitel
uns berichtet!
Nach israelitischer Sitte handelte es sich darum, den
Namen des Verstorbenen Wiederaufleben zu lassen und ihn
in sein Erbteil zurückzuführen. Diese Pflicht lag dem
nächsten Verwandten ob. Nun war ein Mann da, der
nähere Rechte auf die Erbschaft Elimelechs hatte als Boas,
und an diesen wandte sich Boas im Beisein zahlreicher
Zeugen. Dieser Mann hätte die Erbschaft gern angetreten-
da er aber wußte, „daß der Same nicht sein eigen sein
würde", so weigerte er sich, Ruth zu übernehmen. Hätte
er es gethan, so würde er dadurch sein eignes Erbgut
260
geschmälert und verderbt haben, da die Habe der Kinder
Ruths weder an ihn noch an seine Familie zurückgefallen
wäre.
Dieser nächste Verwandte ist ein sprechendes Vorbild
von dem Gesetz. In der That, das Gesetz, welches ältere
Rechte auf Israel hatte, fordert und nimmt, wie jener
Mann, aber es giebt nichts. Es würde eben nicht mehr
das Gesetz sein, wenn es das Werk der Gnade unternehmen
könnte. Indes entspringt diese Kraftlosigkeit nicht
aus ihm selbst, sondern aus denen, an welche es sich
richtet. Das Gesetz erwartet etwas von dem Menschen;
dieser aber erweist sich unfähig, Gott zu gefallen. Es
verheißt das Leben unter der Bedingung des Gehorsams;
da nun der Mensch sündig und ungehorsam ist, so kann das
Gesetz ihn nur verdammen. Es ist ein Dienst des Todes
und kann den Toten das Leben nicht geben. Unfruchtbar,
wie es ist, wird es niemals Nachkommenschaft haben und
kann nicht Söhne nach dem göttlichen Geschlecht des Messias
hervorbringen.
Die Gnade allein vermochte ein solches Werk zn
unternehmen. Indem sie den Menschen für verloren erklärt
und nichts von ihm erwartet, legt sie ihm keinerlei
Bedingungen auf, macht ihm auch keine Versprechungen,
sondern giebt ihm freiwillig, ohne Aufhören, für ewig.
Sie zeugt mittelst eines unverweslichen Samens und teilt
das Leben mit; sie bringt den Menschen in Beziehung zn
Gott, ruft in ihni Früchte hervor, die Gott anerkennen
kann, und führt ihn in die Herrlichkeit.
So erklärt sich denn das Gesetz ohnmächtig angesichts
des „zweiten Mannes", der nach ihm kommt, unsers Boas,
in welchem „die Stärke" ist. Dieser wird Sein Volk Israel
261
Wiederauferstehen lassen und „Samen sehen", wie Jesaja
sagt, aber erst dann, wie wir wissen, „wenn Er Seine
Seele ausgeschüttet hat in den Tod". (Jes. 53.) In der
Zwischenzeit ist das ganze Resultat Seines Werkes am
Kreuze auf uns Christen anwendbar. Im Blick auf unsre
Seelen sind wir bereits mit Ihm auferweckt, und was
unsre Leiber betrifft, so werden wir es sicherlich auch bald
sein, gleichwie Er es ist. Für uns ist Boas das Vorbild
eines auferstandenen Christus.
Der nächste Anverwandte zieht seinen Schuh aus:
das Gesetz überläßt seine Rechte Christo — Rechte, welche
von den zu diesem Zweck versammelten Zeugen anerkannt
werden. Boas löst das Erbteil, um Ruth zu besitzen;
denn er hat mehr Interesse an dem Wohlergehen dieser
Fremden, als an allem was ihr gehört. Für die Kirche
hat Christus noch weit mehr gethan. Er hat alles was
Sein war, aufgegeben, um uns zu gewinnen. Der
arme Überrest Israels wird das auch mit Freude er
kennen, wenn er seinen einst verworfenen Messias in
Herrlichkeit wiederkommen sehen wird.
Die Zeugen dieser Scene, das Volk und die
Ältesten, segnen den mächtigen Boas und jauchzen ihm
zu; denn eine solche Güte ist alles Lobes wert. Der
Heilige Geist legt prophetische Worte in ihren Mund:
„Jehova mache das Weib, das in dein Haus kommt, wie
Rahel und wie Lea, die beide das Haus Israel erbaut
haben!" (V- 11.) Mit der armen Moabitin fängt sozusagen
die Geschichte des Volkes von neuem an, und zwar auf
dem Boden der Gnade. Nicht Lea, sondern Rahel, das
geliebte Weib, das Weib der freien Wahl Jakobs, um
welches er so lange dienend geworben hatte, steht hier in
262
erster Reihe. In jeder Beziehung, in jedem Umstand
lenkt das Buch Ruth unsern Blick auf die Gnade hin.
„Und werde mächtig in Ephrata und stifte einen Namen
in Bethlehem.'" Diese Städte, die Zeugen der Gnade,
sollen auch Zeugen der Macht des Boas werden: „Und
von dem Samen, den dir Jehova von diesem jungen Weibe
geben wird, werde dein Haus wie das Haus des Perez,
den Tamar dem Juda geboren hat!" Seine Nachkommenschaft
möge erstehen, wie Perez, nach der Wahl der Gnade!
„Und Jehova verlieh der Ruth Schwangerschaft."
Angesichts dieses Erben, den die Gnade gegeben hat, nehmen
die Weiber den prophetischen Gedankengang des Volkes
wieder auf. Sie sagen zu Noomi: „Gepriesen sei Jehova,
der es dir heute nicht hat fehlen lassen an einem Löser!"
Auf das Haupt des Sohnes des Boas übertragen sie das
Recht der von diesem vollzogenen Lösung, und sehen so
die zukünftige Lösung voraus, welche durch den von Ruth
geborenen Mann zuwege gebracht werden soll. In Ihm,
fügen sie hinzu, wird das Alter des Volkes eine Stütze,
seine Schwäche einen Wiederhersteller finden, und sein Name
wird mit demjenigen der Ruth verbunden sein; mit dem
Namen dieses armen Überrestes, dessen Herz in Liebe an
Noomi, dem schwer bedrängten Volke Gottes, hing und
der für Noomi mehr galt, als eine vollkommene Zahl von
Söhnen. (B. 15.)
Noomi Pflegt Obed in ihrem Schoße; er geht, wie
der Messias, aus diesem unfruchtbaren Volke hervor. Die
Nachbarinnen stimmen dann gleichfalls ihren prophetischen
Lobgesang an: „Ein Sohn ist der Noomi
geboren!" Der Kreis wird vertrauter, und damit wächst
das Maß des Verständnisses. Je näher man dem Volke
263
Gottes steht, desto mehr schätzt man Christum und Seine
Gnade. Begnügt man sich mit der Verwandtschaft „des
Volkes und der Ältesten", so wird man auch das Maß
ihres geistlichen Verständnisses nicht überschreiten, wogegen
das mit der Kirche oder Versammlung Gottes verbundene
Herz eine vertrautere und persönlichere Kenntnis von Christo
haben wird. „Ein Sohn ist der Noomi geboren!" So
wird sich einst das zukünftige Israel vor Ihm freuen,
gleich der Freude in der Ernte, wie man frohlockt beim
Verteilen der Beute, und es wird sagen: „Ein Kind ist
uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft
ruht auf Seiner Schulter; und man nennt Seinen Namen:
Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit,
Friedefürst." (Jes. 9.)
„Und sie nannten seinen Namen Obed." Obed bedeutet
„Diener". Bor allen andern wunderbaren Titeln
des Herrn ist dies Sein Ruhmestitel. Der Diener ist
die Wurzel und das Geschlecht Davids, der Träger der
königlichen Gnade. Beben unsre Herzen nicht vor Freude,
wenn wir Ihn mit diesem Namen nennen? Denn Er,
der Berater, der starke Gott, hat gedient, dient und bleibt
ewiglich Diener zum Wohle derer, welche Er liebt. Unsre
höchsten Segnungen finden sich in diesem Titel „Diener"
eingeschlossen: Seine Hingabe . an Gott, Seine Liebe zu
uns, Sein ganzes Werk bis zur Aufopferung Seines eigenen
Lebens, Seine gegenwärtige Gnade, die sich herabläßt, uns
die Füße zu waschen, und Sein ewiger Dienst der Liebe,
wenn wir einst bei Ihm sein werden in der Herrlichkeit
des Vaterhauses!
264
Fremdlinge und Pilgrime.
„Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde,
gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil
empfangen sollte; und er zog aus, nicht wissend, wohin
er komme. Durch Glauben hielt er sich auf in dem
Lande der Verheißung, wie in einem fremden, und wohnte
in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben
Verheißung; denn er erwartete die Stadt, welche Grundlagen
hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist."
(Hebr. 11, 8—10.)
Nachdem der Heilige Geist in den ersten 7 Versen des
angeführten Kapitels die großen Grundsätze und Charakterzüge
des Glaubens, dargestellt in dem Opfer Abels, dem
Leben Henochs und dem Bau der Arche durch Noah, uns
vor Augen geführt hat, sehen wir den Patriarchen Abraham
die Stadt erwarten, welche Grundlagen hat. Ausgezogen
auf das Geheiß des Herrn, fand er in Kanaan nichts als
ein Zelt und einen Altar. Nicht ein Fußbreit des Landes
gehörte ihm. Er war mit Isaak und Jakob, den Miterben
derselben Verheißung, ein Fremdling und Pilgrim im
Lande, zugleich aber auch ein Anbeter Gottes, der Gott
kannte und in Verbindung mit Ihm stand. Anscheinend
empfing sein Glaube nichts. Aber es ist ein wunderbares
Ding um den Glauben. Er schaut über das Sichtbare
hinweg und klammert sich an den unsichtbaren Gott und an
Sein unfehlbares Wort. Der Erwartung des Glaubens
kann nur die gänzliche Erfüllung der Gedanken Gottes
genügen. Abraham, völlig zufrieden, in Kanaan ein
Fremdling und Pilgrim zu sein, erwartete die Stadt, welche
Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.
265
Er rechnete auf Gott, ungeachtet aller Hindernisse und
scheinbaren Unmöglichkeiten.
Der Glaube forscht nie nach Mitteln; er fragt nicht:
Wie soll dies oder das geschehen? sondern er rechnet aus
die Zusage Gottes. Dem natürlichen Menschen kommt
es daher oft vor, als mangle dem Gläubigen die Klugheit.
Aber der Glaube kümmert sich nicht um menschliche
Meinungen. Er weiß, daß, sobald er sich nach Mitteln
umsieht, um sich selbst einen Ausweg zu schaffen, es nicht
mehr Gott ist, der da handelt; es ist nicht mehr Sein
Werk. Der Glaube wartet daher ruhig, bis es Gott gefällt,
ins Mittel zu treten. Er geht nicht mit Fleisch und
Blut zu Rate, er blickt nicht auf die Umstände, sondern
er schaut nach oben und beachtet einzig und allein den
Willen Gottes. Wenn der Glaube schwach ist, so nimmt
man Zuflucht zu äußern Mitteln, um selbst das Werk
Gottes zu thun. So hat es die Kirche gemacht, und wir
sehen das Ergebnis dieses verhängnisvollen Schrittes rund
um uns her. Und ach! wie ost machen wir cs auch so,
und müssen dann die Früchte unsrer Thorheit ernten.
Es ist offenbar, daß nur die Macht Gottes gesegnete
und große Resultate erzielen kann. Nun, wenn der
Glaube handelt, so entsprechen die Resultate dieser Macht
Gottes; denn der Glaube bringt Gott in alles hinein und
sucht nur Seine Verherrlichung. Man sieht oft Christen
eine große Thätigkeit entfalten, aber mit wenig Erfolg.
Woher kommt das? Weil sie selbst auf dem Plane sind und
ihre eigne Ehre suchen. Gott aber ist eifersüchtig auf Seine
Ehre; E r muß verherrlicht werden, nicht der Mensch. Da wo
ein wirklich gesegnetes Werk vorgeht, säet man oft mit
Thränen. Die Seele fühlt die Schwierigkeiten; und Gott will,
266
daß wir sie fühlen, damit wir unsre ganze Ohnmacht erkennen.
Man muß mit Thränen säen, um mit Jubel zu ernten.
Alle diejenigen, von welchen bis zum 13. Verse
unsers Kapitels die Rede ist, sind im Glauben gestorben.
Die Gläubigen des Alten Bundes erwarteten das Kommen
des Messias nach der Verheißung Gottes; wir haben
die Verheißung der Wiederkunft Jesu. Die Apostel
und die entschlafenen Heiligen des Neuen Testaments sind
auch im Glauben gestorben; sie haben die Erfüllung dieser
Verheißung nicht gesehen. Der Gläubige genießt die
Dinge, welche Gott ihm verheißen hat, hienieden nur in
Hoffnung. Infolge dessen führt er kein leichtes, aber doch
ein glückliches Leben. Wenn ein Mensch großen Fleiß
anwendet, um eine Sache zu erlangen, so thut er's, weil
er glaubt, sie einmal in seinen Besitz zu bekommen.
Gerade so ist es mit dem Leben des Glaubens. Wenn
ich eine Sache besitze, brauche ich keine Kraft mehr anzuwenden,
sie zu erlangen. Wir sind Fremdlinge hienieden;
unsre Heimat, alle unsre Segnungen sind droben. Wir
besitzen noch nicht, was wir erhoffen. Wir warten aber
mit Ausharren und haben das Vorrecht, hienieden treu
sein zu können inmitten vieler Schwierigkeiten. Im Himmel
giebt es keine Schwierigkeiten mehr; dort werden wir
ungestört die Gegenwart unsers Herrn genießen. Auch
haben wir das Vorrecht, treu sein zu können inmitten der
Feinde und der Untreuen. Das ist ein besonders großes
Vorrecht, nnd wenn wir nach demselben trachten, so werden
wir erfahren müssen, daß die Schwierigkeiten sich mehren;
aber unser Herz wird auch die süße Gemeinschaft des
Herrn genießen, und alle Zuneigungen und Triebe der
göttlichen Natur werden in Thätigkeit treten.
267
Die Gläubigen, von welchen der Schreiber des
Hebräerbriefes redet, waren nicht nur Fremdlinge und
Pilgrime; sie bekannten das auch ihr ganzes Leben
hindurch. Sie legten Zeugnis von ihrer himmlischen Berufung
ab durch Wort und Wandel. Man will bisweilen
fromm im Herzen sein, aber nicht davon reden. Niemand
soll etwas davon merken, daß man nicht der Welt angehört,
sondern Christo. Man fürchtet die Verachtung, das Kreuz,
aber das ist nicht die Kraft des Glaubens. Inmitten einer
Welt zu stehen, die dem Gericht entgegengeht, ja schon
gerichtet ist, und dann nicht von Christo zu zeugen, sich
nicht als einen Fremdling zu betrachten und zu bekennen,
wahrlich, das ist eine armselige Sache. Was würden wir
von einem Freunde sagen, der sich unter schwierigen Umständen
scheute, sich zu uns zu bekennen? Es wäre ein
schlechter Freund, nicht wahr? So ist auch ein Christ,
welcher sich scheut, Christum zu bekennen und Seine Schmach
auf sich zu nehmen, ein schlechter Christ.
Und noch eins. Wenn unser Glaubensauge auf
Christum gerichtet ist, so begrüßen wir die Dinge, welche
wir von ferne gesehen haben, und denken nicht an das,
was hinter uns liegt. Wir vergessen, was dahinten ist,
und strecken uns aus nach dem, was vor uns liegt. Die
Zukunft füllt alle unsre Gedanken aus. Als Rebekka
einst dem Knechte Abrahams folgte und zu Isaak zog,
war die Gegenwart für sie keineswegs erfreulich. Sie
mußte ihre Heimat, ihre Eltern und Verwandten verlassen
und mit einem fremden Manne eine weite Reise durch die
Wüste machen. Aber ihr Blick war in die Zukunft gerichtet,
und so verloren die Schwierigkeiten der Gegenwart
alles Abschreckende für sie. Sie eilte vorwärts mit der
268
Energie eines Glaubens, der von den herrlichen Dingen,
die sie noch nicht sah, überzeugt war. Hätte sie nicht an
die Zukunft gedacht oder den Worten Eliesers nicht völlig
geglaubt, so würde ihr Blick auf den Umständen und
Schwierigkeiten geruht haben, und die Reise nach Kanaan
wäre sicher unterblieben. Genau so ist es mit dem Christen.
Wenn Auge und Herz nicht auf Christum gerichtet sind,
so erscheinen die Schwierigkeiten wie unübersteigliche Berge,
und die Neigung zn der Welt und ihren Dingen kehrt
zurück. Man zieht den bequemen Weg der Weltlichkeit
dem oft rauhen Pfade des treuen Bekenntnisses vor. Und
je länger man in diesem traurigen Zustande beharrt, desto
zaghafter wird das Herz und desto trüber der Blick des
Glaubens.
Ein treuer Christ würde lieber sterben als in die
Welt zurückkehren. Ec will teilhaben an der Auferstehung
aus den Toten. (Bergl. Phil. 3, 7—14.) Er offenbart
eine Festigkeit und Beharrlichkeit des Herzens, welche beweist,
daß seine Zuneigungen auf die himmlischen Dinge
gerichtet sind. Seine Gedanken weilen in der Zukunft,
und sein Herz ist von den Dingen Gottes erfüllt. Darum
schämt sich Gott nicht, der Gott solcher Gläubigen zu
heißen. Er würde sich schämen, der Gott eines Weltlich-
gesinnten zu heißen. Er will nicht, daß von Ihm gesagt
werde, Er stehe in herzlicher Beziehung zu jemandem, der
den nichtigen Freuden dieser Welt, ihrer Ehre oder ihrem
Gelde nachjagt. Ja, Gott würde sich einer solchen Beziehung
schämen. Aber Er schämt sich nicht, der Gott derjenigen
zu heißen, welche den himmlischen Dingen nach-
trachteu. Um ein Jünger Jesu zu sein, muß man allem
Weltlichen entsagen. Wir befinden uns hienieden in der
269
selben Stellung der Selbstverleugnung, in welcher Jesus
war, aber auch in derselben Beziehung zu Gott wie Er.
„Ich fahre auf", läßt Er Seinen Jüngern sagen, „zu
meinem Vater und euerm Vater, und zu meinem Gott
und euerm Gott."
Entweder steht das Fleisch oder der Glaube im
Vordergründe; einen Mittelweg giebt es nicht. Zweck und
Ziel des Christen dürfen nur die himmlischen Dinge
sein. Die Bedürfnisse und Wünsche des neuen Menschen
sind durchaus himmlisch. Man will oft das Christentum gebrauchen,
um die Welt zu verbessern; aber das ist schnurstracks
den Gedanken Gottes zuwider. Jesus bittet nicht
für die Welt, und Gott beschäftigt sich jetzt nur insoweit
mit ihr, als Er Seelen aus ihr errettet. Jeder Versuch,
sich mit der Welt zu verbinden und das Christentum zur
Verbesserung der Welt zu gebrauchen, ist menschlich, irdisch,
fleischlich. Gott will uns allein mit dem Himmel verbunden
wissen. Man muß entweder den Himmel haben
ohne die Welt, oder die Welt ohne den Himmel. Der
Gott, welcher den Seinigen droben eine Stadt zubereitet
hat, kann nichts zwischen ihnen und den himmlischen Dingen
dulden. Nach dieser zukünftigen und bessern Stadt sehnt
sich die erneuerte Seele. Diese Sehnsucht ist himmlisch.
Wie kann ich hienieden ein Fremdling und Pilgrim sein,
wenn ich nach den irdischen Dingen trachte und eine Verbesserung
der Welt anstrebe? Die Berufung Gottes ist
himmlisch, und wenn wir sie verwirklichen, werden wir in
der Welt Schmach finden, aber die Anerkennung Gottes
wird unser Teil sein. Er schämt sich dann nicht, unser
Gott und Vater zu heißen. Und, Geliebte, wie wird uns
sein, wenn wir binnen Kurzem die Herrlichkeit des wahren
270
Salomo sehen werden! Wir werden mit der Königin von
Scheba ausrufen: „Nicht die Hälfte hat man mir gesagt!"
So gebe uns denn Gott, welcher uns eine Stadt
bereitet hat, die Seiner selbst und Seiner Liebe zu uns
würdig ist, daß wir hienieden nicht verfehlen, unsern
Charakter als Fremdlinge und Pilgrime zur Schau zu tragen!
Debora und Barak. *)
*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.
(Richt. 4.)
In den drei ersten Kapiteln des Buches der Richter
besteht das Gericht Gottes über Sein untreues Volk darin,
daß Er cs der Macht seiner äußeren Feinde anheimfallen
läßt. Durch eine neue Untreue aber zieht sich Israel jetzt
weit schwerere Folgen zu. Ein furchtbarer Gegner, Jabin,
der König der Kananiter, der zu Hazor regierte (B. 2),
bezwingt Israel und unterjocht es mit seinen neunhundert
eisernen Wagen. Im 11. Kapitel des Buches Josua finden
wir einen Vorfahren dieses Jabin, der auch über eiserne
Wagen verfügte und ebenfalls in Hazor wohnte. In jener
Zeit verstand Israel, unter der mächtigen Wirkung des Geistes
Gottes, daß zwischen ihm und dem Könige der Kananiter
gar keine Beziehungen bestehen durften. Sic erschlugen
ihn, nachdem sie seine eisernen Wagen mit Feuer verbrannt
nnd seine Hauptstadt zerstört hatten. Welche Beziehungen
hätte auch das Volk Gottes mit der politischen und militärischen
Welt haben können, deren Name und Gebiet von
der Karte Kanaans gestrichen werden sollte? Leider hatte
sich jetzt alles verändert: das untreue Israel ist unter die
271
Herrschaft der Welt geraten; der alte Feind ist aus seiner
Asche wiedererstanden, Hazor ist innerhalb der Grenzen
Kanaans wieder aufgebaut, und das Erbteil des Volkes
zum Königreiche Jabins geworden!
Die Geschichte der Kirche zeigt uns ein ähnliches
Bild. Zuerst befindet sie sich in einer Stellung völliger
Absonderung von der Welt, nnd niemand denkt daran, der
letzteren irgendwelchen Anteil an der Regierung der Versammlung
einzuräumen. Aber schon bald bringt sie der
fleischliche Zustand der Versammlung in Korinth auf diese
abschüssige Bahn. Ein Bruder aus dieser Gemeinde, der
mit einem andern in Streit geraten war, nimmt, um sich
sein Recht zu verschaffen, Zuflucht zu dem Gericht, nicht
etwa der Gläubigen, sondern der Unbekehrten. (1. Kor. 6.)
„Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden?"
fragt der Apostel und fügt tadelnd hinzu: „Zur Beschämung
sage ich's euch". Und welchen Weg hat die Kirche seitdem
verfolgt? Die Welt ist thatsächlich zu ihrer Herrin geworden.
„Ich weiß", sagt der Herr zu der Versammlung in Per-
gamus, „wo du wohnst, wo der Thron des Satan ist".
(Offbg. 2, 13.) Selbst in der großen Erweckungszeit der
Reformation nahmen die Heiligen zu den Herrschern der
Welt ihre Zuflucht und suchten dort ihre Stütze. Heute
noch nehmen die verfolgten Christen den Schutz der Mächtigen
und Angesehenen in dieser Welt in Anspruch, anstatt
die Leiden für Christum mit Freuden zu ertragen.
Das Gericht, welches Josua einst über Hazor ausgeübt
hatte, lebte nur noch in der Erinnerung des Volkes.
Die Kinder Israel hatten den Göttern der Kananiter gedient,
nachdem sie deren Töchter zu Weibern genommen und ihre
eigenen Töchter den Söhnen der Kananiter zu Weibern
272
gegeben hatten. (Kap. 3, 5. 6.) Diese Verbindung hatte
ihre Früchte getragen. Jabin unterdrückt das Volk und
zwingt es, gern oder ungern, seine Herrschaft zu erdulden.
Das ist aber nicht der einzige Charakterzug, der den
armseligen Zustand Israels in jenen traurigen Tagen kennzeichnete.
Wenn die Regierung des Volkes nach außen
hin in die Hände seines Feindes gefallen war, wie sah es
dann mit seiner inneren Verwaltung aus? Sie war den
Händen eines Weibes anvertraut. Das Wort Gottes
lehrt uns, daß in der ersten Zeit die V e rw al t u n g der
Kirche Ältesten übergeben wurde, welche zu diesem Zwecke
von den Aposteln oder deren Beauftragten unter der Leitung
des Heiligen Geistes eingesetzt worden waren. Die Ordnung
der Versammlung und alles was damit zusammenhing,
lag ihnen und den Dienern ob. Wäre es heute, ohne
von der kläglichen Nachahmung sprechen zu wollen, welche
die Menschen an Stelle dieser göttlichen, aber durch die
Untreue der Kirche verloren gegangenen Einrichtung gesetzt
haben, übertrieben, zu behaupten, daß sich in den Sekten
der Christenheit die Neigung, den Frauen die Regierung
ganz oder teilweise zu überlassen, immer breiter macht?
Ja, inan rühmt sich dessen, und es giebt Christen, welche
zu schreiben wagen und den Beweis zu führen suchen,
daß es so sein müsse, daß es nach Gottes Willen sei und
einen blühenden Zustand der Kirche beweise. Um ihre
Behauptung zu begründen, berufen sie sich auf Debora.
Prüfen wir denn, was Debora war.
Debora war eine außerordentliche Frau, ein Weib
des Glaubens, das ein tiefes Gefühl von dem niedrigen
Zustande des Volkes Gottes hatte. Sie erblickte in der
Thatsache, daß Gott einem Weibe eine Stellung öffentlicher
273
Thätigkeit inmitten des Volkes anvertraut hatte, eine
Schmach für die Führer von Israel. Sie sagt zu Barak:
„Ich will Wohl mit dir gehen; nur daß die Ehre nicht
dein sein wird auf dem Wege, den du gehst, denn in die
Hand eines Weibes wird Jehova den Sisera verkaufen."
(V. 9.)
Obgleich Debora zur Beschämung für das durch die
Sünde verweichlichte Volk die ihr von Gott verliehene
Autorität ausübte, bewahrte sie doch in diesen Umständen,
welche eine große Versuchung für sie werden konnten, die
dem Weibe im Worte Gottes angewiesene Stellung. Ohne
das wäre sie kein Weib des Glaubens gewesen. Dieses
Kapitel erzählt uns die Geschichte von zwei glaubensstarken
Weibern, von Debora und Jael. Beide blieben jedoch dem
von Gott dem Weibe verliehenen Charakter treu. Wie übte
Debora ihren Beruf aus? Durchreiste sie das Gebiet
Israels oder stellte sie sich an die Spitze der Heere, wie
es die anderen Richter gethan hatten? Nichts dergleichen;
und es scheint mir nicht ohne Grund zu sein, wenn das
Wort uns sagt: „Sie wohnte unter der Debora-Palme. . .
und die Kinder Israel gingen zu ihr hinauf zu Gericht."
(V. 5.) Obgleich Prophetin und Richterin in
Israel, verläßt sie den von Gott ihr angewiesenen Platz
nicht. Dorthin, wo sie ivohnte, läßt sie Barak holen,
anstatt zu ihm hinzugehen.
Barak ist ein Mann Gottes und wird durch das
Wort zu den Richtern Israels gezählt. „Die Zeit würde
mir fehlen, wenn ich erzählen wollte von Gideon nnd
Barak und Simson und Jephtha." (Hebr. 11, 32.) Aber
Barak ist ein Mann ohne Charakter, ohne innere Kraft
und ohne Gottvertrauen. In einer Zeit des Verfalls
274
darf man nicht erwarten, daß sich die göttlichen Hilfsquellen
alle in dem Besitz der von Gott benutzten Werkzeuge vereinigt
finden. Nicht nur ist heute die Zahl der Arbeiter
klein, sondern die vorhandenen Gaben des Geistes treten
auch äußerst schwach in die Erscheinung, und wie schmerzlich
wird selbst das Fehlen derselben unter den Christen
empfunden! Baraks Charakterschwäche läßt ihn wünschen,
der Gehilfe des Weibes zu sein, während doch nach
1. Mose 2, 18 das Weib die Gehilfin des Mannes sein
sollte. Er würdigt den ihm von Gott anvertrauten Dienst
herab, nnd, was noch schlimmer ist, er sucht Debora zu
verleiten, aus der abhängigen Stellung, welche ihr als
Frau geziemte, herauszutreten. „Wenn du mit mir gehst",
sagt er, „so gehe ich; wenn du aber nicht mit mir gehst,
so gehe ich nicht". (V. 8.) Debora antwortet: „Ich will
Wohl mit dir gehen". Sie kann es thun, ohne ihre
schriftgemäße Stellung zu verlassen. Die heiligen Frauen
gingen mit dem Herrn Jesu, begleiteten Ihn auf Seinen
Wegen und machten sich zu Dienerinnen Seiner Bedürfnisse.
Deboras Thun war gut; schlecht aber war der Beweggrund,
welcher Barak leitete, weshalb Debora ihn auch
streng tadelt. (V. 9.) Was war, im Grunde genommen,
Baraks Beweggrund? Er wollte Wohl von Gott abhängig
sein, aber nicht ohne eine menschliche und sichtbare
Stütze.
Die christliche Welt ist voll von solchen schwachen
Seelen. Die Verwirklichung der Gegenwart Gottes ist so
armselig, die Kenntnis Seines Willens so schwach, und
der Wandel so wenig fest und zielbewußt, daß man sich,
um auf dem Wege Gottes zu wandeln, lieber einer Mittelsperson
anvertraut, als daß man einzig und unmittelbar
275
von GM abhängig ist. Man folgt den Weisungen von
Mitmenschen, sogenannten „Leitern des Gewissens", anstatt
den HeiEn^ Seinen Geist und Sein Wort zu Führern zn
haben. Wenn nun der Berater, trotz bester Meinung,
sich täuscht, was dann? Gott aber, der Herr, Sein Geist
und Sein Wort sind unfehlbar. Die treue Debora veranlaßt
Barak nicht, diesen falschen Weg zu betreten, und
Barak mnß die Folgen seines Mangels an Glauben
tragen.
Er zieht mit seinem Heere hinauf, und Debora begleitet
ihn. Heber, einer jener Keniter, von denen wir
schon bei der Betrachtung des ersten Kapitels gesprochen
haben, hatte es in diesen unruhigen Zeiten für gut befunden,
sich von seinem Stamme zu trennen, und war
weggezogen, um seine Zelte anderwärts aufzuschlagen.
(V- 11.) Auch „herrschte Frieden zwischen Jabin, dem
Kürüge von Hazor, nnd dem Hause Hebers, des Keniters."
W tlssy
'ch; Eann das Vorgehen Hebers eine That des Glaubens
genärmt werden? Ich glaube nicht. Er trennte sich von
ftirKnr gedemütigten Volke und handelte, als wenn er die
Verantwortlichkeit für den traurigen Zustand Israels von
seinen Schultern hätte abwälzen wollen. *) Noch mehr; erhalte
Frieden mit dem anerkannten Feinde seines Volkes
geschlossen, und er hatte das gethan, nm nicht durch Jabin
beunruhigt zu werden. Ein schwaches Weib aber wohnte
in dem Zelte Hebers. Diese verschmähte eine Sicherheit,
welche um solchen Preis erkauft war, und erkannte das
*) Das ist mehr oder minder die Geschichte aller Sekten in
der Christenheit.
276
Bündnis mit dem Feinde ihres Volkes nicht au. Ihr
Herz schlug ungeteilt für Israel. > >
Barak trägt den Sieg davon; Debora, das- Werb des
Glaubens, diese Mutter in Israel, spielt dabei gar keine
Rolle. Das Heer Siseras wird vollständig geschlagen;
sein Führer ist gezwungen, zu Fuß zu entfliehen, und erreicht
das Zelt Jaels, wo er gastfreundliche Aufnahme zu finden
glaubt. Jael verbirgt ihn und giebt ihm auf seine Bitte
um Wasser ein besseres Getränk, nämlich Milch. Sie
behandelt ihn nicht von vornherein als Feind, sondern übt
Gnade gegen ihn; dann aber tritt sie gegen ihn, als den
Feind ihres Volkes, ohne Erbarmen auf. Das Werkzeug,
mit welchem sie Israel befreit, kam demjenigen Schamgars
noch nicht einmal gleich; denn sie besaß keine anderen
Waffen, als die Geräte einer Frau, welche das Zelt zu
hüten hat. Und mit diesen Geräten führt sie den verhängnisvollen
Schlag gegen den Kopf des Feindes. AaiiK
Weib des Glaubens, wie Debora, überschreitet JaÄ M
ihr gesteckten Grenzen in keiner Beziehung. Sie übt ihr
Rächeramt aus mit den Waffen, welche das Zelt ihr botz
und sie thut es im Innern ihrer Behausung und trägt ist
diesem engen Kreise den Sieg davon; denn auch das Werb
muß den Feind bekämpfen, aber an dem Platze und mit
den besonderen Waffen, welche Gott ihr anweist.
In diesem Kapitel strahlt der Glaube bei den Frauen
in besonderem Glanze. Jael sucht keinen Gehilfen, wie
Barak es gethan hatte; sie fühlt sich allein von Jehova
abhängig, und zwischen Ihm und ihr ruht das Geheimnis
ihrer That. Sie bedient sich ihrer eignen Waffen besser,
als ein Mann cs vermocht hätte; denn ein bloßes Zittern
der Hand hätte alles vereiteln können. Sie ist allein;
277
ihr Mann, ihr natürlicher Beschützer, ist abwesend. Aber
allein mit Jehova, kämpft sie unter ihrem Zeltdache, während
ihr- Herz mit den Schlachtreihen Israels verbunden ist.
Von ihr singt Debora hernach in ihrem Liede: „Gesegnet
vor Weibe rn sei Jael, das Weib Hebers, des Keniters,
vor Weibern in Zelten gesegnet!" (Kap. 5, 24.)
Barak kommt, tritt ein und sieht den Sieg dieses
Weibes. Welch ein Gesicht der Demütigung mußte diesen
Heerführer ergreifen, als er sah, daß Gott einem Weibe
die Ehre gegeben hatte, und zwar auf einem Wege, den
er, der Führer und Richter, nicht hatte betreten wollen!
Ja, Ehre sei diesen Frauen! Gott benutzte sie, um
in den Söhnen Seines Volkes das Gefühl ihrer Verantwortlichkeit
wieder wachzurufen. Denn einmal auf-
gcwacht, ruhten sie nicht eher, „bis sie Jabin, den König
der.Kananiter, ausgerottet hatten". (V. 24.)
Hingebung.
"MkMn treuer Hund legt sich auf das Geheiß seines
Herr«, neben dessen Kleidern nieder und bleibt stundenlang
rsHig an derselben Stelle, bis sein Herr zurückkehrt. Er
Mträgt Hitze und Kälte, Hunger und Durst, aber er ver-
Wßt seinen Posten nicht. Er ist für die Dinge seines
Herrn besorgt; um andere Dinge kümmert er sich nicht.
Man mag ihn locken, so viel man will; er weicht nicht
vom Fleck. Ja, sollte selbst ein Hase vornberlaufen, so
unterdrückt er eher die starken Triebe seiner Natur, als
daß er seiner Pflicht untreu würde. Sein Herr hat
ihm sein Gut anvertraut, so lauge er abwesend ist, und
278
dieses hütet der treue Wächter mit bewunderungswürdiger
Hingebung. ' wb
Können wir nicht von dem unvernünftige^ Tiere
lernen, mein lieber Leser? Was ist es, das gerade in
unsern Tagen so schmerzlich vermißt wird? Wahre, einfältige
Hingebung des Herzens an unsern Herrn; wahre,
treue Sorge für die Dinge Christi, weil sie Ihm angehören
und unsrer Hut anvertraut sind! Der Wert der Kleider
besteht für den Hund darin, daß es die Kleider seines
Herrn sind. Ob ihm ihre Bewahrung Unannehmlichkeiten
und Entbehrungen bereitet, das kümmert ihn nicht. Auch
kommt es ihm nicht in den Sinn, daß er während der
Zeit andere, nützlichere Dinge thun könne; nein, sein Herr
hat ihm seinen Dienst angewiesen, und so vollführt er denselben
treu und gewissenhaft.
Ach! es giebt viel Thätigkeit im Weinberge des,Herrn
in unsern Tagen, die sicherlich nicht vom Herrn geboten
ist und darum auch nicht auf Seine Anerkennung rechnen
kann. Nur ein Herz, das seinen Herrn kennt, mit Ihm
Umgang macht und in vertrautem Verkehr mit Ihm steht;
nur ein Herz, für welches das Wort und die Anerkennung
seines Herrn alles ist, wird den richtigen Weg undrdie
richtige Weise finden, Ihm zu dienen und Seine Dinge
zu besorgen. Es fragt nicht darnach, ob es große Dinge
thut, ob es bei Menschen Beachtung und Anerkennung
findet; es schreckt auch nicht vor Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten
oder Entbehrungen zurück, sondern es thut
einfältig und treu das, was ihm aufgetragen ist, was die
Hand zu thun findet. Eine innige Hingebung an den
Herrn unterscheidet stets ohne große Mühe die Dinge,
welche Ihm wohlgefällig sind, und ist für dieselben besorgt.
279
Begegnen einem Christen, dessen Herz wirklich für den
Herrn schlägts''Leiden ans dem Wege seines Dienstes, nun,
so tritt der Beweggrund, welcher ihn leitet, nur umsomehr
ans Licht. Sein Ziel ist stets dasselbe, mag es mit oder
ohne Leiden erreicht werden. Er wünscht seinem Herrn
zu dienen, und durch Leiden wird seine Hingebung und
Opferfreudigkeit nur umso offenbarer.
Wenn der Hund z. B. an einem schönen, warmen
Tape , die Kleider seines Herrn bewachen muß und ihm
von . keiner Seite etwas entgegentritt, was geeignet ist,
seine Aufmerksamkeit abzulenken, so wird seine Hingebung
nicht so sehr ans Licht treten, als wenn er dies bei kalter
Nächt thun muß, oder wenn Diebe kommen und ihn
zwinge,;, die Kleider zu verteidigen. Dann erst zeigt es
sich deutlich, wie ernst er seinen Dienst nimmt. Er setzt
unbedenklich für das Gut seines Herrn sein Leben aufs
Spiel.. . Ähnlich ist es auch mit einem Herzen, das an
Christa Hängt. Es hütet das ihm Anvertraute auch in
ernster'" trüber Zeit und sucht es zu bewahren, koste es
was es wolle. Mit welch einer treuen, zarten Sorge
wachte her Apostel Paulus über die Herde Christi! Er
konnte Wden von unaufhörlichem Mühen und Ringen, ja
von einem „großen Kampfe" um das Wohl der Gläubigen.
(Kol,. 1, 28. 29; 2, 1.) Mit welch einer eifersüchtigen
SäpHe wachte er ferner über die Unverletzlichkeit des
kostbaren, ihm anvertrauten Gutes, dessen Bewahrung er
auch seinem Kinde Timotheus so ernstlich ans Herz legte!
(2. Tim. 1, 14.) Wie scharf wies er diejenigen zurecht,
welche von der Wahrheit abirrten, und wie unerbittlich
streng trat er denen entgegen, welche sie gar zu verderben
trachteten! In ihm war ein Herz, das dem Herrn völlig.
280
ergeben war, das nichts anderes begehrte-als,Seine Ehre
nnd das Wohl der Seinigen, die Bewahrung dessen, was
Christo teuer war. .
O möchten wir doch von ihm lernen! Es giebt
nichts Höheres hienieden, nichts Wichtigeres und Wertvolleres,
als besorgt zu sein für die Dinge des Herrn.
Der Ruhmsüchtige sucht seine eigene Ehre, und niemals
steht er nach seinen Gedanken hoch genng. Der Habsüchtige
trachtet nach dem ungerechten und vergänglichen Mammon,
und niemals empfängt er für seine Begierde genug. Der
wahrhaft geistliche Christ trachtet nach der Verherrlichung
Christi, und niemals thut er sich darin genug. Nein, je
mehr er seinem Herrn ergeben ist, je mehr er Ihn kennen
lernt, je mehr er um Seinetwillen verachtet wirk und
leiden muß, desto mehr wächst seine Sorge für die Dinge
des Herrn, und in demselben Maße auch seine innere Kraft
und seine Freude an den Segnungen, welche das,Teil
aller derer sind, die mit Christo außerhalb des "Hagers
stehen und Seine Schmach tragen. Zugleich Msiimk- sein
Verlangen, das Antlitz seines geliebten Herrn uM Meisters
zu schauen, mit jedem Tage zu. Je trüber dsx .Zeiteg
werden, je mühevoller der Streit und je schmerzlicher die
Erfahrungen in dem Dienst, desto sehnsuchtsvoller' 'schaut
er nach oben und ruft: „Komm, Herr Jem!" ' Teiln
Sein Kommen endet alles Leid, allen Kampf, nkd bringt
dem treuen Streiter Ruhe und herrliche Belohnung, m
Darum, mein lieber Leser, weihe dein Leben, dem
Herrn! Wache auf, wenn du eingcschlafen, ermanne dich,
wenn du schwach und gleichgültig geworden bist! Dz^ne
dem Herrn in Einfalt und Treue, und freue dich, Wenn
es dich etwas kostet! „Siehe, ich komme bald", sagt der
Herr, „und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten,
wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)
Das Lied der Debora. *)
*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.
XI,IV II
(Richter 5.)
Jehova hatte also durch die Hand zweier Frauen und
eines charakterschwachen Mannes eine wunderbare Befreiung
bewirkt, und gerade durch die Schwachheit der von Ihm
benutzten Werkzeuge Seine Gnade und Macht in besonderer
Weise verherrlicht. (Vergl. S. 270—277.) Dieser Sieg
wird das Signal zum Erwachen des Volkes. Der Geist
Gottes giebt diesem Wiederauswachen durch den Mund der
Prophetin Ausdruck. Debora und Barak schildern und feiern
die durch die Befreiung Israels wiedergewonnenen Segnungen.
„Und Debora und Barak, der Sohn Abinoams,
sangen an selbigem Tage und sprachen. . . ." (V. 1.)
Das Erste, was der Befreiung folgt, ist der Lobgesang,
mag er sich auch in einer Zeit des Verfalls ohne Frage viel
schwächer äußern, als es im Anfang der Fall war. Als das
Volk einst aus Ägypten zog, „sangen Mose und die Kinder
Israel ein Lied dem Jehova". (2. Mose 15, 1.) Das ganze
Volk stimmte mit seinem Führer in das Befreiungslied ein.
Nicht eine Stimme fehlte. Vergegenwärtigen wir uns das
mächtige Zusammenklingen dieser 600000 Stimmen, welche
wie in eine einzige Zusammenstössen, um am Ufer des Roten
Meeres den von Jehova erfochtenen Sieg zu verherrlichen.
„Singen will ich Jehova, denn hoch erhaben ist Er!" Alle
Weiber, Mirjam an ihrer Spitze, beteiligten sich an diesem
282
Lobgesang, indem sie die nämlichen Worte wiederholten:
„Singet Jehova, denn hoch erhaben ist Er!"
Und nun betrachten wir den Lobgesang hier im Buche
der Richter! Welch ein Gegensatz! „Debora und Barak
sangen." Ein Weib und ein Mann, zwei Personen nur,
zwei Zeugen einer Zeit des Verfalls! Doch der Herr
ist gegenwärtig, der Geist Gottes ist da; und wenn auch
diese beiden Personen Zeugen des traurigen Verfalls sind,
so haben sie doch etwas, woran sie sich erfreuen können,
und sind imstande, das große Werk Jehovas zu Preisen.
Das Wiedererwachen des Lobes ist das erste Zeichen einer
wahren Erweckung, das erste Bedürfnis von Kindern
Gottes, die wieder zu sich selbst gekommen sind. Debora
und Barak trennen sich nicht von dem Volke; hat sich
dieses auch nicht ganz mit ihnen vereinigt, so erkennen sie
doch die Einheit desselben an, und ihr Lied ist der Ausdruck
von dem, was ganz Israel hätte aussprechen sollen.
„Weil Führer führten in Israel, weil freiwillig sich
stellte das Volk, preiset Jehova!" (V. 2.) Der Anlaß
zum Lobe ist die Thatsache, daß die Gnade Gottes in den
Herzen der Führer und des Volkes gewirkt hatte. Gott
erkennt das an und ermutigt auf diese Weise die Seinigen,
welche so schwach und schwankend sind.
„Höret, ihr Könige, horchet auf, ihr Fürsten! Ich
will, ja, ich will Jehova singen, will singen und spielen
Jehova, dem Gott Israels." (B. 3.) Der Lobgesang
kommt einzig und allein den Treuen zu. „Ich will, ja
ich will", sagen sie. Die Könige und Fürsten der Nationen
werden aufgefordert, zu hören; sie haben aber keinen Anteil
an diesem Liede, denn die Befreiung Israels bedeutet
ihren Untergang.
283
„Jehova! als du auszogest von Seir, als du einher-
schrittest vom Gefilde Edoms, da erzitterte die Erde; auch
troffen die Himmel, auch troffen die Wolken von Wasser.
Die Berge erbebten vor Jehova, jener Sinai vor Jehova,
dem Gott Israels." (V. 4. 5.) Diese Worte erinnern
uns an den Anfang des Liedes Moses (5. Mose 32), auf
welchen auch die Verse 7 u. 8 in Psalm 68 anspielen. Sie
machen uns auf einen zweiten wichtigen Grundsatz aufmerksam,
der in Zeiten geistlichen Erwachens gewöhnlich hervortritt.
Die Seelen fühlen sich angetrieben, ihre Blicke zu den
ersten Segnungen zurückzuwenden, zu dem, was Gott im
Anfang gethan hat. Unbekümmert um das, was sie vor
Azigen sehen, fragen sie: „Was hat G o tt gethan?" Das ist
unser Bewahrungsmittel in einer Zeit des Verfalls. Sagen
wir deshalb nicht mit so manchen untreuen Christen: Wir
müssen uns den Tagen, in denen wir leben, anpassen! Nein,
in einer Zeit, von welcher der Apostel Johannes sagen mußte:
„Es ist die letzte Stunde", besaßen die Heiligen als ihre
Hilfsquelle „das was von Anfang war". (1. Joh. 1, 1.)
„In den Tagen Schamgars, des Sohnes Anaths, in
den Tagen Jaels feierten die Pfade u. s. w." (V. 6—8.)
Ein neuer Grundsatz tritt hier hervor. Die Treuen erkennen
den Verfall Israels an. Sie suchen ihn nicht zu
beschönigen, noch das Böse zu entschuldigen, sondern sie
urteilen darüber, wie Gott urteilt. Vier Thatsachen kennzeichnen
diesen Verfall:
1) „Die Pfade feierten, und die Wanderer betretener
Wege gingen krumme Pfade." Das war es, was die
Unterjochung seitens des Feindes hervorgerufen hatte. Es
gab keine Sicherheit mehr für das Volk auf den betretenen
Wegen, auf den Straßen, wo alle miteinander gewandelt
284
hatten; denn dyrt traf inan den Feind. Deshalb wählte
die Menge krumme, verborgene Pfade, so wie das Herz
es einem jeden eingab. Kennzeichnet dieselbe Erscheinung
nicht auch in unsern Tagen die Kirche Gottes?
2) „Es feierten die Dörfer ) in Israel." Die Orte,
welche das Volk in stillem Frieden bewohnt hatte, standen
verlassen. Die sichtbare Einheit Israels war bis zu dem
Augenblick, wo Debora für die teilweise Wiederherstellung
des Volkes erweckt wurde, verschwunden. Nun, kann man
heute noch die Einheit der Familie Gottes wahrnehmen?
Ach! wenn auch eine gewisse Anzahl von Gläubigen dieselbe
darzustellen sucht, so existiert sie doch im Ganzen nur
noch für den Glauben und in den Ratschlüssen Gottes.
*
3) „Es erwählte neue Götter; da war Streit an den
Thoren!" Ja, das Volk hatte Gott, den ewigen Gott, verlassen
und die wahre Religion mit dem Götzendienst vertauscht.
Israel hatte Jehova beleidigt; daher war es gezüchtigt worden
mit Krieg und einem unablässig drängenden Feinde.
4) „Ward wohl Schild und Lanze gesehen unter
vierzigtausend in Israel?" Es gab keine Waffen mehr
gegen das Böse. Und, möchte ich fragen, wo sind dieselben
jetzt? Was hat man mit dem Schwerte des Geistes
gemacht? Wo ist die Macht des Wortes, um den
falschen Lehren Widerstand zu bieten, welche inmitten der
Christenheit emporwuchern, wie ein Krebs um sich fressen
und den unvergleichlichen Namen Christi in den Staub
ziehen? „Bis wann", fragt der Psalmist, „soll meine Herrlichkeit
zur Schande sein?" Selbst dec Schild des Glaubens
ist zu Boden geworfen, das Böse herrscht, und das
Volk Gottes kann sich nicht davor schützen.
*) So nach der franz. Übersetzung der Bibel.
285
Inmitten der Verwirrung ist es Sache des Gläubigen,
all das Böse mit demutsvoll gebeugtem Haupte anzuerkennen.
Es ist nicht genug damit, daß wir unsre himmlischen
Segnungen verstehen; nein, Gott will auch, daß wir den
Zustand, durch welchen wir, Sein Volk, Ihn verunehrt haben,
völlig anerkennen, damit wir uns davon getrennt halten.
Wenn wir dem Zeugnis Gottes angehören, so laßt uns
auch von dem Bösen fern bleiben. Das schlimmste Kennzeichen
der letzten Zeiten ist nicht offenbare Unsittlichkeit,
obwohl die Sitten heutzutage tief verderbt sind, sondern
in erster Linie falsche Lehren. In dem zweiten Briefe
an Timotheus wird uns besonders im Blick auf solche
Lehren ans Herz gelegt, von der Ungerechtigkeit abzustehen
und uns von den Gefäßen zur Unehre zu reinigen. Aber
auch das genügt noch nicht. Die Prophetin fügt hier
hinzu: „Mein Herz gehört den Führern Israels, denen
die sich freiwillig stellten im Volke." (B. 9.) Das ist
wieder ein neuer Grundsatz. Die Seele erblickt das Gute
da, wo der Geist Gottes es hervorruft, und schließt sich
demselben an. Tas Herz Deboras ist mit den Treuen
in Israel. Offen nimmt sie Stellung mit denen, welche
einen guten Willen gezeigt hatten, und indem sie anerkennt,
was Gott inmitten des Verfalls gethan hat, ruft sie aus:
„Preiset Jehova!" Sie ist glücklich darüber, hienieden
dieses geringe Zeugnis unter den Führern wahrzunehmen.
Möchten auch alle unsre Herzen es schätzen und imstande
sein, mit ihr in den Ruf einzustimmen: „Preiset Jehova!"
Debora wendet sich nunmehr (V. 10 u. 11) an
diejenigen, welche in Frieden die wiedererlangten Segnungen
genießen, und sagt ihnen: „Ihr, die ihr reitet auf weißen
Eselinnen". Es war dies ein Zeichen von Reichtum
286
und Wohlhabenheit. Auf Eseln zu reiten war das Vorrecht
der Angehörigen edler Familien und der Richtersöhne.
(Vergl. Kap. 10, 4; 12, 14.) Die Worte Deboras sind
wie ein Aufruf an solche, welche ohne Kampf sich der
Frucht des Sieges erfreuten. „Ihr, die ihr auf Teppichen
sitzet" — die sich einer wohlthuenden Ruhe überließen;
„ihr, die ihr wandelt auf dem Wege" — die in Frieden
die wiedererlangte Sicherheit genossen. An alle diese
wendet sich Debora und fordert sie auf zu „singen" (oder
nach anderer Übersetzung: zu „sinnen"). Sie alle hatten
nichts mehr mit dem Siege zu thun, als daß sie die Früchte
desselben genossen; denn nur einige hatten gekämpft, deren
Stimmen von den Schöpfrinnen herüberschallten. Wir
dürfen nicht vergessen, daß diese Zeit, so gesegnet sie auch
sein mochte, nicht die Wiederherstellung Israels darstellte,
ebenso wenig wie die Erweckungen in unsern Tagen eine
Wiederaufrichtung der Kirche genannt werden können. Wenn
auch die Sieger die gerechten Thaten Jehovas in Israel
erzählen konnten, und wenn auch das Volk zu den Thoren
hinabgezogen war, um dem Feinde die Stirn zu bieten, so
war es nichtsdestoweniger eine Zeit des Verfalls und nur
eine teilweise Wiederherstellung. Ach! es geziemt sich wohl
für das Volk Gottes unsrer Tage, das nicht zu vergessen.
Es giebt hier indes noch höhere Segnungen für uns.
Der Ton des Liedes steigert sich; die Worte entquillen
in stets wachsender Fülle und Kraft dem Munde Deboras.
„Wache auf, wache auf, Debora! Wache auf, wache
auf, sprich ein Lied! Mache dich auf, Barak, und führe
gefangen deine Gefangenen, Sohn Abinoams!" (V. 12.)
Der 68. Psalm, dieser ergreifende Lobgesang Davids, in
welchem so viele Stellen an Deboras Lied erinnern (vergl.
287
V. 8. 9. 13 u. 18), feiert die durch die Erhöhung des
Herrn bewirkte, völlige, tausendjährige Wiederherstellung
Israels. Jehova wird, wie es dort heißt, inmitten Seines
Volkes wohnen. „Jehova wird daselbst wohnen immerdar
........... Der Herr ist unter ihnen." Woher mag diese
Segnung kommen? Der Psalmist antwortet: „Du bist aufgefahren
in die Höhe, du hast die Gefangenschaft gefangen geführt
; du hast Gaben empfangen im Menschen, und selbst für
Widerspenstige, damit Jehova, Gott, eine Wohnung habe."
Und die Worte dieses Liedes, welches die Fülle
zukünftiger Segnungen Preist, vernehmen wir hier aus
dem Munde eines schwachen Weibes, in einer Zeit des
Verfalls, in welcher Jehova auf die Stirn Israels das
Zeichen verloren gegangener Segnungen gedrückt hatte!
„Mache dich auf, Barak, und führe gefangen die Gefangenschaft,
Sohn Abinoams!" Welch eine Ermunterung für
uns! Wahrlich, erhabene Wahrheiten waren das besondere
Teil des Glaubens in den niedrigen Zeiten der Richter,
wie sie es heute sind in den bösen Tagen, die wir durchschreiten.
Nach dem Durchzuge durch das Rote Meer
feierte Mose in seinem, von der Freude des erlösten Volkes
überströmenden Liede "die Befreiung durch den Tod,
um das Volk zur Wohnung Gottes und später zu dem
von Seinen Händen bereiteten Heiligtum zu führen. Ein
wunderbares Lied, ein Lobgesang der Seele beim Beginn
ihres Weges, wenn sie den Sieg betrachtet, dessen Gegenbild
wir am Kreuze erblicken; ein Lobgesang, in welchem
das Herz das Lied der Befreiung, gleich einem duftenden
Wohlgeruch, ausströmen läßt; und doch nach allem ein
Gesang, welcher diese Befreiung nicht voll und ganz auszudrücken
vermag!
288
Ein Weib also stimmt in einer finstern Zeit des
Verfalls einen über den Tod hinaus sich erhebenden Lobgesang
an, das Lied der Befreiung durch die
Auferstehung. Denn um wen handelt es sich hier,
wenn es heißt: „Mache dich auf, Barak!"? Handelt es
sich nur um den Sohn Abinoams? Was uns betrifft, so
tragen wir kein Bedenken, in Barak ein geheimnisvolles
Vorbild von Christo zu erblicken, der zur Rechten Gottes
hinaufgestiegen ist und die Gefangenschaft gefangen geführt
hat. (Bergl. Eph^ 4, 8.)
Wie sehr sich auch die Zeiten seit jenem feierlichen
Augenblick, da das Lied Moses erschallte, verfinstert haben
mochten, hebt uns doch das prophetische Verständnis eines
Weibes hoch über alles empor und läßt uns das Vorbild
eines auferstandenen Christus schauen. Debora wacht auf,
und ihre Augen sind geöffnet für eine herrliche Scene, in
welcher Barak sich aufmacht, um die besiegte Gefangenschaft
gefangen zu führen, — ein schwaches Bild von der Freiheit,
in welche der Sieger, Christus, uns einführt, damit wir
uns derselben ewig mit Ihm erfreuen mögen. Unter den
im Anfang unsers Kapitels aufgezählten Dingen, welche
die Erweckung der gegenwärtigen Zeit so treffend kennzeichnen,
giebt es einen Zug, der vor allen übrigen
charakteristisch ist, nämlich die Kenntnis eines verherrlichten,
zur Rechten Gottes aufgefahrenen Menschen, eines Menschen,
den unsre Augen und Herzen in jener himmlischen Scene
suchen, in welche Er als Sieger eingetreten ist, nachdem
Er uns durch Seinen Tod und Seine Auferstehung vollkommen
befreit hat. — Also noch einmal, Geliebte, hinweg
mit aller Verzagtheit! denn wir haben alle Ursache, mit
Debora auszurusen: „Preiset Jehova!"
289
„Da zog hinab ein Überrest der Edlen seines Volkes;
Jehova zog zu mir herab unter den Helden." (V. 13.)
Wir dürfen selbst in einer Zeit der Erweckung nicht erwarten,
das ganze Volk in den Kampf hinabziehen zu
sehen. Es wird stets nur der Überrest der Edlen sein;
aber — und das ist ein außerordentlich großes Vorrecht
— Gott betrachtet diesen als „Sein Volk", und erblickt
in ihm den gesegneten Vertreter desselben. Welch eine
Freude für das Herz der Treuen, wenn sie sehen, daß sich
Zeugen, und selbst wenn es nur ein einziger wäre, für
Gott von der Herde trennen, welche, wie Ruben, „zwischen
den Hürden zurückgeblieben ist"! Wir mögen mehr
wünschen, dürfen aber nicht mehr erwarten; wir würden
nicht in einer Zeit des Verfalls leben, wenn es anders
wäre. Und doch, wie kostbar ist unser Teil! „Jehova
zog zu mir herab unter den Helden!" Meine lieben
Brüder, ist das nicht genug sür uns? Der, welcher hinausgestiegen
ist in die Höhe, ist derselbe, welcher mit uns
hinabzieht, um uns in neuen Kämpfen den Sieg zu verleihen.
In den Versen 14—18 verzeichnet Gott die Namen
derjenigen, welche für Ihn gewesen waren, sowie derer,
die sich aus dem einen oder anderen Grunde hatten zurückhalten
lassen. Ephraim, Benjamin, Sebulon und Jfsaschar
waren mit ungeteiltem Herzen auf dem Wege Jehovas
hinabgezogen. Ruben aber war unentschlossen geblieben und
hatte seine Grenzen nicht verlassen. Warum Wohl? „Warum
bliebest du zwischen den Hürden, das Flöten bei den Herden
zu hören?" Der Ton der Posaune, welche das Volk
zusammenries, war nicht bis in das Herz Rubens gedrungen.
Wohlhabend, wie er war, wollte er die erlangten Reich
290
tümer ungestört genießen; er pflegte der Ruhe zwischen
den Hürden und blieb an den Bächen, welche sein Gebiet
begrenzten. — Wohlan, ihr Christen der Jetztzeit! ist
das auch unsre Stellung? Sind wir den Edlen gefolgt,
welche uns den Weg gezeigt haben? Oder haben wir
es, wie Ruben, bei „großen Herzensberatungen" bewenden
lassen? Fehlt es uns auch au Entschiedenheit in dem
Zeugnisse für Christum?
„Gilead ruhte jenseits des Jordan." Die Tage,
in welchen Gilead wohlbewaffnet seine Brüder auf dem
Siegeszuge durch Kanaan begleitet hatte, waren vorüber.
Zufrieden mit seiner irdischen Stellung, — oder soll ich
sagen, seiner irdischen Religion? — außerhalb der eigentlichen
Grenzen des Landes, jenseits des Jordan wohnend,
hat es keine anderen Bedürfnisse mehr und bleibt, wo
es ist.
„Dan, warum weilte er auf Schiffen? Äser blieb
am Gestade des Meeres, und an seinen Buchten ruhte er."
Wo waren Dan und Äser zu finden, als es sich darum
handelte zu kämpfen? Ach, bei ihren Geschäften, bei
ihrem Handel! Sie hatten nicht das Geringste aufgeopfert,
um die Schlacht Jehovas zu schlagen. Doch Debora hält
sich nicht bei der Feststellung des Bösen auf. Voller
Freude verzeichnet sie jeden Zug der Ergebenheit für
Jehova. „Sebnlon ist ein Volk, das seine Seele dem
Tode preisgab, auch Naphthäli auf den Höhen des Gefildes."
(V. 18.)
In den Versen 19—22 enthüllt sich ein neuer
Charakterzug der Treuen. Sie verherrlichen sich nicht,
denken überhaupt nicht an sich selbst, sondern schreiben
Gott allein den Sieg zu, indem sie dem himmlischen
291
Charakter des Kampfes Ausdruck geben. „Vom Himmel
stritten, von ihren Bahnen stritten die Sterne mitSisera."
Dieser Teil des Liedes schließt mit einem rückhaltlosen
Fluche über Meros.
„Fluchet Meros, spricht der Engel Jehovas, verfluchet
seine Bewohner! denn sie sind nicht Jehova zu Hilfe
gekommen, Jehova zu Hilfe unter den Helden!" Diejenigen,
welche in solch bedrängten Zeiten nicht für Christum Partei
nehmen, welche, obwohl sie Seinen Namen und den des
Volkes Gottes für sich in Anspruch nehmen, doch nur
gleichgiltige Herzen für Ihn haben, seien verflucht! „Wenn
jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der
sei Anathema, Maranatha!" (1. Kor. 16, 22.)
Hierauf (V. 24—27) wird Jael geehrt; sie, die
wenig Kraft besitzt, wird gesegnet. „Wasser verlangte er,
Milch gab sie; in einer Schale der Edlen reichte sie geronnene
Milch." Dieses Weib erwies sich dem Feinde
des Volkes Gottes, als er zn ihr kam, gnädig. Sie holte,
um die hohe Stellung Siseras zu ehren, das Beste, was
in ihrem Zelte aufzutreiben war, und reichte dem Manne
Milch in einer Schale der Edlen. Ist das nicht das
Gegenteil von Verachtung? Sollten wir nicht ebenso gegen
die Feinde Gottes handeln und ihnen zur Befriedigung
ihres Hungers und Durstes mehr noch geben, als sie
verlangen? Die Zeugen Gottes verkehren stets in Gnade
mit den schlimmsten Feinden Christi. Jael wird gepriesen,
weil sie das gethan hat; dann aber heißt es weiter: „Ihre
Hand streckte sie aus nach dem Pflocke, und ihre Rechte
nach dem Hammer der Schmiede; und sie hämmerte auf
Sisera, zerschmetterte sein Haupt, und zerschlug und durchbohrte
seine Schläfe". Ja, das Herz Jaels schlug nichts-
292
destowemger ganz für den Gott Israels und für das
Israel Gottes. Sobald es sich um die Wahrheit Gottes
handelte und es darauf ankam, den Feind als solchen zu
behandeln, gebrauchte sie die größte Energie. Dieses
Weib war in jenem Augenblick in ihrer engen Behausung
der wahre Anführer der Heere Jehovas. Sie stand in
erster Reihe und wurde von Gott geehrt, den Sieg
davonzutragen, weil sie ein ungeteiltes Herz für Sein
Volk besaß.
Fluchet Meros, aber gesegnet sei Jael!
Eine andere Scene (B. 28—30) spielt sich in dem
Palaste der Mutter Siseras ab, deren Hochmut bis in
den Staub erniedrigt wird. *)
*) Ich möchte im Vorbeigehen noch darauf Hinweisen, daß
Debora, trotz der hervorragenden Stellung, welche Gott ihr gegeben
hatte, ihren Charakter als Weib in Israel bewahrte und ein besonderes
Verständnis zeigte für alles, was in den Bereich ihres Geschlechts
gehört, sowohl für das was Jael, das gläubige Weib, ehrte, als
auch für das was das Gericht über Siseras Mutter, das hochmütige
Weib, herbeiführte. Etwas Ähnliches finden wir später
bei einer anderen Frau, bei der Königin von Scheba. Als diese
Salomo besuchte, hielt sie keine Musterung über die Truppen des
Königs ab, sondern betrachtete „das Haus, das er gebaut hatte,
und die Speise seines Tisches, und das Sitzen seiner Knechte,
und das Aufwarten seiner Diener und ihre Kleidung und seine
Mundschenken, und seinen Aufgang, auf welchem er in das Haus
Jehovas hinaufging" (1. Kön. 10, 4. 5); und sie that dies mit
einem vollen Verständnis für alles, was sich auf diesem Gebiet
zutrug.
Deboras Lied schließt mit den Worten: „Also mögen
umkommen alle deine Feinde, Jehova! und die Ihn lieben
feien, wie die Sonne aufgeht in ihrer Kraft!" (V. 31.)
Nochmals eine wiedererlangte Segnung, welche für die
293
Zeit der Erweckung charakteristisch ist. Debora giebt ihrer
Hoffnung Ausdruck. Sie blickt vorwärts, zu dem herrlichen
Tage hin, an welchem, nachdem der Herr das Gericht
ausgeübt hat, die Heiligen Israels wie die Sonne selbst
leuchten werden, Dem ähnlich, dessen Angesicht in den
Augen des Propheten war, „wie die Sonne leuchtet in
ihrer Kraft". (Offbg. 1, 16.)
Inmitten der Nacht dieser Welt besitzen auch wir,
geliebte Brüder, diese Hoffnung, und zwar in weit höherem
Sinne und viel näher als Debora. Schon ist der Morgenstern
in unsern Herzen aufgegangen; schon durchdringen
die Augen des Glaubens den Schleier und erfreuen sich
der herrlichen Scene, welche sich noch hinter demselben
verbirgt, und die sich in dem einen unaussprechlich kostbaren
Worte zusammenfassen läßt: Für immer bei dem
Herrn!
In nächt'ger Stunde wachend steht die Braut,
Erwartet sehnend ihres Bräutigams Kommen.
„Ich komme bald!" das Wort hat sie vernommen;
„Ja komm, Herr Jesu, komm!" so ruft sie laut.
Die Nacht vergeht, und schon der Morgen graut;
Der Morgenröte Schein, erst sanft verschwommen,
Ist hell und licht am Himmelsrand erglommen.
Das Sehnen wächst; und siehe, plötzlich schaut
Sie ihren Herrn in hoher Himmelsferne;
lind mit den Heil'gen, die aus stiller Gruft
Erwacht, schwebt sie verwandelt in die Luft
Zu Ihm, dem langersehnten Morgensterne —
So wie zum Himmel sich erhebt der Tau,
Der sonnerwartend glänzte auf der Au.
294
Ein reichlicher Eingang.
„Darum, Brüder, befleißiget euch umsomehr, eure
Berufung und Erwählung fest zu machen; denn wenn
ihr diese Dinge thut, so werdet ihr niemals straucheln.
Denn also wird euch reichlich dargereicht werden der
Eingang in das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes
Jesu Christi. Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer
an diese Dinge zu erinnern." (2. Petr, l, 10—12.)
Der Apostel Petrus war ein treuer Diener der
Gläubigen, ein liebender und wachsamer Hirte der Schäflein
Christi. Er wünschte, daß ihnen allen der Eingang in
das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes reichlich
dargereicht werden möchte. Deshalb trug er Sorge, sie
zu erinnern und zu ermahnen, wiewohl er ihnen nichts
Neues verkündigte, sondern Dinge, welche ihnen längst
bekannt waren.
Wenn der Apostel nun von dem Eingang in das
ewige Reich unsers Herrn und Heilandes redet, so denkt
er ohne Zweifel an die Erscheinung Christi in Macht und
Herrlichkeit zur Aufrichtung Seines Reiches; an Sein
Kommen, bei welchem Er „einem jeden vergelten wird,
wie sein Werk sein wird". (Offbg. 22, 12.) Unsre Verantwortlichkeit
steht immer in Verbindung mit der Erscheinung
des Herrn, nicht aber mit Seinem Kommen
zur Aufnahme der Seinigen. So wird zum Beispiel zu
Timotheus gesagt: „Ich gebiete dir vor Gott . . ., daß
du das Gebot unbefleckt, unsträflich bewahrst bis zur E r-
fcheinung unsers Herrn Jesu Christi." (I.Tim. 6, 13. 14.)
Bei unsrer Aufnahme handelt es sich nicht um Vergeltung,
sondern um die Erfüllung des Ratschlusses, den Gott in
Seiner unumschränkten Gnade gegen uns in Christo Jesu
295
gefaßt, und nach welchem Er uns erlöst hat und in Herrlichkeit
darstellen wird. Wenn es sich um diesen Ratschluß
und diese Gnade handelt, kommt unser Wandel und die
Verwirklichung unsrer Stellung als Kinder Gottes und
Jünger Jesu nicht in Betracht. Gott hat uns geliebt
und Seinen Sohn für uns hingegeben, als wir nichts als
Sünder und Feinde waren. Er hat uns, noch ehe wir
geboren waren, ja schon vor Grundlegung der Welt, zuvorerkannt
und zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes
gleichförmig zu sein. (Röm. 5, 8—10; 8, 29. 30.)
Kommt Christus als der „glänzende Morgenstern", so
werden alle die Seinigen ohne Unterschied in Sein Bild
verwandelt werden, und zwar in einem Nu, in einem
Augenblick. (1. Kor. 15, 52.) Alle, die Schwachen wie
die Starken, die Unmündigen wie die Erwachsenen, die
Kindlein wie die Väter, werden dann in gleicher Herrlichkeit
gesehen werden, zum Preise Seiner unbegreiflichen, alles
Verständnis übersteigenden Gnade. Alle werden einen
gleich reichlichen Eingang haben, einen Eingang, wie nur
die göttliche Gnade ihn darzureichen vermag.
Aber Petrus spricht nicht von diesem Kommen des
Herrn, sondern vom Reiche, und darum kommt unsre
Verantwortlichkeit in Betracht; denn es handelt sich um
die Regierung Gottes — nicht um die Offenbarung der
Gnade gegen verlorene Sünder, sondern um die Offenbarung
der Macht Dessen, der in Gerechtigkeit herrschen wird.
„Und die Gerechtigkeit wird der Gurt Seiner Lenden sein,
und die Treue der Gurt Seiner Hüften." „Und ein
Scepter der Aufrichtigkeit ist das Scepter Seines Reiches."
(Jes. 11, 5; Hebr. 1, 8.) Unter Seiner Regierung wird
keine Vermischung des Guten und Bösen stattfinden, wie
296
in der gegenwärtigen Zeit, wo das Reich dem Menschen
anvertraut ist. „Der Sohn des Menschen wird Seine
Engel senden, und sie werden aus Seinem Reiche alle
Ärgernisse zusammenlesen und die das Gesetzlose thun."
(Matth. 13, 41.)
Wie unzertrennlich die Verantwortlichkeit mit dem
Eingang in das Reich verbunden ist, das geht aus vielen
Stellen der Schrift hervor. „Wahrlich, ich sage euch,
wer irgend das Reich Gottes nicht aufnehmen wird
wie ein Kindlein, wird nicht in dasselbe eingehen."
(Mark. 10, 15.) „Oder wisset ihr nicht, daß Ungerechte
das Reich Gottes nicht ererben werden? Irret euch nicht!
weder Hurer, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch
Weichlinge, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habsüchtige,
noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber
werden das Reich Gottes ererben." (1. Kor. 6, 9. 10.)
„Von denen ich euch Vorhersage, gleichwie ich euch vorhergesagt
habe, daß, die solches thun, das Reich Gottes nicht
ererben werden." (Gal. 5, 21.) „Denn dies wisset und
erkennet ihr, daß kein Hurer oder Unreiner oder Habsüchtiger
(welcher ein Götzendiener ist) ein Erbteil hat in
dem Reiche Christi und Gottes." (Eph. 5, 5.) So auch
wird in der unsrer Betrachtung zu Grunde liegenden Stelle
die Art und Weise unsers Eingangs in das Reich von
unserm Wandel abhängig gemacht: „Darum, Brüder,
befleißiget euch umsomehr, eure Berufung und Erwählung
fest zu machen; denn wenn ihr diese Dinge thut, so werdet
ihr niemals straucheln. Denn also wird euch reichlich
dargereicht werden der Eingang rc."
Wenn auch der Eingang an und für sich den wahren
Christen gesichert ist durch die Gnade, nach welcher es
297
dem Vater Wohlgefallen hat, ihnen das Reich zu geben
(Luk. 12, 32), so ist doch die Art und Weise ihres Eingangs
je nach ihrem Wandel verschieden — reichlich oder kärglich,
weit oder enge. Es giebt solche, die mit Paulus, wenn
auch in weit geringerem Maße, sagen können: „Fortan
liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der
Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben
wird an jenem Tage" (2. Tim. 4, 8); und es giebt solche,
die, gleich Lot, „mit Not" gerettet werden. (1. Petr. 4, 18.)
Wir dürfen nicht vergessen, daß das Reich die Offenbarung
der Macht Dessen ist, der in Gerechtigkeit herrschen wird,
und daß Seine Erscheinung der Tag der gerechten Vergeltung
ist. Alsdann „wird das Werk eines jeden offenbar
werden, denn der Tag wird's klar machen, weil er in
Feuer geoffenbart wird; und welcherlei das Werk eines
jeden ist, wird das Feuer bewähren. Wenn das Werk
jemandes bleiben wird, das er darauf (auf den Grund,
welcher ist Jesus Christus) gebaut hat, so wird er Lohn
empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird,
so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet
werden, doch so wie durchs Feuer." (1. Kor. 3, 11—15.)
Wir sehen hier den großen Unterschied, welchen jener Tag bezüglich
des Eingangs der Gläubigen in das Reich offenbaren
wird, und wie sehr ihr gegenwärtiges Verhalten Einfluß auf
denselben hat. Alle die Tage und Stunden, die wir hienieden
als Gläubige verlebt haben, alle unsre Worte nnd
Werke werden dort für oder gegen uns zeugen, jenachdem
sie in Übereinstimmung standen mit dem Charakter des
Reiches. Wie ernst und wichtig ist das, vornehmlich für
alle, die sich in irgend einer Weise mit dem Werke des
Herrn beschäftigen! Sicher wird der Herr jeden Dienst
298
für Ihn anerkennen, sei er noch so gering und unscheinbar
in den Augen der Menschen; aber ebenso sicher wird nichts
die Feuerprobe bestehen, was nicht durch Seinen Geist
gewirkt und nicht in Übereinstimmung mit Seinem Worte
war, mag es auch seitens der Menschen noch so hoch gepriesen
worden sein.
Möchten wir deshalb allezeit im Lichte jenes großen
Tages wandeln, „würdig des Gottes, der uns zu Seinem
eignen Reiche und Seiner eignen Herrlichkeit beruft"!
(1. Thess. 2, 12.) Dann werden auch unsre Berufung
und Erwählung stets lebendig und frisch vor unsern Seelen
stehen. Die Ursache des ungeistlichen und weltförmigen
Zustandes so mancher Christen liegt ohne Zweifel darin,
daß sie es versäumen, ihre Berufung und Erwählung fest
zu machen, daß sie ihre hohe Berufung aus dem Auge
verlieren und vernachlässigen. Darum fehlt ihnen die
nötige Energie zum Wandel in der Gemeinschaft mit Gott,
in der Gottseligkeit und in der Liebe; sie sind nicht fähig,
sich selbst zu verleugnen und in den Prüfungen auszuharren.
Der Apostel sagt von solchen, daß sie blind und kurzsichtig
seien und die Reinigung ihrer vorigen Sünden vergessen
haben. (V. 9. 10.) Solche sind blind über sich selbst;
sie täuschen sich über ihren wahren Zustand, indem sie
ihren Mangel an wirklicher Gemeinschaft mit Gott
nicht merken und genug an sich selbst haben. Sie sind
kurzsichtig; ihr Blick geht nicht über die zeitlichen Dinge
hinaus, dringt nicht in die Ferne zu den ewigen, unsichtbaren
Herrlichkeiten hin. Sie haben das Bewußtsein jener
fleckenlosen Reinheit verloren, in welcher der Gläubige
kraft des kostbaren Blutes Christi vor den Augen Gottes
steht, die sein Gewissen in Thätigkeit erhält und ihm ein
299
zartes Gefühl verleiht, so daß er die geringste, ihm zum
Bewußtsein kommende Befleckung des Fleisches und des
Geistes verurteilt und richtet. Kein Wunder daher, wenn
die Verunreinigung bei solchen immer größer wird, wenn
das geistliche Unterscheidungsvermögen immer mehr verschwindet,
wenn der Heilige Geist betrübt und Seine
mahnende und strafende Stimme kaum noch vernommen
wird. Kein Wunder ferner, wenn solche Seelen unaufhörlich
straucheln und tiefer und tiefer sinken. Kein Wunder
endlich, wenn nach einem solchen Wandel angesichts der
Ewigkeit sich die Anklagen eines bösen Gewissens erheben,
und das Herz, anstatt mit Frohlocken, mit Zweifeln und
Befürchtungen erfüllt ist.
„Darum, Brüder, befleißiget euch umsomehr,
eure Berufung und Erwählung fest zu machen!" Wenn
wir es nicht thun, so beweisen wir, daß unser Herz nicht
bei der Sache ist, und daß wir kein, oder doch nur ein
sehr geringes Interesse für das Reich unsers Herrn und
Heilandes Jesu Christi haben. Wie ganz anders aber ist es,
wenn unser Herz in der Erwartung dieses Reiches lebt!
Unser Wandel steht dann unter dem Einfluß der Grundsätze
desselben, und wir wandeln „wie am Tage" (Röm. 13,13);
unser Gewissen ist in Übereinstimmung mit dem Lichte
jenes Tages, und unser Eingang ist weit. Wir wandeln
in dem süßen Bewußtsein, daß das Blut Christi uns von
allen unsern Sünden gereinigt hat, und daß nichts mehr
zwischen uns und Gott steht, was uns verurteilen könnte.
Eingedenk unsrer Berufung, ist unser Blick in die Ferne
gerichtet auf das herrliche Ziel hin. Wir schauen über
die Gegenwart hinaus, über alles Sichtbare hinweg, was
unsern Lauf erschweren und aufhalten will. Unser Wandel
300
steht auf der Höhe unsrer Berufung, und je ernster der
Kampf, desto herrlicher ist der Preis; je größer unsre
Selbstverleugnung in den Mühen und Entbehrungen des
Weges, desto freier kann sich die Macht des Heiligen Geistes
in uns entfalten.
Ein durch schwere Kämpfe errungener Sieg ist ein
zwiefacher Sieg, indem unsre Energie dem Feinde Schrecken
einflößt und seinen Widerstand lähmt; wohingegen Zaghaftigkeit
auf unsrer Seite diesen Widerstand verschärft und
die Anstrengungen des Feindes verdoppelt. Daher die
Ermahnung des Apostels: „Eben deshalb reichet aber auch
dar, indem ihr allen Fleiß anwendet, in eurem Glauben
die Tugend" (oder die geistliche Energie, Entschiedenheit).
(V. 5.) Beachten wir die Worte „allen Fleiß" I Welchen
Fleiß wendet der Mensch oft an zur Erlangung vergänglicher
Dinge! Welche Anstrengungen werden gemacht,
welche Opfer gebracht für Dinge, die sich an jenem Tage
nur als ein Raub der Flammen erweisen werden! Man
setzt unbedenklich sein Leben aufs Spiel, um auf der Rennbahn
den ersten Preis zu erjagen, oder sich den Ruhm zu
erwerben, unbekannte Weltgegenden erforscht zu haben.
Mein lieber christlicher Leser! Welchen Fleiß wenden
wir an? Was thun wir, um eine unvergängliche Krone
zu erwerben? „Wisset ihr nicht, daß die, welche in der
Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber einer den Preis
empfängt? Laufet also, auf daß ihr ihn erlanget.
Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in allem; jene
freilich, auf daß sie eine vergängliche Krone empfangen,
wir aber eine unvergängliche. Ich laufe daher also, nicht
wie aufs Ungewisse; ich kämpfe also, nicht wie einer, der
die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und
301
führe ihn in Knechtschaft, auf daß ich nicht, nachdem ich
Andern gepredigt, selbst verwerflich werde." (1. Kor. 9,
24—27.) Der Ausgang des Weges ist durchaus nicht
zweifelhaft oder ungewiß für den, der treu und entschieden
das Ziel im Auge behält.
Aber vergessen wir nicht, daß nur dann diese Energie
bei uns vorhanden sein kann, wenn unsre Berufung und
Erwählung lebendig und frisch vor unsrer Seele stehen.
„Eines aber thue ich", sagt Paulus; „vergessend, was
dahinten ist, und mich ausstreckend nach dem, was vorne
ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem
Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo
Jesu." (Phil. 3, 14.) Denken wir daran, daß der Herr
gerecht ist, daß Er deshalb die geringste Treue gegen
Ihn anerkennen wird; aber auch aus demselben Grunde
die Untreue bei den Seinigen ebensowenig übersieht wie
bei der Welt. Die dem Apostel bereit liegende Krone,
welche er von dem gerechten Richter erwartete, war
die Krone der Gerechtigkeit. Das Wort: „Was
irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7),
ist ein ernster Grundsatz von allgemeiner Anwendung.
Für den Treuen kann dies nur ermutigend sein. Ihm
genügt die Anerkennung von feiten des Herrn, mögen auch
die Menschen ihm ihre Anerkennung versagen und seinen
Weg verurteilen. Lasset uns deshalb im Geringen wie
im Großen treu sein, damit der Herr auch uns an jenem
Tage die Worte zurnfen könne: „Wohl, du guter und
getreuer Knecht! über weniges warst du getreu, über vieles
werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude deines Herrn!"
(Matth. 25, 21. 23.)
302
Gehorsam und Liebe.
Gehorsam gegen Gott und Liebe zu den Heiligen
sind die beiden Charakterzüge des göttlichen Lebens in dem
Gläubigen. Vollkommener Gehorsam kennzeichnete
das Leben Christi hier auf Erden. Er war der stets
Abhängige und Gehorsame. „In der Rolle des Buches"
stand von Ihm geschrieben: „Siehe, ich komme, um deinen
Willen, o Gott, zu thun" ; und als Er hienieden wandelte,
konnte Er sagen: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern
den Willen Dessen, der mich gesandt hat", und an einer
andern Stelle: „Der mich gesandt hat, ist mit mir; Er
hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das Ihm
Wohlgefällige thue". (Joh. 5, 30; 8, 29.) Das war
vollkommener Gehorsam.
Aber dieser Pfad des Gehorsams dem Vater gegenüber
ließ zugleich die Liebe Gottes gegen den Menschen
klar ans Licht treten. Alle Worte, Wege und Handlungen
Christi redeten laut von der Liebe Gottes zu Seinen
schuldigen Geschöpfen. Das Kreuz war die volle Offenbarung
dieser Liebe, sowie der höchste Ausdruck jenes
unweigerlichen Gehorsams. In dem Leben Christi hienieden
waren vollkommener Gehorsam und vollkommene Liebe
miteinander verbunden; und das Leben, in welchem diese
beiden Dinge sich in Christo entfalteten, ist durch die Gnade
dem Gläubigen mitgeteilt.
In Christo gab es keinerlei Unvollkommenheit. Sein
Gehorsam war ebenso vollkommen wie Seine Liebe. In
uns giebt es vieles, was die Offenbarung dieses Lebens
zu hindern geeignet ist; doch das Leben in uns ist seiner
Natur und seinen charakteristischen Eigenschaften nach das
303
gleiche, es ist dasselbe Leben. Und ob in Ihm oder
in uns, es kennzeichnet sich durch Gehorsam. „Hieran
wissen wir, daß wir Ihn kennen, wenn wir Seine Gebote
halten." (1. Joh. 2, 3.) Wo dieser Gehorsam fehlt, da
fehlt alles, mag man auch ein noch so hohes Bekenntnis
im Munde führen. „Wer da sagt: Ich kenne Ihn, und
hält Seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem
ist die Wahrheit nicht." (V. 4.)
Der zweite Charakterzug des göttlichen Lebens ist
hiervon nicht getrennt. Wo Gehorsam ist, da wird auch
Liebe sein, weil beide demselben Leben, derselben Natur
angehören. „Wer irgend Sein Wort hält", — das ist
Gehorsam, — „in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes
vollendet. Hieran wissen wir, daß wir in Ihm sind."
(V. 5.) Sein Wort ist der Ausdruck dessen, was Er ist,
der Ausdruck Seiner Natur; und „Gott ist Liebe", so daß,
wenn wir Sein Wort halten, Seine Liebe in uns vollendet
ist.
Aber „Seine Gebote" sind nicht nur der Ausdruck
dessen, was Er ist, sondern auch Seiner Autorität. Wir
find berufen, zu gehorchen, und zwar zu gehorchen, wie
Christus gehorcht hat. Wir sind geheiligt „zum Gehorsam
Jesu Christi". (1. Petr, l, 2.) Und wenn wir sagen, daß wir
in Ihm bleiben, so find wir schuldig, auch so zu wandeln,
Wie Er gewandelt hat, d. h. im Gehorsam gegen Gott;
denn das war Sein Leben. Da war keine Regung in
Seiner Seele, keine thätliche Äußerung Seines Lebens,
die nicht Gehorsam gegen den Willen Seines Vaters
gewesen wäre. Wahrlich, es ist ein gesegnetes Vorrecht,
den Vollkommenen in Seinem Pfade des vollkommenen
Gehorsams betrachten zu dürfen! Und glücklich alle, welche
304
Seinen Fußstapfen nachfolgen, welche so wandeln, wie Er
gewandelt hat!
Das Gebot, zu gehorchen, wie Christus gehorcht, zu
wandeln, wie Er gewandelt hat, war nicht ein „neues
Gebot". Es war das Wort, welches sie von Anfang
gehört hatten, in Verbindung mit der Offenbarung des
göttlichen Lebens in Christo. Es war das Gebot des
Vaters an Christum, nach Seinen eignen Worten: „Denn
ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater,
der mich gesandt hat, Er hat mir ein Gebot gegeben, was
ich sagen und was ich reden soll; und ich weiß, daß Sein
Gebot ewiges Leben ist. Was ich nun rede, rede ich also,
wie mir der Vater gesagt hat." (Joh. 12, 49. SO.) So
nennt denn Johannes das Gebot „alt". Wiederum war
es ein „neues Gebot", weil es wahr ist in Ihm und
in uns. Das Gebot war der Ausdruck des ewigen
Lebens — „Sein Gebot ist ewiges Leben" — und wurde
zuerst in Christo gesehen. Jetzt aber ist es wahr auch in
uns, „weil die Finsternis vergeht und das wahrhaftige
Licht schon leuchtet". Das Licht des Lebens schien jetzt
uni so Heller, nachdem Christus „hingegangen" und verherrlicht
war, und Vertrieb die Finsternis. Dieses Leben,
sür den Menschen und in dem Menschen als Frucht des
vollbrachten Erlösungswerkes, das Leben in Christo, das
Leben im Geiste, war eine neue Sache. Es ist Christus
in uns, Christus als unser Leben. Wir haben teil an
Seiner Natur, und sind in Ihm und Er in uns. Das Gebot
ist „alt", weil der Gehorsam, welcher dieses Leben charakterisiert,
in Ihm von Anfang an gesehen worden war.
Es ist „neu", weil dieselbe Sache jetzt in den Gläubigen
gesehen wird — „was wahr ist in Ihm und in euch".
305
So lange die Erlösung nicht vollbracht war, blieb
Christus allein. Jetzt ist Er aber nicht mehr allein;
wir sind in Ihm, und Er ist in uns. Das ist eine
wunderbare Wahrheit, welche den Kindern Gottes einen
wunderbaren Charakter verleiht. Ter Heilige Geist in
uns ist die Kraft von diesem allen, gleichsam die göttliche
Antwort in uns hienieden auf alles das, was Christus
als Mensch in der Herrlichkeit droben ist. Es handelt
sich nicht länger um einen Christus, der als Mensch allein
in dieser Welt wandelte, sondern Christus ist in den
Gläubigen, und das „ewige Leben" ist in ihnen entfaltet.
In den Briefen des Johannes wird Christus als das
„ewige Leben" hier in dieser Welt betrachtet, zuerst allein,
und dann in den Heiligen — „was wahr ist in Ihm
und in euch". Und dieses Leben, sei es in Christo allein,
oder in Ihm und in uns, ist zunächst ein Leben des
Gehorsams und dann ein Leben der Liebe.
In 1. Joh. 2, 3—8 finden wir Gehorsam und
Ungehorsam, in Vers 9—11 Liebe und Haß. Gehorsam
und Liebe kennzeichnen diejenigen, welche im Lichte sind;
Ungehorsam und Haß diejenigen, welche in der Finsternis
sind. Jemand mag sagen, daß er in dem Lichte sei;
wenn er aber seinen Bruder haßt, so ist er noch in der
Finsternis und hat das Licht nie gesehen. „Er wandelt
in der Finsternis und weiß nicht, wohin er geht, weil die
Finsternis seine Augen verblendet hat." Er kennt nicht
das „Licht des Lebens". Wenn wir aber irgendwo die
göttliche Liebe gegen einen Bruder in Thätigkeit sehen, so
können wir sagen: Hier ist jemand, der in dem Lichte
bleibt. Ein solcher hat den Gott gefunden, welcher Licht
ist, und indem er das Licht gefunden hat, besitzt er auch
306
die Liebe, denn „Gott ist Licht" und „Gott ist Liebe".
Wir können nicht das eine ohne die andere haben, ebenso
wenig wie man die Sonne haben kann, ohne sowohl Licht
als Wärme zu besitzen. „Wer seinen Bruder liebt, bleibt
in dem Lichte, und kein Ärgernis ist in ihm."
Das Licht vertreibt die Finsternis, und dann ist kein
Anlaß zum Straucheln vorhanden. „Der Gott, der aus
der Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsre
Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der
Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi." (2. Kor. 4, 6.)
Und Er, der in unsre Herzen geleuchtet hat als Licht, ist
auch Liebe. Welch eine anbetungswürdige Gnade für solche,
die „einst Finsternis" waren, nun aber „Licht in dem
Herrn" sind!
Geliebter Leser! sind unsre Augen geöffnet worden,
um das Licht zu sehen? Haben unsre Herzen die Liebe
geschmeckt? O laß uns dann „in Liebe wandeln,
gleichwie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für
uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer,
Gott zu einem duftenden Wohlgeruch" : laß uns wandeln
„als Kinder des Lichts, (denn die Frucht des Lichts
besteht in aller Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit,)
indem wir prüfen, was dem Herrn wohlgefällig ist!"
(Eph. 5, 2. 8—10.) Ja, möchten wir wandeln in dem
Lichte und dem Sonnenschein der Gegenwart Dessen, welcher
sagen konnte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen,
o Gott, zu thun", der nie für einen Augenblick diesen
Pfad verließ und der, nachdem Er die Seinigen, die in
der Welt waren, geliebt hatte, sie liebt bis ans Ende!
307
„Lasset jedermann von mir hinausgehen!"
„Und Joseph konnte sich nicht bezwingen vor allen,
die um ihn standen, und er rief: Lasset jedermann von mir
hinausgehen! Und es stand niemand bei ihm, als Joseph
sich seinen Brüdern zu erkennen gab." (1. Mose 45, 1.)
Wahrhaft bewunderungswürdig ist die Weisheit, mit
welcher Joseph einst seine schuldigen Brüder behandelte.
Ein Größerer als er tritt unwillkürlich vor unsre Blicke,
wenn wir die Kapitel 42—45 des 1. Buches Mose lesen.
Wir dürfen Wohl sagen: Josephs Liebe war die Liebe
Christi, und er wurde geleitet durch den Geist Christi.
Er handelte mit seinen Brüdern, so wie Christus mit uns
handelt und wie Er einst handeln wird mit dem Überrest
Seines irdischen Volkes.
Wahre Liebe denkt nie an sich, sondern hat nur das
Wohl ihrer Gegenstände im Auge. Hätte Joseph an sich
gedacht, so würde er sich seinen Brüdern von vornherein
zu erkennen gegeben und sich an ihrer Verlegenheit und
Beschämung geweidet haben. Seine Träume, um derentwillen
sie ihn so grimmig gehaßt und so grausam behandelt
hatten, waren ja in herrlichster Weise in Erfüllung gegangen.
Er war Herr über ganz Ägyptenland, und seine Brüder
lagen auf ihren Angesichtern vor ihm. Aber nein, er dachte
nicht im Geringsten an sich, noch an eine Vergeltung des
schweren Unrechts und Leides, das sie ihm angethan hatten.
Das einzige Ziel, welches ihm vorschwebte, war die Erreichung
ihrer Herzen und Gewissen und die Wiederherstellung
ihrer Seelen.
Um dieses Ziel zu erreichen, behandelte er sie zunächst
anscheinend hart. Denn die Liebe ist treu, nicht nur
308
zärtlich. Sie kann das Böse nicht gut heißen, noch
es stillschweigend übergehen. Es muß erkannt und gerichtet
werden, und dann erst kann die Liebe es zudecken. Joseph
führt seine Brüder im Geiste nach Dothan zurück, wo sie
die Seelenangst ihres Bruders gesehen und nicht auf ihn
gehört hatten, als er zu ihnen flehte. Zuerst bindet er
Simeon vor ihren Augen, und dann fordert er
Benjamin von ihnen, um ihn als Sklaven bei sich zu
behalten. Er stellt sie auf die Probe, ob immer noch
dieselbe Bosheit und Gefühllosigkeit gegen ihren Bruder
und ihren alten Vater in ihren Herzen sei, wie einst zu
Dothan. Und ihre Gewissen werden getroffen. „Fürwahr,
wir sind schuldig wegen unsers Bruders", sagen sie, und:
„Was sollen wir reden und wie uns rechtfertigen? Gott
hat die Missethat deiner Knechte gefunden". Die Beschuldigung,
daß sie Kundschafter seien, war unbegründet, nnd
wegen des Bechers waren sie unschuldig; aber eine andere,
vor vielen Jahren geschehene Missethat lastete auf ihrem
Gewissen, und Juda giebt ihrer tiefen Reue darüber und
ihren völlig veränderten Gefühlen Ausdruck. Er bekennt
ihre gemeinsame Sünde.
Und nun kann sich Joseph nicht länger bezwingen.
Jetzt war der Augenblick gekommen, wo die Liebe zärtlich
sein, wo das Herz zu seinem Rechte kommen konnte.
Die Güte Gottes hatte zur Buße geleitet. „Lasset jedermann
von mir hinausgehen!" sagt Joseph. Kein Ägypter
sollte Kunde von dem erhalten, was seine Brüder gethan
hatten; denn das hätte sie vor jenen bloßgestellt und beschämt,
und das durfte nicht sein. Es war eine Sache
zwischen Joseph und seinen Brüdern allein. Er weint
vor ihnen und giebt sich ihnen zu erkennen. Und als sie
erschrocken zurückweichen, da redet er freundliche, herzliche
Worte zu ihnen. Die Missethat ist geschehen, aber sie ist
auch vergeben und zugedeckt, und Gott hat selbst aus dem
Bösen Gutes hervorgehen lassen.
Das Nasiräat und ein Überrest. *)
*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.
XNIV IL
(Richter 13.)
Die Kapitel 13—16 des Buches der Richter bilden
eine Abteilung für sich. In den Kapiteln 3—12 zieht eine
Reihe von Befreiungen, welche durch göttlich berufene
Werkzeuge hervorgerufen wurden, an unsern Augen vorüber.
Es ist das die Periode der Erweckungen. Der uns
jetzt beschäftigende Abschnitt trägt einen besonderen Charakter.
Israel fällt von neuem: „Und die Kinder Israel thaten
wiederum, was böse war in den Augen Jehovas; und
Jehova gab sie in die Hand der Philister vierzig Jahre."
(Kap. 13, 1.) Worin dieser neue Abfall bestand, wird
uns nicht mitgeteilt; daß er aber in den Augen Gottes
schlimm war, ersehen wir aus der Schwere der Strafe,
welche Er dieserhalb über Sein Volk verhängte. Die
Züchtigung ging von den Philistern aus. Nichts kennzeichnet
den Zustand Israels schärfer, als diese Thatsache.
Bisher war die Unterjochung entweder von seiten äußerer
Feinde ausgegangen, oder von Jabin, dem Haupte der
früheren Besitzer des Landes, oder endlich von seiten der
aus Israel nach dem Fleische hervorgegangenen Völker,
welche es an seinen Grenzen bedrängten. Jetzt aber hat
sich der Feind innerhalb des Gebietes Israels festgesetzt
310
und verwüstet das Land. Der Philister herrscht über das
Volk und unterjocht es. Moralischerweise unterscheiden
sich unsere Tage kaum von jener Zeit. Die Untreue der
Kirche hat schon seit langem diese letzte Offenbarung des
Bösen ans Licht gebracht. Das was früher außerhalb des
Hauses Gottes war, herrscht jetzt innerhalb desselben: die
im ersten Kapitel des Römerbriefes beschriebenen Menschen
sind Bewohner des Hauses geworden und drücken dem Volke
Gottes den Stempel ihres Charakters auf. (Vergl. Röm. 1;
2. Tim. 3, 1—5.) Dieses Gemisch nennt man „Christenheit".
Welche Zuflucht bleibt nun in solcher Zeit dem Volke
des Herrn? Ein Wort beantwortet diese Frage; es
lautet: „Das Nasiräat". Das was uns heute kennzeichnen
muß, ist eine gänzliche und vollständige Absonderung, eine
wahre und allgemeine Weihe für Gott.
Unter dem Gesetz, so lange äußerlich noch alles in
Ordnung war, war das Nasiräat nur vorübergehend,
es dauerte nur eine gewisse Zeit. (Vergl. 4. Mose 6.)
In einer Zeit des Verfalls aber wird es imm e rwüh r e n d ,
wie wir es sofort aus dem Beispiele Simsons ersehen.
Simson ist ein Nasiräer von Mutterleibe an. Dieser
Charakter der ununterbrochenen Fortdauer des Nasiräats
findet sich in Samuel, dem Richter und Propheten, wieder
(1. Sam. 1, 11) und verschwindet mit David, dem Borbilde
der königlichen Gnade, und mit Salomo, dem Vorbilde
der königlichen Herrlichkeit Christi. Darauf folgt
dann der Verfall des Volkes unter dem verantwortlichen
Königtum des Menschen, wie er vorher zur Zeit der
Richter unter der mehr unmittelbaren Regierung Gottes
eingetreten war: und nachdem sich der Ruin des Volkes
und des Königtums vollzogen hat, wird Israel den Heiden
311
preisgegeben. Nur ein Überrest wird wiederhergestellt,
um den Messias zu erwarten.
Das Haus war jetzt ohne Zweifel gereinigt, aber
das Volk war ohne wahres Leben. Als der Verfall vollkommen
geoffenbart, obwohl noch nicht durch die Verwerfung
Christi zu seiner ganzen Reife gediehen war, und
das Gericht, zugleich aber auch der Erretter, vor der
Thüre stand, wurde Johannes der Täufer mit einem
immerwährenden Nafiräat (Luk. 1, 15) erweckt. Von Johannes
angekündigt, erschien Jesus, der wahre Joseph, der
Nasiräer unter seinen Brüdern, jedoch ohne die äußeren
Zeichen des irdischen Nasiräats, weil Er ja selbst die
Verwirklichung dieses Vorbildes war. Diese Eigenschaft
an und für sich verkündete laut den Verfall des Volkes.
Am Ende Seiner Laufbahn trat der Herr in einen zweiten,
den himmlischen Abschnitt Seines Nasiräats ein. Er
heiligte sich selbst für Seine Jünger, in dem Himmel,
als der wahre Nasiräer, abgesondert von den Sündern
und zur Rechten Gottes sitzend, indem Er die Seinigen
hienieden zurückließ, um hier Sein Nafiräat darzustellen.
Nachdem die Welt durch das Kreuz von der Sünde überführt
und gerichtet war, wurden die Jünger (später die
Kirche) himmlische, immerwährende Nasiräer inmitten
der Welt.
Bemerkenswert ist noch, daß das, was unter dem
Gesetz nur das Vorrecht Einzelner war, unter der Gnade
das Teil Aller geworden ist. Das Priestertum, welches,
im Gegensatz zu dem Stamme der Leviten, nur einer einzigen
Familie zustand, ist das allgemeine Vorrecht aller
Kinder Gottes geworden. (Bergl. 1. Petr. 2, 5—9.) Noch
weniger zahlreich als die Klasse der Priester war die
312
der Nasiräer in Israel; sie setzte sich aus einigen alleinstehenden
Männern oder Weibern zusammen — um nicht
von den Rekabitern zur Zeit der Propheten zu reden. (Jer.
35.) Aber auch der Charakter dieser Wenigen kennzeichnet
gegenwärtig alle Gläubigen. Wir haben die Ursache davon
bereits angedeutet: die Absonderung für Gott ist das
notwendige Merkmal der Zeugen Gottes bei ihrer Berührung
mit den verderbten Menschen und mit der am
Vorabend des Gerichts stehenden Welt. Diese Wahrheit
von dem allgemeinen und fortdauernden Nasiräat erfüllt
das ganze Neue Testament und strahlt für den, der Augen
hat zu sehen, aus jeder Seite des heiligen Buches hervor.
Sie ist von einer außerordentlichen praktischen Bedeutung.
Unter dem Gesetz sonderte sich ein Nasir, ob Mann
oder Weib, eine gewisse Zeit lang für den Dienst Gottes
ab. Diese Absonderung bestand in drei Dingen (4. Mose
6, 1—9), welche, in bildlichem Sinne betrachtet, die notwendigsten
und wichtigsten Elemente des menschlichen Lebens
berührten. Die Geselligkeit hängt mit der Natur und
selbst mit der Existenz des Menschen innig zusammen.
Der Nasiräer nun mußte sich des Weines und der starken
Getränke enthalten. Vom Wein wird in Kap. 9, 13 gesagt,
daß er „Götter und Menschen erfreue". Diese
Freude der Geselligkeit hätten die Menschen mit Gott
teilen können, wenn nicht durch den Menschen die Sünde
dazwischen getreten wäre und es Gott unmöglich gemacht
hätte, sich gemeinsam mit ihm zu freuen. Derjenige also,
welcher sich dem Dienste Gottes weihte, konnte seine Freude
nicht länger in der Gesellschaft von Seinesgleichen finden;
denn Gott hat nichts mit der Freude der Sünder gemein.
Ein Knecht des Herrn kann seine Freunde nicht in der
313
Welt suchen, noch kann er an ihren Gastmählern teilnehmen
und ihre Vergnügungen mitmachen, weil Gott
nicht da ist. Je offener sich der Verfall zeigt, desto
schärfer tritt diese Thatsache ans Licht.
In dieser Hinsicht fehlen die Christen viel. Sie
haben „weltliche Freunde" und suchen deren Gesellschaft,
nicht etwa um ihnen das Evangelium zu bringen, sondern
um die Annehmlichkeiten eines solchen Verkehrs zu genießen.
Ach! wie wenig gleichen wir oft dem Apostel
Paulus, welcher sagen konnte: „Ich kenne niemanden nach
dem Fleische" ! In dieser Beziehung, wie überhaupt in
allen anderen, war der Herr ein vollkommener Nasiräer,
entfremdet allen Freuden des geselligen Menschen. Er
sagt selbst zu Seinen Jüngern bei jenem letzten, von Ihm
so herzlich herbeigesehnten Zusammensein, als Er im
Angesicht des Todes einen Augenblick irdischer Freude mit
ihnen hätte kosten können: „Wahrlich, ich sage euch, daß
ich hinfort nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks
trinken werde, bis an jenem Tage, da ich cs neu trinken
werde in dem Reiche Gottes". (Mark. 14, 25.) Der
Tag wird kommen, an welchem der Wein, der Gott und
Menschen erfreut, neu getrunken werden wird in einer
von der Sünde gereinigten Scene; und dann wird sich
der wahre Diener dem rückhaltlos beigesellen können.
Das Wort Gottes legt ein besonderes Gewicht auf diese
Absonderung: „Essig von Wein und Essig von starkem Getränk
soll er nicht trinken, und keinerlei Traubensaft soll er
trinken, und Trauben, frische und trockene, soll er nicht
essen . . .; von allem, was vom Weinstock bereitet wird,
von den Kernen bis zur Hülse, soll er nicht essen."
(4. Mose 6, 3. 4.) — Beobachten wir diese Vorschrift,
314
geliebte Brüder? Ist uns wirklich alles das fremd, was
enge oder lose mit der Freude des natürlichen, menschlichen
Herzens zusammenhängt? Wie verwirklichen wir unser
Nasiräat? — Vielleicht wird der Leser einwenden: Ist es
denn überhaupt möglich, dasselbe in einer so unbedingten
Weise zu verwirklichen? Ja, cs ist möglich, und zwar
finden wir diese Möglichkeit in unserm himmlischen
Charakter. Wir haben ein himmlisches Nasiräat. Die
Absonderung unter dem Judentum war eine materielle;
unter dem Christentum wird sie zu einer geistlichen und
himmlischen. Der Herr, welchem wir angehören, ist „von
den Sündern abgesondert und höher als die Himmel geworden".
Er hat zwei Mittel, um uns mit Ihm und
gleich Ihm abzusondern: zunächst das Wort Gottes, welches
uns mit dem Vater im Himmel in Beziehung bringt;
dann Seine Person selbst, ein Christus, der für uns im
Himmel geheiligt ist, um zu bezeugen und festzustellen,
daß unsre Beziehungen, Bande und Neigungen von jetzt
ab himmlisch sind, inmitten einer gerichteten Welt, welche
Christum verworfen hat.
Die zweite Sache, welche den Nasiräer charakterisierte,
war folgende: „Alle die Tage des Gelübdes seiner Absonderung
soll kein Schermesser über sein Haupt gehen;
bis die Tage erfüllt sind, die er sich für Jehova absondert,
soll er heilig sein; er soll das Haar, das Haar seines
Hauptes, wachsen lassen". (4. Mose 6, 5.) Neben der
Geselligkeit giebt es einen Zug, der den Menschen in seinem
innersten Wesen berührt. Der Mensch ist ein Persönliches
Wesen niit einem unabhängigen Willen, und kaum könnte
es für Ihn etwas Wichtigeres geben, als das eigene „Ich",
seine Würde und alles, was damit zusammenhängt. Von
315
allem diesem trennte (im Bilde) das lange Haupthaar den
Nasiräer; denn das lange Haar war das sinnbildliche
Zeichen der Abhängigkeit nnd zugleich der Unehre.
(1. Kor. 11.) Dadurch daß der Nasiräer sein Haar nicht
scheren ließ, verkündete er offen, daß er auf seine Würde
nnd auf seine persönlichen Rechte als Mensch Verzicht
leistete, um sich dem Dienste Gottes zu weihen. Das
was für das Weib eine Ehre war, war für ihn eine
Schande; er entsagte gleichsam, unter dem Schleier des
langen Haares, seiner Persönlichkeit. Er, der zur Würde
geboren war, achtete derselben nicht; und er, der zum
Herrschen bestimmt war, unterwarf sich freiwillig dem
Herrn, wie ein Weib sich ihrem Manne unterwirft. Ohne
diese Abhängigkeit giebt es keinen Dienst für Gott, noch
auch irgendwelche Kraft in dem Dienste. Das was für
den Nasiräer ein Zeichen der Schwachheit war, wurde
die Quelle seiner Kraft. Außerdem wuchs seine Ergebenheit
für den Herrn in demselben Maße, wie er sich selbst vergaß,
nnd dieses Sichselbstvergessen befähigte ihn, seinen
Dienst völlig zn erfüllen.
Noch eine dritte Sache kennzeichnete den Nasiräer:
„Alle die Tage, die er sich für Jehova absondert, soll
er zu keiner Leiche kommen. Wegen seines Vaters und
wegen seiner Mutter, wegen seines Bruders und wegen
seiner Schwester, ihretwegen soll er sich nicht verunreinigen,
wenn sie sterben; denn die Weihe seines Gottes ist auf
seinem Haupte." (4. Mose 6, 6. 7.)
Der dritte Charakterzug, welcher dem Menschen seit
dem Sündenfall anhaftet und mit feinem Wesen unauflöslich
verbunden ist, ist die Sünde, welche durch ihre Folge, den
Tod, erwiesen ist. Eine Berührung damit mußte der
316
Nasiräer um jeden Preis vermeiden. Die stärksten Bande,
die der Familie, durften nicht in Betracht kommen, wenn
es sich darum handelte, sich für den Dienst Gottes zn
heiligen. Ach, wie wenig verstehen wir das! Wie zahlreich
sind die Christen, welche sagen: „Erlaube mir, zuvor
hinzugehen und meinen Vater zu begraben", oder:
„Ich kann nicht; meine Eltern wurden es mir verbieten".
Wer so spricht, ist kein wahrer Nasiräer. Ein Nasir
darf sich um Familienbande nicht kümmern, wenn es
sich um den Dienst handelt; er muß sie nach dem
Beispiel des vollkommenen Nasiräers verleugnen: „Was
habe ich mit dir zu schaffen, Weib? Meine Stunde ist
noch nicht gekommen." — „Wer ist meine Mutter, und
wer sind meine Brüder?" (Joh. 2, 4; Matth. 12, 48.)
Aber nicht allein das; der Nasir mußte sich auch von jeder
Sünde, jeder Verunreinigung fernhalten. Es wird dem
Leser bekannt sein, daß das Gesetz keinen Zufluchtsort für
die mit Willen geschehenen Sünden gewährte, während sich
die Gnade gerade mit solchen besonders beschäftigt. Eine
einzige Sünde mit Willen, das Verlassen des Christentums
nämlich, liegt außerhalb der Hilfsquellen der Gnade. (Hebr.
10, 26.) Das Gesetz bot in folgenden Fällen einen Zufluchtsort:
1) In dem täglichen Leben des Israeliten, für
die Sünde aus Versehen und für das Vergehen. (3. Mose
4 u. 5.) 2) Hinsichtlich seines Wandels, für die aus Mangel
au Wachsamkeit oder aus Unachtsamkeit geschehene Sünde.
(4. Mose 19.) 3) In seinem Dienst, für die Sünde
aus Nachlässigkeit und für die unvorhergesehene Sünde,
welche der Mensch scheinbar unmöglich vermeiden konnte.
„Und so jemand bei ihm stirbt unversehens, plötzlich, und
er das Haupt feiner Weihe verunreinigt ..." (4. Mose
317
6, 9.) Das war ein unfreiwilliger Fall, und doch war
es Sünde, umsomehr als es sich um einen besonders
wichtigen und ehrenvollen Dienst handelte. Diese Thatsache
redet zu unsern Gewissen. Unser Nasiräat begreift
die unbedingte Absonderung von den Verunreinigungen
dieser Welt in sich. An keiner Stelle dieses Kapitels setzt
Gott voraus, daß der Nasir vorsätzlich Wein trinken,
sein Haar scheren, oder einen Toten berühren könne.
Gerade so verhält es sich mit uns. Gott setzt nicht voraus,
daß wir sündigen müßten, und Er handelt mit uns
nach diesem Grundsatz.
Die drei Abzeichen des Nasiräats, welche wir soeben
besprochen haben, waren trotz ihrer Wichtigkeit — man
könnte das leicht vergessen — doch nur die äußeren
Merkmale jener Berufung. Diese Abzeichen waren die Folge
eines Gelübdes, einer Weihung für den Dienst Jehovas,
einer innerlichen Absonderung der Seele für Ihn.
„Wenn ein Mann oder ein Weib sich weiht, indem er
das Gelübde eines Nasirs gelobt, um sich für Jehova
abzusondern . . ." (4. Mose 6, 2.)
Ich möchte diesen wichtigen Punkt besonders betonen.
Ein Gelübde war ein bestimmter Entschluß, Gott
in einer gewissen Weise zu dienen; ein Entschluß ohne
irgendwelche Einschränkung. Man weihte sich auf diese
Weise dem Dienste Jehovas. Die nämliche Hingabe an
Gott und Christum liegt auch dem christlichen Nasiräat zu
Grunde. Fehlt dieselbe, so stehen wir in Gefahr, tief zu
fallen. Man kann in einer nahezu äußerlichen Weise ein
Nasiräer sein und selbst, wie Simson, die große Kraft besitzen,
welche das Nasiräat begleitet, und dennoch in seinem
Herzen die Absonderung nicht verwirklichen. Ohne Zweifel
318
ist diese Seite, die unter dem Gesetz rein äußerlich war,
unter dem Christentum das nicht mehr. Man kann heute
sehr Wohl Mitglied eines Mäßigkeitsvereins sein, ohne sich
deshalb einen Nasir nennen zu dürfen. Was jenen äußeren
Abzeichen für den Christen entspricht, ist das offene
Zeugnis, welches er der Welt gegenüber ablegt, indem
er sich von den Verunreinigungen sowohl, wie von den
Freuden derselben abgesondert hält und offen den Weg
der Abhängigkeit, welchem Gottes Wort zur Richtschnur
dient, wandelt. Könnten wir diese Dinge bekennen und
äußerlich auf dem Wege des Nasiräats wandeln, während
unsre Herzen geteilt und nicht geheiligt wären? Ach! ein
solcher Weg würde wohl, wie derjenige Simsons, mit
einer Niederlage enden; jedenfalls aber würden wir der
vielen Segnungen verlustig gehen, welche aus einer vollen
Hingebung an den Dienst des Herrn entspringen. Wie
wir aus dem 7. Kapitel des 3. Buches Mose ersehen,
dauerte das Fest des Friedensopfers zwei Tage für den,
der ein Gelübde gethan hatte, während es nur einen Tag
gefeiert werden durfte, wenn es sich einfach um eine
Dankeshandlnng für empfangene Segnungen handelte.
Der Einfluß, welchen die Verzichtleistnng auf alles, was
die Welt bieten konnte, ausübt, zeigt sich auch in dem
Gottesdienst Abrahams, im 12. und 13. Kapitel des ersten
Buches Mose. Abraham erbaut da drei Altäre: einen zn
Sichem, den Altar des Gehorsams gegen den Herrn,
der ihm erschienen war; einen zweiten zu Bethel, den
Altar des Pilgers, im Namen Jehovas; nnd einen
dritten zu Hebron, den Altar der Verzichtleistung, dem
Jehova selbst; und hier ist es, wo der Patriarch die göttlichen
Segnungen in ihrer ganzen Ausdehnung verwirklicht.
319
Doch kehren wir zur Betrachtung des Nasiräats zurück.
Es ist interessant, zn sehen, was der Nasir thun
mußte, wenn er „das Haupt seiner Weihe verunreinigt
hatte". (4. Mose 6, 9—11.) Die eine seiner Handlungen
entsprach dem Verluste seines äußerlichen Nasiräats, die
andere dem Verluste seines Gelübdes, seiner innerlichen
Weihe. Er mußte sich das Haupt scheren. Damit erkannte
er öffentlich an, daß er gefehlt, und zugleich, daß die
Kraft seines Nasiräats ihn verlassen hatte. Ein wirklich
bußfertiger Nasiräer war nicht wie Simson, welcher „nicht
wußte, daß Jehova von ihm gewichen war". Er erkannte
dies vielmehr an, indem er sozusagen laut verkündete, daß
er nicht länger für den Dienst geeignet war. Weiterhin
mußte er „zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben"
darbringen, das Opfer desjenigen, „der das zu einem
Stück Kleinvieh Hinreichende nicht aufbringen konnte".
Das hieß soviel als seine Unfähigkeit, fein Nichts in
feiner Stellung als Diener einzugestehen, und war zugleich
eine Anerkennung des Wertes des für seine Reinigung
dargebrachten Blutes. Wir thun wohl, uns alles dieses
tief einzuprägen. Laßt uns nicht äußerlich eine Haltung
geistlicher Kraft annehmen, während wir die Gemeinschaft
mit dem Herrn verloren haben; laßt uns vielmehr mit
Demut Gott unsre Sünden bekennen, sobald wir in der
Erfüllung der Pflichten unsers Dienstes gefehlt haben.
Ja, möchten wir in diesem Dienst ohne Ermüden
ausharren und uns durch nichts aufhalten lassen! Es
kam ein Tag, an welchem das Nasiräat aufhörte, und wo
dann der Nasiräer alle Opfer darbrachte. Auch uns
wird dieser Tag leuchten, wenn der Herr kommen wird,
und, als letzte nnd höchste Folge Seines Opfers, die
320
Sünde abgeschafft, der Tod hinweggethan und Satan auf
immerdar unter unsre Füße zertreten sein wird. Dann
werden wir das Haar des Hauptes unsrer Weihe scheren.
(4. Mose 6, 18.) Dann wird die Macht des Heiligen
Geistes nicht mehr dazu dienen, uns die Kraft zu verleihen,
welche uns in unserm Dienst von allem Bösen absondert.
Dann werden wir „das Haar des Hauptes
unsrer Weihe auf das Feuer legen, das unter dem Friedensopfer
ist"; denn unsre ganze Kraft wird dem freudigen
Genuß einer unvermischten Gemeinschaft gewidmet sein,
und der Schauplatz der neuen Welt wird, gleich uns selbst,
den Gedanken und dem Herzen Gottes voll und ganz
entsprechen.
Das wiederum untreu gewordene Volk ist also dem
Feinde im Innern, den inmitten der Grenzen Israels wohnenden
Philistern, unterworfen. Das ist der letzte Abschnitt in
der Geschichte des Verfalls. Die Kinder Israel schreien nicht
mehr zu Jehova. Sie ertragen die Herrschaft ihrer Feinde,
ohne auch nur den Wunsch nach Befreiung zu haben
(Kap. 15, 11); ja, sie suchen sogar, um in diesem Zustande
der Sklaverei ruhig fortleben zu können, sich von
ihrem Befreier loszumachen.
Inmitten dieses unheilbaren Verderbens sondert Gott
einen frommen Überrest ab und richtet an ihn Seine Mit
teilungen. Manoah und sein Weib fürchten Jehova, hören
auf Seine Stimme und unterreden sich mit einander.
(Vergl. Mal. 3, 16.) Wir erkennen in diesen beiden
Personen ein treffendes Vorbild von dem Überrest jener
Gläubigen zur Zeit des Herrn, welche, wie Maria, Elisabeth,
Anna, Zacharias und Simeon, auf den wahren
321
Messias, den Retter Israels, warteten; sowie ein Vorbild
von dem zukünftigen treuen Überrest, der, durch die Zeit
der großen Drangsal gehend und die Ankunft seines
Königs erwartend, auf den Pfaden der Gerechtigkeit wandeln
wird.
Simson, der Befreier Israels, findet bei seiner Geburt
nicht ein ihm zujauchzendes Volk, sondern nur dieses fromme
Elternpaar, das an seine Mission glaubt. Der Herr,
welcher sogleich, nachdem Er auf den Schauplatz getreten
war, von Seinem Volke verworfen wurde, fand auch nur
wenige treue Seelen, denen Er sich zugesellen konnte, jene
Herrlichen auf der Erde, die in Psalm 16 erwähnt werden
und an denen Er Seine Lust fand.
Die Zeit des unheilbaren Verfalls ist also die Zeit
der Überreste. Das trifft auch für den gegenwärtigen
Zeitabschnitt der Kirche zu. Der Vornehmste der Propheten
kündigt diesen Zeitabschnitt Seinen Jüngern an, indem Er
von einer bis auf die Zahl von Zweien oder Dreien beschränkten
Versammlung spricht, welche sich während Seiner
Abwesenheit um den wahren Mittelpunkt, um den Namen
Christi, scharen würde. Diese Periode wird auch in der
Offenbarung erwähnt, wenn, angesichts des Götzendienstes
von Thyatira, des Todes von Sardes und der ekelerregenden
Lauheit von Laodicäa, der Heilige und Wahrhaftige
dem schwachen, abgesonderten Überrest von Phila
delphia Seinen Beifall zu erkennen giebt.
Was den treuen Überrest zu allen Zeiten kennzeichnet,
ist das Nasiräat, die gänzliche „Absonderung
für Jehova". Der Engel Jehovas, welcher dem Weibe
Manoahs erscheint, sagt zu ihr: „Siehe doch, du bist
unfruchtbar nnd gebierst nicht; aber du wirst schwanger
322
werden und einen Sohn gebären. Und nun, hüte dich
doch und trinke keinen Wein, noch starkes Getränk, und iß
nichts Unreines." (V. 3. 4.) Dieses Weib mußte sich dem
Nasiräat unterwerfen, weil sie das von Gott auserwählte
Gefäß war, um dem Volke den verheißenen Erretter zu
schenken. „Denn siehe", sagt der Engel weiter, „du wirst
schwanger werden und einen Sohn gebären,' und kein
Schermesser soll auf sein Haupt kommen, denn ein Nasir
Gottes soll der Knabe sein von Mutterleibe an; und er
wird anfangen, Israel zu retten aus der Hand der
Philister." (B. 5.) Das Nasiräat Simsons begriff dasjenige
seiner Mutter mit ein. Um dem Retter Israels
Ehre zu machen, mußten seine Zeugen vor Aller Augen
die Zeichen seines Charakters an sich tragen. Diese
Wahrheit gilt für alle Zeiten. Wenn wir hienieden nicht
den Charakter Christi, den Charakter völliger Absonderung
für ' Gott tragen, so sind wir keine Zeugen unsers
Heilandes. Seit dem Erscheinen Christi muß das immerwährende
Nasiräat, so wie es den Herrn charakterisiert,
auch die Treuen kennzeichnen. Je mehr der Verfall zunimmt,
desto mehr tritt das in die Erscheinung. Der
zweite Brief an Timotheus, welcher uns die Zeiten des
Endes vorstellt, ist voll von Charakterzügen des Nasiräats.
In Kap. 2, 19 ist es der Nasir, welcher sich vor jeder
Berührung mit der Sünde hütet; in Kapitel 2, 21 finden
wir seine Reinigung für Gott: in Kap. 3, 10 u. 11 und
in Kap. 4, 5—7 wandelt der Diener Gottes im Vergessen
seiner selbst und in völliger Abhängigkeit vom Herrn.
Vernehmen wir die Sprache des Nasirs nicht auch in 2. Kor.
4, 7—12? Und ebenso werden uns in Kap. 6—7, 1
desselben Briefes die Hauptcharakterzüge des Nasiräats
323
vorgestellt: in Kap. 6, 4—10 die Schmach und das Sich-
selbstvergessen; in V. 14 nnd 15 die Trennung von jeder
Gemeinschaft mit der Welt; in Kap. 7, 1 die Reinigung
von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes. Es
wäre nicht schwer, noch viele ähnliche Stellen anzuführen.
Wichtig aber ist nur, sestzustellen, daß es für uns keinen
Wandel, kein Zeugnis, keinen Dienst giebt ohne das Nasiräat,
d. h. ohne die Widmung und Absonderung für Gott.
In Vers 6 erzählt das Weib Manoahs ihrem Manne
den Besuch des Engels: „Ein Mann Gottes ist zu mir
gekommen, und sein Ansehen war wie das Ansehen eines
Engels Gottes, sehr furchtbar, und ich habe ihn nicht gefragt,
woher er sei, und seinen Namen hat er mir nicht knnd-
gethan". Das arme Weib hatte wenig Verständnis; denn
sie wußte weder, woher der Engel kam, noch wer er war;
sie hatte ihn auch nicht gefragt, ein Beweis, wie wenig
vertraut sie mit Gott war. Die Gegenwart des Gottes
der Verheißungen hatte sie sogar erschreckt, anstatt ihr ein
Gefühl der Sicherheit zu geben; der Engel erschien ihr
„sehr furchtbar". Manoah selbst ist ein Mann von aufrichtiger
Frömmigkeit, hat aber gleichfalls wenig Verständnis
nnd wünscht mehr zu erfahren. Er will wissen, „was er
mit dem Knaben thun solle" (V. 8), und ferner, „was
die Weise des Knaben sein solle". (V. 12.) Der Engel Jehovas
aber sagt ihm, anstatt seine Fragen zu beantworten:
„Vor allem, was ich dem Weibe gesagt habe, soll sie
sich hüten: von allem, was vom Weinstock kommt, soll sie
nicht essen, und Wein und starkes Getränk soll sie nicht
trinken, und soll nichts Unreines essen; alles, was ich
ihr geboten habe, soll sie beobachten". (V. 13. 14.)
Warum das? Weil Gott nicht in erster Linie Verständnis
324
fordert. Weder dieses, noch selbst eine wahre Frömmigkeit,
wie diejenige Manoahs und seines Weibes, genügen, um
uns inmitten des Verfalls zu bewahren. Was dem
Verständnis vorausgehen mußte, war eine wahre,
persönliche Absonderung für Gott, eine Absonderung,
welche das Nasiräat desjenigen, der im Begriff
stand zu erscheinen, zum Muster und Maßstab hatte.
Noch andere Wahrheiten, die das Teil der Zeugen
Christi in einer Zeit des Verfalls find, werden uns hier
mitgeteilt. „Und Manoah sprach zu dem Engel Jehovas:
Wie ist dein Name? . . . Und der Engel Jehovas
sprach zu ihm: Warum fragst du denn nach meinem
Namen, da er wunderbar ist? Da nahm Manoah
das Ziegenböcklein und das Speisopfer und opferte es
Jehova auf dem Felsen. Und er handelte wunderbar,
und Manoah und sein Weib sahen zu." (V. 17—19.)
Wenn wir uns die Geschichte der verschiedenen Zeitabschnitte
in diesem Buche vergegenwärtigen, so finden wir,
daß bei jeder Erweckung gewisse, dieselbe charakterisierende
Grundsätze zusammentreffen. Die Zeiten Othniels, Ehuds,
Baraks, Gideons und Jephthas haben uns alle irgend
einen neuen Grundsatz vor Augen gestellt. Die kostbarsten
Wahrheiten aber, wunderbare und bis dahin verborgene
Wahrheiten, spart Gott für die letzten Zeiten des Verfalls
auf. Das ist eine Handlungsweise, die des Gottes der
Liebe würdig ist. Indem Er die Schwierigkeiten der
Seinen inmitten des wachsenden Unglaubens kennt und
ihr Herz dieser finstern Umgebung entreißen will, stellt Er
immer kostbarere Wahrheiten ans Licht und vertraut sie
Seinen Zeugen an.
Diese Wahrheiten haben das Opfer zum Aus
325
gangspunkt. Manoah, der mehr Verständnis, als Gideon
bei ähnlicher Gelegenheit, zeigt (vergl. Kap. 6, 19),
nimmt das Ziegenböcklein und das Speisopfer und opfert
es Jehova auf dem Felsen. Das Kreuz ist die Grundlage
all unsrer Erkenntnis als Kinder Gottes. Manoah
wünschte vieles zn wissen, was ihm der Engel aber vor
dem Opfern nicht offenbaren konnte. Sobald diese Grundlage
aber gelegt war, „handelte der Engel wunderbar",
oder: „er that ein Wunder", welches zwar für die
Augen dieses armen, einen Erretter erwartenden Überrestes
in einer noch dunklen und vorbildlichen Weise vor sich ging.
„Es geschah, als die Flamme von dem Altar aufstieg zum
Himmel, da fuhr der Engel Jehovas hinauf in der Flamme
des Altars. Und Manoah und sein Weib sahen zu."
(V. 20.) Sie entdeckten in dem Opferseuer einen neuen,
bis dahin nicht gebahnten Weg, den Weg des Stellvertreters
Jehovas, der zu Ihm wieder hinaufführte; und
ihre an dem Engel haftenden Blicke sahen eine verherrlichte
Person, deren Wohnung sie jetzt, nachdem sie vor ihren
Augen verschwunden war, kannten. Da erst „erkannte
Manoah, daß es der Engel Jehovas war". (V. 21.)
Das Herz und die Interessen dieses armen Überrestes
haben in diesem Augenblick die Welt verlassen und nehmen
den Weg des Engels, um mit ihm in den Himmel hinaufzusteigen.
Jene einfachen Gläubigen können jetzt von
einem Wege sprechen, der in den Himmel führt, und von
einer Person, welche sich dort befindet und der Gegenstand
ihres Herzens geworden ist, während sie noch hienieden
sind.
In dieser wunderbaren Scene wurde noch eine andere
Sache, nicht für Manoah, aber für uns geoffenbart.
326
nämlich der zukünftige Charakter jenes Nasiräats, von
welchem der Engel geredet hatte. Dasselbe ist jetzt, wie
wir bereits weiter oben bemerkt haben, himmlisch. Indem
sich der Engel von Manoah und seinem Weibe trennt,
sondert er sich ab in dem Himmel. Der Herr Jesus hat,
non der Welt verworfen, im Blick auf Seine Jünger
gesagt: „Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie
Geheiligte seien durch Wahrheit". (Joh. 17, 19.) Abgesondert
in den Himmeln, zieht Er uns zn sich und richtet
unsre Augen auf sich, damit wir hienieden den himmlischen
Charakter Dessen zum Ausdruck bringen, den die Welt verworfen
hat. Gegenüber dieser Offenbarung, deren Sinn
von Manoah und seinem Weibe kaum geahnt wurde, welche
uns aber zur Belehrung dient, „fielen sie auf ihr Angesicht
zur Erde". (V. 20.) Und da sollten wir, inmitten der
zunehmenden Finsternis um uns her, nicht noch mehr den
Gott anbeten, welcher uns einen himmlischen und verherrlichten
Christus und unsern Platz in Ihm geoffenbart
und Ihn uns zum Gegenstand gegeben hat, damit wir Ihn
in dieser Welt darstellen können? Solche Segnungen sind
dazu geschaffen, um unsre Herzen mit Freude und Dankbarkeit
zu erfüllen. Wie viele Christen, die ihren Platz bei
der Welt suchen, wandeln gebeugten Hauptes, indem sie auf
den Zustand ihrer Umgebung blicken und täglich ihre Seele
quälen, wie einst der gerechte Lot! Wir find aber nicht
zur Rolle Lots berufen; unser Teil ist mit Abraham, dem
Freunde Gottes. Der Verfall drückte seine Seele nicht
nieder. Wie ein Nasir stand er auf seinem hohen Berge;
nicht auf Sodom waren seine Augen gerichtet, sondern
auf die Stadt, welche Grundlagen hat. Jesus hat von
ihm gesagt: „Abraham frohlockte, daß er meinen Tag sehen
327
sollte, und er sah ihn und freute sich". (Joh. 8, 56.)
Darum, anstatt entmutigt zu sein, laßt uns vielmehr Gott
preisen nnd Ihm für den himmlischen Schatz danken, den
Er nns gegeben hat!
Gleich so vielen christlichen Herzen in unsern Tagen„
war auch Manoah von Furcht erfüllt, als er sich vor Gott
befand. „Er sprach zu seinem Weibe: Wir werden gewißlich
sterben, denn wir haben Gott gesehen." (V. 22.) Doch
sein Weib ist ihm eine wirkliche Gehilfin. Haben wir
Grund, uns zu fürchten, sagt sie, nachdem Gott unser Opfer
angenommen hat? Die Liebe Gottes, welche sich am
Kreuze für uns enthüllt hat, ist uns eine sichere Bürgschaft
für alles Übrige. „Er, der doch Seines eigenen Sohnes
nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat:
wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?"
(Röm. 8, 32.)
„Wenn jemand am Tage wandelt, stößt
er nicht an."
(Joh. N, 0.)
„Und Gott schied zwischen dem Licht und der
Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und
die Finsternis nannte Er Nacht." (1. Mose t, 4. 5.)
Gerade so bestimmt wie in der Schöpfung Licht und
Finsternis von einander geschieden sind, gerade s»
bestimmt sind sie es auch in geistlicher Beziehung, und
wir haben diese Scheidung aufrecht zu erhalten. Wie der
Mensch nicht scheiden soll, was Gott zusammengefügt:
hat (Matth. 19, 6), so soll er auch nicht zusammenfügen,
was Gott geschieden hat. Tag und Nacht sind
328
deutlich und bestimmt von einander getrennt, und so sind
es auch Wahrheit und Irrtum, Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit.
„Denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit
und Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft Licht mit
Finsternis?" (2. Kor. 6, 14.) Gar keine; jede Gemein
schaft ist ausgeschlossen!
Ein Blinder kann den Unterschied zwischen Tag und
Nacht allerdings nicht sehen; er tappt am Hellen Mittag
in Dunkel und Unsicherheit umher. Er hat keine Augen
sür das Licht. Ob die Sonne hoch am Himmel steht,
oder ob tiefe Dunkelheit die Erde einhüllt, ist für ihn
gleich. Trotzdem aber ist die Sonne da und leuchtet;
und die, welche Augen haben, erfreuen sich ihres herrlichen
Glanzes. Sie wandeln in ihrem Lichte und entgehen
mittelst desselben tausenderlei Anstößen. „Wenn jemand
am Tage wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht
dieser Welt sieht."
Hell und klar wie die Sonne, leuchtet auch das „wahrhaftige
Licht". (1. Joh. 2, 8.) Die wichtige Frage ist
nur: Sehen wir es? Haben wir Augen dafür? Gott
hat uns Seinen Willen und Seine Gnadenratschlüsse, die Er
in Christo Jesu vor Grundlegung der Welt gefaßt hat,
deutlich geoffenbart. Werfen wir z. B. einen Blick auf
die Kirche. Gott hat uns gezeigt, was sie ist, als mit
Christo lebendig gemacht, mitauferweckt und mitsitzend in
den himmlischen Örtern in Christo Jesu, gebildet von
Gläubigen aus Juden und Nationen, getauft in einem
Geiste zu einem Leibe. (Eph. 2, 5. 6. 14—16; 1. Kor.
12, 13.) „Da ist ein Leib und ein Geist, wie ihr auch
berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.
Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater
329
aller, der da ist über allen und durch alle und in uns
allen." (Eph. 4, 4—6.) Das ist in kurzen Worten die
Kirche nach den Gedanken Gottes. So bestand sie in
Seinen, Ratschlüsse vor Grundlegung der Welt; so hat
Er sie gegenwärtig dargestellt in Christo und sie berufen,
„die Einheit des Geistes (d. h. die Einheit, welche der
Geist gemacht hat) hienieden zu bewahren in dem Bande
des Friedens".
Gott hat uns also Seine Gedanken und Seinen
Willen bezüglich der Kirche deutlich genug kundgethan.
Das Licht leuchtet klar und hell. Trotzdem aber sind die
Gläubigen von einander getrennt und in viele Parteien
zersplittert. Während sie doch alle in einem Geiste zu
einem Leibe getauft sind, befinden sich die meisten in
Sonderstellungen und verfolgen Parteiinteressen, oder sind
doch gleichgültig in Bezug auf die Darstellung der von
Gott geschaffenen Einheit. Woher kommt das? Die Ursache
ist einfach folgende: Viele, sehr viele Gläubige wandeln
betreffs dieser Sache nicht „am Tage", das heißt nicht in
Übereinstimmung mit dem klar geoffenbarten Willen
Gottes. Dieser Wille ist nicht der ausschließliche Beweggrund
ihres Handelns und ihres Verhaltens. Sie handeln
nach ihren eignen Gedanken; ihr eignerWille ist in
Thätigkeit, und sie bedenken nicht, daß dieser immer böse
und in seinen Wirkungen verderblich ist.
Der Wille Gottes ist allein maßgebend bei der Beurteilung
unsers Thuns, und indem wir unsern Wandel
und unsre Wege nach diesem Willen einrichten, wandeln
wir „am Tage". Gott kann nur das anerkennen, was in
Übereinstimmung mit Seinem wohlgefälligen Willen ist, und
niemals kann Er diesen Seinen Willen unsern Meinungen
330
anpassen oder gar unterordnen. Er kann Wohl Nachsicht
mit unsrer Unwissenheit und Schwachheit haben; aber Er
kann nicht zugeben, daß wir auf Grund derselben unsern
eignen Willen thun in irgend einer Sache, vor allem nicht,
wenn es sich um die heiligen Dinge Gottes handelt. Die
Söhne Aarons mußten sterben, weil sie „fremdes Feuer
darbrachten vor Jehova, das Er ihnen nicht geboten
hatte". (3. Mose 10, 1.) Und gerade weil die Sache so
ernst ist, hat Gott uns Seinen Willen so klar und bestimmt
kundgethan, daß jeder Gläubige, wenn er anders will,
ihn zu erkennen vermag. Ist jemand trotzdem in Ungewißheit
über denselben, so liegt dies nur daran, daß sein
Auge nicht einfältig und sein Herz nicht bereit ist, sich
dem Willen Gottes unbedingt zu unterwerfen. Er wandelt
nicht am Tage; das Licht ist nicht in ihm. „Wenn
aber jemand in der Nacht wandelt, stößt er an, weil
das Licht nicht in ihm ist." Anstatt seinen Weg
klar nnd bestimmt vor sich zu gehen, tappt er im Dunkeln
umher. Es fehlt ihm die durch den Heiligen Geist
gewirkte innere Überzeugung, daß sein Weg nach
dem Willen Gottes ist.
Wie unsicher und unbeständig ist der Gang eines
solchen Gläubigen! Welch ein Schwanken zeigt sich! Welch
ein Hin- und Herirren! Indem er dem einen Irrtum
zu entgehen sucht, fallt er in einen andern, womöglich
noch schlimmeren. Vielleicht hat er eingesehen, daß die
Gemeinschaft, der er bis dahin angehörte, nicht in allen
Punkten mit der Heiligen Schrift im Einklänge ist; aber
anstatt mm unter Gebet und unter der Leitung des
Heiligen Geistes im Worte Gottes zu forschen, was
die Gemeinschaft der Gläubigen nach dem Willen Gottes
331
ist, schließt er sich einer anderen Gemeinschaft an, die seiner
Meinung oder seinem Geschmack mehr entspricht. Ist es
die richtige? Er weiß es nicht. Er hat nicht die göttlich
gewirkte Überzeugung, daß er sich nunmehr an
dem Platze befindet, wo Gott ihn haben will, und darum
ist er immer noch nicht wirklich zur Ruhe gekommen. Er
wandelt nicht in dem vollen Lichte des Tages, und wird
darum über kurz oder lang wieder einen Anstoß finden.
Ein Zweiter schließt sich irgend einer Gemeinschaft an,
weil er da mehr Liebe oder mehr Erbauung zu finden
hofft, während er in anderen allerlei Mängel und
Gebrechen entdeckt. Aber indem er sich in seiner Wahl
nicht ausschließlich durch den Willen Gottes leiten
läßt, wandelt er wiederum nicht am Tage. Sicher wollen
wir die in einer Gemeinschaft sich kundgebenden Mängel
nicht rechtfertigen, aber sie dürfen auch nicht unser Urteil
über die Stellung derselben beeinflussen, da diese trotzdem
nach dem Willen Gottes sein kann. Denn wo giebt es
auf dieser Erde keine Mängel und keine Unvollkommenheiten?
In der Gemeinde zu Korinth mußte der Apostel
zum Beispiel viele traurige Dinge rügen; dessen ungeachtet
bezeichnet er sie als die „Versammlung Gottes". (1. Kor.
1, 2.) Sobald aber eine Gemeinschaft das Böse in ihrer
Mitte duldet und sich nicht davon reinigen will, hört sie
selbst ihrer Stellung nach auf, im Einklänge mit
dem Willen Gottes zu fein, nnd kann dann nicht mehr
als eine „Versammlung Gottes" bezeichnet werden.
Noch andere Gläubige sind der Ansicht, daß, weil alle
Gläubige zu dem einen Leibe gehören, man auch mit
allen Gemeinschaft Pflegen müsse. Ohne Zweifel müssen
wir alle mit gleicher Liebe lieben, weil sie Kinder Gottes
332
sind; denn jeder, „der Den liebt, welcher geboren hat, liebt
auch den, der aus Ihm geboren ist." (1. Joh. 5, 1.) Aber
wenn Gläubige dem Willen Gottes zuwider ihre eignen
Wege gehen, so wird eine Pflege der Gemeinschaft mit ihnen
nichts anderes als Ungehorsam gegen Gott. Wir rechtfertigen
dann ihre verkehrten Wege. Unsre vermeintliche Liebe ist
nicht göttliche, sondern ungöttliche Liebe, eine Liebe auf
Kosten der Liebe zu Gott. „Hieran wissen wir, daß
wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben
und Seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe
Gottes, daß wir Seine Gebote halten." ll. Joh. 5, 2. 3.)
Alle Gläubigen nun, welche den Willen Gottes zu
ihrer Richtschnur, zum Licht auf ihrem Wege haben, wandeln
am Tage und haben wahre Gemeinschaft miteinander, nicht
auf Kosten von, sondern in Übereinstimmung mit der
Wahrheit. „Wenn wir aber in dem Lichte wandeln, wie
Er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft mit
einander." (l. Joh. l, 7.j Gott kann sich nicht verleugnen.
Er hat von Anfang an Licht und Finsternis
geschieden, und diese Scheidung muß ausrecht erhalten
werden, wenn wir anders in Gemeinschaft mit Ihm und
ohne Anstoß wandeln wollen. Die Absicht des Feindes
ging von jeher dahin, die Wahrheit mit Irrtum zu vermengen
und die Gläubigen durch allerlei falsche Vorspiegelungen
zn verblenden. „Man muß die Grenzen nicht
zu enge ziehen", flüstert er ihnen zu, „sonst verschließt
man sich die Thür zu weiteren Kreisen,- mau muß sich
beteiligen an den Bestrebungen aller derer, welche sich die
Ausbreitung des Evangeliums zur Aufgabe gemacht haben,
gleichviel ob ihre Ansichten in vielen Punkten nicht schrift-
gemäß sind. Wird doch das Evangelium verkündigt, und
333
das ist die Hauptsache! Zudem muß man ein weites Herz
für alle Gläubigen haben, und dieses von Zeit zu Zeit
kundthun durch eigens zu diesem Zweck berufene Zusammenkünfte
der Christen aller Bekenntnisse, der Welt zum
Zeugnis, daß wir im Grunde genommen doch alle eins sind."
Alles das sind Vorspiegelungen des Feindes, um
die Gläubigen irre zu führen und von der Erkenntnis
und Darstellung der Wahrheit fern zu halten. Aber wenn
jemand am Tage wandelt, so stößt er nicht an, weil er
das Licht sieht; der Wille Gottes ist ihm klar, und
er weiß die Wahrheit von dem Irrtum, das Göttliche
von dem Menschlichen, das Reine von dem Unreinen zu
unterscheiden. Er erkennt, daß alle solche Verbindungen,
trotz ihrem Schein der Weitherzigkeit und des Eifers für
die Ausbreitung des Evangeliums, eine Verleugnung der
Einheit des Geistes sind, der Einheit, die Gott gemacht
hat. Der wohlgefällige Wille Gottes gilt ihm mehr als
alle Meinungen und alle Anerkennung der Menschen.
Aber, wird man vielleicht einwenden, ist es nicht gut,
daß das Evangelium gepredigt wird? und werden von den
in Rede stehenden Vereinigungen nicht oft große Opfer
an Zeit und Geld für die Ausbreitung des Evangeliums
gebracht? Ist es deshalb nicht unrecht, sie zu verurteilen?
— Es bedarf gar keiner Frage, daß die Predigt der guten
Botschaft gut und von Gott gewollt ist; ja, der Herr gebe,
daß sich immer mehr eifrige, treue Prediger finden möchten,
um Seelen für Ihn zu sammeln! Die ernste Frage, um
welche es sich hier handelt, ist nicht die: „Soll das Werk
des Evangeliums überhaupt getrieben werden?" sondern:
„Wie wird es getrieben? Steht die Art und Weise der
Thätigkeit im Einklang mit dem Willen Gottes?" Ver
334
gessen wir nicht, daß geschrieben steht: „Hat Jehova Lust
an Brandopfern und Schlachtopfern, wie daran, daß
man der Stimme Jehovas gehorcht? Siehe,
Gehorchen ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das
Fett der Widder. Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist
Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und
Götzendienst." (1. Sam. 15, 22. 23.)
Ein Wandel im Lichte bewahrt uns indes nicht nur
vor Irrtümern und Irrwegen, sondern giebt uns auch die
bestimmte Überzeugung, daß wir dem Herrn Wohlgefallen
(Hebr. 11, 5), und daß das Ende unsers Weges zur
Verherrlichung Gottes ausschlagen wird; und dieses Bewußtsein
erfüllt uns mit Ruhe, Zuversicht und Vertrauen,
selbst inmitten mancher schmerzlichen Erfahrung und trüben
Aussicht in die Zukunft. Der Herr hat uns hierin, wie
in allem anderen, ein herrliches Vorbild gegeben. Wie
vollkommen ruhig blieb Er z. B. bei der Nachricht, daß
Lazarus, den Er liebte, krank sei; anstatt sofort an
dessen Krankenlager zu eilen, blieb Er sogar noch zwei
Tage an dem Orte, wo Er war. Der Wille des Vaters
Ivar Sein einziger Leitstern. So innig auch Seine Gefühle
für die Familie des Lazarus waren, (denn Er liebte die
Martha und ihre Schwester und den Lazarus,) so beherrschte
doch der Wille des Vaters alle Seine Gefühle. Um diesen
zu thun, war Er vom Himmel herniedergekommen; das
war der Zweck Seines Lebens, Seine Speise, Seine Lust.
(Joh. 4, 34; 6, 38; Psalm 40, 8.) Er wußte, daß die
Krankheit des Lazarus nicht zum Tode, sondern um der
Herrlichkeit Gottes willen war, auf daß der Sohn Gottes
durch sie verherrlicht werde. (V. 4.) Und damit dieser
Zweck vollständig erfüllt würde, ging Er nicht früher und
335
nicht später nach Bethanien, als bis Er den Auftrag dazu
vom Vater erhalten hatte; dann aber ging Er auch in
der vollen Gewißheit des herrlichen Ausganges, den Sein
Weg haben würde. Sein Warten und Sein Gehen geschah
in vollkommener Abhängigkeit vom Vater, in einer
Abhängigkeit, die Er selbst mit den Worten ausdrückte:
„Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast". (V. 41.)
Er konnte danken, noch bevor Lazarus auferstanden und
die Herrlichkeit Gottes geoffenbart war. Er war erhaben
über den Umständen, denn Er wandelte am Tage.
Glücklich derjenige, der in der Abhängigkeit von Gott
bleibt! In der Gewißheit des Glaubens verfolgt er ruhigen
und festen Schrittes seinen Weg, in dem Bewußtsein,
daß Gott alles lenkt und leitet zu unserm Wohle und zum
Preise Seines Namens. „Geliebte, wenn unser Herz uns
nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und
was irgend wir bitten, empfangen wir von Ihm, weil
wir Seine Gebote halten und das vor Ihm
Wohlgefällige thun." (1. Joh. 3, 21. 22.)
Den Jüngern fehlte dieser freie, klare Blick des
Glaubens; ihre Herzen waren mit Zweifeln und Befürchtungen
erfüllt. Verwundert über die Aufforderung
des Herrn, wieder nach Judäa zu gehen, sagen sie: „Rabbi,
eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum
gehst du dahin?" (V. 8.) Während der Herr nur die
Herrlichkeit Gottes im Auge hatte, die sich auf diesem
Wege offenbaren sollte, dachten sie an sich und sahen den
sicheren Tod vor sich. „Laßt auch uns gehen, auf daß
wir mit Ihm sterben!" sagt Thomas. Aber wie
lautet die Antwort des Herrn auf den Einwurf Seiner
Jünger? „Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht
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an, weil er das Licht dieser Welt sieht." (B. 9.) Wie
könnten wir Sorgen, Befürchtungen und trübseligen Gedanken
Raum geben, wenn wir uns auf dem Wege und
unter dem Schutze und der Pflege unsers Gottes und
Vaters wissen, ohne den kein Sperling auf die Erde fällt,
und der selbst die Haare unsers Hauptes alle gezählt hat?
(Matth. 10, 29. 30.) Wenn Er uns folgen heißt, so
können wir getrost folgen, mag auch der Jordan voll sein
über alle seine Ufer, und mögen Ketten, Wächter und verschlossene
Thüren den Weg zu versperren scheinen. (Jos. 3,15;
Apstgsch. 12, 4—10.) Alles hängt davon ab, ob unser
Weg nach Seinem wohlgefälligen Willen ist. In dieser
Beziehung müssen wir stets eine klare, sichere und feste
Überzeugung haben; anders ist das Licht nicht in uns,
und wir tappen in Dunkel und Ungewißheit umher.
Allerdings ist dazu viel Wachsamkeit und Gebet nötig,
verbunden mit ernster Selbstprüfung und ruhiger Besonnenheit.
Denn wir sind sehr leicht geneigt, etwas darum für
den Willen Gottes zu halten, weil es unsern Wünschen und
Plänen entspricht, umsomehr wenn die Umstände oder
gewisse Bedingungen, die man sich gestellt hat, dafür zu
sprechen scheinen. Hüten wir uns vor solcher Selbsttäuschung,
und seien wir vor allen Dingen wahr und aufrichtig gegen
uns selbst! Eins ist gewiß: wenn wir ehrlich und aufrichtig,
ohne Nebenabsichten, den Willen Gottes zu erfahren
wünschen, so werden wir mit ernstem und anhaltendem
Gebet nnd Flehen aus Ihn harren. Wir dürfen dann
aber auch versichert sein, daß Er uns nicht im Unklaren
lassen wird; denn Er kann und will uns Seinen Willen
in jeder Beziehung deutlich offenbaren.
Möge Gott uns vor allen Dingen davor bewahren,
daß wir nicht das „Tag" nennen, was Er „Nacht" nennt!