Botschafter des Heils in Christo 1896

01/30/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1896
Inhalts-Verzeichnis. Seite
„Meine Gnade genügt dir." 1
Die Rüdkehr der Bundeslade 8
Nicht immer währt die Wüstenreise (Gedicht) 27
Davids Haus und das Haus Gottes 29
Auf daß sie eins seien, gleichwie wir. 49
Ein Herz für Christum 55
Die Berschwörung Absaloms 57
Arbeit und Rube 72
„Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes." 81
Gerechtfertigt 100
Glaube nur! 107
Der Hirte und die Herde 111
Die Stimme der Fremden 113
Das Lied und die lesten Worte Davids 124
Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen 141
Ihr seid meine Freunde. 154
Der Wandel vor Gott. 159
Gedanken über Apostelgeschichte 12 186
Mein Angesicht wird mitgehen." (Gedicht) 196
Gesichtet wie Weizen 197
Wenn du umkehrst, so will ich dich zurüdbringen." 210
Erklärung 220
Das Buch Ruth 225
Sünde, Tod und Sieg 242
Hochbeglückte Seele! (Gedicht) 252
Fremdlinge und Pilgrime 264
Debora und Barak 270
Hingebung- 277
Das Lied der Debora 281
Ein reichlicher Eingang 294
Gehorsam und Liebe 302
Lasset jedermann von mir hinausgehen!" 307
Das Nasiräat und ein Überrest 309
Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht an." 327

 Botschafter Inhalts-Verzeichnis. 1896 Seite.

Meine Gnade genügt dir."......................................................... 1

Die Rückkehr der Bundeslade................................................... 8

Nicht immer währt die Wüstenreise (Gedicht)..............................27

Davids Haus und das Haus Gottes............................................... 29

Auf daß sie eins seien, gleichwie wir. ".........................................49

Ein Herz für Christum......................................................................55

Die Verschwörung Absaloms........................................................57. 85

Arbeit und Ruhe................................................................................. 72

Gerechtfertigt............................................................................................ 8t.

Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes.".................................... 100

Glaube nur!................................................................................ 107

Der Hirte und die Herde....................................................................111

Die Stimme der Fremden..............................................................113

Das Lied und die letzten Worte Davids......................................... 124

Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen . . 141. 169

Ihr seid meine Freunde."..............................................................154

Der Wandel vor Gott......................................................................... 159

Gedanken über Apostelgeschichte 12...................................................186

Mein Angesicht wird mitgehen re." (Gedicht).............................. 196

Gesichtet wie Weizen......................................................................... 197

Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbriugen." . . . 210

Erklärung................................................................................................220

Das Buch Ruth.................................................................... 225. 253

Sünde, Tod und Sieg ....................................................................242

O hochbeglückte Seele! (Gedicht)........................................................ 252

Fremdlinge rmd Pilgrime................................................. 264

Debora und Barak...............................................................................270

Hingebung................................................................................................277

Das Lied der Debora......................................................................... 281

Ein reichlicher Eingang................................................................... 294

Gehorsam und Liebe......................................................................... 302

Lasset jedermann von mir hinausgehen!"................................. 307

Das Nasiräat und ein Überrest........................................................ 309

Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht an." . . 327


Meine Gnade genügt dir."(2. Kor. 12.)

„Meine Gnade genügt dir." So sprach einst der

Herr zu Seinem schwergeprüften Knecht Paulus. Welch

einen mächtigen Trost enthielten diese Worte für den

Apostel! Wahrlich, sie waren geeignet, seinem Herzen

einen tiefen, unerschütterlichen Frieden zu verleihen. Denn

sie waren nicht in die Form einer Ermahnung gekleidet,

sondern enthielten eine bestimmte Zusage von seiten des

Herrn. Die Antwort auf sein heißes Flehen lautete nicht:

„Laß dir an meiner Gnade genügen", sondern der Herr

giebt ihm die köstliche Versicherung, daß ihm Seine Gnade

thatsächlich genügen werde, und daß er die Größe, Macht

und Fülle derselben an sich erfahren solle.

Ohne Zweifel sind wir verantwortlich für die Ermahnungen:

die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen

zu haben: darauf zu sehen, daß nicht jemand an der

Gnade Gottes Mangel leide; die Gnade festzuhalten u. s. w.

(2. Kor. 6, 1; Hebr. 12, 15. 28); und es würde sicher

einen großen Verlust für uns zur Folge haben, wenn

wir diese Ermahnungen vernachlässigten. Wir würden

bald, so weit wir in Betracht kämen, von dem einzig

sichern Wege abweichen, auf dem wir Gott wohlgefällig

dienen und wohlbehalten das Ziel erreichen können.

Aber an dieser Stelle handelt es sich, wie gesagt,

nicht um eine Ermahnung, sondern um eine Zusage, die

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der Herr Seinem Knechte gab, als dem Engel des Satans

erlaubt wurde, ihn mit Fäusten zu schlagen. Es wird

uns nicht mitgeteilt, worin diese Faustschläge sich kundgaben

; immerhin erschienen sie dem Apostel als ein großes

Hindernis, sei es daß sie ihn in den Augen Anderer unansehnlich

machten, oder daß er in seinen eignen Augen für

das Werk des Herrn unfähig erschien. Vielleicht war es

ein schweres Augenleiden; denn er schreibt an die Galater:

„Ihr wisset aber, daß ich in Schwachheit des Fleisches

euch ehedem das Evangelium verkündigt habe; und meine

Versuchung, die in meinem Fleische war, habt

ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern

wie einen Engel Gottes nähmet ihr mich auf, wie Christun:

Jesum. Was war denn eure Glückseligkeit? Denn ich

gebe euch Zeugnis, daß ihr, wenn möglich, eure Augen

ausgerissen und mir gegeben hättet." (Gal.

4, 13—15.) Auch scheint der Umstand darauf hinzudeuten,

daß er seine Briefe gewöhnlich durch Andere

schreiben ließ. Aber wie dem auch sei, jedenfalls war es

eine schwere Prüfung, die er tief fühlte; denn er hatte

ihretwegen dreimal zum Herrn gefleht. Aber anstatt ihn

davon zu befreien, ließ der Herr die für ihn so schmerzliche

Sache, den Dorn für das Fleisch, fortbestehen. Hingegen

sollte Seine Gnade ihm einen reichlichen Ersatz

bieten, und sich um so mächtiger in ihm und durch ihn

erweisen; „denn meine Kraft", sagte der Herr zu

ihm, „wird in Schwachheit vollbracht".

Welch einen herrlichen Tausch machte hier der Apostel!

Seine eigene, menschliche Kraft wurde so zu sagen vernichtet,

um der göttlichen Kraft Christi Platz zu machen.

Es war jetzt nicht mehr die Frage, was Paulus, sondern

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was Christus vermochte. Alles hing ab von der Gnade

Christi, und durch diese wurde das, was dem Apostel als

das größte Hindernis erschien, zum größten Segen für ihn

und andere, ja für das ganze Werk des Herrn. Wunderbare

Gnade! Ein Gefäß, unbrauchbar, ja verächtlich und

armselig in den Augen der Menschen, wurde in der Hand

Christi das mächtige Werkzeug zur Ausführung Seiner

großen Thaten. Es erfüllte sich, was der Herr einst zu

Anamas gesagt hatte: „Denn dieser ist mir ein auserwähltes

Gefäß, meinen Namen zu tragen, sowohl vor

Nationen als vor Könige und Söhne Israels". (Apstgsch.

9, 15.) Durch keinen andern Apostel ist ein solch ausgedehntes

Werk gethan, durch keinen ein solch mächtiges

Zeugnis für Christum und Seine Wahrheit abgelegt worden,

wie durch ihn. Wenngleich der Apostel in seiner Demut

und Bescheidenheit von sich selbst bezeugte, daß er der geringste

der Apostel sei, so konnte er doch hinzufügen: „Aber

durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und Seine

Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich

habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich,

sondern die Gnade Gottes, die mit mir war."

(1. Kor. 15, 9. 10.) Die Gnade erhob sich über die

Schwachheit, und ließ allerorten den Wohlgeruch Christi

durch den Apostel ausströmen. <2. Kor. 2, 14.)

Wie reich und mächtig, wie vollkommen genügend ist

doch die Gnade Christi! Und was sie einst war, das ist sie

heute noch, ebenso mächtig, zu wirken und zu segnen wie

damals. Weder die Untreue und der Verfall der Kirche,

noch die Trennung und Verwirrung unter den Gläubigen

hat sie zu schwächen vermocht. Trotz allem und jedem

verfolgt sie ungehindert und unbeschränkt ihren gesegneten

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Weg. Dies bezeugen unter anderm die vielen Bekehrungen,

welche in unsern Tagen in allen Ländern der Erde stattfinden

; und die Gnade bindet sich dabei an keine besonderen

Werkzeuge, an keine Korporation oder religiöse Benennung,

sondern wirkt frei und unumschränkt, wie und wo sie

will. Dies wird auch die große Volksmenge bezeugen, die

sogar noch nach der Aufnahme der Braut, in den finstern

Tagen des allgemeinen Abfalls, gerettet werden wird.

(Offbg. 7, 9.s Die Gnade Christi genügt vollkommen zu

allen Zeiten und für alle, die ihrer bedürfen und von ihr

Gebrauch machen. Sie war genügend für Paulus, als

ihn der Engel Satans mit Fäusten schlug; sie war genügend

in den Zeiten schrecklicher Verfolgungen: sie ist

genügend für uns, wenn alles um uns her im Verfall ist,

und sie wird genügend sein für den Ueberrest in den Tagen

der großen Drangsal.

Die Gnade kann sich eines jeden beliebigen Werkzeuges,

selbst eines unbekehrten Menschen, zur Ausführung

ihrer Absichten bedienen, ohne daß ein solcher deswegen

von Gott anerkannt wäre, oder irgendwelchen Nutzen davon

hätte. Vielmehr ruht auf jedem solchen Werkzeug

eine ernste Verantwortlichkeit, die umso ernster ist, wenn

dasselbe etwas zu sein vorgiebt, und der Wahrheit nicht

gehorcht. Denn „Gott widersteht den Hochmütigen, den

Demütigen aber giebt Er Gnade." (1. Petr. 5, 5.) Die

Gnade verbindet sich nie mit den Anmaßungen des Menschen;

und wir werden persönlich nur insoweit Nutzen von ihr

haben, als wir uns unsrer Schwachheit bewußt sind. Nichts

entschwindet uns aber leichter als dieses Bewußtsein; denn

nichts liegt uns näher als Selbstvertrauen, und vor allem

dann, wenn Gott uns irgendwelche Vorzüge oder Gaben

geschenkt hat. Ohne es zu ahnen und zu wollen, können

wir durch das Fleisch in uns getäuscht und betrogen

werden; und wenn Gott uns dann nicht in Seiner Gnade

zu Hilfe kommt, so werden wir der Kraft Christi sehr bald

verlustig gehen.

Geliebter christlicher Leser! prüfe dich ernstlich im

Lichte Gottes, ob alles in deinem täglichen Leben der Ausdruck

der Gnade und der Kraft Christi ist. Eine solche

Prüfung ist heilsam und notwendig, mag sie anch oft zu

unsrer tiefen Demütigung gereichen. Denn alles, was nicht

durch die Gnade in und durch uns gewirkt ist, kommt aus

der Natur, aus dem Fleische hervor; und das Fleisch ist

nie listiger und gefährlicher, als wenn es den Schein der

Geistlichkeit und Frömmigkeit annimmt. Auch steht zu befürchten,

daß vieles in unsern: Leben, namentlich bei den

jüngeren unter uns, mehr die Folge der Erziehung, der

Bildung und des christlichen Einflusses ist, uuter welchem

wir stehen oder gestanden haben, als die Frucht der Gnade.

Und wenn es so ist, so mangelt die Kraft Christi, und sobald

irgend eine Versuchung an uns herantritt, zeigt sich

die alte Natur in ihre» verschiedenen Formen: Eigenwille,

Hochmut, Eitelkeit und dergl. -- ein Beweis, daß ihre

Kraft nicht gebrochen ist.

Eine ungebrochene Natur und die Kraft Christi können

aber niemals Zusammengehen; vielmehr bildet die erstere

das größte Hindernis für die Offenbarung der letzteren,

und ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich sage, daß

hierin eine der Hauptursachen des allgemein so niedrigen

Zustandes in unsern Tagen zu suchen ist. Vor allem

sollte der Arbeiter im Werke des Herrn sich oft an die

Worte erinnern: „Meine Kraft wird in Schwachheit

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vollbracht". Es genügt nicht, eine Gabe oder reiche Erkenntnis

oder mannigfache Fähigkeiten vom Herrn empfangen

zu haben; es genügt auch nicht, zu laufen und zu predigen.

Wenn der Diener des Herrn nicht seine Schwachheit kennt

und fühlt, so mag er vielleicht schöne Vorträge halten, die

Schrift erklären und sie der Wahrheit gemäß vorstellen

können, aber anstatt dies in der Kraft Christi zu thun, stellt er

nur seine Erkenntnis und seine Gaben zur Schau. Vielleicht

thut er dies nicht in bewußter Absicht, aber dennoch darf

er sicher fein, daß seine Worte, so wahrheitsgemäß und

sorgfältig gewählt sie sein mögen, leer und kraftlos sind.

Es ist unstreitig ein großes Vorrecht, im Werke des Herrn

thätig zu sein, und die Gnade Christi genügt vollkommen

dazu; aber es ist und bleibt eine der ersten Bedingungen

für einen Diener Christi, seiner eignen Schwachheit und

Kraftlosigkeit eingedenk zu bleiben. Eine ungebrochene

Natur kennt keine Abhängigkeit von der Gnade, keine Notwendigkeit,

aus der Kraft Christi zu schöpfen; sie geht

vielmehr selbständig und in eigner Kraft voran. Und

dies ist nur so schlimmer, wenn ihr eine gewisse natürliche

Freiheit oder gar Dreistigkeit eigen ist, die sich leichtfertig

über alles hinwegzusetzen vermag. Sie richtet stets großen

Schaden an, am meisten aber dann, wenn sie sich in

den Dienst des Herrn stellen will.

Doch ich möchte noch einen Schritt weiter gehen.

Wir müssen nicht nur unsrer Schwachheit eingedenk bleiben,

sondern sie auch bekennen. Paulus bekannte sie, ja, er

rühmte sich ihrer: „Daher will ich am allerliebsten mich

vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft

des Christus über mir wohne". (2. Kor. 12, ll.) Wir

sind oft geneigt, unsre Schwachheit und Armut unter einem

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Scheine von Kraft zu verbergen; zu thun, als könnten

und vermöchten wir etwas, während wir doch selbst unsre

Leere nur zu sehr fühlen. Und so kann es kommen, daß

wir, trotz des Bewußtseins unsres Nichts, in eigner Kraft

und in Anmaßung voranzugehen versuchen, anstatt demütig

auf den Herrn zu warten und Seiner Kraft Raum zu

lassen. Ach! wir sind so sehr um unsre eigne Ehre besorgt,

wir wollen uns nicht gern eine Blöße geben, nicht

gern unsre Armut vor uns selbst und andern eingestehen.

Aber heißt das mit andern Worten nicht, uns selbst zum

Mittelpunkt machen? Könnte ein solches Verhalten Wohl

ein Leben und ein Dienst für Christum genannt werden?

Der Leser möge selbst antworten.

Andrerseits ist es ein Zeichen von Treue und Aufrichtigkeit,

wenn ein Diener Christi seine Schwachheit offen

nnd ehrlich bekennt, und nicht mehr sein will, als er in

der That ist. Paulus hatte Wohl Ursache, sich zu rühmen,

denn er war im dritten Himmel gewesen; aber er sagt:

„Ich enthalte mich aber dessen, auf daß nicht jemand höher

von mir denke, als was er an mir sieht, oder was er

von mir hört". Glücklicher Apostel, der, also frei von

sich selbst, kein Hehl aus seinen Schwachheiten machte,

vielmehr sich derselben rühmte, damit Christus allein verherrlicht

werde! Er zog sich gern zurück, und war zufrieden,

in den Hintergrund gestellt zu werden, damit

Christus in allen Dingen den Vorrang habe und hoch erhoben

werde.

Der Apostel hatte durch die Prüfung, welche der

Herr hatte über ihn kommen lassen, viel gelernt, und es

ist in der That ein großer Segen, wenn der Herr uns

Wege führt, die uns ein tiefes Gefühl von unsrer Schwach

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heit geben. Wir sind zwar nicht in Gefahr, wie Paulus,

uns wegen hoher Offenbarungen zu überheben. Aus

diesem Grunde bedürfen wir nicht eines Dornes für

das Fleisch. Aber es giebt mancherlei andere Gefahren

für uns, und wir können nichts für den Herrn sein, noch

die Zusage Seiner Gnade verwirklicht sehen, es sei denn

dah zuvor unsre eigne Kraft gebrochen ist. Deshalb läßt

der Herr auch uns zuweilen durch den Ofen der Trübsal

gehen, und ist Seine Liebesabsicht erreicht, der eigne Wille

und die eigne Kraft gebrochen, so sind wir wahrhaft glücklich,

und fähig, Ihn selbst für die Trübsale zu preisen.

Sie erscheinen uns dann nicht mehr als ein Hindernis,

sondern vielmehr als eine Gelegenheit, die Entfaltung der

Kraft Christi zu erfahren', und dies umsomehr, je tiefer

die Pflugfchar eingedrungen ist. Wir erfahren, daß Seine

Gnade völlig und für alles genügt. Nichts kann sie verhindern,

alles das ausznführen, was ihr gefällt, und sich

selbst in und durch uns zu verherrlichen. Welch ein Glück,

solche Erfahrungen zu machen und mit dem Apostel sagen

zu können: „Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwach--

heilen, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an

Aengsten für Christum; denn wenn ich schwach bin,

dann bin ich stark"!

Die Rückkehr der Bundeslade.

(2. Sam. 6 und 1. Chron. 13.)

Als David die Kunde von dem Tode Sauls und

Jonathans erhielt, gab er seiner tiefen Trauer über beider

unrühmliches Ende Ausdruck. Er hatte, wie wir wissen,

in seinem Verhalten Saul gegenüber stets der Thatsache

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Rechnung getragen, daß Saul der Gesalbte Jehovas war,

und auch jetzt, bei der Nachricht von seinem Tode, ist er

weit davon entfernt, über den Fall seines bittern Feindes

zu frohlocken. Im Gegenteil, er weint über ihn und

fordert andere auf, dasselbe zu thun; ja, er stimmt ein

ergreifendes Klagelied an „über Saul und Jonathan, die

Geliebten und Holdseligen in ihrem Leben, die Helden

und Rüstzeuge des Streites". Auch finden wir nichts

von einer ungeziemenden Hast, den jetzt leeren Königsthron

zu besteigen. Er wartet ruhig auf den Herrn.

„Und es geschah hernach, da befragte David Jehova und

sprach: Soll ich hinaufziehen in eine der Städte Judas?

Und Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf. Und David

sprach: Wohin soll ich hinaufziehen? Und Er sprach:

Nach Hebron." (2. Sam. 2, 1.) Das war wahre Abhängigkeit.

Die Natur hätte sicherlich nicht eilig genug

den Boden betreten können, wo Ehre und Ruhm zu erlangen

waren; aber David wartete auf den Herrn, und sein

Gehen und Stehen stand unter göttlicher Leitung. Welch

ein Glück würde es für ihn gewesen sein, wenn er während

seiner ganzen Laufbahn in dieser kindlichen Abhängigkeit

verblieben wäre! Wie manche bittere Stunde und schmerzliche

Erfahrung würde ihm erspart geblieben sein!

Aber ach! wir werden weit mehr Spuren der Natur

bei David finden während der Zeit seiner Erhebung, als

in der Zeit seiner Verwerfung und seines Umherirrens in

der Wüste. Eine Zeit des Friedens und Wohlergehens

bringt manche Keime des Bösen'zum Wachstum und zur

Reife, welche durch die scharfe Luft der Widerwärtigkeiten

erstickt worden wären. David mußte die Entdeckung

machen, daß das Königtum weit dorniger und ge

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fährlicher für ihn war als die Wüste mit allen ihren

Entbehrungen.

Davids erster großer Fehler nach seiner Thronbesteigung

bezog sich auf die Lade des Herrn. Er wünschte

sie in die Stadt Jerusalem zu bringen und an eine ihr

geziemende Stätte zu stellen. Das war an und für sich

ein schöner und richtiger Wunsch. Aber wie mußte derselbe

zur Aussührung gebracht werden? Das war die ernste

Frage. Nun, es gab zwei Wege: der eine war vorgeschrieben

durch das Wort Gottes, der andere durch die

Priester und Wahrsager der Philister. Das Wort Gottes

redete klar und deutlich bezüglich dieses Punktes. Es gab

sehr einfache und bestimmte Anweisungen darüber, wie die

' Lade Jehovas der Heerscharen getragen werden solle, nämlich

auf den Schultern lebender Männer, die zu diesem

Zweck bestimmt und ausgesondert waren. (Vergl. 4. Mose

3 u. 8.) Aber die Philister wußten davon nichts und

hatten deshalb einen Weg angeraten, den sie selbst erfunden

hatten und der, wie zu erwarten stand, dem Worte

Gottes schnurstracks widersprach. (Vergl. 1. Sam. 6.) So

oft die Menschen sich daran machen, in göttlichen Dingen

Regeln und Gesetze aufzustellen, dürfen wir sicher sein,

daß sie die schlimmsten Fehler machen werden; denn „der

natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes

ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht

erkennen, weil es geistlich beurteilt wird". Obwohl der

Plan, der von den Philistern entworfen und befolgt worden

war, nach menschlichem Urteil sehr zweckentsprechend und

geziemend sein mochte, so war er doch nicht vonWott.

Die Diener des Hauses Dagons waren wenig dazu geeignet,

Anordnungen für den Dienst des Gottes Israels

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zu treffen. Sie hielten einen neuen hölzernen Wagen für

das passendste Gefahr zur Fortschaffung der Bundeslade,

und für Dagon hätten sie sicher kein passenderes finden

können, und zwischen Jehova nnd Dagon kannten sie keinen

Unterschied. Sie hatten einst vor der Bundeslade gezittert,

aber durch die Untreue Israels hatte dieselbe ihren feierlichen

Charakter für sie verloren; und obwohl die Zerstörung

ihres Gottes und die schweren Plagen, welche die

Bewohner des Landes getroffen hatten, nicht ohne Eindruck

geblieben waren, so verstanden sie doch die tiefe Bedeutung

der Bundeslade nicht, noch kannten sie ihren wunderbaren

Inhalt. Das überstieg ihre Begriffe, und deshalb wußten

sie auch keinen bessern Rat bezüglich ihrer Fortschaffung

zu geben.

Aber Gottes Gedanken waren nicht ihre Gedanken,

und David hätte die göttlichen Gedanken kennen und von

vornherein danach handeln sollen. Er hätte wissen sollen,

daß im Dienste Gottes die Gedanken und Ueberlieferungen

der Menschen völlig verwerflich sind. Es ist ein schlimmes

Ding, wenn die Söhne des Reiches sich nach weltlichem

Muster bilden und in die Fußstapfen der Kinder dieser

Welt treten. Sie können dies nie thun, ohne einen großen

Verlust für ihre Seelen zu erleiden und der Wahrheit

und dem Zeugnisse ernstlich zu schaden. Die Philister

mochten einen neuen Wagen bauen, um auf ihm die

Bundeslade in das Land Kanaan zurückzubringen, ohne

daß irgend etwas eingetreten wäre, was ihnen ihre Thorheit

gezeigt hätte; aber Gott konnte nicht zugeben, daß

David so handelte. Und so mögen auch jetzt die Kinder dieser

Welt Glaubensbekenntnisse aufstellen, Vorschriften erlassen

und religiöse Gebräuche einführen, ohne daß Gott sie in

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ihrem Thun hinderte. Aber sollten die Kinder Gottes von

ihrem hohen Platze herabsteigen und ihre Vorrechte als

solche, die durch den Geist und das Wort Gottes geleitet

werden, aufgeben und sich durch solche Dinge beeinflussen

und leiten lassen? Nimmermehr; wenn sie es thun, so

werden sie sicherlich großen Schaden leiden.

David mußte seinen Fehler auf dem Wege bittrer

Erfahrung kennen lernen; denn „als sie zur Tenne Kidon

kamen, da streckte Ussa seine Hand aus, um die Lade zu

fassen; denn die Rinder hatten sich losgerissen". Die

Schwachheit, Thorheit und Verkehrtheit der ganzen Sache

trat hier mit einem Schlage ans Licht. Die Leviten, die

Diener Gottes, hatten die Bundeslade vom Horeb bis an

den Jordan getragen, und niemals hören wir, daß die

Lade in Gefahr gekommen wäre, umzustürzen. Nein, denn

so war es der Weg Gottes, und Sein Weg ist immer

gut und vollkommen; aber der Wagen und die Rinder

waren der Weg des Menschen. Das war der große Unterschied.

Wer würde in früheren Tagen daran gedacht

haben, daß ein Israelit die Lade des Gottes Israels auf

einen von Rindern gezogenen Wagen stellen würde? Aber

das ist immer das betrübende Resultat, sobald wir in

irgend einer Weise das geschriebene Wort verlassen und

menschlichen Meinungen folgen. „Die Rinder hatten sich

losgerissen." Kein Wunder; denn so etwas geschieht ja

oft. Alle die Anordnungen, welche David in bester

Meinung getroffen hatte, waren nach göttlichem Urteil

„schwach und armselig", und der Herr machte dies offenbar.

Die Bundeslade hätte nie in eine solch unwürdige

Lage kommen sollen. Aber so geht es, wie gesagt, wenn

man Menschen folgt, anstatt einfach und bedingungslos

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sich durch Gottes Wort leiten zu lassen. David hatte sich

mit den Obersten und Fürsten Israels beraten und zu der

ganzen Versammlung Israels gesagt: „Wenn es euch

gut dünkt, und wenn es von Jehova, unserm Gott,

ist". Wie natürlich war dies auch, nachdem das ganze

Volk, hoch und niedrig, nach Hebron gekommen war, um

David zum König zu machen über ganz Israel, und nachdem

sie von allen Seiten Lebensmittel, Feigenkuchen und

Rosinenkuchen, Wein und Oel, Rind- und Kleinvieh in Menge

zusammengebracht hatten! (Kap. 12, 38—40.) Ach, es war

natürlich, menschlich, aber schnurstraks den Gedanken Gottes

zuwider. Während seines Umherziehens in der Wüste hören

wir nicht, daß David sich jemals mit seinen Obersten beraten

oder gar zu seiner Schar gesagt hätte: „Wenn es euch

gut dünkt, und wenn es von Jehova, unserm Gott, ist"

— indem er so dem Menschen den ersten Platz und dem

Herrn den zweiten eingeräumt hätte. Nein, er fragte

einfach Jehova, was er thun solle, und dann ging er in

glücklicher Gemeinschaft mit Gott den richtigen Weg und

machte herrliche Erfahrungen.

Und so werden wir es thun, geliebter christlicher

Leser, wenn diese einfältige, demütige Gesinnung in unsern

Herzen ist und wir das Wort des lebendigen Gottes zu

unsrer ausschließlichen Richtschnur machen. Aber ach!

wieviel wird gerade in unsern Tagen in religiösen Dingen

nach menschlichem „Gutdünken" gehandelt! Rechts und

links hört man immer wieder die alte, verwerfliche Sprache:

„Wenn es euch gut dünkt — wenn es den heutigen Verhältnissen

angemessen ist — wenn wir niemandem Anstoß

damit geben" u. s. w. u. s. w. Statt einfältig und mit

heiliger Furcht auf Gottes Gebote zu lauschen, treu an

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denselben festzuhalten und ihnen mit Entschiedenheit nachzukommen,

alle Folgen getrost Gott überlassend, lauscht man

auf die Meinungen anderer, vielleicht sehr ehrenwerter

Männer, oder auf die Eingebungen des eignen Herzens,

zieht Umstände und Verhältnisse in Rechnung und überschlägt

die möglichen Folgen. Aber was sagt Gott? „Auf

diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen

Geistes ist, und der da zittert vor

meinem Worte." (Jes. 66, 2.)

„Da entbrannte der Zorn Jehovas wider Ussa, und

Er schlug ihn, darum daß er seine Hand nach der Lade

ausgestreckt hatte; und er starb daselbst vor Gott." —

Ja, das Gericht „muß bei dem Hause Gottes anfangen".

Der Herr richtete David für dieselbe Sache, welche die

Philister gethan hatten, ohne daß Gott Notiz davon

genommen hätte. Je näher jemand bei Gott ist, desto

ernster und schneller wird er für alles Böse gerichtet

werden. Das ist indes kein Trost für den Ungläubigen;

denn wenn der Apostel sagt: „Die Zeit ist gekommen,

daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes", so fügt

er alsbald hinzu: „wenn aber zuerst bei uns, was wird

das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht

gehorchen! Und wenn der Gerechte mit Not errettet wird,

wo will der Gottlose und Sünder erscheinen!" (1. Petr. 4,

17. 18.) Wenn Gott Sein eignes Volk richtet, was wird

dann aus dem armen Kinde dieser Welt werden! Obgleich

die Philister dem Gericht Gottes bezüglich ihrer Behandlung

der Bundeslade entgingen, mußten sie ihm doch in

einer andern Weise begegnen. Gott handelt mit allen

nach Seinen eigenen heiligen Grundsätzen, und der Bruch

an Ussa war bestimmt, um in David eine wahre Erkenntnis

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der Gedanken Gottes bezüglich der Lade Seiner Gegenwart

hervorzurufen.

Indes scheint diese Wirkung anfänglich nicht erreicht

worden zu sein; denn wir lesen: „Und David entbrannte,

weil Jehova einen Bruch gemacht hatte an Ussa; und er

nannte selbigen Ort Perez-Ussa (Bruch Ussas), bis auf diesen

Tag. Und David fürchtete sich vor Gott an selbigem Tage und

sprach: Wie soll ich die Lade Gottes zu mir bringen?"

Welch eine tiefe, heilsame Unterweisung liegt in allem

diesem für uns! David that eine richtige Sache in der

verkehrten Weise, und als Gott sein Verhalten richtete,

verzweifelte er daran, sie überhaupt ausführen zu können.

Das ist ein sehr häufig vorkommender Fehler. Wir

beginnen irgend etwas in einer verkehrten Weise oder in

einem unrichtigen Geiste, was Gott selbstverständlich nicht

anerkennen kann; und dann vermengen wir unsre Gesinnung

oder unsre Handlungsweise mit dem Dienst, den wir zu

thun beabsichtigten, und legen mut- und hoffnungslos die

Hände in den Schoß. Wir müssen immer unterscheiden

zwischen dem, was jemand thut und wie er es thut.

Es war richtig für David, die Bundeslade nach Jerusalem

zu holen; es war unrichtig, sie auf einen neuen Wagen

zu stellen. Der Herr billigte das erste, aber mißbilligte

und richtete das zweite.

Gott wird Seinen Kindern nie erlauben, Sein Werk

auf die Dauer nach verkehrten Grundsätzen zu betreiben.

Er mag sie eine Zeitlang dahingehen lassen, und sie mögen

scheinbar große Erfolge haben, wie wir dies auch

von David lesen: „David und ganz Israel spielten vor

Gott mit aller Kraft: mit Gesängen und mit Lauten und

mit Harfen und mit Tamburins und mit Cymbeln und

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mit Trompeten". Wahrlich, ein eindrucksvolles Schauspiel!

Wer hätte angesichts desselben einen Einspruch erheben und

David verurteilen mögen! Waren doch der König, seine

Fürsten und Obersten, ja das ganze Volk an diesem prächtigen

Aufzuge beteiligt. Und wem galt all dieses Musizieren

und Jubilieren? Wem anders als dem Herrn der ganzen

Erde, dessen Lade vor ihnen Herzog? Und doch, wie bald

sollte sich die Freude in Trauer, der Jubel in schmerzliche

Klage verwandeln! Die Rinder rissen sich los, und Ussa

streckte seine Hand aus, in dem eitlen Wahn, Gott würde

erlauben, daß die Lade Seiner Gegenwart zu Boden

stürze. Er, der die Würde der Bundeslade selbst in der

Einsamkeit des Hauses Dagons aufrecht erhalten hatte,

hätte sie sicherlich auch vor aller Verunehrung inmitten

der Fehler Seines Volkes beschützt. Es war eine ernste

Sache, sich der Lade Gottes zu nähern, eine ernste Sache,

Hand an das zu legen, (und geschah es selbst in der besten

Absicht,) was das ausdrucksvolle Bild der göttlichen

Gegenwart inmitten der Gemeinde Israels war. Es ist

eine ebenso ernste Sache, den Namen Jesu zu tragen und

betraut zu sein mit den Wahrheiten, welche mit Seiner

heiligen Person in Verbindung stehen. Wir alle sollten

den Ernst dieser Sache tiefer fühlen, als wir es thun.

Wir sind nur zu geneigt, es als etwas nicht so Wichtiges

zu betrachten, unsre Hand an die Bundeslade zu legen;

aber es ist eine höchst ernste, wichtige Sache, und alle,

die es zu thun versuchen, werden, gleich Ussa, für ihren

Irrtum büßen müssen.

Indessen möchte gefragt werden: Ist denn der Hut

und Bewahrung der Kirche etwas anvertraut, das der

Bundeslade entspräche? Ja; und zwar ist es die Person

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des Sohnes Gottes. Seine göttliche und menschliche Natur

finden sich in dem Golde und dem Akazienholz, aus

welchen die Bundeslade gefertigt war, vorgebildet. Die

Bestandteile der Lade stellten Seine Person, die

Person des Gott-Menschen vor, während die

Bestimmung der Lade und des über ihr liegenden

Sühndeckels (des Gnadenstuhls) Sein Werk, sei es im

Leben oder im Tode, vorbildete. Im Innern der Lade

lagen die Gesetzestafeln, „das Zeugnis"; und der Sohn

Gottes konnte in Beziehung auf den Leib, der Ihm von

Gott bereitet war, sagen: „Dein Gesetz ist im Innern

meines Herzens". (S. Ps. 40.) Weiter redete der Gnadenstuhl

zu dem Sünder von Frieden und Vergebung, von

einer Barmherzigkeit, die sich wider das Gericht rühmt;

und der Apostel sagt: „welchen (Christus) Gott dargestellt

hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an Sein

Blut". (Röm. 3, 25.)

So sehen wir also, welch ein bezeichnendes, bedeutungsvolles

Vorbild die Bundeslade war von Ihm, dessen Lust

und Speise es war, das Wohlgefallen Jehovas zu thun,

von Jesu, dem Sohne Gottes, dessen herrliche Person der

besondere Gegenstand der ehrerbietigen und liebevollen Hut

des Gläubigen sein sollte. Und gerade so wie die sittliche

Kraft Israels stets mit der richtigen Anerkennung und Bewahrung

der Bundeslade in Verbindung stand, so wird es

sich auch stets erweisen, in welch inniger Beziehung die Kraft

der Kirche zu der Frage steht, ob sie die große und über

alles wichtige Lehre von dem Sohne in geziemender Weise

aufrecht erhält oder nicht. Es ist eitel, uns an dem Werke

unsrer Hände zu erfreuen und uns unsrer Erkenntnis,

unsers Zeugnisses, unsrer Gaben, unsers Dienstes oder

18

ähnlicher Dinge zu rühmen. Wenn wir nicht die Ehre des

Sohnes aufrecht erhalten, so sind wir thatsächlich wertlos;

wir wandeln dann nur in dem elenden Lichte, das Wir

uns selbst angezündet haben und das erlöschen wird, sobald

der Herr, gerade um Seiner Treue willen, gezwungen ist,

ins Mittel zu treten und einen Bruch an uns zu machen.

David „entbrannte" über den Bruch. Es war ein schreckliches

Halt, das ihm auf seinem Wege zugerufen wurde,

eine schmerzliche Störung der allgemeinen Freude; aber

es war nötig. Ein treues Auge entdeckte den kranken

Seelenzustand, welcher sich in dem neuen Wagen kundgab,

und der Bruch an Ussa sollte als Heilmittel dienen und

erwies sich auch als solches wirksam.

„Und David ließ die Lade nicht zu sich einkehren in

die' Stadt Davids; und er ließ sie in das Haus Obed-

Edoms, des Gathiters, bringen." Wie schade! David

ging eines reichen Segens dadurch verlustig, daß er auf

halbem Wege stehen blieb; denn die Lade Gottes konnte

nichts anderes als Segen auf alle bringen, die in der

rechten Weise mit ihr in Verbindung traten, obwohl sie

im entgegengesetzten Falle auch ernste Gerichte herbeisührte,

wie bei den Leuten von Beth-Semes (1. Sam. 6, 19)

und bei Ussa. Es war eine glückliche Zeit für Obed-

Edom, so lange die Lade in seinem Hause war, denn

„Jehova segnete das Haus Obed-Edoms und alles was sein

war". Während der ganzen Zeit, die David voll Furcht

ohne die Lade zubrachte, war Obed-Edom mit der Lade

gesegnet. Obgleich die Segnung sich nicht auf das ganze

Volk erstreckte, sondern nur auf einen engen Kreis beschränkt

blieb, so war sie doch gerade so wahr, wirklich und bestimmt,

als wenn ganz Israel sie genossen hätte. Wie

19

hätte es anders sein können? Die Segnung war ja das

Ergebnis der Gegenwart der Bundeslade. Gott bleibt

Seinen Grundsätzen stets treu und wird allezeit diejenigen

segnen und beglücken, welche im Gehorsam wandeln ; und

so wie Er Obed-Edom segnete, während die Lade bei ihm

war, wird Er jetzt alle diejenigen segnen, welche Jesum

ehren und in Einfalt und Wahrheit in Seinem Namen zusammenzukommen

suchen. „Wo zwei oder drei versammelt

sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte." Und

wo Christus gegenwärtig ist, da muß Segen sein. Schwachheit

und Armut mögen ohne Zweifel vorhanden sein, aber

dennoch auch Segen und Trost, weil Jesus da ist; und

je mehr wir unsre eigne Schwachheit und Leere, ja unser

ganzes Nichts fühlen, desto mehr werden wir Seine Gegenwart

schätzen und lieben.

Was uns not thut, sind nicht hinreißende Vorträge,

ist nicht die Macht der Beredsamkeit, nicht menschlicher

Verstand oder irgend etwas, das bloß von dem Menschen

kommt; was wir bedürfen, ist die Gegenwart Jesu, ohne

diese ist alles kalt, dürre und leblos. Aber wer könnte

beschreiben, wie lieblich es ist, die Gegenwart unsers Herrn

und Meisters zu verwirklichen! Wer könnte den Gefühlen

derer Ausdruck geben, welche es erfahren haben, wie der

Tau des göttlichen Segens auf sie herabträufelte! Gott

sei Dank, daß es in unsern Tagen, wo die traurigen

Ergebnisse und Wirkungen der menschlichen Ueberlieferung

in der Kirche so offenbar ans Licht treten, es etwas giebt,

das dem Hause Obed-Edoms, des Gathiters, gleicht, wo

die Gegenwart der wahren Bundeslade und die daraus

sich ergebenden Segnungen Gottes in etwa gekannt und

genossen werden können! Möchten wir dies mehr und

20

mehr schätzen und würdigen inmitten der unbefriedigenden

Formen und Ceremonieen um uns her!

Verweilen wir jetzt noch einen Augenblick bei der

gnädigen Art und Weise, in welcher Gott die Seele Seines

Knechtes David wiederherstellte. Das Leben des Gläubigen,

das ja einer ununterbrochenen Kette von Fallen und

Wiederaufstehen, von Jrregehen und Wiederzurechtbringen

gleicht, stellt einerseits die traurige Schwachheit des Menschen

(selbst eines Gottesmannes wie David) ans Licht und

andrerseits die wunderbare Gnade und Kraft Gottes.

Zwischen den beiden Berichten über das Einholen der

Bundeslade in dem 2. Buche Samuels und in dem 1. Buche

der Chronika besteht ein bemerkenswerter Unterschied. In

dem ersten haben wir die einfache Erzählung der Thatsachen,

in dem zweiten einen Bericht von der inneren Erziehung,

durch welche die Seele Davids ging während der Zeit, daß

er „entbrannt" war, oder mit andern Worten, während der

Zeit, daß er unter den Folgen seines Fehlers litt. In

2. Sam. 6 lesen wir: „Und es ward dem König David

berichtet und gesagt: Jehova hat das Haus Obed-Edoms

und alles, was sein ist, gesegnet um der Lade Gottes

willen. Und David ging hin und holte die Lade Gottes

herauf aus dem Hause Obed-Edoms in die Stadt Davids

mit Freuden." David lernte, daß es, anstatt aus Furcht

so fern zu stehen von der Bundeslade, sein Vorrecht war,

ihr nahe zu sein. In 1. Chronika 14 dagegen finden

wir David im Kampf mit den Philistern, und es wird

uns erzählt, wie er den Sieg über sie errang: „David

befragte Gott und sprach: Soll ich hinaufziehen wider die

Philister, und wirst du sie in meine Hand geben? Und

21

Jehova sprach zu ihm: Ziehe hinauf, und ich werde sie in

deine Hand geben." Wie ganz anders handelt David hier

als im vorigen Kapitel! Anstatt seine Heere zu sammeln

und unverweilt in den Kampf zu ziehen, anstatt mit den

Obersten und Fürsten zu beratschlagen, befragt er Gott,

so wie er es früher gethan hatte; und wie herrlich war der

Erfolg! „Da zogen sie hinauf nach Baal-Perazim, und

David schlug sie daselbst; und David sprach: Gott hat

meine Feinde durch meine Hand durchbrochen, gleich einem

Wasserdurchbruch. Daher nannte man den Namen selbigen

Ortes Baal-Perazim" (d. i. Ort der Brüche oder Durchbrüche).

Ein „Bruch" und ein „Ort der Durchbrüche" sind

zwei sehr verschiedene Dinge. Gott hatte einen Bruch

unter Israel gemacht, aber unter den Philistern machte er

nicht nur einen Bruch, sondern Er brachte sie an einen

Ort der Durchbrüche, und David hätte daraus

lernen können, welch einem armseligen Beispiel er gefolgt

war, als er den Wagen für die Bundeslade baute. Wir

mögen sehr eifrig sein für die Ehre und Verherrlichung

Gottes; aber je größer unser Eifer ist, desto mehr wird er

Schaden bringen, wenn er nicht mit Einsicht gepaart geht.

Wir werden alles verderben, wie David im vorigen Kapitel

es that; und wir können jene Einsicht in die Gedanken

Gottes nur dann erlangen, wenn wir uns, im Gefühl unsrer

Abhängigkeit und Ohnmacht, von Gott belehren lassen.

Schließlich sah David denn auch seinen Fehler ein.

Gottes wunderbar gnädige Belehrungsmethode brachte ihre

gesegnete Wirkung hervor. In Kap. 15 lesen wir von ihm:

„Und er machte sich Häuser in der Stadt Davids, und er

bereitete einen Ort für die Lade Gottes und spannte ihr

22

ein Zelt auf. Damals sprach David: Die Lade Gottes

soll niemand tragen, als nur die Leviten: denn sie hat

Jehova erwählt, die Lade Gottes zu tragen und Seinen

Dienst zu verrichten ewiglich." Und zu den Häuptern

der Väter der Leviten hören wir ihn sagen: „Heiliget

euch, ihr und eure Brüder, und bringet die Lade Jehovas,

des Gottes Israels, hinauf an den Ort, welchen ich ihr

bereitet habe. Denn weil ihr das vorige Mal nicht da

wäret, so machte Jehova, unser Gott, einen Bruch unter

uns, weil wir Ihn nicht suchten nach der Vorschrift."

So wurde Davids Seele völlig wiederhergestellt.

Er kam zu der Einsicht, daß es gegen die Vorschrift ist,

wenn man dem Strome menschlicher Gedanken folgt.

Niemand kann belehren wie Gott. Als David einen

verkehrten Weg einschlug, machte Gott einen Bruch an ihm

mit Seiner eignen Hand. Er erlaubte nicht den Philistern,

dies zu thun; nein, Er erlaubte im Gegenteil Seinem irrenden

Knechte, die Philister an einem Ort der Durchbrüche

zu sehen, und befähigte ihn, sie zu schlagen, „sie zu durchbrechen

gleich einem Wasserdurchbruch". So lehrte Gott,

und so lernte David die göttliche „Vorschrift" : so lernte

er gleichsam die Lade von dem neuen Wagen abheben und

sie auf die Schultern der Leviten legen, „die der Herr erwählt

hatte, um Seinen Dienst zu verrichten ewiglich".

So wurde er belehrt, allen eignen oder fremden Meinungen

den Rücken zu kehren und einfältig dem geschriebenen Worte

Gottes zu folgen, in welchem über Wagen und Rinder

keine Silbe zu finden war. „Die Lade Gottes soll niemand

tragen, als nur die Leviten." Das war bestimmt

und deutlich. Aber diese bestimmte, deutliche Vorschrift

hatte David vergessen.

23

Doch noch einmal, in welch einer gnädigen Weise belehrte

der Herr Seinen Knecht! Er unterwies ihn durch

Siege über seine Feinde! Als David seinen eignen Gedanken

folgte, machte Gott einen Bruch an ihm und

seinem Volke; als er aber den Platz der Abhängigkeit

wieder erlangt hatte, da gab Gott ihm einen Ort der

Brüche unter den Philistern. So leitet Gott Seine Kinder

oft zu der Erkenntnis Seiner Gedanken, wenn sie in ihrer

Thorheit der Weise der Menschen dieser Welt folgen. Er

zeigt ihnen, daß sie solche Vorbilder nicht wählen sollten.

Der Bruch belehrte David über seinen Fehler, der Ort

der Brüche über die Gedanken Gottes, über Seine

Vorschrift. Gott ist treu, Er kann sich selbst nicht verleugnen.

Er kann den Seinigen nicht erlauben, Seine

Gebote leichthin zu behandeln. Die Bundeslade würde

daher bis ans Ende hin im Hause Obed-Edoms geblieben

sein, wenn David nicht gelernt hätte, seine eignen Gedanken

fahren zu lassen und der göttlichen Vorschrift zu

folgen.

„Und die Priester und die Leviten heiligten sich, um

die Lade Jehovas, des Gottes Israels, hinanfzubringen.

Und die Söhne der Leviten trugen die Lade Gottes auf

ihren Schultern, indem sie die Stangen auf sich

legten, so wie Mose geboten hatte nach dem

Worte Jehovas." In allem diesem wurde Gott

verherrlicht, und deshalb konnte Er Kraft und Freude

darreichen. Da war kein Gedanke mehr an ein Sichlos-

reißen der Rinder oder an ein menschliches Eingreifen, um

die Lade vor einem Sturz zu bewahren. Die göttliche

Wahrheit wurde beachtet und aufrecht erhalten, und fo

konnte Gott handeln. In demselben Maße wie die Wahr

24

heit verlassen und anfgeopfert wird, schwindet die geistliche

Kraft. Es mag viel Schein, viel Anmaßung vorhanden

sein, aber keine Wirklichkeit. Wie wäre es auch möglich?

Gott ist die Quelle aller wahren Kraft, und Gott kann

sich nicht mit etwas verbinden, was nicht in vollem Einklang

mit Seiner Wahrheit steht. Obgleich daher „David

und ganz Israel vor Gott gespielt hatten mit aller Kraft",

war Gott doch in Wirklichkeit ausgeschlossen. Sein Gebot

wurde nicht beachtet, die Leviten und die Sänger waren

nicht da, und alles endete in Verwirrung nnd Trauer.

Wie ganz anders ist cs hier im 15. Kapitel! Hier

begegnen wir wahrer Freude und wahrer Kraft. „Und

es geschah, da Gott den Leviten half, welche die

Lade des Bundes Jehovas trugen, so opferten sie sieben

Farren und sieben Widder. Und David war angethan

mit einem Oberkleide von Bhssus, und auch alle Leviten,

welche die Lade trugen, und die Säuger, und Kenanja,

der Anführer des Gesanges der Sänger; und David trug

ein leinenes Ephod." (V. 26. 27.) In der That, hier

haben wir ein Schauspiel vor uns, mit welchem Gott sich

verbinden konnte. Er half nicht den Rindern, und Er

half nicht dem Ussa, aber Er half den Leviten. Sie hatten

einst die Lade trockenen Fußes durch den Jordan getragen,

sie hatten mit ihr sieben Tage lang die Mauern Jerichos

umzogen, und niemand anders als sie durfte sie jetzt nach

Jerusalem hinaufbringen. Gottes Ordnung und Vorschrift

ist schließlich die allein richtige und glückliche. Sie mag sich

nicht immer dem menschlichen Urteil empfehlen, aber sie

wird stets Gottes Anerkennung finden, und das ist mehr

als genug für jedes treue Herz. David wurde befähigt,

den Spott Michals, der Tochter Sauls, zu ertragen, weil

25

er vor dem Herrn handelte. Hören wir seine

schöne Antwort auf ihre spöttische Bemerkung: „Vor Jehova,

der mich erwählt hat vor deinem Vater und vor seinein

ganzen Hause, mich als Fürst zu bestellen iiber das Volk

Jehovas, über Israel, ja vor Jehova will ich

spielen; und ich will noch geringer werden

denn also und will niedrig sein in meinen

Augen." (2. Sam. 6, 21. 22.) Welch ein herrlicher Entschluß

! Möchten auch wir alle ihn fassen und durch die

Gnade Gottes ihn ausführen! Niedrig in unsern eignen

Augen, aber glücklich in Gott. In den Stand nns niederbeugend

in dem Gefühl unsers Nichts und unsrer Unwürdigkeit,

aber hoch erhoben in dem Bewußtsein der Gnade und

Freundlichkeit Gottes.

Der Leser wird in dem folgenden Kapitel (1. Chron. 16)

die liebliche Wirkung des in obigem Ausspruch sich kundgebenden

Geistes finden. Der ganze Gesang ist von Anfang

bis zu Ende ein Verbergen der eignen Person und eine

Entfaltung des Charakters und der Wege Gottes. Das

bloße Lesen desselben erquickt und erfrischt das Herz. Eine

eingehende Betrachtung des Kapitels würde uns zu weit

führen, aber ich möchte den Leser bitten, es mit Aufmerksamkeit

und unter Gebet zu lesen. Nur über den

letzten Vers des Gesanges sei noch ein kurzes Wort gesagt,

da er die vier großen Charakterzüge des Volkes

Gottes in wenigen Worten vor uns bringt.

„Rette uns, Gott unsrer Rettung, und sammle und

befreie uns aus den Nationen; daß wir preisen deinen

heiligen Namen, daß wir uns rühmen deines Lobes."

Bezieht sich dieser Vers auch zunächst nur auf Israel, so

ist er doch sicher auch auf die Gläubigen der jetzigen Zeit

26

anwendbar. Die Kirche Gottes ist eine errettete Körperschaft.

Errettung ist die Grundlage von allem. Wir können

nicht eher einem der andern Charakterzüge in diesem

Verse entsprechen, bis wir uns errettet wissen durch die

Gnade Gottes, mittelst des Todes und der Auferstehung

Christi.

In Kraft dieser Errettung wird die Kirche „gesammelt"

durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen

Geistes. Alle, die sich Seiner Leitung unterwerfen, werden

in die Gemeinschaft mit ihren Mitgläubigen eingeführt.

Die Weise des Heiligen Geistes ist nicht Vereinzelung,

sondern Vereinigung, nnd zwar Vereinigung in der Wahrheit.

Die Menschen schaffen Vereinigungen auf religiösem

Boden, ohne als Grundbedingung die vollkommene Errettung

eines jeden Einzelnen durch das kostbare Blut Jesu

aufzustellen. Das ist nicht die Weise des Heiligen Geistes;

Er sammelt nur zu Jesu hin und auf Grund dessen, was

Jesus gethan hat. Das Bekenntnis Christi, als des Sohnes

des lebendigen Gottes, ist der Felsen, auf welchen die

Kirche gebaut ist. Nicht Uebereinstimmung in religiösen

Ansichten macht wahre Gemeinschaft aus, sondern der Besitz

eines allen gemeinsamen Lebens, in Verbindung mit dem

verherrlichten Haupte im Himmel.

Nun, jemehr diese göttliche Bereinigung erkannt und

verwirklicht wird, desto mehr werden wir den nächsten

Charakterzug verstehen: „befreie uns aus den Nationen"

— d. i. Absonderung. Die Kirche ist aus der Welt

herausgenommen; sie gehört nicht mehr zu ihr, obwohl sie

berufen ist, in ihr zu zeugen. Innerhalb der Kirche steht

alles unter der Leitung und Regierung des Heiligen Geistes;

außerhalb befindet sich alles unter der Herrschaft Satans,

27

des Fürsten dieser Welt. Das ist die Lehre der Schrift

über die Kirche. Der Apostel konnte daher, in Verbindung

mit dem Ausschluß eines Bösen aus der Mitte der Versammlung

in Korinth, reden von der Ueberlieferung eines

solchen an Satan zum Verderben des Fleisches. (1. Kor. 5.)

Außerhalb der Grenzen der Kirche liegt ein weiter, finstrer

Bereich, über welchen Satan herrscht, gleich jener öden

Gegend, in welche der Aussätzige aus dem Lager Israels

verbannt wurde. (3. Mose 13, 46.)

Schließlich finden wir als vierten Charakterzug Lob

und Anbetung: „daß wir preisen deinen heiligen

Namen, daß wir uns rühmen deines Lobes". Dies folgt

aus den drei Stücken, die wir soeben betrachtet haben.

Errettung, Vereinigung, Absonderung und Anbetung —

das sind die vier Dinge, welche sich in der wahren Kirche

Gottes vereinigt finden. Durch das Blut Christi erlöst

und sich ihrer Errettung in der Gegenwart Gottes

erfreuend, wird sie durch den Heiligen Geist in eine

heilige und glückliche Gemeinschaft eingeführt, und so,

außerhalb des Lagers für Jesum abgesondert, bringt sie

Gott die Frucht der Lippen dar, welche Seinen Namen

bekennen.

Nicht immer währt die Wüstenreise»

„Werfet nun eure Zuversicht nicht weg, die eine

große Belohnung hat » . Denn noch über ein gae

Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht

verziehen." (Hebr. 10, 35. 37.)

Nicht immer währt die Wüstenreise,

Sie kürzet täglich, stündlich ab.

Drum, Pilgrim, frischen Mut beweise,

Bald ruht am Ziel dein Wanderstab.

28

Ob Sonnengluten dich ermatten,

Ob's mühsam geht durch tiefen Sand,

Schau auf! schon winkt dir kühler Schatten

Und Ruhe zu aus jenem Land.

Nicht immer währt das Bangen, Sorgen,

Das Mühen, Seufzen dieser Zeit;

Bald kommt ein wolkenloser Morgen

Im Freudenglanz der Ewigkeit.

Und jetzt schon darfst du froh genießen

Des Vaters Liebe — welch ein Glück! —

Von der dir Segensströme fließen.

Drum richte aufwärts deinen Blick!

Nicht immer währt das Glauben, Hoffen,

Der Wüstenreise Kampf und Leid;

Durch Jesum steht der Eingang offen

Zu Himmels-Pracht und Herrlichkeit;

Wo bald verklärt in sel'gem Frieden

Auf ewig ruht der Pilger Schar,

Ihn preisend, der im Kampf hienieden

Ihr treuer Hirt und Helfer war.

Ja, droben wohnet süßer Frieden,

Und Liebe waltet ungestört;

Dort giebt's kein Seufzen, kein Ermüden,

Nie klagt ein Herze grambeschwert.

Gestillt ist jegliches Begehren,

Und nimmer wird ein Sehnen laut;

Nur Freude wird den Blick verklären,

Weil jedes Auge Jesum schaut.

Drum, Pilgrim, ziehe ohne Zagen

Boran — der Herr bringt dich ans Ziel! —

Und lerne leiden ohne Klagen,

Bald ruhst du droben froh und still.

Ja, harre aus die kleine Weile,

Bald führt dich Jesus droben ein.

Der Tage Zahl verrinnt in Eile,

Ein jeder kaun der letzte sein.

Davids Haus und das Haus Gottes.

(2 Sam. 7 und 1. Chron. 29.)

Es giebt wohl nichts, was die Enge des menschlichen

Herzens mehr ans Licht stellt, als die Art und Weise,

wie es die göttliche Gnade erfaßt. Gesetzliches Wesen liegt

uns allen so nahe; und warum? Weil es dem eignen Ich

einen Platz einräumt und aus ihm etwas macht. Aber

gerade das kaun Gott niemals zugeben. „Auf daß sich

vor Ihm kein Fleisch rühme", ist ein göttlicher Beschluß,

der nimmer umgestoßen werden kann. Gott muß alles

sein, alles thun und alles geben.

Wenn der Psalmist einst fragte: „Wie soll ich Jehova

alle Seine Wohlthaten an mir vergelten?" so war das

sicherlich eine Frage, die Gott wohlgefiel und durch Seinen

Geist hervorgerufen war. Aber wie lautete die Antwort?

„Den Becher der Rettungen will ich nehmen."

(Pf. 116.) Willst du Gott Seine Wohlthaten „vergelten",

Ihm etwas „wiedergeben" für all das Gute, das Er an

dir gethan hat, so „nimm" umso reichlicher aus Seiner

gütigen Hand. Ein dankbarer, nicht zweifelnder Empfänger

der Gnade sein, das verherrlicht Gott weit mehr als alles,

was wir Ihm wiedergeben könnten.

Das Evangelium der Gnade Gottes setzt den Menschen

als ein ruiniertes, hilfloses, schuldiges Wesen gänzlich beiseite.

Es betrachtet und behandelt ihn als einen, der,

30

Wenn sich selbst überlassen, nichts anderes zu thun vermag,

als alles zu verderben und selbst jedem Segensvorsatz

Gottes nur Widerstand entgegenzusetzen. Deshalb muß

Gott in der Erlösung der allein Handelnde sein. In

Seinen gnädigen und allweisen Ratschlüssen allein wnrde sie

geplant, „ehe die Berge eingesenkt wurden". Durch Seine

unwiderstehliche Macht allein wurde sie ausgeführt, und

zwar „in dem ein für allemal geschehenen Opfer des Leibes

Jesu Christi" ; und durch Seinen ewigen Geist allein kann

ein toter Sünder lebendig gemacht und zum Glauben gebracht

werden an die herrliche, friedengebende Botschaft

von dem vollbrachten Werke Jesu Christi.

Wie sehr berechtigt ist deshalb die Frage des Apostels:

„Wo ist denn der Ruhm?" — Er i st ausgeschlossen.

In einem Bereich, zu welchem der Mensch nur Zutritt

hat als ein unwürdiger Empfänger, giebt es keinen Ruhm

für ihn. Wie glücklich sollte uns das machen! Wie

herrlich ist es, Gegenstände einer Gnade zu sein, welche

alle unsre Sünden auslöscht, das Gewissen zur Ruhe

bringt und alle Zuneigungen des Herzens für Gott heiligt!

Ewig gepriesen sei die Quelle, aus welcher, und der

Kanal, durch welchen diese errettende Gnade schuldigen,

verdammungswürdigen Sündern zufließt!

Das 7. Kapitel des 2. Buches Samuel ist voll

reichster Belehrung hinsichtlich dieses großen Grundsatzes

der Gnade. Der Herr hatte Großes an Seinem Knecht

David gethan; Er hatte ihn aus seiner Verborgenheit an

einen erhabenen Platz berufen und ihn wunderbar gesegnet.

David fühlte dies; wohin er blickte, begegnete sein Auge

den reichen Gnadenbeweisen, mit welchen Gott seinen Pfad

bestreut hatte. „Und es geschah, als der König in seinem

31

Hause wohnte, und Jehova ihm ringsumher Ruhe geschafft

hatte von allen seinen Feinden, da sprach der König zu

Nathan, dem Propheten: Siehe doch, ich wohne in einem

Hause von Cedern, und die Lade Gottes wohnt unter

Teppichen." (V. 1. 2.)

Beachten wir den Ausdruck: David „wohnte in

seinem Hause". Er war in Ruhe gebracht, alle seine

Feinde waren besiegt, und er wohnte friedlich in seinem

Hause. War es ein Wunder, wenn er es jetzt für an der

Zeit hielt, etwas für Gott zu thun? Nein; und doch

waren seine Gedanken über den Bau eines Hauses für

die Lade Gottes ganz und gar verkehrt. Es war allerdings

wahr, daß die Bundeslade noch unter Teppichen

wohnte. Aber weshalb war es so? Weil die Zeit für

sie noch nicht gekommen war, eine Ruhestätte zu finden.

Gott war von jeher in vollstem Mitgefühl mit Seinem

geliebten Volke umhergewandelt. Befanden sie sich in

dem Feuerofen ägyptischer Sklaverei, so erschien Er in

einem brennenden Dornbüsche: vollführten sie die lange,

ermüdende Reise durch die öde, heiße Wüste, so zog Sein

Wagen allezeit in ihrer Gesellschaft einher, nnd Er brachte

Seine Herrlichkeit gleichsam in Berührung mit dem Wüstensande.

Standen sie unter den drohenden Mauern Jerichos,

so erschien Er als ein Kriegsmann, mit dem gezückten

Schwerte in Seiner Hand, um als ihr Heeroberster vor

ihnen herzuziehen. So waren Gott und Israel zu allen

Zeiten zusammen: waren sie thätig, so war Er es auch,

und so lange s i e nicht ruhen konnten, wollte Er auch nicht

ruhen. Aber David begehrte ein Haus zu bauen und

einen Ruheplatz für Gott zu finden, ehe noch das Werk

der Besiegung der Feinde nnd der Ausrottung des Bösen

32

ganz vollendet war. Er wünschte sich von dem Platze und

Dienste eines Kriegsmannes zurückzuziehen und in den

Dienst eines Mannes der Ruhe einzutreten. Aber das

war unmöglich; es war den Gedanken und Ratschlüssen

des Gottes Israels zuwider.

„Und es geschah in selbiger Nacht, da geschah

das Wort Jehovas zu Nathan und sprach: Gehe hin und

sprich zu meinem Knechte, zu David: So spricht Jehova:

Solltest du mir ein Haus bauen zu meiner Wohnung?

denn ich habe nicht in einem Hause gewohnt von dem

Tage an, da ich die Kinder Israel aus Ägypten herauf­

geführt habe bis auf diesen Tag; sondern ich wandelte

umher in einem Zelte und in einer Wohnung." (V. 5. 6.)

Der Herr wollte nicht erlauben, daß die Sonne aufging,

ehe Er den Fehler Seines Knechtes korrigiert hatte; noch

in derselben Nacht erging Sein Wort an den Propheten,

und die Art Seines Korrigierens ist sehr charakteristisch.

Er stellt Seine früheren Handlungen, Israel und David

gegenüber, Seinem Knechte vor Augen und erinnert ihn

daran, daß Er niemals ein Haus oder eine Ruhestätte

für sich begehrt habe, sondern stets mit Seinem Volke

umhergewandelt sei auf allen ihren Zügen und in allen

ihren Bedrängnissen. „Wo immer ich wandelte

unter allen Kindern Israel, habe ich zu einem der Stämme

Israels, dem ich gebot, mein Volk Israel zu weiden, ein

Wort geredet und gesagt: Warum habt ihr mir nicht ein

Haus von Cedern gebaut?" (V. 7.)

Welch eine liebliche, rührende Gnade giebt sich in

diesen Worten kund! Der hochgelobtc Gott stieg hernieder,

um mit Seinem pilgernden Volke durch „das Geheul der

Wildnis" zu ziehen. Er setzte Seinen Fuß auf den Sand

33

der Wüste, weil Israel dort war, und Er ließ Seine

Herrlichkeit unter einer Decke von Dachsfellen wohnen,

weil Seine Erlösten sich noch im Kampfe hienieden befanden.

Jehova begehrte nicht ein Haus von Cedern; deshalb

war Er nicht herabgekommen; deshalb hatte Er Sein

Volk in der Stunde ihrer Drangsal nicht besucht. Er

war herabgekommen, zu geben, nicht zu nehmen;

darzureichen, nicht zu fordern; zu dienen, nicht sich bedienen

zu lassen. Allerdings mußte Gott Sein Volk,

nachdem es sich sam Berge Horeb unter einen Bund der

Werke gestellt hatte, prüfen durch einen Dienst, welcher

durch die Worte „thun" und „geben" gekennzeichnet war;

aber wenn sie in der Kraft des ursprünglichen Bundes

Gottes mit Abraham geblieben wären, so würden sie niemals

solche Worte in Verbindung mit dem erschreckenden

Donner des Berges Sinai vernommen haben. Wenn Gott

sie aus der Hand des Pharao und aus dem Hause der

Knechtschaft erlöste; wenn Er sie auf Adlers Flügeln trug

und sie zu sich brachte; wenn Er für sie einen Weg durch

das Meer bahnte und die Heerscharen Ägyptens in den

Fluten umkommen ließ; wenn Er am Tage in einer

Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule vor

Israel Herzog, um sie durch die pfadlose Wüste zu leiten —

wenn Er alle diese Dinge und viele, viele andere für sie

that, so geschah es sicherlich nicht auf Grund dessen, was

sie thun oder geben konnten, sondern einfach auf Grund

Seiner ewigen Liebe und Seines Gnadenbundes, den Er

mit Abraham gemacht hatte. Und was haben sie alledem

gegenüber gethan? Sie haben Seine Gnade verworfen,

Sein Gesetz mit Füßen getreten, Seine Warnungen verachtet,

Sein Erbarmen von sich gewiesen, Seine Propheten

34

gesteinigt, Seinen Sohn gekreuzigt und Seinem Geiste

widerstanden. Das war ihr Thun von Anfang bis zu

Ende: und die bittren Früchte dieses Thuns ernten sie

heute und werden sie so lange ernten, bis sie dahin

kommen, sich demütig und dankbar dem Bunde der Gnade

zu unterwerfen.

Indem Gott Seinem Knechte diese Dinge ins Gedächtnis

rief, belehrte Er ihn über die Verkehrtheit seines

Wunsches, Ihm ein Haus zu bauen. „Solltest du mir

ein Haus bauen zu meiner Wohnung? . . . Und nun

sollst du also zu meinem Knechte David sagen: So spricht

Jehova der Heerscharen: Ich habe dich von der Trift

genommen, hinter dem Kleinvieh weg, daß du Fürst sein

solltest über mein Volk, über Israel; und ich bin mit dir

gewesen überall, wohin dn gegangen bist, und habe alle

deine Feinde vor dir ausgerottet, und habe dir einen

großen Namen gemacht, gleich dem Namen der Großen,

die auf Erden sind. Und ich werde einen Ort setzen für

mein Volk, für Israel, und werde es pflanzen, daß es am

feiner Stätte wohne und nicht mehr beunruhigt werde;

und die Söhne der Ungerechtigkeit sollen es nicht mehr

bedrücken, wie früher und seit dem Tage, da ich Richter

bestellt habe über Israel. Und ich habe dir Ruhe geschafft

vor allen deinen Feinden; und Jehova thut dir kund, daß

Jehova dir ein Haus machen wird." (V. 8—11.) Die

Geschichte Davids sollte, gleich derjenigen seines Volkes,

von Anfang bis zu Ende eine Geschichte der Gnade sein.

Er wird im Geiste von der Schafhürde zum Throne, und

vom Throne in die endlosen Zeitalter der Zukunft geführt

und muß erkennen, daß der ganze Verlauf seiner Geschichte

von den Handlungen einer unumschränkten Gnade gekenn

35

zeichnet ist. Gnade hatte ihn von der Trist des Kleinviehs

genommen, Gnade hatte ihn auf den Thron gesetzt, Gnade

hatte seine Feinde ihm unterworfen, Gnade sollte ihn weiter

geleiten und tragen, und Gnade sollte seinen Thron und

sein Haus befestigen aus ewig. Alles war Gnade. Es

war ein richtiges Gefühl, wenn David erkannte, daß der

Herr viel an ihm gethan hatte; ein Cedern-Palast war

etwas Großes für den Hirten von Bethlehem. Aber was

war das alles im Vergleich mit der Zukunft ? Was war alles,

was Gott in der Vergangenheit gethan hatte, verglichen

mit dem, was Er noch thun wollte? „Wenn deine Tage

voll sein werden, und du bei deinen Vätern liegen wirst,

so werde ich deinen Samen nach dir erwecken, der aus

deinem Leibe kommen soll, und werde sein Königtum befestigen.

Der wird meinem Namen ein Haus bauen; und

ich werde den Thron seines Königtums befestigen auf ewig."

(V. 12. 13.) So sollte nicht nur die kurze Spanne Zeit,

welche David regieren würde, den Stempel der göttlichen

Gnade tragen, nein, „es wurde von seinem Hause geredet

in die Ferne hin", ja bis in Ewigkeit.

Mein Leser! Auf wen, denkst du, werden unsre

Gedanken in diesen herrlichen Verheißungen gerichtet?

Müssen wir denken, daß sie während der Regierung Salomos

voll und ganz erfüllt worden seien? Sicherlich nicht. So

herrlich die Regierung dieses Fürsten auch gewesen sein

mag, so entsprach sie doch keineswegs dem wunderbaren

Gemälde, welches hier vor dem Geistesauge Davids entrollt

wird. Sie glich in einem Sinne nur einem vorübergehenden

Lichtblick, einem flüchtigen Moment, während

dessen ein glänzender Sonnenstrahl den Horizont Israels

erleuchtete; denn kaum haben wir den Höhepunkt, zu

36

welchem Salomo geführt wurde, erreicht, so tönen schon

die erschütternden Worte in unser Ohr: „Aber Salomo

liebte viele fremde Weiber re.". Kaum hat der

Becher auserlesener Wonne den Rand der Lippen erreicht,

so wird er schon wieder zu Boden geschmettert, und das

enttäuschte Herz ruft aus: „Eitelkeit der Eitelkeiten! alles

ist Eitelkeit. — Alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach

Wind."

Das Buch des Predigers sagt uns, wie weit die

Regierung Salomos hinter einer vollen Verwirklichung der

in unserm Kapitel gegebenen Verheißungen zurückblieb.

In dem ganzen Buche begegnen wir den sehnsüchtigen

Klagen eines Herzens, das eine schmerzliche Leere fühlt

und nun vergeblich in dem weiten Bereich der Schöpfung

umherschweift, um einen befriedigenden Gegenstand zu

finden. Wir müssen deshalb über die Regierung Salomos

hinausblicken zu einem Größeren hin; zu Ihm hin, von

welchem der Geist durch Zacharias spricht: „Gepriesen sei

der Herr, der Gott Israels, daß Er besucht und Erlösung

geschafft hat Seinem Volke, und uns ein Horn des Heils

aufgerichtet hat in dem Hause Davids, Seines Knechtes,

(gleichwie Er geredet hat durch den Mund Seiner heiligen

Propheten, die von alters her waren,) Rettung von unsern

Feinden und von der Hand aller, die uns hassen, und

Barmherzigkeit zu vollbringen an unsern Vätern und Seines

heiligen Bundes zu gedenken, des Eides, den Er Abraham,

unserm Vater, geschworen hat." Und weiter, in der Anrede

des Engels an Maria: „Siehe, du wirst im Leibe

empfangen und einen Sohn gebären, und du sollst Seinen

Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und Sohn

des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird

37

Ihm den Thron Seines Vaters David geben; und Er

wird über das Haus Jakobs herrschen in die Zeitalter,

und Seines Reiches wird kein Ende sein." Hier kann

das Herz ohne Furcht und Zögern ruhen. Wir fühlen,

daß wir den Felsen der Zeitalter unter unsern Füßen

haben, und daß wir nicht, wie der Prediger, gezwungen

sind, den Mangel eines Gegenstandes zu beklagen, der

unsre Herzen auszufüllen und unsre Wünsche zu befriedigen

vermöchte. Nein, wir müssen vielmehr, gleich der Braut

im Hohenliede, unsre Unfähigkeit bekennen, den Gegenstand,

welchen Gott uns gegeben hat, voll und ganz zu genießen

— Ihn, „den Ausgezeichneten vor Zehntausenden, an

welchem alles lieblich ist".

„Seines Reiches wird kein Ende sein." Die Grundlagen

Seines Thrones liegen in den Tiefen der Ewigkeit;

Sein Szepter und Seine Krone tragen den Stempel der

Unvergänglichkeit. Kein Jerobeam wird dann zehn Teile

des Königreiches an sich reißen; nein, es wird ein unteilbares

Ganzes sein, unter der friedlichen Herrschaft Dessen,

der „sanftmütig und von Herzen demütig" ist. Das sind

die Verheißungen Gottes für das Haus Davids. Wohl

mochte der erstaunte Empfänger solcher Gnaden im Blick

auf alles das, was Gott bereits an ihm gethan hatte,

ausrufen: „Und dies ist noch ein Geringes gewesen in

deinen Augen, Herr, Jehova!" Was war die Vergangenheit

im Vergleich mit der Zukunft! Die Gnade leuchtete

mit lieblichem Schein aus der Vergangenheit, aber in der

Zukunft strahlte die Herrlichkeit in Hellem Glanze.

„Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben." Die Gnade

legt das Fundament, die Herrlichkeit schmückt so zu sagen

den Oberbau aus. Das ist in ganz besonderer Weise wahr

38

von der Kirche, wie wir dies aus dem Briefe an die Epheser

ersehen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unsers Herrn

Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen

Segnung in den himmlischen Örtern in Christo, wie Er

uns auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt

. . . zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin

Er uns begnadigt hat in dem Geliebten . . . damit wir

zum Preise Seiner Herrlichkeit seien." Und weiter: „Gott

aber, der reich ist an Barmherzigkeit ... hat uns mit

dem Christus lebendig gemacht, — durch Gnade seid ihr

errettet, — und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen

in den himmlischen Ortern in Christo Jesu, auf daß Er

erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwenglichen

Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in Christo Jesu."

In diesen Stellen treten Gnade und Herrlichkeit in

höchst, gesegneter Weise vor unsre Blicke. Die Gnade,

fußend auf unveränderliche Grundsätze, sichert die volle

Vergebung unsrer Sünden durch das kostbare Blut Christi,

sowie die völlige Annahme in Seiner geliebten Person,

während die Herrlichkeit in der Ferne die kommenden

Zeitalter mit ihren unvergänglichen Strahlen vergoldet.

So finden Glaube und Hoffnung Nahrung in dem kostbaren

Worte Gottes. Der Glaube ruht in der Vergangenheit,

die Hoffnung nimmt die Zukunft für sich voraus.

Der Glaube stützt sich auf das bereits vollendete

Werk Gottes, die Hoffnung blickt mit sehnlichem Verlangen

vorwärts auf die ihrer Vollendung noch harrenden Wege

und Handlungen Gottes. So ist der Gläubige für alles

und jedes auf Gott angewiesen. Hinsichtlich der Vergangenheit

stützt er sich auf das Kreuz; in der Gegenwart

wird er aufrecht erhalten und getröstet durch das Priestertum

39

Christi und die göttlichen Verheißungen; bezüglich der

Zukunft rühmt er sich in der Hoffnung der Herrlichkeit

Gottes. (Vergl. Röm. 5, 1. 2.)

Doch, so mögen wir fragen, was war die Wirkung

von diesem ganzen Ausbruch von Gnade und Herrlichkeit

auf den Geist Davids? Eins ist gewiß: sein Wunsch,

das Schwert mit der Kelle zu vertauschen, wurde in

gründlicher Weise korrigiert. Zugleich erkannte er sein

eignes Nichts und die Größe Gottes in all Seinem Thun.

„Und der König David ging hinein und setzte sich

nieder vor Jehova und sprach: Wer bin ich, Herr,

Jehova?" Diese Worte sind in doppelter Beziehung bemerkenswert.

Zunächst erweckt der Ausdruck: „David

setzte sich nieder vor Jehova", den Gedanken an ein völliges

Ruhen in Gott, das von irgendwelchen Zweifeln und Bedenken

nichts kennt. Gott selbst füllte den ganzen Gesichtskreis

der Seele Davids aus; wie hätte er deshalb

zweifeln können? Die Erinnerung an die Vergangenheit

ließ keinen Zweifel irgendwelcher Art aufkommen, als ob

Gott nicht willig oder imstande wäre, Seine Verheißungen

wahr zu machen. — Wie gesegnet ist es, so in der

Gegenwart Gottes zu sitzen, in dem vollen, wolkenlosen

Bewußtsein Seiner vergebenden, errettenden und bewahrenden

Liebe, und bei Seinen wunderbaren Gnadenwegen zu

verweilen! In der That, es ist schwer zu verstehen,

warum es so ist, warum Gott Seine Liebe solchen Geschöpfen

zugewandt hat, wie wir sind. Aber, Sein Name

sei gepriesen! es ist so, und unser Teil ist es, zu glauben

und uns zu freuen.

Der zweite bemerkenswerte Punkt in unsrer Stelle

ist die Frage Davids: „Wer bin ich?" David fühlte,

40

daß er nichts und daß der Herr alles war. Er redet

nicht mehr von seinem Thun, von seinem Cedernhause

und von seinem Plane, für die Bundeslade ein Haus zu

bauen. Nein, er sinnt über das Thun Gottes nach, und

seine eignen Thaten schrumpfen in seinen Augen zu einem

Nichts zusammen. Dies mag manchem als eine selbstverständliche

Sache erscheinen; aber alle, die ein wenig

ihr stolzes, eigengerechtes Herz kennen gelernt haben, wissen,

daß es eine der schwersten Lektionen ist, welche der

Gläubige zu lernen hat. Abraham, David, Hiob, Paulus

und Petrus — alle erfuhren, wie schwer es ist, sich selbst

aufzugeben und Gott zu erheben; denn die ganze Natur

des Menschen ruht auf der entgegengesetzten Grundlage,

auf der Erhebung des eignen Ichs und der Beiseitesetzung

Gottes.

Der Mensch sucht immer etwas zu sein, und das

kann nicht geschehen, ohne die Ansprüche Gottes beiseite zu

setzen. Die Gnade kehrt jedoch die Sache um und macht

aus dem Menschen nichts, aus Gott alles. „Ist dieses

die Weise des Menschen, Herr, Jehova?" (B. 19.) Nein,

in der That, es ist nicht die Weise des Menschen, aber es

ist die Weise Gottes. Während der Mensch sich selbst

erhöht und sich so gern der Werke seiner Hände erfreut,

lenkt Gott seinen Blick von seiner eignen Person ab und

lehrt ihn, seine Selbstgerechtigkeit als ein unflätiges Kleid

zu betrachten, sich selbst zu verabscheuen, in Sack und

Asche Buße zu thun und sich an Christum zu klammern,

wie ein armer Schiffbrüchiger sich an den Felsen klammert,

auf den die Wogen ihn geworfen haben. So war es mit

David, als er vor Jehova saß; er verlor sich selbst aus

dem Auge, und seine Seele beugte sich nieder in heiliger

41

Anbetung vor Gott und Seinen Wegen. Das ist wahrer

Gottesdienst und ist gerade das Gegenteil von menschlicher

Religiosität. Erstere ist die Anerkennung Gottes in der

Kraft des Glaubens, letztere ist die Aufrichtung des Menschen

und seines Thuns in dem Geiste der Gesetzlichkeit. Ohne

Zweifel würden viele David für einen frommeren, eifrigeren

Mann gehalten haben, als er daran dachte, Jehova ein

Haus zu bauen, als zur Zeit, da er vor dem Angesicht

Jehovas saß. In dem einen Falle versuchte er etwas zu

thun, in dem andern that er anscheinend nichts; gleich

den beiden Schwestern in Bethanien, deren eine nach dem

Urteil der Natur alles zu thun schien, während die andere

müßig dasaß. Aber wie ganz anders sind die Gedanken

Gottes! Als David vor Jehova saß, befand er sich an

seinem richtigen Platze; als er ein Haus zu bauen suchte,

schlug er einen verkehrten Weg ein.

Indessen müssen wir nicht denken, daß die Gnade

jemals der Unthätigkeit oder Trägheit Vorschub leiste.

Weit davon entfernt! Sie will uns nur von eigner und

unverständiger Thätigkeit abhalten, aber niemals wird

sie uns hindern, wirklich für Gott thätig zu sein. Sie

hebt nicht den Dienst auf, sondern lenkt ihn nur in die

richtigen Bahnen. Sobald daher Davids Seele wiederhergestellt

war, sobald er gelernt hatte, daß es noch nicht an

der Zeit und daß er nicht der Mann war, das Schwert

niederzulegen und die Kelle zur Hand zu nehmen, wie

bereitwillig fügte er sich da! Wie bereitwillig zog er

wieder sein Schwert aus der Scheide und betrat noch

einmal als Kriegsmann das Schlachtfeld ! Wie bereit war

er, zurückzutreten und einem Andern den Bau des Tempels

zu überlassen!

42

Das ganze 8. Kapitel berichtet von weiteren Kämpfen

und Siegen Davids: er bekriegte alle die äußeren Feinde

Israels, erwarb sich dadurch einen noch größeren Namen

als Kriegsheld und bewies, wie gut er die Unterweisung

des Herrn verstanden hatte. So wird es immer sein bei

allen, welche die Bedeutung von Gnade und Herrlichkeit

verstanden haben. Es macht wenig aus, worin der Dienst

besteht, ob im Besiegen der Feinde oder im Bauen des

Tempels; der wahre, treue Knecht ist bereit sür alles,

was seine Hand zu thun findet und was der Herr ihm

zu thun giebt. Zugleich säuberte David durch sein Thun

den Boden für Salomo, so daß dieser die Grundlage des

Hauses legen konnte, welches sein Herz so innig zu bauen

begehrt hatte. Wahrlich, das hieß sich selbst verleugnen.

David blieb seinem Charakter als Diener treu bis zum

letzten Augenblick. Auf Bethlehems Fluren, im Terebinthen-

thal, im Hause Sauls, auf dem Throne Israels — überall

erblicken wir in ihm den treuen, hingehenden Diener.

Doch wir müssen uns noch zu andern Scenen

wenden, um die Verbindung Davids mit dem Bau des

Hauses Gottes noch genauer kennen zu lernen. Er mußte

in einer höchst bemerkenswerten Weise lernen, wo der

Grund des Hauses Jehovas gelegt werden mußte. Der

Leser wolle das 21. Kapitel des 1. Buches der Chronika

aufschlagen und es mit Aufmerksamkeit lesen. Es entspricht

dem 24. Kapitel in unserm Buche und berichtet den tiefen

Fall, den David that, indem er das waffenfähige Volk

zählen ließ. Er war stolz auf seine Heerscharen geworden,

oder richtiger auf die Heerscharen Gottes, welche er gern

als die seinigen betrachtet hätte. Er begehrte, eine

Musterung über seine reichen Hilfsquellen zu halten, und

43

ach! er mußte erfahren, wie nichtig und leer sie waren.

Das Schwert des Würgengels mähte mit einemmale siebenzigtausend

von dem Volke, von Dan bis Beerseba, nieder und

brachte David so mit furchtbarem Ernst seine Sünde zum Bewußtsein.

Dies hatte die Wirkung, daß David nicht nur

vor Gott zusammenbrach, sondern daß auch jene liebliche, sich

selbst vergessende Gesinnung, die durch die Gnade in ihm

war, ans Licht trat. Hören wir nur seine rührenden

Worte, mit denen er seine eigne Brust dem Schwerte des

Gerichts darbot: „Und David sprach zu Gott: Bin ich

es nicht, der gesagt hat, das Volk zu Zählen? und i ch bin

es, der gesündigt und sehr übel gethan hat; aber diese

Schafe, was haben sie gethan? Jehova, mein Gott, es

sei doch deine Hand wider mich und wider das Haus

meines Vaters, aber nicht wider dein Volk zur Plage!"

Das war wirklich Gnade. David lernte zu sagen: „dein

Volk", und war bereit, für dasselbe in den Riß zu treten.

Gott hörte auf das Flehen Seines armen Knechtes

und sah seine aufrichtige Demütigung, und dem Zorne ward

gewehrt. Bei der Tenne Ornans, des Jebusiters, steckte

der Engel des Gerichts sein Schwert in die Scheide.

„Und der Engel Jehovas sprach zu Gad, daß er zu David

sage, David solle hiuaufgehen, um Jehova einen Altar

zu errichten auf der Tenne Ornans, des Jebusiters." Hier

also war die Stätte, wo die Gnade triumphierte und wo

ihre Stimme den Donner des Gerichts übertönte. Hier

floß das Blut des Opfertieres, und hier — beachten wir

es wohl, geliebter Leser! — wurde der Grund des Hauses

Jehovas gelegt. „Zu jener Zeit, als David sah, daß

Jehova ihm auf der Tenne Ornans, des Jebusiters, geantwortet

hatte, opferte er daselbst, lind die Wohnung

44

Jehovas, die Mose in der Wüste gemacht hatte, und der

Brandopferaltar waren zu jener Zeit auf der Höhe zu

Gibeon. Aber David vermochte nicht vor denselben hinzugehen,

um Gott zu suchen; denn er war erschrocken vor

dem Schwerte des Engels Jehovas. Und David sprach:

Dieses hier soll das Haus Jehovas, Gottes, sein, und dies

der Altar zum Brandopfer für Israel. Und David sprach,

daß man die Fremdlinge versammeln sollte, die im Lande

Israel waren; und er stellte sie an als Steinhauer, um

Quadersteine für den Bau des Hauses Gottes zu hauen."

(Vergl. 1. Chron. 21 u. 22.)

Auf keine andere Weise hätte David so feierlich und

eindringlich über den Platz, wo das Haus des Herrn

erbaut werden sollte, belehrt werden können. Hätte der

Herr Seinem Knechte einfach den Berg Morija angewiesen

nnd es ihm überlassen, einen Bauplatz für den Tempel

daraus zu bestimmen, so würde er niemals eine Vorstellung

von dessen Bedeutsamkeit erhalten haben. Ja, der Herr

weiß Sein Volk zu leiten und es über die tiefen Geheimnisse

Seiner Gedanken zn belehren. Er unterwies Seinen

Knecht David zunächst durch Gericht und dann durch Gnade,

und brachte ihn auf diesem Wege zu der Stätte, wo Er

Seinen Tempel erbaut haben wollte. Durch seine eigne

Bedrängnis lernte David etwas über den Tempel Gottes,

was Er sonst nicht hätte lernen können, und dann machte

er sich daran, Vorbereitungen für den Bau desselben zu

treffen als einer, der durch seinen eignen tiefen Fall

Gottes Charakter kennen gelernt hatte.

„Dieses hier soll das Haus Jehovas, Gottes, sein."

Es war der Platz, wo die Barmherzigkeit sich wider das

Gericht gerühmt hatte, wo das Blut des Schlachtopfers

45

geflossen und Davids Sünde ausgelöscht worden war.

Wie bedeutungsvoll ist das! Es war in der That ein

andrer Ausgangspunkt als in 2. Sam. 7. Statt zu sagen:

„Siehe, ich wohne in einem Hause von Cedern", konnte

David jetzt sagen: „Siehe, ich bin ein armer Sünder,

dem Vergebung zu teil geworden ist". Wie ganz anders

ist es, auf Grund dessen zu handeln, was Gott ist, als

auf Grund dessen, was wir sind! Das Haus Gottes

muß stets der Zeuge Seiner Gnade und Barmherzigkeit

sein, und dies ist wahr sowohl im Blick auf den Tempel

vor alters, als auch aus die Kirche Gottes heute. Beide

verkündigen laut das Triumphieren der Gnade über das

Gericht. Am Kreuze fiel der vernichtende Schlag der

Gerechtigkeit auf ein fleckenloses Opfer, und dann kam

der Heilige Geist hernieder, um Menschen um die Person

Dessen zu sammeln, der aus den Toten auferweckt worden

war. David begann die Quadersteine und die für die

Zusammenfügung des Hauses notwendigen Materialien zu

sammeln, sobald der Bauplatz für den Tempel bestimmt

war. Die Kirche ist der Tempel des lebendigen Gottes,

und Christus ist der kostbare Grund- und Eckstein desselben;

die Materialien für diesen Bau wurden vorgesehen und die

Stätte zur Grundlegung desselben gekauft in der Zeit der

Drangsale Christi; denn David stellt Christum in Seinen

Leiden dar, wie Salomo Ihn in Seiner Herrlichkeit vorbildet.

David war der Mann des Krieges, Salomo der

Mann der Ruhe. David mußte sich mit den Feinden

herumschlagen; Salomo konnte sagen: „Jehova, mein Gott,

hat mir Ruhe geschafft ringsum; da ist kein Widersacher

und kein schlimmes Begegnis". (1. Kön. 5, 4.) So wird

denn auch der Tempel, für dessen Bau Christus durch

46

Sein Leiden und Sterben Vorsorge getroffen hat, am Tage

Seiner Herrlichkeit in vollkommner Schönheit dastehen.

Obwohl das Urteil Davids bezüglich des Zeitpunktes

für den Tempelbau berichtigt werden mußte, so

bewies er doch am Ende, daß seine Liebe zu dem Hause

des Herrn deshalb nicht weniger tief und brennend war.

Er sagt am Schluffe seines Lebens: „Mit all meiner

Kraft habe ich bereitet für das Haus meines Gottes: das

Gold zu dem goldenen, und das Silber zu dem silbernen,

und das Erz zu dem ehernen, das Eisen zu dem eisernen,

und das Holz zu dem hölzernen Geräte; Onyxsteine und

Steine zum Einsetzen, Steine zur Verzierung und buntfarbig,

und allerlei wertvolle Steine und weiße Marmorsteine

in Menge." (1. Chrom 29, 2.) So leitet die

Gnade, wie bereits früher gesagt, den Dienst in seine

richtigen Bahnen und verleiht zugleich eine Thatkraft, welche

ein unzeitiger Dienst niemals aufweisen wird. David

hatte vor dem Angesicht des Herrn und auf der Tenne

Ornans, des Jebusiters, Lektionen gelernt, welche ihn

in wunderbarer Weise befähigten, die nötigen Vorbereitungen

für den Tempelbau zu treffen. Er konnte jetzt sagen:

„Mit all meiner Kraft habe ich bereitet". Und

weiter: „Und überdies, weil ich Wohlgefallen habe

an dem Hause meines Gottes, habe ich, was ich als eigenes

Gut an Gold und Silber besitze, für das Haus meines

Gottes gegeben, zu alledem hinzu, was ich für das

Haus des Heiligtums bereitet habe." Seine ganze Kraft

und das Wohlgefallen seines Herzens waren einem Werke

zugewandt, welches durch einen Andern zur Ausführung

gebracht werden sollte.

Die Gnade befähigt einen Menschen, sich selbst zu

47

verbergen und Gott allein zu seinem Gegenstände zu machen.

Wenn Davids Auge auf den reichen Vorräten ruhte, die

sein Gott ergebenes Herz gesammelt hatte, so konnte er

sagen: „Aus deiner Hand haben wir dir gegeben".

— „Gepriesen seiest du, Jehova, Gott Israels, unsers

Vaters, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Dein, Jehova, ist

die Größe und die Stärke und der Ruhm und der Glanz

und die Pracht; denn alles im Himmel und auf Erden

ist dein. Dein, Jehova, ist das Königreich, und du bist

erhaben über alles als Haupt; und Reichtum und Ehre

kommen von dir, und du bist Herrscher über alles; und

in deiner Hand sind Macht und Stärke, und in deiner

Hand ist es, alles groß und stark zu machen. Und nun,

unser Gott, wir preisen dich, und wir rühmen deinen

herrlichen Namen. Denn wer bin ich, und was ist

mein Volk, daß wir vermöchten, auf solche Weise freigebig

zu sein? Denn von dir ist alles, und aus deiner

Hand haben wir dir gegeben. Denn wir sind Fremdlinge

vor dir und Beisassen, wie alle unsre Väter; wie ein

Schatten sind unsre Tage auf Erden, und keine Hoffnung

ist da, hienieden zu bleiben. Jehova, unser Gott, alle

diese Menge, die wir bereitet haben, um dir ein Haus

zu bauen für deinen heiligen Namen, von deiner Hand

ist sie, und das alles ist dein." (1. Chron. 29, 10—16.)

„Wer bin ich?" David war nichts, und Gott war

alles in allem. Wenn David jemals den Gedanken gehegt

hatte, Gott etwas darbringen zu können, so hegte er ihn

jetzt nicht mehr. Alles gehörte dem Herrn, und er hatte

in Seiner Gnade ihnen erlaubt, es Ihm zu opfern. Der

Mensch kann niemals Gott zu seinem Schuldner machen,

obwohl er es stets zu thun sucht. Der 50, Psalm, das

48

1. Kapitel des Propheten Jesaja, das 17. Kapitel der

Apostelgeschichte, alle diese Stellen und viele andere beweisen

die unaufhörlichen Anstrengungen des Menschen, ob

Jude oder Heide, Gott etwas zu geben, als wenn Er

etwas bedürfe; aber es ist ein eitles Bemühen. Gottes

Antwort aus die Anstrengungen des Menschen, Ihn zu

seinem Schuldner zu machen, lautet: „Wenn mich hungerte,

ich würde es dir nicht sagen". Gott muß der Geber, der

Mensch der Empfänger sein. „Wer", fragt der Apostel,

„hat Ihm zuerst gegeben?" Der Herr nimmt in Seiner

Gnade gern von denen, die gelernt haben zu sagen: „Aus

deiner Hand haben wir dir gegeben": aber die Ewigkeit

wird zeigen, daß Gott der erhabene erste Geber ist.

Welch eine Gnade, daß es so sein wird! Wie gesegnet

ist es für den armen, schuldigen, bußfertigen Sünder, in

Gott den bereitwilligen Geber von allem kennen zu lernen,

was ihm not ist: den Geber des Lebens, der Vergebung,

des Friedens, der Heiligkeit und der ewigen Herrlichkeit!

Und wie beglückend war es für David, als er sich dem

Ende seiner bewegten Laufbahn näherte, sich und feine

Opfergaben verbergen zu können hinter der reichen Fülle

der göttlichen Gnade! Als er den Plan zu dem Tempel

seinem Sohne Salomo einhändigte, da konnte er es thun

in dem lieblichen Gedanken, daß dieses Haus allezeit als

das Denkmal der triumphierenden Gnade Gottes dastehen

würde. Noch wenige Jahre, und der Tempel sollte sich

in all seiner Pracht und Schönheit auf seinen Grundlagen

erheben; die Herrlichkeit sollte ihn mit ihrem strahlenden

Glanze von einem Ende bis zum andern erfüllen; doch

nie sollte es vergessen werden, daß er auf der geweihten

Stätte stand, wo dem verderbenden Fortschreiten des

49

Gerichts durch die Barmherzigkeit Gottes Einhalt gethan

worden war, indem sie handelte auf Grund des Bekenntnisses:

„Ich habe gesündigt", und in Verbindung mit dem

Blute eines fleckenlosen Opfers.

Und wenn wir jetzt im Geiste von dem Tempel

Salomos zu jenem uns wenden, der am Ende der Tage

inmitten des geliebten Volkes Gottes sich erheben wird,

wie klar und deutlich tritt uns dann die Entfaltung derselben

himmlischen Grundsätze entgegen! Doch in noch

hellerem Glanze erstrahlt der Sieg der Barmherzigkeit

über jedes Hindernis und jede Schranke, wenn wir unsern

Blick von dem irdischen zu dem himmlischen Tempel erheben.

Ja, dort sehen wir, wie Gnade und Wahrheit,

Gerechtigkeit und Friede in ewigen, herrlichen Einklang

gebracht sind. Aus all dem Glanze tausendjähriger Herrlichkeit

heraus werden Israel hienieden und die Kirche

droben auf das Kreuz zurückblickeu als die Stätte, wo die

Gerechtigkeit ihr Schwert in die Scheide steckte und die

Hand der göttlichen Gnade jenen Bau zu errichten begann,

welcher in alle Ewigkeit dienen wird zum Preise und

Ruhme Gottes, des hochgelobten Gebers von allem.

„Auf daß sie eins seien, gleichwie wir."

(Joh. 17, 11.)

Der Herr will, daß die Seinigen eins seien, gleichwie

Er mit dem Vater eins ist. Wie zwischen Ihm und dem

Vater — in Weg, Absicht und Ziel — in jeder Beziehung

eine vollkommne Übereinstimmung besteht, so sollte

es auch im Blick auf die Seinigen sein. Es ist unser

hohes und gesegnetes Vorrecht, mit Gott in Übereinstimmung

50

zu sein inmitten einer Welt der Sünde und des Elendes,

wo alles Seinen Liebesabsichten entgegen ist. Selbstverständlich

setzt dies eine entschiedene Absonderung von dem

Geiste dieser Welt voraus. Deshalb sagt auch der Herr

in Seinem Gebet für die Seinigen: „Heiliger Vater,

bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast,

auf daß sie eins seien, gleichwie wir". Wir können nicht

mit einem verweltlichten und verunreinigten Herzen Gemeinschaft

mit Gott Pflegen; das ist unmöglich. Aber

welch einen unersetzlichen Verlust bedeutet es für uns,

wenn wir uns durch unsre Untreue für diese Gemeinschaft

unfähig machen! Denn die Gemeinschaft mit Gott ist

eine Quelle der Kraft und Freude, des Lichtes und Trostes,

weil man alsdann Seinen Weg wandelt, Seine Absichten

kennt und Seine Ziele verfolgt.

Wie unsicher find die Tritte vieler Gläubigen, weil

ihr Umgang und ihre Gemeinschaft mit Gott so schwach

und vielfach unterbrochen ist. Sie gleichen einem schwankenden,

vom Winde hin und her bewegten Rohre (Matth.

11, 7), oder der unruhigen Meereswoge, die vom Winde

hin und her getrieben wird (Jak. 1, 6); was ihre Stellung

zur Wahrheit betrifft, so werden sie von jedem Winde der

Lehre hin und her geworfen und umhergetrieben. (Ephes.

4, 14.) Sie werden eine Beute ihrer eignen Lüste, Gedanken

und Gefühle, oder der „Philosophie und des eitlen

Betrugs" (Kol. 2, 8), ein Spielball der Menschen und

Umstände. Gegen alles dieses schützt uns nur eine wirkliche

Gemeinschaft mit Gott, die, verbunden mit der vor

uns liegenden Hoffnung, uns einen sichern und festen Anker

bietet, der auch iu das Innere des Vorhangs hineingeht.

(Hebr. 6, 18. 19.)

51

Moses begehrte den Weg Gottes in der Wüste zu

wissen, „daß ich", wie er sagt, „dich erkenne". (2. Mose

33, 13.) Und man kann in Wahrheit Gott nicht nach

Seinem wahren Wesen erkennen, es sei denn daß man

Seinen Weg, Seine Absichten und Seine Ziele kennt.

Wie tröstlich ist es, den Weg Gottes zu unterscheiden

inmitten all des Elendes, welches die Sünde in die Welt

gebracht hat; zu verstehen die Wahrheit der Worte: „Gott

— Sein Weg ist vollkommen" ! (Ps. 18, 30.) Wohl

sührt er oft durch unergründliche Tiefen, wie geschrieben

steht: „Im Meere ist dein Weg, und deine Made in

großen Wassern, — deine Fußstapfen sind nicht bekannt".

(Ps. 77, 19.) Aber sein Anfang und sein Ende läßt uns

die Absicht und das Ziel Gottes sehen, und Ihn selbst

als Den erkennen, der Licht und Liebe ist. So wenig

wie die Wüste den Absichten und Zielen Gottes bezüglich

Seines Volkes Israel entsprach, als Er dieses aus Ägypten

führte, — Er wollte es vielmehr in ein gutes und geräumiges

Land bringen, in ein Land, das von Milch und

Honig floß — ebenso wenig lag diese Welt der Sünde

und des Todes in dem Plane Gottes, als Er die Welten

schuf und den Grund der Erde legte. Nein, Sein Ziel

war eine Welt des ewigen Lebens, voll ungetrübten Glückes

und reinster Freude, vorgebildet in dem Garten Eden/

aber völlig dargestellt in den ewigen Zeitaltern. Und zu

diesem, den Absichten Seiner unendlichen Liebe entsprechenden

Ziele führt Sein Weg, und keine feindselige Macht, weder

Sünde noch Tod, vermögen Ihm auf diesem Wege Einhalt

zu gebieten.

Welch ein Glück, in der Kraft des Heiligen Geistes

und in der Gemeinschaft mit Gott, dem Vater und dem

52

Sohne, diesen Weg zu erkennen! Er bildet unser Herz

Gott gemäß, macht uns eins mit Seinen Gedanken und

Absichten, erhebt uns über die Gegenwart und über alle

Umstände dieses Lebens. Und gerade dieses war es, was

der Herr bezüglich des praktischen Zustandes der Seinigen

im Auge hatte, als Er sagte: „auf daß sie eins seien,

gleichwie wir". Indem die Gläubigen mit Gott denselben

Weg und dasselbe Ziel verfolgen, sind sie sowohl in

völliger Übereinstimmung mit Ihm, als auch mit einander.

Wie ein und derselbe Geist in ihnen allen wohnt, so sind

sie auch gleichförmig getrennt von dem, was diesem Wege

und Ziele nicht entspricht.

Wir sehen den Sohn in vollkommner Übereinstimmung

mit dem Vater diesen Weg verfolgen; und indem wir Ihn

betrachten, erhalten wir einerseits einen wahren Begriff

von der in Rede stehenden Einheit, und thun andrerseits

einen Blick in die unergründliche Liebe und Weisheit

Gottes. Von Anfang bis zu Ende des Weges tritt diese

Übereinstimmung und Gemeinschaft zwischen dem Vater

nnd dem Sohne ans Licht. „Jehova besaß mich im

Anfang Seines Weges", lesen wir in Spr. 8, 22—31,

„vor Seinen Werken von jeher . . . Als Er die Grundfesten

der Erde feststellte: da war ich Schoßkind bei Ihm,

und war Tag sür Tag Seine Wonne, vor Ihm mich

ergötzend allezeit, mich ergötzend auf dem bewohnten Teile

Seiner Erde; und meine Wonne war bei den Menschenkindern."

Wie zeigen uns diese Worte die innige Gemeinschaft,

welche zwischen dem Vater und dem Sohne

von Ewigkeit her bestand: die Wonne des Vaters am

Sohne, die Freude des Sohnes im Schoße des Vaters!

Zugleich sehen wir den Menschen in dieselbe Gemeinschaft

53

und die damit verbundene Freude und Wonne eingeführt,

prophetisch dargestellt als das Ziel des Weges Gottes.

Gott aber sah im voraus das Eindringen der Sünde

in die Schöpfung und faßte daher auch im voraus Seinen

Vorsatz in Christo, dem Sohne Seiner Liebe. Er fing

Seinen Weg an und Er führt ihn zu Ende mit Ihm und

durch Ihn; einen Weg, der wie schon bemerkt, in der

Art und Weise seiner Ausführung die unergründliche

Liebe und Weisheit Gottes ans Licht stellt und uns mit

Anbetung erfüllt. Gott konnte durch ein bloßes Machtwort

die Welten ins Dasein rufen; „denn Er sprach,

und es war; Er gebot, und es stand da". (Psalm

33, 9.) Aber wie ganz anders war es, wenn es sich um

die Erlösung des sündigen Menschen und die Befreiung

einer fluchbeladenen Schöpfung handelte! Diese konnte

nur ausgeführt werden auf dem dornenvollen Pfade der

Leiden und der Aufopferung des geliebten Sohnes. Es

war ein Pfad göttlicher Langmut und Geduld; ein Pfad

des Ausharrens und der Arbeit, des Kämpfens und des

Ringens. „Mein Vater", sagte der Herr, „wirkt bis jetzt,

und ich wirke". (Joh. 5, 17.) Und dies alles unter dem

hartnäckigen Widerstand seitens einer gottlosen Welt, angesichts

des bittern Hasses und der Feindschaft des natürlichen

Herzens und der Macht der Finsternis. Wahrlich,

mit Recht kann unser anbetungswürdiger Heiland bezüglich

jedes Einzelnen Seiner Erlösten sagen: „Du hast mir

zu schaffen gemacht mit deinen Sünden, du hast mich

ermüdet mit deinen Missethaten". (Jes. 43, 24.)

Nun, in allem diesem verfolgte der Herr Jesus, in

völligem Einklang mit dem Vater, den einen Weg, der

zur Erfüllung der Absichten Gottes und zur Herbeiführung

54

des vorgesetzten Zieles führte. Um deswillen vertauschte

Er die Herrlichkeit des Himmels mit dieser öden, fluchbeladenen

Erde; Er, der Reiche, wurde arm um unsertwillen,

auf daß wir durch Seine Armut reich würden.

(2. Kor. 8, 9.) Er gab Sein Leben in den Tod, ja in

den Tod am Kreuze. Er achtete der Schande nicht um

der vor Ihm liegenden Freude willen (Hebr. 12, 2), dieser

Freude, die Er fühlen wird, wenn Er sich auf dem bewohnten

Teile Seiner Erde ergötzen und Seine Wonne

bei den Menschenkindern finden wird: wenn Satan gebunden,

die Kreatur freigemacht (Röm. 8, 21), und das

Weltall Seiner Herrlichkeit voll sein wird. Dieses Ziel

stand vor den Augen Gottes im „Anfang Seines Weges",

und wird vollkommen erreicht sein, wenn Er auf der neuen

Erde wohnen wird bei den Menschenkindern. (Offenb. 21, 3.)

Mein lieber Leser! ist dieses auch unser Weg, unsre

Absicht und unser Ziel? Sind wir eins, du und ich,

wie der Vater und der Sohn eins sind in der Verfolgung

dieses einen Weges und Zieles? Oder denken wir mehr

an uns selbst, an unsre eigne Ehre, an unsre Interessen,

anstatt an die Freude des Herrn Jesu? Es ist unser

hohes und gesegnetes Vorecht, in unserm schwachen Maße

mitzuwirken an der Erfüllung der Absicht Gottes und der

Herbeiführung Seines Zieles. Fördern oder hindern wir

die Sache Gottes durch unser Verhalten? Wofür leben,

arbeiten und bemühen wir uns Tag für Tag? Für die

Dinge des Himmels oder für die vergänglichen Dinge dieser

Erde? Paulus konnte sagen: „Deswegen erdulde ich alles

um der Auserwählen willen, auf daß auch sie die Seligkeit

erlangen, die in Christo Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit."

(2. Tim. 2, 10.) Er hatte beständig das Ziel im Auge

55

(Phil. 3, 14), und so wandelte er in dem Geiste und

der Gesinnung seines Herrn, in inniger Gemeinschaft mit

Ihm auf dem Wege des Sichselbstvergessens und der

Selbstaufopferung. Aber er genoß auch die Freude seines

Herrn auf diesem Wege, und er war glücklich in seinen

Leiden. Mochte die Gegenwart auch noch so trübe für

ihn sein, er überschaute mit klarem Blick den Weg Gottes,

und er war der festen Überzeugung, daß derselbe zum

herrlichen Ziele führen würde.

Welch ein Vorrecht, uns in Übereinstimmung zu

wissen mit den Gedanken und Absichten Gottes in unserm

praktischen Wandel, und mit Ihm ein und dasselbe Ziel

zu verfolgen! Indem wir diesen Weg in der Kraft und

Energie des Heiligen Geistes wandeln, verwirklichen wir

an unserm Teil den Willen des Herrn: „auf daß sie eins

seien, gleichwie wir".

Ein Herz für Christum.

Mancher meint, er thue etwas besonders Verdienstliches,

wenn er ein Wort für Christum und Seine Sache

einlege oder einen Thaler in die Missionsbüchse werfe,

etwa so wie wenn ein hochgestellter Mann in dieser Welt

einem Schwachen seine Hilfe angedeihen läßt oder einen Armen

mit einer Gabe unterstützt. Welch eine Thorheit und

zugleich welch eine Vermessenheit! Der Herr Jesus verlangt

nicht nach Gönnern, Er will keine Almosen; Er

verlangt danach, daß du Gemeinschaft mit Ihm habest

auf Seinem Pfade der Verwerfung. Er kam aus der

himmlischen Herrlichkeit herab und gab alles für uns dahin,

was die Liebe nur geben konnte; und jetzt schämt Er

sich nicht, uns Seine Brüder zu nennen und Seinen hohen,

56

heiligen Namen mit uns zu verbinden. „Siehe, ich und

die Kinder, welche Gott mir gegeben hat." Welch

eine Entschiedenheit, welch eine Hingebung, welch ein

ganzes Herz für Ihn sollte das in uns Hervorrufen!

Ist es nicht ein Vorrecht, ein unaussprechlich hohes

Vorrecht, auf Seiner Seite stehen und Seine Schmach

tragen zu dürfen? Und wie groß ist der Segen, der aus

einem ungeteilten Anhängen an Ihn und einem treuen

Zeugnis für Ihn, koste es, was es wolle, hervorfließt!

Obadja sorgte seiner Zeit für die Zeugen Gottes, indem

er „von den Propheten Jehovas hundert Mann versteckte,

je fünfzig in eine Höhle, und sie mit Brot und

Wasser versorgte"; aber er blieb in Verbindung mit dem

gottlosen König Ahab und zog mit ihm aus, um in dem ausgedörrten,

unter Gottes Strafgericht liegenden Lande Gras

für die Rosse und Maultiere zu suchen! Elias dagegen

war der Zeuge Gottes in jenen Tagen, der vor Gottes

Angesicht stand, Seine Gedanken kannte, köstliche Erfahrungen

von Seiner Fürsorge machte und berufen wurde, die

Götzendiener auszurotten und ganz Israel zu der Anbetung

Jehovas zurückzuführen. (1. Kön. 17. 12.)

Der König Darius liebte Daniel so, daß er um

seinetwillen eine Nacht nicht schlafen konnte; aber Daniel

verbrachte jene Nacht in der Löwengrube, in Gemeinschaft

mit Gott und als ein Zeuge für Seine Wahrheit. (Dan. 6.)

Nikodemus wagte es, ein Wort für Christum zu

reden, aber er hatte nicht den Mut, sich mit Christo auf

Seinem einsamen Pfade eins zu machen. Paulus aber

konnte sagen: „Was mir Gewinn war, das habe ich um

Christi willen für Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte

auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis

Christi Jesu, meines Herrn, um derentwillen

ich alles eingebüßt habe und es für Dreck

achte, auf daß ich Christum gewinne und in Ihm erfunden

werde".

Welchem von diesen Männern gleichst du, geliebter Leser?

Die Verschwörung Absalows.

Noch einmal müssen wir David in das Thal der

Demütigung folgen, und zwar müssen wir diesmal tief

hinabsteigen, zn schweren Sünden und ihren bittern Folgen.

Es ist wunderbar, wie wechselvoll der Pfad dieses merkwürdigen

Mannes war. Kaum hat die Hand der göttlichen

Liebe seine Seele wiederhergestellt, seine Füße aus den

Felsen gestellt und seine Schritte befestigt, so stürzt er schon

wieder von seiner Höhe herab, tiefer als je, in einen Abgrund

des Verderbens. Kaum ist sein Irrtum bezüglich

des Hauses Gottes in solch gnädiger Weise von Gott

berichtigt, so sehen wir ihn in den häßlichen Banden natürlicher

Lüste verstrickt. Ach! so ist der Mensch, ein armes,

fortwährend hinkendes und strauchelndes Geschöpf, das in

jeder Minute der vollste» Ausübung göttlicher Gnade und

Langmut bedarf.

Die Geschichte des unbekanntesten und verborgensten

Gläubigen wird, wenn auch in geringerem Maße, dieselben

Ungleichheiten und Unbeständigkeiten aufweisen, wie sie sich

in dem Leben Davids bemerkbar machen; und gerade dieser

Umstand verleiht dem göttlichen Bericht über sein Leben

und seine Zeit ein so tiefes, rührendes Interesse. Wo ist

ein Herz, das nicht schon angetastet und versucht worden

wäre durch die Macht des Unglaubens, wie David, als er

zu dem Könige von Gath floh, um dort einen Bergnngs-

XIUV

58

ort zu suchen? oder durch verkehrte Begriffe über den

Dienst des Herrn, wie David, als er vor der Zeit ein

Haus snr Gott bauen wollte? oder durch Regungen der

Selbstgefälligkeit und des Stolzes, wie David, als er das

Volk zu zählen suchte? oder durch die unreinen Lüste der

Natur, wie David in der Sache mit Bathseba, dem Weibe

Urias, des Hethiters? Wenn es ein solches Herz giebt,

so wird es allerdings wenig Interesse daran haben, die

Wege Davids zu verfolgen. Aber ich weiß nur zu gut,

daß mein Leser ein solches Herz nicht hat; denn wo

irgend ein menschliches Herz ist, da ist auch die Empfänglichkeit

für alles das vorhanden, was ich eben aufgezählt

habe, uud deshalb muß die Gnade, welche einem David

entgegenkommen konnte, kostbar sein für ein jedes Herz,

das seine eigne Plage kennt.

Der Abschnitt unsrer Geschichte, den wir jetzt betrachten

wollen, ist nicht nur ein äußerlich umfangreicher,

sondern er enthält auch viele wichtige Grundsätze christlicher

Erfahrung und göttlichen Handelns. Die Einzelheiten des

Falles Davids sind ohne Zweifel allen meinen Lesern

bekannt; trotzdem wird eine eingehende Betrachtung für

uns alle von Nutzen sein. Erinnern wir uns zunächst

daran, daß Davids Sünde zu Absalows Verschwörung

führte. „Wer auf das Fleisch säet, wird von dem Fleische

Verderben ernten."

„Und es geschah bei der Rückkehr des Jahres, zur

Zeit wann die Könige ausziehen, da sandte David Joab

und seine Knechte mit ihm und ganz Israel; und sie richteten

die Kinder Ammon zu Grunde und belagerten Rabba.

David aber blieb zu Jerusalem." (2. Sam. 11, 1.)

Austatt, wie sonst, an der Spitze seines Heeres auszu

5!»

ziehen und sich in den Strapazen und Mühsalen des

Krieges zu üben, pflegte David daheim der Ruhe. Das

hieß offenbar, dem Feinde eine Blöße und einen Vorteil

über sich geben. Sobald ein Gläubiger sich von dem ihm

von Gott angewiesenen Posten entfernt oder aufhört zu

kämpfen, verliert er seine Kraft und wird schwach. Er

legt den Harnisch ab und setzt sich dadurch schutzlos den

Pfeilen des Feindes aus; und dieser wird nicht verfehlen,

feinen Vorteil auszunutzen. So lange ich in Einfalt und

Aufrichtigkeit für den Herrn thätig bin, mag meine Arbeit

bestehen, worin sie will, wird die Natur sich unter einem

Druck befinden; gehe ich aber meiner Bequemlichkeit nach,

so beginnt die Natur zu wirken, und die äußeren sichtbaren

Dinge üben ihren Einfluß aus. Wir sollten das

ernstlich erwägen, geliebter Leser. Satan wird fiir träge

Herzen und lässige Hände stets irgend ein Unheil ausfindig

zu machen wissen. David mußte dies tief fühlen. Wäre

er mit seinem Heere bei Rabba gewesen, so würde sein

Auge wohl nicht auf einen Gegenstand gefallen sein, der

so geeignet war, auf sein Fleisch einzuwirken, wie es zu

Jerusalem der Fall war. Gerade der Umstand, daß er

daheim blieb, gab dem Feinde Anlaß, auf ihn einzudringen.

David war von seinem Lager aufgestanden, lustwandelte

auf dem Dache seines Hauses und ließ seine Augen umherschweifen—

welch ein willkommnes Ziel für die Pfeile Satans!

Es ist nötig, stets wachsam und auf der Hut zu sein,

denn wir haben einen wachsamen Feind. „Seid nüchtern,

wachet", sagt der Apostel; „euer Widersacher, der Teufel,

geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er

verschlinge." (1. Petr. 5, 8.) Satan wartet die günstige

Gelegenheit ab, und wenn er eine Seele nicht mit dem

60

ihr anvertrauten Dienst beschäftigt findet, so wird er sicher

suchen, sie zu irgend etwas Bösem zu verführen. Es ist

deshalb gut und heilsam, im Dienste des Herrn nicht

säumig zu sein: allerdings muß aller Dienst aus der

verborgenen Gemeinschaft mit Gott hervorfließen, sonst ist

er wertlos. Aber wenn wir so auf unserm Posten sind,

stehen wir dem Teufel als entschiedene Feinde gegenüber,

und er kann »ns nichts anhaben, weil unser Anführer

stärker ist als er und ihn überwunden hat. Sind wir

aber nicht treu und fleißig, schließen wir eine Art von

Waffenstillstand mit dem Feinde, so wird er uns sehr bald

überlistet haben und uns als Werkzeuge zur Ausführung

seiner Pläne benutzen. Sobald David in seiner Energie

als der Anführer der Heerscharen Israels nachließ, wurde

er der Sklave seiner Lüste. Welch ein trauriges Gemälde

und zugleich welch eine ernste Warnung für unsre Seelen!

Der Gläubige wird entweder durch die Energie des

Geistes oder durch die Kraft des Fleisches geleitet; im

erstem Falle steht es wohl um ihn, im letzteren wird er

sehr bald eine Beute des Feindes werden. So war es

mit David. „Zur Zeit wann die Könige ausziehen", blieb

er gemächlich zn Hause, und Satan hielt ihm einen Köder

hin, dem sein armes Herz nicht widerstehen konnte. Er

fiel, und er fiel in einer schrecklichen, schmählichen Weise.

Sein Fall war nicht ein augenblickliches Sichvergessen, ein

unbedachter, wenn auch schwerer Fehler; nein, er fiel in

einen Abgrund sittlichen Verderbens, er watete tief durch

den Schlamm der Sünde. Sein Fall ruft uns mit lauter

Stimme zn: „Halte deinen Leib in Knechtschaft!"

Die Natur m u ß gerichtet und im Tode gehalten werden;

anders werden wir sicherlich Schiffbruch erleiden.

61

Es ist erschreckend, zu sehen, wie weit David sich auf

dem einmal eingeschlagenen bösen Wege fortreißen ließ.

Nachdem er einmal, um seiner Lust zu sröhnen, seinen

erhabenen Charakter als Gläubiger aufgegeben hatte, suchte

er Uria als Deckmantel zu benutzen, um sich so vor dem

Urteil der öffentlichen Meinung zu schlitzen. Sein guter

Ruf mußte aufrecht erhalten werden, mochte es kosten was

es wollte. Zunächst versuchte er es mit verstellter Freundlichkeit

; dann machte er den Mann, dem er ein so schmähliches

Unrecht zugefügt und den er in feiner Ehre aufs tiefste

verletzt hatte, trunken, um so seinen Zweck zu erreichens

aber alles war vergeblich. Endlich ließ er ihn ermorden

durch das Schwert der Kinder Ammon. Welch eine Kette

von verabscheuungswürdigen Sünden! Dachte David wirklich,

daß alles in Ordnung sein würde, wenn nur Uria

aus dem Wege geräumt wäre? Hatte er ganz vergessen,

daß in all dieser Zeit die Augen des Herrn auf ihm ruhten

und seinen schrecklichen Weg beobachteten? Ach! sein

Gewissen scheint ganz abgestumpft gewesen zu fein, ganz

unempfindlich gegenüber den ernsten Erinnerungen, die

Gott ihm auf dem Wege zu teil werden ließ. Wäre es

nicht so gewesen, so würde er sicherlich davor zurückgeschreckt

sein, der Sünde des Ehebruchs uoch diejenige

der Ermordung eines unschuldigen, braven Mannes hinzuzufügen.

Er würde zusammengezuckt fein unter dem scharfen

Vorwurf Urias (der umso schärfer wirken mußte, weil

er ganz unbeabsichtigt war), als dieser sagte: „Die Lade

und Israel und Juda weilen in Hütten, und mein Herr

Joab und die Knechte meines Herrn lagern auf freiem

Felde, und ich sollte in mein Haus gehen? ec." Welch ein

Borwurf für David! Der Herr und Sein Volk lagerten

62

auf freiem Felde und stritten mit den unbeschnittenen

Feinden Israels, während David daheim seiner Bequemlichkeit

und der Befriedigung seiner sündhaften Begierden

lebte. Wahrlich, wir dürfen sagen: es gab eine Zeit,

wo David sicherlich nicht Ruhe auf seinem Lager gesucht

haben würde, während die Heerscharen Jehovas mit dem

Feinde im Kampfe lagen; und es gab eine Zeit, wo er

einen treuen Diener nimmermehr dem Schwerte des Feindes

preisgegebeu haben würde, um dadurch seinen eignen

Rnf zu retten. Aber so ist der Mensch, der beste der

Menschen. Wenn Hochmut das Herz erfüllt oder böse

Lust das Auge verblendet, wer könnte dann dem menschlichen

Verderben eine Grenze ziehen? Wer könnte sagen,

zu welch schrecklichen Dingen selbst ein Gottesmann wie

David kommen kann, wenn er einmal die Gemeinschaft mit

Gott verloren hat? Ewiglich sei der Gott aller Gnade

gepriesen, daß er sich stets den Bedürfnissen Seiner irrenden

Kinder gewachsen gezeigt hat! Wer anders als Gott

könnte auch nur mit einem Gläubigen Verkehren, so wie

er es an einem einzigen Tage bedarf? Und wahrlich,

wenn wir nns daran erinnern, wie verabscheuungswürdig

die Sünde in Gottes Augen ist und wie Er doch in solch

vollkommner Gnade gegen den Sünder handelt, so muß

unser Herz von dankbarer Anbetung überströmen.

Der Herr muß aber Seine Heiligkeit aufrecht erhalten,

so gnädig Er auch dem Sünder begegnen mag, und deshalb

finden wir anch in dem vorliegenden Falle, daß Er

wegen der Sünde Davids ein höchst ernstes Urteil iiber

dessen Hans ansspricht. Ter Prophet Nathan wird zu ihm

gesandt, um sein Gewissen in die Gegenwart der Heiligkeit

Gottes znrückzuführen. Dort ist der richtige Auf

63

enthaltsort für das Gewissen. Wenn es nicht dort ist,

so wird es allerlei Ausflüchte, Schlupfwinkel und Deckmäntelchen

suchen und finden. David sagte, als ihm das

Gelingen seines teuflischen Planes hinsichtlich Urias berichtet

wurde: „So sollst du zu Joab sagen: Laß diese

Sache nicht übel sein in deinen Augen, denn das Schwert

frißt bald so, bald so". Aus diese Weise meinte er

die ganze Sache geheim halten zu können. In seiner

Verblendung bildete er sich ein, alles stehe wohl, wenn

nur Uria aus dem Wege wäre. An das allsehende Auge

Gottes, welches durch alles hindurchdringt und die geheimsten

Falten des Herzens erforscht, dachte er nicht.

Die Gefühllosigkeit, welche David bei dieser Gelegenheit

an den Tag legt, ist erstaunlich. „Tas Schwert frißt

bald so, bald so", läßt er Joab antworten. Allerdings,

der Krieg hat seine Wechselfälle; heute trifft das Todeslos

diesen, morgen jenen. Aber konnte eine solch elende, böse

Ausflucht der Heiligkeit Gottes genügen? Unmöglich;

die ganze Sache mußte ans Licht kommen; die Maschen

des unheilvollen Gewebes, in welches Satan die Füße

seines Opfers verstrickt hatte, mußten eine nach der andern

gelöst werden. Die Heiligkeit des Hauses Gottes muß

aufrecht erhalten bleiben, koste es was es wolle; Sein

Name und Seine Wahrheit müssen behauptet und Sein

Diener muß gezüchtigt werden angesichts der ganzen Gemeinde,

ja „vor den Augen dieser Sonne". Nach menschlichem

Urteil hätte es weiser scheinen können, die Züchtigung

eines so hochstehenden Mannes, wie David, vor der Öffent­

lichkeit zu verbergen; aber das ist nicht die Weise Gottes.

Er wird durch die Gerichte, die Er inmitten Seines Volks

ansübt, jedem Zuschauer beweisen, daß Er keine Gemein-

64

schäft mit dem Bösen hat. Nichts anderes hätte den Flecken,

welcher der Wahrheit Gottes zugefügt worden war, austilgen

können als das öffentliche Gericht über den Über­

treter. Die Kinder der Welt mögen in der gegenwärtigen

Zeit ungestraft dahingehen, trotzdem sie mit erhobener

Hand sündigen; aber diejenigen, welche mit dem Namen

des Herrn in Verbindung stehen, müssen sich rein erhalten,

oder sie werden gerichtet werden.

Allein der arme David bewies, wie bereits bemerkt,

in dieser ganzen Sache eine fast unglaubliche Gefühllosigkeit.

Selbst als das rührende Gleichnis Nathans ihm

die ganze Abscheulichkeit seines Verhaltens vor Augen

führte, und er über die selbstsüchtige Handlungsweise des

reichen Mannes in Zorn geriet, dachte er noch nicht im

Entferntesten daran, daß die Erzählung sich auf ihn selbst

beziehen könne. „Da entbrannte der Zorn Davids sehr

wider den Mann, und er sprach zu Nathan: So wahr

Jehova lebt, der Mann, der dieses gethan hat, ist ein

Kind des Todes!" So sprach er unbewußt über sich selbst

das Urteil aus. Bis dahin war kein Gefühl über seine

Sünde in ihm aufgekommen, und vielleicht würde er schon

im nächsten Augenblick Anstalten getroffen haben, um den

Übelthäter ausfindig zu machen und zu bestrafen, wenn

nicht plötzlich der Pfeil des Allmächtigen sein Gewissen

durchbohrt hätte. „Du bist der Mann!" sagt der

Prophet. Schreckliche Entdeckung! Die Sünde wurde bis

zu ihrer Quelle hin verfolgt, und David stand als ein

überführter, in sich zusammenbrechender Sünder in der

Gegenwart Gottes. Und welch ein Glück für ihn! Er

macht keinerlei Anstrengungen mehr, sich zu verbergen oder

seinen guten Ruf aufrecht zu erhalten. „Ich habe gegen

65

Jehova gesündigt", so kommt das ungeschminkte

Bekenntnis über seine Lippen. Sein Geist ist zerknirscht,

sein Herz beugt sich unter die Macht der Wahrheit, ein

tiefes Bewußtsein seiner Berabscheuungswürdigkeit vor

Gott kommt über ihn, und im Staube liegend schreit er

um Erbarmen und Gnade : „Sei mir gnädig, o Gott,

nach deiner Güte! nach der Größe deiner Erbarmungen

tilge meine Übertretungen!" (Ps. 51, 1.) Er wendet sich

unmittelbar zu Gott; denn hier war Davids wohlbekannte

und so oft erprobte Zufluchtsstätte. Er bringt feine schwere

Last zu Gott und legt sie angesichts Seiner Güte und

der Größe Seiner Erbarmungen nieder. Hier war der

einzige Ort, wo sein gequälter Geist Ruhe finden konnte.

Er fühlte, daß seine Sünde so verabscheuungswürdig war,

daß nichts als das Erbarmen Gottes sie auszulöschen

vermochte. Aber hier fand er auch einen „Abgrund der

Barmherzigkeit", der alle seine Sünden „verschlingen" und

ihm angesichts seines Elends tiefen Frieden verleihen konnte.

Jedoch verlangte David nicht nur nach der Vergebung

seiner Sünden; diese hatte er ohne Zweifel nötig, aber

er bedurfte mehr. Er bedurfte einer innern Reinigung

von der befleckenden Wirksamkeit und Kraft der Sünde

selbst. Er sagt deshalb in dem angeführten Psalme weiter:

„Wasche mich völlig von meiner Ungerechtigkeit, und

reinige mich von meiner Sünde!" (B. 2.) Der Apostel Johannes

schreibt an seine Kinder: „Wenn wir unsre Sünden

bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns (nicht nur)

die Sünden vergiebt, (sondern auch) uns reinigt von aller

Ungerechtigkeit". Von aller Ungerechtigkeit gereinigt zu

werden ist etwas weit Höheres, als nur Vergebung unsrer

Sünden zu erlangen: und David begehrte das letztere eben

— 6t> —

sowohl wie das erstere. Beides muß von dem Bekennen

unsrer Sünden abhängig gemacht werden. Nun ist es

bekanntlich viel schwerer, eine Sünde zu bekennen, als um

Vergebung zu bitten. Die Sünde, welche wir begangen

haben, rückhaltlos vor Gott bekennen ist weit demütigender,

als in allgemeiner Weise um Vergebung bitten. Das

letztere ist eine verhältnismäßig leichte Sache; aber ein

solches Bitten um Vergebung ist vergeblich, wenn es nicht

mit einem aufrichtigen Bekenntnis der geschehenen Sünde,

mit Demütigung und Selbstgericht verbunden ist. Wenn

aber ein aufrichtiges Bekenntnis erfolgt, so ist es einfach

eine Glaubenssache, zu wissen, daß die Sünden uns vergeben

sind. Das Wort sagt: „Wenn wir bekennen ?c."

David bekannte seine Sünde: „Ich kenne meine Über­

tretungen, und meine Sünde ist beständig vor mir. Gegen

dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe

gethan, was böse ist in deinen Angen; damit du gerechtfertigt

werdest, wenn du redest, und rein erfunden, wenn

du richtest." (B. 3. 4.) Das war eine wahre Überführung,

ein rückhaltloses Bekenntnis. David macht keinen Versuch,

die Sache zu beschönigen, in den Umständen einen Ent-

schnldigungsgrnnd zu finden, oder gar andere Personen mit

zu beschuldigen. Nein, wir hören einfach von „ich" und

„du" — ich bin ein armer, schuldiger Sünder, und du bist

der Gott der Wahrheit. „Gott sei wahrhaftig, jeder Mensch

aber Lügner." (Röm. 3, 4.) Das Geheimnis einer wahren

Wiederherstellung besteht darin, daß wir als Sünder

unsern wahren Platz im Lichte Gottes einnehmen. Das

ist der Inhalt der Belehrung des Apostels im 3. Kapitel

des Römerbriefes. Die Wahrheit Gottes wird dort als

der große Maßstab hingestellt, an welchem der Zustand des

«7

Menschen gemessen werden muß. Die Wirkung davon ist,

daß der Mensch zu den Tiefen seines moralischen und

praktischen Zustandes in den Augen Gottes geführt wird.

Alles wird ihm abgestreift und seine innerste Seele bloßgelegt

vor einer Heiligkeit, welche nicht den geringsten

Sündenflecken in ihrer Gegenwart dulden kann. Aber wenn

wir so in dem Staube wahrer Selbstverabscheuung und

aufrichtigen Bekennens daliegen, was finden wir dann?

Einen Gott, der in der Unumschränktheit Seiner Gnade

eine vollkommne Gerechtigkeit bereitet hat für den schuldigen

und verstummenden Sünder.

In dem soeben angeführten 3. Kapitel des Briefes an

die Römer treten Wahrheit und Gnade in ernster und lieblicher

Verbindung vor unsre Blicke. Die Wahrheit zerbricht

das Herz, die Gnade verbindet es; die Wahrheit

verschließt den Mund, die Gnade öffnet ihn: verschließt

ihn, damit er sich nicht länger irgendwelchen menschlichen

Verdienstes rühme, öffnet ihn, damit er den Gott aller

Gnade preise und verherrliche.

David ging im Geiste durch die Wahrheiten, welche

in späteren Tagen in dem genannten Kapitel entwickelt

worden sind. Er wurde auch in die Tiefen seiner verderbten

Natur hineingeführt. „Siehe", sagt er, „in Ungerechtigkeit

bin ich geboren, und in Sünde hat mich

empfangen meine Mutter." (V. 5.) Das ist das Bild

des Menschen. Welch ein Gedanke! In Ungerechtigkeit

geboren! Was für Gutes könnte jemals aus

einen: so unreinen, verderbten Geschöpf hervorkommen?

Wahrlich, nichts! Es ist unverbesserlich schlecht. Und nnn

beachten wir den Gegensatz: „Siehe, du hast Lust an

der Wahrheit im Innern". lB. 6.) Gott verlangt Wahr

68

heil, und David besaß nichts, um dieser Forderung zu

genügen, als eine verderbte Natur. Was konnte die große

Kluft ausfüllen, die zwischen einem in Sünde und Ungerechtigkeit

gebornen Menschen und einem Gott besteht,

der Wahrheit im Innern fordert? Nichts als das kostbare

Blut Christi. „Entsündige mich mit Mop, und ich

werde rein sein; wasche mich, und ich werde weißer sein

als Schnee." (B. 7.) Mit andern Worten: David wirft

sich als ein hilfloser Sünder in die Arme der erlösenden

Liebe. Seliger Ruheort! Gott allein vermag einen Sünder

zu reinigen und ihn passend zn machen für Seine

Gegenwart. „Laß mich Fröhlichkeit und Freude hören, so

werden die Gebeine frohlocken, die du zerschlagen hast."

(V. 8.) Gott muß alles thun: Er muß sein Gewissen

reinigen; Er muß sein Ohr öffnen, um den Ton der

Freude und der Fröhlichkeit wieder zu hören; Er muß

seinen Mund aufthun, damit er die Übertreter die Wege

der göttlichen Liebe und Gnade lehren könne; Er muß

ihm ein reines Herz schaffen; Er muß ihm wiederkehren

lassen die Freude Seines Heils und mit einem willigen

Geiste ihn stützen, und Er muß ihn erretten von Blutschuld.

Mit einem Worte, von dem Augenblicke an, da Nathans

Wort mit göttlicher Kraft in sein Herz dringt, wirst

David das zermalmende Gewicht seiner Schuld auf die

schrankenlose Gnade Gottes, und er kann, soweit es ihn

persönlich betrifft, gestützt auf das kostbare Blut der Versöhnung,

sich einer vollkommnen Ordnung der Frage

erfreuen, welche seine Sünde zwischen seinem Gewissen

und Gott aufgeworfen hatte. Die Gnade errang einen

herrlichen Triumph; und David konnte sich von dem

Kampfplatz zurückziehen, tief bestürzt zwar und schmerzlich

69

verwundet, aber mit einer gründlicheren Erkenntnis dessen,

was Gott war und was die Gnade für seine Seele gethan

hatte.

Dennoch mußte Davids Sünde zu ihrer Zeit ihre

bittern Früchte hervorbringen. Es kann unmöglich anders

sein. Jenes ernste Wort des Apostels: Was irgend ein

Mensch säet, das wird er auch ernten", muß stets seine

Verwirklichung finden. Die Gnade mag vergeben, aber die

Resultate der Sünde werden ans Licht treten, obgleich der

Sünder, selbst während er unter der Zuchtrute steht, vielleicht

die lieblichsten Erfahrungen von der Liebe und

wiederherstellenden Gnade Gottes macht. Die weitere

Geschichte Davids liefert uns ein treffendes Beispiel hierfür.

Gott hatte ihm, wie wir wissen, vergeben, ihn von seiner

Verunreinigung gewaschen und angenommen, aber nichtsdestoweniger

mußte er den feierlichen Urteilsspruch vernehmen:

„Und nun soll von deinem Hause das Schwert

nicht weichen ewiglich, darum daß du mich verachtet und

das Weib Urias, des Hethiters, genommen hast, daß

sie dir zum Weibe sei." Beachten wir die Worte: „darum

daß du mich verachtet hast". David hatte versucht,

seine Sünde vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem

er Uria aus dem Wege schaffte; er hatte das allsehende

Auge Jehovas und die Ehre Seines heiligen Namens

völlig vergessen. Hätte er an Jehova gedacht, als die

Stimme der Natur sich in ihm vernehmen ließ, so würde

er nicht in die Schlinge gefallen sein. Das stete Bewußtsein

der Gegenwart Gottes ist das große Bewahrungsmittel

vor allein Bösen; aber wie oft lassen wir uns mehr

durch die Gegenwart eines Mitmenschen beeinflussen als

durch die Gegenwart Gottes! Der vollkommen Heilige

70

und Gerechte konnte sagen: „Ich habe Jehova stets vor

mich gestellt: weil Er zu meiner Rechten ist, werde ich

nicht wanken." (Ps. 16, 8.) Wenn wir es unterlassen,

Gottes Gegenwart zu verwirklichen als ein Schutzmittel

gegen das Böse, so werden wir sie suhlen müssen als

ein Gericht wegen desselben.

„Das Schwert soll nicht von deinem Hause weichen

ewiglich." Welch ein Gegensatz zu den herrlichen Verheißungen,

welche David im 7. Kapitel gegeben wurden!

Und doch ist es dieselbe Stimme, obwohl ihr Ton so

schrecklich verändert ist. Dort giebt sich Gnade, hier Heiligkeit

in ihr kund. „Weil du den Feinden Jehovas durch

diese Sache Anlaß zur Lästerung gegeben hast, so soll

auch der Sohn, der dir geboren ist, gewißlich sterben."

Indes war der Tod des Kindes nur die Einleitung, gleichsam

das erste Grollen des Gerichtssturmes, welcher über

das Haus Davids hereinbrechen sollte. Er mochte saften,

beten, sich demütigen und über Nacht aus der Erde liegen,

aber das Kind mußte sterben. Das Gericht muß seinen

Laus nehmen, und das Feuer jedes Teilchen dessen verzehren,

was seiner Gewalt übergeben wird. Das Schwert

des Menschen „frißt bald so, bald so" : aber das Schwert

Gottes fällt auf das Haupt des Missethäters. Ein Geschwür

mag sich lange im Verborgenen entwickeln, aber

endlich muß es aufbrecheu: ein Strom mag lange in einem

unterirdischen Bett dahinfließen, aber endlich wird er sich

einen Ausweg bahnen. Wir mögen Jahre lang in einer

verborgenen Sünde dahinleben, irgend einer unreinen Begierde

nachhüngen, irgenwelche unheilige Gefühle und

Gedanken nähren: aber der Augenblick wird kommen, wo

das glimmende Feuer hervorbricht und der wahre Charakter

71

unsers Thuns uns mit Schrecken klar wird. Das sind

Dinge, über die wir ernstlich nachdenken sollten. Wir

können nichts vor Gott verbergen oder Ihn dahin bringen,

unsre verkehrten Wege sür richtig zu halten. Wir mögen

vielleicht versuchen, uns selbst in einen solchen Gedanken

hinein zu arbeiten: wir mögen unsre Herzen durch allerlei

Scheingründe zu überzeugen suchen, daß dieses oder jenes

recht und gut sei; aber irren wir uns nicht, „Gott läßt sich

nicht spotten; denn was irgend ein Mensch säet, das wird

er auch ernten".

Doch welch eine Fülle von Gnade strahlt uns andrerseits

auch wieder aus diesem Teile der Geschichte Davids

entgegen! Bathseba wird die Mutter Salomos, welcher

während des glorreichsten Abschnitts der Geschichte Israels

auf dem Throue Davids saß, und der zugleich ein Glied

in jener bevorzugten Geschlechtsreihe bildet, ans welcher

Christus dem Fleische nach kommen sollte. Das ist

wahrhaft göttlich, ganz und gar Gottes würdig. Die

finsterste Scene aus der Geschichte Davids wird unter der

Leitung Gottes zu einem Mittel reichster Segnung. So

kam aus dem Fresser Fraß und aus dem Starken Süßigkeit.

Wir wissen, wie dieser Grundsatz alle Wege Gottes mit

Seinem Volke kennzeichnet. Er richtet ohne Zweifel ihre

Sünde, aber Er vergiebt sie auch und benutzt ihre Fehler

und Verirrungen als Kanäle, durch welche die Gnade

ihnen zufließt. In alle Ewigkeit sei der Gott aller Gnade

gepriesen, der unsre Sünden vergiebt, unsre Seelen

wiederherstellt, unsre vielen Schwachheiten in Langmut

trägt und uns selbst triumphieren läßt in und mittelst

unsrer Schwachheit!

Welche Gesühie müssen in späteren Tagen das Herz

72

Davids bestürmt haben, wenn sein Auge auf seinem

Salomo ruhte, dem Manne der Ruhe, auf seinem

Jedidjah, dem Geliebten Jehovas! Wie wird er sich

bei dem Anblick des Knaben seines demütigenden Falles,

aber auch der anbetungswürdigen Gnade Gottes erinnert

haben! Und mein geliebter christlicher Leser, ist es nicht

gerade so mit uns? Wenn wir auf unsere Geschichte

zurückblicken, was ist sie anders als eine Kette von Anlässen

zu unsrer Beschämung und Demütigung, aber zugleich

auch eine ununterbrochene Kette von Anlässen zum Preise

der bewahrenden, vergebenden und wiederherstellenden

Gnade Gottes! Welch ein Glück, daß wir singen können:

Nur Gnade ist's, die mir begegnet,

So lang ich hier in Schwachheit bin!

Der Liebe Fülle dort mich segnet,

Komm ich zur ew'gen Heimat hin.

Mag auch hieuiedeu alles wanken,

Mag alles hier auch enden sich,

Die Gnade kennet keine Schranken,

Und Liebe bleibet ewiglich!

^Schluß folgt.)

Arbeit und Ruhe.

(Nach einem „Eingesandt".)

1.

Vor mir liegt der erste Brief an die Thessalonicher.

Die Gläubigen zu Thessalonich waren zur Zeit, als der

Apostel Paulus diesen Brief an sie schrieb, noch jung im

Glauben, aber ihr Herzenszustand war ein guter. Ihr

Christentum war echt, lebendig und frisch und zeitigte deshalb

herrliche Früchte. Dies geht aus vielen Stellen des

73

Briefes klar hervor. Hier seien nur einige angeführt:

„Unablässig eingedenk euers Werkes des Glaubens und der

Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung

auf unsern Herrn Jesum Christum, vor unserm Gott und

Vater, wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung."

(Kap. 1, 3. 4.) Glaube, Liebe und Hoffnung,

diese drei Hauptquellen alles wahren Christentums, waren

bei ihnen vorhanden und sprudelten in solcher Fülle und

Frische, daß der Apostel hinsichtlich ihrer Auserwählung

nicht den geringsten Zweifel hegte. Ja, die Thessalonicher

waren Vorbilder für alle Gläubigen in Maeedonien und

Achaja geworden; „denn", sagt der Apostel, „von euch

aus ist das Wort des Herrn erschollen, nicht allein in

Maeedonien und in Achaja, sondern auch an jedem Orte ist

euer Glaube an Gott ausgebreitet worden, so daß wir

nicht nötig haben, etwas zu sagen." (B. 7. 8.) Im

2. Kapitel finden wir das schöne Zeugnis: „Denn wer

ist unsre Hoffnung oder Freude oder Krone des Ruhmes?

Nicht auch ihr vor unserm Herrn Jesu bei Seiner Ankunft

? Denn ihr seid unsre Herrlichkeit und Freude."

(V. 19. 20.) Und im 4. Kapitel lesen wir: „Was

aber die Bruderliebe betrifft, so habt ihr nicht nötig, daß

wir euch schreiben; denn ihr selbst seid von Gott gelehrt,

einander zu lieben." (B. 9.)

Der Leser wird mit leichter Mühe noch andere

Stellen finden, welche das lebendige, vielseitige Christentum

dieser jungen Versammlung darthun. Dennoch ermahnt

sie der Apostel, „immer reichlicher zuzunehmen". (Kap. 4,

1. 10.) Es giebt keinen Stillstand im christlichen Leben.

Stillstand bedeutet Rückschritt. Mag auch ein Christ eine

hohe Stufe im christlichen Leben erreicht haben, er muß

74

„immer reichlicher zu nehm en", sonst geht er zurück

und nimmt ab.

Indes möchte es manchem auffallend erscheinen, daß

der Apostel mit der Ermahnung, zuzunehmen, die Aufforderung

verbindet: „euch zu beeifern, stille zu sein und

eure eignen Geschäfte zu thun und mit euren eignen

Händen zu arbeiten, sowie wir euch geboten haben, auf

daß ihr ehrbarlich wandelt gegen die, welche draußen sind,

und niemandes bedürfet". Diese Ermahnung zeigt uns

einerseits, wie notwendig es ist, selbst für den geistlichen

Christen, immer wieder an die einfachsten sittlichen Forderungen

erinnert zu werden. Unser Herz ist ein verkehrtes,

thörichtes Ding, immer bereit, irre zu führen und sich

irreführeu zu lassen. Ist es nicht schon dagewesen, daß

ein Christ sehr eifrig war im Dienste des Herrn, das

Wort verkündigte, Besuche machte re. re., während er zugleich

die gerechten Ansprüche seiner Familie oder seines

Geschäftes daheim vernachlässigte? Das ist nicht gut; es

verherrlicht nicht den Herrn, sondern bringt Schmach auf

Seinen heiligen Namen von feiten derer, welche „draußen"

sind. — Gab es etwas derartiges in der Mitte der

Thessalonicher? Vielleicht. (Bergt, auch 2. Thess. 3, 11. 12.)

Jedenfalls war es nötig für sie, daran erinnert zu werden,

daß ein Christ „stille sein und seine eignen Geschäfte

thun und mit seinen eignen Händen arbeiten" sollte.

Andrerseits aber zeigt uns diese Stelle auch, welch

eiuen hohen Wert Gott aus eine stille, treue Ausübung

des irdischen Berufs legt, ja auf welch einer hohen Stufe

in der Rangordnung Gottes selbst die unscheinbare Handarbeit

steht. Die Welt hat freilich darüber andere Gedanken;

ihr gilt die Handarbeit gering. Viel äußern

75

Schein hat dieses Schmieden und Feilen, Hobeln und

Drechseln, Hacken und Graben, Scheuern und Putzen allerdings

nicht. Meist wird es ja auch in unscheinbarer, oft

schmutziger Kleidung verrichtet. Aber dennoch ist Gottes

reicher Segen auf feiten dieser einfachen Arbeit. Vor

Ihm ist die wichtige Frage nicht die, was jemand thut,

sondern wie er es thut. Es macht wenig aus, ob ein

Christ Fabrikarbeiter, Handwerker, Knecht, oder Fabrikant,

Kaufmann u. dergl. ist. Es handelt sich vielmehr darum,

daß ein jeder da, wo Gott ihn hingestellt hat, treu ist,

daß er „seine eignen Geschäfte" gewissenhaft thut.

Geschieht dies, so wird Gottes Segen ihm nicht fehlen,

mag er selbst die niedrigste und schmutzigste Arbeit verrichten.

Gegen einfache, körperliche Arbeiten wird zuweilen

der Vorwurf erhoben, daß sie geisttötend seien. Ob sie

es für ein Weltkind sind, bezweifle ich; für einen Christen

sind sie es ganz gewiß nicht. Ich möchte eher das

Gegenteil behaupten. Denn gerade solche einfachen Arbeiten

lassen den Geist fast ganz frei, so daß er sich während

derselben vielfach mit andern, höheren Dingen beschäftigen

kann; und ein einfältiges Gotteskind, dessen Herz mit

Christo erfüllt ist, wird solche Stunden fleißig benutzen,

um Gemeinschaft mit seinem Herrn zu Pflegen. Und was

könnte den Geist mehr beleben als solche Gemeinschaft?

Doch noch eins. Der Apostel giebt noch einen besondern

Zweck an, den ein treues, gewissenhaftes Erfüllen

des irdischen Berufes hat. Er sagt: „auf daß ihr ehr-

barlich wandelt gegen die, welche draußen sind, und

niemandes bedürfet". Wenn man heutzutage so vielen

Menschen begegnet, die ans feine oder grobe, auf ver

76

schämte oder unverschämte Art ihren Mitmenschen zur Last

liegen, wie wohl thut es da dem Herzen, ja wie erbaulich

ist es, einen treuen, fleißigen Arbeiter zu finden, der sein

eignes Brot ißt, sein Weib und seine Kinder mit seiner

Hände Arbeit versorgt und ohne Begehrlichkeit und Neid

seinen Nächsten neben sich gedeihen sieht! Eine solche

Gesinnung und ein solches Verhalten ist in unsern Tagen,

wo der Dämon des Neides und der Unzufriedenheit immer

fchrecklicher wirkt, doppelt anerkennenswert und wird sicherlich

nicht unbelohnt bleiben.

Noch schöner tritt diese, auf eigner Arbeit beruhende

Unabhängigkeit ans Licht, wenn sie sich bei einem Diener

im Werke des Herrn findet. Allen solchen hat der Apostel

Paulus ein glänzendes Beispiel gegeben. Obwohl er sich

„sein Recht am Evangelium" nicht schmälern ließ und es

auch mit Freimütigkeit gebrauchte, konnte er doch den

Ältesten von Ephesus zurufen: „Ich habe niemandes Silber

oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr selbst wisset, daß

meinen Bedürfnissen und denen, die bei mir waren, diese

Hände gedient haben. Ich habe euch alles gezeigt, daß

inan, also arbeitend, sich der Schwachen annehmen und

eingedenk sein müsse der Worte des Herrn Jesu, der selbst

gesagt hat: Geben ist seliger als Nehmen." (Apstgsch. 20,

Z3—35.i

2.

Die Arbeit muß jedoch auch ihr Maß und Ziel

haben. Gott selbst hat ihr schon im Anfang der Schöpfung

durch die Einsetzung des Sabbaths eine Grenze gegeben;

und wenn wir auch als Christen nicht unter dem Gesetz

stehen, noch den Sabbath feiern, so können wir doch die

77

Liebe Gottes zu den Menschenkindern auch darin erblicken,

daß Er der Arbeit durch den Feiertag eine Begrenzung

gegeben hat. Ich rede hier natürlich nicht von der

höheren Bedeutung des „Tages des Herrn" für den

Gläubigen, sondern möchte nur aus die göttliche Gnade

Hinweisen, die uns einen Tag von sieben gegeben hat, an

welchem wir von dem Getriebe der Wochentage ausruhen

können. Und es ist sicherlich auch als eine Gnade zu betrachten,

daß der menschlichen Habsucht auf gesetzlichem

Wege ein Ziel gesteckt ist, welches sie nicht ungestraft überschreiten

darf.

Aber trotz dieser gnädigen Vorkehrungen Gottes ist

Gefahr vorhanden, sich in der Arbeit so zu verlieren, daß

Leib und Seele Schaden darunter leiden. Manche Menschen

werden unter maßloser Arbeit so reizbar und bissig, wie

ein Hund, der am Karren zieht. Es giebt Familien, in

denen die Arbeit so das herrschende Element geworden

ist, daß von einem liebevollen Verkehr der einzelnen

Familienglieder unter einander, von einem Familienleben

im wahren Sinne des Wortes und von einer

ordentlichen Erziehung der Kinder keine Rede mehr sein

kann. Ich brauche kaum zu sagen, daß das, was ans solche

Weise vernachlässigt wird, nicht nur den Nutzen der Arbeit

ganz oder doch zum größten Teil wieder fortnimmt, sondern

auch allen Beteiligten zu ernstem Schaden gereicht. Diese

Zeilen möchten nun dazu mithelfen, für die Arbeit das

richtige Maß und die richtigen Grenzen erkennen zu lassen,

damit auch für andere, ebenso wichtige Dinge die nötige Zeit

bleibe nnd die Arbeit nicht ihres Segens beraubt werde.

Als ich noch jung war, wurde mir gesagt: „Der

Mensch ist für die Arbeit geschaffen". Ich nahm dies

73

unbesehen als Wahrheit an: doch mußte ich später erkennen,

daß dieses Wort, wenn man es als Lebensregel

aufsaßt, uns eher zu Lasttieren als zu glücklichen Menschen

macht. Noch später lernte ich durch Gottes Gnade er­

kennen, daß der Mensch für Christum erschaffen

ist. Das ist eine goldene Grundwahrheit, deren Erkenntnis

das Leben eines Gläubigen vollständig umgestaltet.

Sie vermag uns auch bezüglich der Arbeit sowohl den

rechten Fleiß und die rechte Treue zu geben, als auch das

rechte Maß für sie zu bestimmen.

In Kol. 3, 23. 24 steht geschrieben: „Was irgend ihr

thut, arbeitet von Herzen, als dem Herrn und nicht den

Menschen, da ihr wisset, daß ihr vom Herrn die Vergeltung

des Erbes empfangen werdet; ihr dienet dem

Herrn Christo." Wer den Herrn Jesum lieb hat und

Ihm seine Arbeit thut, wird nach Röm. 12, 11 „im

Fleiße nicht säumig" sein. Sein Hauptwunsch bei seiner

Arbeit wird der sein, sie so zu machen, wie der Herr Jesus

cs gern hat. Er wird jede Nachlässigkeit und Hudelei

vermeiden, weil sein Herr das nicht gern sieht; er wird

alles mit Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit ausführen,

mag er sich von Menschen beobachtet wissen oder nicht,

nur aus Liebe zu seinem himmlischen Herrn, von dem er

weiß, daß Sein Auge auf ihm ruht. Er wird mit Eifer

und Bedacht die rechten Griffe anwenden, daß er zu seines

Herrn Ehre etwas Tüchtiges schaffe.

Das Bewußtsein dieser heiligen Beziehungen, in

denen wir stehen, wird uns zugleich vor einem übermäßigen

Hasten und Treiben bewahren; denn dabei hört das zarte

Schlagen des Herzens für den Herrn Jesum auf. Unruhe

und Ermattung treten an die Stelle des friedlichen Ruhens

7!»

in Gott und der Frische eines geistlichen Lebens, das in

Verbindung mit seiner Quelle bleibt. Die Schwierigkeiten

und Unannehmlichkeiten, die mit jeder Arbeit verbunden

sind, erregen Ärger und Verdruß, anstatt Gebet und Auf­

schauen zu Jesu. Ist es so weit gekommen, dann ist es

wahrlich an der Zeit, einmal stille zu stehen und das

Kämmerlein aufzusuchen, um dort die verlorene Verbindung

mit Jesu wiederzufinden.

Die so oft angeführte, aber immer mit gleichem Ernst

zu unsern Herzen redende Geschichte der Martha und

Maria giebt uns auch in dem vorliegendem Falle köstliche

Belehrungen. In Lukas 10 sehen wir in Martha das

einseitig der Arbeit lebende Weib. Sie hatte den Herrn

aufrichtig lieb, aber sie erscheint hier in einer geradezu

Ärgernis erregenden Weise. Wie häßlich ist ihre Klage,

welche sie gegen ihre Schwester und gegen den Herrn

Jesum selbst vorbringt: „Herr, kümmert es dich nicht, daß

mich meine Schwester allein gelassen hat, zn dienen?"

Und geradeso häßlich ist ihre Aufforderung an den Herrn,

der doch ihr Gast war: „Sage ihr nun, daß sie mir

helfe!" (V. 40.)

Der Herr Jesus ließ sich hierdurch nicht erbittern:

im Gegenteil, Er belehrte sie in ebenso liebevoller wie

gründlicher Weise. „Martha, Martha!" ruft Er ihr zu,

„du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge: eines

aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt, das nicht

von ihr genommen werden wird."

Der Herr Jesus half so der armen Martha heraus

aus den vielen Dingen, welche sie so sorgenvoll und

unruhig machten, und lehrte sie, alle ihre Gedanken auf

eins zu richten, aus „das gute Teil", welches die Maria

80

erwählt hatte. Und worin bestand dasselbe? Maria saß

lauschend zu Jesu Füßen. Der Herr war ihr Teil.

Diese Belehrung des Herrn war sür Martha nicht

vergeblich. Was wir in Joh. 11 von ihr lesen, war

wohl die Frucht jener Lehrstunde, welcher Maria nicht

nur als Schülerin, sondern auch als Vorbild beiwohnte,

so daß auch ihr ein Anteil an dieser Frucht gebührt; ja,

sie hat damals durch ihre geheiligte Ruhe weit mehr geschafft

als Martha mit all ihrem Dienen.

Diese Marieustunden nun mögen unsrer Arbeit ihre

Grenze geben. Dieselben charakterisieren sich indessen nicht

nur durch eine bloß äußere Ruhe, sondern hauptsächlich

dadurch, daß sich unsre Herzen derart in den Herrn hinein

versenken, daß wir um Seinetwillen auch einmal die

Arbeit gern hintenan setzen. Hauptsächlich sind die Sonntage

zu solchen Marieustunden geeignet; doch wer die

letzteren erst einmal recht kennen gelernt hat mit ihrem überaus

köstlichen Segen, der wird auch anstreben, sich solche

Stunden in die Woche hineinzulegen. Wie gut wäre es,

wenn unsre täglichen Morgen- und Abendandachten sich

also gestalteten!

Vielleicht mag beim Lesen dieser Zeilen sich manchem

meiner geliebten Brüder und Schwestern in Christo ein

Seufzer über die Lippen drängen, weil die Verhältnisse,

in denen sie stehen, zu solchen Stunden gar so wenig Zeit

lassen wollen. Solchen möchte ich aber am allerdringendsten

raten, die wenige freie Zeit, die sich ihnen darbietet, in

inniger Gemeinschaft mit ihrem Herrn auszukaufen. Hierher

gehören jene stillen, schlaflosen Stunden der Nacht, die ja

gerade viel beschäftigten und geplagten Leuten nicht unbekannt

sind. Auch jene Viertelstündchen, die man im

81

Berkehrsleben hie und da einmal wartend znbringen muß.

Solche Pausen betrachten oberflächliche Leute als verlorene

Zeit; und es kann doch so herrliches Gold ans ihnen gehoben

werden, wenn man sie dazn benutzt, die Seele zu Jesu

zu erheben und mit ganzem Herzen bei Ihm einzukehren.

Wie vortrefflich entgeht man auf diese Weise auch der

Langeweile, der Ungeduld und vielen anderen im Herzen

aufsteigenden Versuchungen! Und ich glaube sagen zu

dürfen: Wenn jemand einmal anfängt, das Wenige dieser

Art recht auszunutzen, so wird der Herr ihm mehr davon

geben, und er wird in seinem Leben bald das richtige

Gleichgewicht finden und sich darüber wundern, daß er

srüher so manchen Augenblick nutzlos vorübergehen lassen

konnte. Der Herr aber gebe uns allen, daß das so

wichtige Arbeitsleben in dem noch wichtigeren Gebetsleben

seinen Grundton finde und von ihm geregelt werde, auf

daß „wir die Lehre unsers Heiland-Gottes zieren in allen

Dingen" !

Gerechtfertigt.

Wie kann der Gläubige wissen, daß er gerechtfertigt

ist? Sicherlich nicht dadurch, daß er auf seine Gefühle

blickt; denn diese sind so veränderlich wie der Wind.

Auch kann er es nicht wissen auf Grund seiner guten

Werke oder seiner Gebete; denn seine besten Werke und

inbrünstigsten Gebete sind von der Sünde befleckt. Blickt

er in irgend einer Weise auf sich selbst, so wird er niemals

Gewißheit über seine Rechtfertigung erlangen. Denn

was könnte er in sich finden, das ihm Gewißheit geben

»2

könnte, daß er so völlig von aller Sünde gereinigt und

sreigesprochen sei, daß nichts ihm jemals wieder zur Last

gelegt werden könnte?

Wie steht es mit dir, mein lieber Leser, in dieser

Beziehung? Kannst du, mit der Ewigkeit vor dir und

bei dem Gedanken, vor jenem Richter stehen zu müssen,

der jedes Geheimnis deines Lebens kennt, kannst du sagen,

daß du so völlig von aller Sünde gereinigt bist, daß dir

nichts, gar nichts mehr zur Last gelegt werden kann? oder

geht es dir, wie so manchen Christen unsrer Tage, die da

sagen: „Wie kann ein sündiger Mensch, so lange er sich

in dieser Welt befindet, wissen, daß er von aller Sünde

gereinigt ist? Er kann höchstens hoffen, einmal auf Grund

des vollbrachten Werkes Christi in Gnaden angenommen

zu werden." Denkst dn auch so? Dann laß mich dir

sagen, wie die Antwort eines einfältigen, dem Zeugnis

Gottes vertrauenden Gläubigen lautet, wenn es sich um

die Frage seiner Rechtfertigung handelt. Er sagt einfach,

aber bestimmt: „Christus ist auferstanden".

Aber, wirst du fragen, was hat das mit der Rechtfertigung

zn thun? — Sehr viel, ja, auf alle Weise:

denn wir lesen, daß Christus „unsrer Übertretungen wegen

dahingegeben nnd unsrer Rechtfertigung wegen

auferweckt worden ist"; und: „Wenn Christus nicht auferweckt

ist, so ist euer Glaube eitel; ihr seid noch

in euren Sünden". (Röm. 4, 24: 1. Kor. 15, 17.)

Du siehst also, wie die Rechtfertigung eines Gläubigen mit

der Auferstehung oder Nichtauferstehung Christi steht

oder fällt. Ein erretteter Sünder kennt die Liebe Gottes,

die sich darin erwiesen hat, daß Er Jesum als seinen

Bürgen und Stellvertreter gesandt hat. Seine Augen

sind geöffnet, um Jesum zu sehen, der alle seine Sünden

an Seinem eignen Leibe auf das Holz getragen hat. Er

weiß, daß . das Blut Jesu alle Ansprüche der göttlichen

Heiligkeit bis aufs Äußerste erfüllt hat; und er kann jetzt

sagen: „So gewiß wie Jesus für mich verurteilt und nm

meiner Übertretungen willen dem Tode überliefert worden

83

ist, so gewiß wie Golt Ihn am Kreuze als den Bürgen

für meine Sünden behandelt hat, so gewiß hat Er Ihn

auch um meiner Rechtfertigung willen aus dem Gefängnis

des Todes herausgeführt."

Denken wir uns, ein Bürge fei um der Schuld der

Person willen, für die er sich verbürgt hat, ins Gefängnis

geworfen worden; dann aber bezahle er die ganze Schuld

und werde wieder freigelassen. Ist nun nicht die schuldige

Person gerade so frei von aller Schuld wie ihr Bürge

selbst, der die Forderungen der Gläubiger sämtlich befriedigt

hat? Ohne alle Frage. Auch weiß ein solcher

ganz gewiß, daß er keine Schulden mehr hat. Warum?

Eben weil sein Bürge aus dem Gefängnis entlassen ist.

Genau so ist es mit dem Gläubigen. Er schaut und

vertraut jetzt nicht auf sich selbst oder auf seine Gefühle,

sondern auf Christum, seinen anbetungswürdigen Bürgen,

der die ganze Schuld bezahlt hat und durch die Herrlichkeit

des Vaters aus den Banden des Todes befreit

worden ist.

Sinne angelegentlich hierüber nach, mein lieber Leser!

Es war eine schreckliche Sache, als Jesus der Bürge

aller derer wurde, welche durch die Gnade an Ihn glauben

sollten. Betrachte Ihn im Garten Gethsemane. Welch

eine Angst und welch ein Kampf waren in Seiner heiligen

Seele im Blick auf das Werk, das vor Ihm lag! Und

dann richte deinen Blick aus das Kreuz, wo alle unsre

Sünden und unsre Schuld auf Ihn gelegt wurden. Welche

Stunden bitterster Not! Dennoch vertraute Er Gott.

„Du wirst meine Seele nicht im Hades zurücklassen", so

hören wir Ihn sagen, „noch zugeben, daß dein Frommer

die Verwesung sehe". (Apstgsch. 2, 27.) Und Gott hat

Seine Seele nicht im Hades zurückgelassen. Er hat Ihn

aus den Toten auferweckt, um nie wieder von Gott verlassen

zu werden, sondern um hinaufzusteigeu in die höchste,

erhabenste Herrlichkeit. Christus war ohne Sünde, der

vollkommen Heilige und Gerechte. Wenn Er deshalb um

der Sünde willen starb, so muß Sein Tod ganz für uns

84

sein. Auch hatte Er keine eignen Sünden, von welchen

Er hätte gerechtfertigt werden müssen; deshalb ist Seine

Auferstehung ebenfalls einzig und allein für uns. Erstarb

als unser Bürge, so daß alles das, was Gott am

Kreuze Christo that, dem Gläubigen zugerechnet wird; Er

wurde aus den Toten auferweckt als unser Stellvertreter,

so daß alles das, was Gott bei Seiner Auferstehung an

Christo that, an uns geschehen ist in Ihm.

Christus ist aus er st and en! Ist noch irgend

welche Sünde oder Schuld auf Ihm? Unmöglich. Wie

könnte Er sonst zur Rechten Gottes sitzen, mit Ehre und

Herrlichkeit gekrönt? Darum ist Gott jetzt nur gerecht,

wenn Er einen jeden rechtfertigt, der des Glaubens an

Jesum ist. Gott selbst ist es, welcher rechtfertigt;

wer ist, der verdamme ? (Vergl. Röm. 8, 29—34; Hebr.

10, 14; 1. Joh. 4, 17.)

Noch einmal denn, mein lieber Leser! So lange

du auf dich oder auf irgend etwas in dir blickst, bist du

weit davon entfernt, deiner Rechtfertigung gewiß zu sein.

Darum blicke von dir ab, allein auf Christum hin, und

dann wirst du nicht mehr nach etwas suchen, was dir

Gewißheit über die Frage geben könnte, ob du auch wirklich

von aller Sünde gerechtfertigt seiest oder nicht. Nein,

du wirst vielmehr mit dem Apostel triumphierend ausrufen:

„Christus ist es, der gestorben, ja noch

mehr, der auch auferweckt, der auch zur

Rechten Gottes ist!"

Kann der Kläger noch bestehen,

Da zur Rechten Gottes jetzt

Er des Menschen Sohn muß sehen,

Auf den Thron von Gott gesetzt?

Alle Klagen, abgeschlagen,

Sind dort außer Kraft gefetzt;

Vor dem Lamm auf Gottes Thron

Geht der Kläger stumm davon.

Die Verschwörung Absalows.

(Schluß.)

Am Ende von 2. Sam. 12 finden wir David wieder

an seinem richtigen Platze, im Kamps mit dem Feinde:

„Und David versammelte alles Volk und zog nach Rabba,

und er stritt wider dasselbe und nahm es ein . . . Und

das Volk, das darin war, führte er hinaus und legte es

unter die Säge und unter eiserne Dreschwagen und unter

eiserne Beile, und ließ sie durch einen Zicgelofen gehen.

Und also that er allen Städten der Kinder Ammon. Und

David und das ganze Volk kehrten nach Jerusalem zurück."

Und jetzt beginnt die ernste Geschichte der Leiden

Davids. Das Wort des Propheten, daß das Schwert

nicht von seinem Hause weichen solle ewiglich, geht in

Erfüllung. Das 13. Kapitel berichtet von zwei der ver-

abschenungswürdigsten Handlungen, die je eine Familie

befleckt haben mögen. Ammon, der Sohn Davids, entehrt

die Schwester Absalows, und Abfalom ermordet Ammon

und flieht dann nach Gesur, wo er drei Jahre bleibt.

Dann erlaubt ihm David nach Jerusalem zurückzukehren,

im Widerspruch mit dem bestimmten Gebot des Gesetzes.

Selbst wenn Absalom nur ein Totschläger gewesen wäre,

hätte er in einer der Zufluchtsstädte bleiben müssen; aber

er war ein Mörder, der mit Absicht und Überlegung seinen

Bruder ermordet hatte; und mit dieser Blutschuld auf seinem

XNIV 4

86

Gewissen, wurde ihm die Heimkehr erlaubt. Wir hören

weder von einem Bekenntnis, noch von einem Sühnopfer;

es waren rein natürliche Gefühle für ihn, die David veranlaßten,

ihn wieder zurückkehren zu lassen. „Und der König

küßte Absalom." Ja, der König küßte den Mörder, statt

dem Gesetze des Gottes Israels seinen Lauf zu lassen.

Und was dann? „Und es geschah hernach, da schaffte sich

Absalom Wagen und Rosse an, und fünfzig Mann, die

vor ihm herliefen." (Kap. 15, 1.) Das war der nächste

Schritt. Davids unerlaubte Rücksichtnahme auf seinen

Sohn, seine falsche natürliche Liebe dienten nur dazu, der

offnen Empörung Absaloms den Weg zu bahnen. Welch

eine ernste Warnung liegt für uns in diesen Dingen! Handle

rücksichtsvoll und zärtlich mit dem Bösen, und du kannst

versichert sein, daß es ausreifen und dich am Ende verderben

wird. Begegnest du ihm aber mit einem Antlitz,

hart wie ein Kieselstein, so ist der Sieg auf deiner Seite.

Spiele nicht mit der Schlange, sondern tritt sie ohne

Zögern unter die Füße. Bolle, unbeugsame Entschiedenheit

dem Bösen gegenüber ist der einzig sichere und glückliche

Pfad für einen Gläubigen. Er mag im Anfang

schwer und schmerzlich sein, aber sein Ende ist friedlich.

Doch beachten wir, wie Absalom zu Werke geht.

Er beginnt damit, daß er in den Herzen der Männer von

Israel Unzufriedenheit wachruft. „Und Absalom machte

sich früh auf und stellte sich an die Seite des Thorweges;

und es geschah: jedermann, der einen Rechtsstreit hatte,

nm zu dem König zu Gericht zu kommen, dem rief Absalom

zu und sprach: Aus welcher Stadt bist du? Und sprach

er: Dein Knecht ist aus einem der Stämme Israels, so

sprach Absalom zu ihm: Siehe, deine Sachen sind gut

87

und recht; aber du hast von feiten des Königs

niemanden, der sie anhörte. Und Absalom sprach:

Wer mich doch zum Richter setzte im Lande, daß zu mir

käme jedermann, der einen Rechtsstreit und Rechtshandel

hat, und ich würde ihm zu seinem Recht verhelfen! Und

es geschah, wenn jemand ihm nahte, sich vor ihm zu

bücken, so streckte er seine Hand aus und ergriff ihn und

küßte ihn . . . und Absalom stahl das Herz der Männer

von Israel." So macht es der Feind immer. Er ruft

Unzufriedenheit hervor und schafft ein vermeintliches Bedürfnis,

einen vorgeblichen Mangel, und dann sucht er

diesen auszufüllen mit irgend einer Sache oder einer

Person, die er selbst auf den Schauplatz führt. Alle diejenigen,

deren Herzen mit David erfüllt und befriedigt

waren, hatten keinen Raum für Absalom.

Das ist ein schöner Grundsatz, wenn wir ihn hinsichtlich

des wahren David auf unsre Herzen anwenden.

Sind wir mit Ihm erfüllt, so haben wir keinen Raum

für irgend etwas anderes. Nnr dann wenn es Satan

gelingt, ein Bedürfnis, eine Leere in unserm Herzen Hervorzurusen,

wird es ihm auch gelingen, etwas neben Christo

zur Ausfüllung dieser Leere einzuführen. Kann ich in

Wahrheit sagen: „Der Herr ist mein Teil", so bin ich

geborgen vor dem Einfluß der verführerischen Köder, die

Satan mir vorhält. Der Herr erhalte uns deshalb in

dem beglückenden und heiligenden Genuß Seiner Person;

dann werden wir eine solch unvergleichliche Herrlichkeit und

Schönheit in Ihm entdecken, daß alles andere seinen Wert

und Glanz verliert.

Es gelang Absalom nur zu gut, die Herzen der

Männer von Israel zu stehlen. Er trat mit Schmeicheleien

88

an sie heran und gewann so in ihren Herzen und Zuneigungen

allmählich den Platz, der allein David gehörte.

Er war ein stattlicher Mann, wohl geeignet, das Urteil

der Menge zu bestechen und für sich einzunehmen. „In

ganz Israel war kein Mann wegen seiner Schönheit so

sehr zu preisen wie Absalom; von seiner Fußsohle bis zu

seinem Scheitel war kein Fehl an ihm." Aber seine

Schönheit und seine Schmeicheleien machten keinen Eindruck

auf diejenigen, welche der Person Davids

nahe standen. Als der Bote kam, der David über die

von Absalom ins Werk gesetzte Verschwörung Bericht brachte

und sagte: „Das Herz der Männer von Israel hat sich

Absalom zugewandt", zeigte es sich, wer für David war

und wer nicht. „Da sprach David zu allen feinen Knechten,

die bei ihm waren in Jerusalem: Machet euch auf, und

lasset uns fliehen . . . Und die Knechte des Königs

sprachen zu dem König: Nach allem, was mein Herr, der

König, zu thun erwählen wird, siehe hier, deine Knechte! . . .

Und der König zog hinaus, und alles Volk in seinem

Gefolge, und sie machten Halt bei dem entfernten Hause.

Und alle seine Knechte zogen an seiner Seite hinüber

; und alle die Kerethiter und alle die Pelethiter, und

alle die Gathiter, sechshundert Mann, die in seinem Gefolge

von Gath gekommen waren, zogen vor dem König

hinüber . . . Und das ganze Land weinte mit lauter

Stimme, und alles Volk ging hinüber; und der König

ging über den Bach Kidron; und alles Volk ging hinüber,

nach dem Wege zur Wüste hin."

Es gab also noch viele Herzen, welche David zu

aufrichtig liebten, um durch die bestrickenden Einflüsse

Absaloms sich von ihm abziehen zu lassen. Diejenigen,

89

welche in den Tagen seiner Verbannung Freud und Leid

mit ihm geteilt hatten, verließen ihn auch in der Zeit

sein^D tiefsten Schmerzes nicht. „David aber ging die

Anhöhe der Olivenbäume hinauf und weinte, während er

hinaufging; und sein Haupt war verhüllt, und er ging

barfuß; und alles Volk, das bei ihm war, hatte ein jeder

sein Haupt verhüllt und ging unter Weinen hinauf!" Es

war ein rührendes und interessantes Schauspiel. Die

Gnade, welche in David wirkte, strahlte während dieser

Verschwörung in viel lieblicherem Lichte als während

irgend eines andern Abschnittes seines Lebens; zugleich

aber zeigte sich auch die innige Zuneigung seiner Getreuen

in einer Weise wie nie vorher. Wenn wir diese Scharen

den weinenden, barfuß dahinschreitenden David umringen

sehen, so werden unsre Herzen tief bewegt, viel tiefer, als

wenn wir sie um seinen Thron her erblicken; denn hier

ist offenbar seine Person, und nicht sein Amt und seine

Würde, der große Anziehungspunkt für sie. David konnte

seinen Begleitern jetzt nichts anderes bieten als die Gemeinschaft

an seiner Verwerfung; und dennoch war seine Person

für alle, die ihn kannten, mit einem Reiz umgeben, der sie

für immer unauflöslich mit ihm verband. Sie konnten

ebensowohl mit ihm weinen als Schlachten schlagen und

Siege erringen. Hören wir nur die Worte eines Mannes,

der David aufrichtig liebte: „Jttai antwortete dem König

und sprach: So wahr Jehova lebt und mein Herr König

lebt, an dem Orte, wo mein Herr, der König, sein wird,

sei es zum Tode, sei es zum Leben, daselbst wird dein

Knecht sein!" Tod oder Leben — alles war gleich in

Gemeinschaft mit dem Könige.

Das ist wahrhaft ergreifend; aber noch ergreifender

90

ist die aufrichtige Demut und Unterwürfigkeit des Geistes,

welche sich hier in David offenbaren. Wenn Zadok und

die Leviten mit der Bundeslade kommen, um sich in, den

Trauerzug einzureihen, sagt er: „Bringe die Lade Gottes

in die Stadt zurück. Wenn ich Gnade finde in den

Augen Jehovas, so wird Er mich zurückbringen, und mich

sie und ihre Wohnung sehen lassen. Wenn Er aber also

spricht: Ich habe nicht Lust an dir — hier bin ich, mag

Er mit mir thun, wie es gut ist in Seinen Augen." Und

als Simei, der Benjaminit, ihm entgegentrat, um ihm zu

fluchen und mit Steinen nach ihm zu werfen, und Abisai

um die Erlaubnis bat, ihm den Kopf wegnehmen zu

dürfen, antwortete er: „Was haben wir mit einander zu

schaffen, ihr Söhne Zerujas? Ja, mag er fluchen! denn

wenn Jehova ihm gesagt hat: Fluche David! wer darf

dann sagen: Warum thust du also?" Mit einem Wort,

David beugte in Demut sein Haupt unter die Regierungswege

Gottes. Er fühlte ohne Zweifel, daß er nur die

Frucht seiner Sünde erntete; und er nahm alles aus

Gottes Hand an. Er sah Gott in jedem einzelnen Umstand

nnd erkannte Ihn an mit einem unterwürfigen und

ehrerbietigen Geiste. Vor seinem Auge stand nicht Simei,

sondern Gott. Abisai sah nur den Menschen und wollte

demgemäß auch mit Simei handeln, gerade so wie Petrus

in späteren Tagen, als er seinen geliebten Herrn vor der

Schar der Häscher verteidigen wollte, die ausgesandt waren,

Ihn gefangen zu nehmen. Petrus wie Abisai lebten auf

der Oberfläche und blickten auf Nebenursachen. Der Herr

Jesus aber lebte in der tiefsten Unterwürfigkeit unter

Seinen Vater. „Der Kelch, den mir der Vater gegeben

hat, soll ich den nicht trinken?" Das gab ihm Gewalt

91

über alles. Er schaute über das Werkzeug hinaus auf

Gott hin, über den Kelch hinaus auf die Hand, welche

denselben gefüllt hatte. Es machte nichts aus, ob Judas,

Herodes, Kajaphas oder Pilatus als Werkzeuge dienten;

Er konnte im Blick auf alles sagen: „Der Kelch, den mir

der Vater gegeben hat".

So stand auch David in seinem Maße über solch

untergeordneten Mitteln und Werkzeugen. Er blickte geradeswegs

auf Gott, und mit unbeschuhten Füßen und

verhülltem Haupte beugte er sich vor Ihm in den Staub.

Wenn Jehova gesagt hatte: „Fluche David!" dann hatte er

nichts weiter zu thun, als sich unter die Hand Gottes zu

beugen.

Es giebt wohl kaum etwas, worin wir so viel fehlen,

als in der Verwirklichung der Gegenwart Gottes und dem

Erkennen Seines Wirkens in allen, auch den kleinsten

Umständen des täglichen Lebens. Wir sind fortwährend

geneigt, auf Nebenursachen zu blicken und nicht Gott in

allen Dingen zu sehen. Daher erlangt Satan so

manchen Sieg über uns. Lebte das Bewußtsein mehr in

unsern Herzen, daß uns kein einziges Ereignis vom Morgen

bis zum Abend begegnen kann, in welchem wir nicht die

Stimme Gottes zu vernehmen und Seine Hand zu sehen

vermöchten, so würden wir Menschen und Dinge mit ganz

anderen Augen betrachten und mit weit größerem Ernst

unsern Weg gehen. Unser Geist würde ruhig, unser Herz

still und ergeben sein. Wir werden dann nicht mit Abisai

sagen: „Warum soll dieser tote Hund meinem Herrn, dem

König, fluchen? laß mich doch hinübergehen und ihm den

Kopf wegnehmen!" noch werden wir, wie Petrus, in

fleischlichem Eifer das Schwert ziehen. Ach, wie tief

92

standen beide Männer, trotz ihrer aufrichtigen Liebe, unter

ihren Herren! Wie muß das Thun des Petrus den

Geist Christi verletzt, und wie müssen Abisais Worte den

demütigen und unterwürfigen David verwundet haben!

Hätte es David angestanden, sich selbst zu verteidigen, wenn

Gott in einer so ernsten und eindringlichen Weise mit seiner

Seele beschäftigt war? Wahrlich nicht. Er dachte nicht

daran, sich aus der Hand seines Herrn herauszunehmen;

er war Sein im Leben und im Sterben, als König und

als Verbannter.

Doch kehren wir noch einmal zu den Freunden Davids

zurück, deren Hingebung und Liebe zu seiner Person

eine schwere Probe in schwerer Zeit so glänzend bestanden.

Die Helden Davids umringen ihren Herrn von allen Seiten

und teilen mit ihm die Beschimpfungen und Verwünschungen

Simeis. Sie waren mit ihm gewesen auf der Bergfeste,

mit ihm auf dem Throne, und dem Schlachtfelde, und jetzt

sind sie mit ihm in seiner Demütigung. Schobi, Makir

und Barsillai erscheinen aus dem Schauplatz und bedienen

David und seine Männer mit fürstlicher Freigebigkeit.

Mit einem Worte, die Gedanken vieler Herzen wurden

offenbar in dieser Zeit der Trauer und Trübsal Davids.

Es zeigte sich, wer David um seiner selbst willen liebte,

und wer nicht.

Indes begegnen wir hier einem Charakter, bei

welchem wir noch etwas eingehender verweilen müssen.

Ich meine Mephiboseth, den Sohn Jonathans. Wir werden

uns erinnern, daß David kurz nach seiner Thronbesteigung

jene denkwürdigen und gnadenvollen Worte aussprach: „Ist

noch jemand da, der übriggeblieben ist vom Hause Sauls^,

daß ich Güte Gottes an ihm erweise?" „Das Haus

93

Sauls" und „Güte Gottes" — welch eine Verbindung!

Saul war Davids unversöhnlichster Feind gewesen; und

doch, als David jetzt aus dem Throne sitzt, befähigen ihn

der Glanz seiner Stellung und die Fülle der göttlichen

Gnade, die Vergangenheit zu vergessen und nicht nur Güte

Davids, sondern Güte Gottes zu offenbaren.

Die Güte Gottes kennzeichnet sich stets durch diesen besondern

Charakterzug, daß sie gegen Feinde in Thätigkeit

tritt. „Gott aber erweist Seine Liebe gegen uns darin, daß

Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben

ist"; und weiter: „Denn wenn wir, da wir Feinde

waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod Seines

Sohnes w.". (Röm. 5, 8. 10.) Eine ähnliche Liebe und

Güte wünschte David an einem Gliede des Hauses Sauls

zu erweisen. „Und Mephiboseth, der Sohn Jonathans,

des Sohnes Sauls, kam zu David; und er fiel auf fein

Angesicht und bückte sich . . . Und David sprach zu ihm:

Fürchte dich nicht; denn ich will gewißlich Güte an dir

erweisen nm Jonathans, deines Vaters, willen, und will

dir alle Felder deines Vaters Saul zurückgeben; du aber

sollst beständig an meinem Tische essen. — Und er bückte

sich und sprach: Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch

einem toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" (2. Sam. 9.)

Hier haben wir eine liebliche Probe von der Güte Gottes

und entdecken zugleich die Ursache der nachmaligen Hingebung

Mephiboseths an David. Obgleich er nicht mehr

Ansprüche an den König zu machen hatte, als ein Feind

oder ein toter Hund, wurde er dennoch in Gnaden ausgenommen

und an den Tisch des Königs gesetzt.

Aber Mephiboseth hatte einen treulosen Knecht, der

zur Erreichung seiner eignen habsüchtigen Zwecke ihn bei

94

dem Könige in ein falsches Licht setzte. Die ersten Verse

des 16. Kapitels geben uns einen Bericht von Zibas

falschem Thun. Er erweist David Freundlichkeit und

schwärzt Mephiboseth bei ihm an, um so in den Besitz des

Landes seines Herrn zu kommen. Aus der körperlichen

Schwachheit Mephiboseths Vorteil ziehend, betrügt und

verleumdet er ihn. Welch ein trauriges Gemälde!

Doch die Wahrheit kam ans Licht, und der so schnöde

Verleumdete wurde voll und ganz gerechtfertigt. Bei Davids

Rückkehr, als der ganze Aufruhr vorüber und Absalom

vom Schauplatz verschwunden war, da kam „Mephiboseth,

der Sohn Sauls, herab, dem Könige entgegen. Und er

hatte seine Füße nicht gereinigt und seinen Bart nicht gemacht

und seine Kleider nicht gewaschen von dem Tage

an, da der König weggegangen war, bis zu dem Tage,

da er in Frieden einzog". (Kap. 19, 24.) So beschreibt

der Heilige Geist den Charakter dieses interessanten Mannes.

Die Abwesenheit seines Herrn beraubte ihn jeglichen Beweggrundes,

seine eigne Person zu Pflegen oder gar zu schmücken.

So lange David fern von Jerusalem weilte, war Mephiboseth

ein Trauernder — ein schönes Bild von dem, was

der Gläubige heute sein sollte, so lange sein Herr und

Meister abwesend ist. „Glückselig die Trauernden, denn

sie werden getröstet werden!" Wahre Gemeinschaft mit

dem abwesenden Herrn wird dem christlichen Charakter den

Stempel völliger Absonderung aufprägen. Die Frage ist

nicht, was ein Christ thun oder nicht thun darf. Nein,

ein liebendes Herz wird nicht zweifelhaft sein hinsichtlich

des Verhaltens, welches sich für solche geziemt, die auf die

Rückkehr des Königs warten. Frage einen wahrhaft geistlichen

Christen, warum er sich von Dingen fernhält, die

95

er vielleicht genießen könnte, ohne daß jemand ihn einer

Sünde zeihen dürfte. Seine Antwort lautet: weil Jesus

abwesend ist. Das ist der höchste Beweggrund, der

einen Gläubigen leiten kann. Christus ist droben, und so

sucht der Gläubige das, was droben ist, und nicht das,

was auf der Erde ist. Wir bedürfen nicht der Regeln und

Satzungen einer kalten Formen-Religion, nm danach unsre

Wege einzurichten; was uns not thut, ist eine glühendere

Liebe zu der Person Christi und ein sehnlicheres Verlangen

nach Seiner baldigen Rückkehr. Wir haben, wie Mephi-

boseth, die Güte Gottes erfahren, und wahrlich, eine kostbare

Güte! Wir sind aus der Tiefe unsers Elends und

Verderbens herausgenommen und unter die Fürsten Seines

Hauses gesetzt worden. Sollten wir deshalb unsern Herrn

nicht mit der ganzen Kraft unsrer Herzen lieben? Sollten

wir nicht danach begehren, Sein Antlitz zu sehen? Sollten

wir nicht unser gegenwärtiges Verhalten einrichten nach

Seinen Gedanken und Seinem wohlgefälligen Willen?

O möchten unsre Herzen imstande sein, mit einem herzlichen

„Ja" auf diese Frage zu antworten! Aber ach, wie wenig

gleichen wir oft dem Mephiboseth! wie sind wir so gern

bereit, uns gütlich zu thun und unsrer hassenswürdigen

Natur zu folgen und ihren Wünschen zu dienen! wie geneigt,

den glänzenden Dingen dieses Lebens nachzutrachten,

den Reichtümern, den Ehren, den Vergnügungen und dem

Luxus dieser Welt, indem wir uus eiuzureden suchen, daß wir

alles das thun können, ohne unser Anrecht auf den Namen

und die himmlischen Segnungen eines Christen einzubüßen!

Welch eine beklagenswerte Eigenliebe und Selbstsucht zeigt

sich so oft in unserm Thun, eine Selbstsucht, deren wir

uns am Tage der Erscheinung Christi tief schämen müssen!

96

Wäre Zibas Bericht über Mephiboseth wahr gewesen,

wie hätte dieser dann antworten können, als David ihn

fragte: „Warum bist du nicht mit mir gezogen, Mephiboseth?"

Aber er konnte dem König frei ins Auge schauen

und sagen: „Mein Herr König, mein Knecht hat mich betrogen;

denn dein Knecht sprach: Ich will mir den Esel

satteln und darauf reiten und mit dem König ziehen, denn

dein Knecht ist lahm; und er hat deinen Knecht bei meinem

Herrn, dem König, verleumdet. Aber mein Herr, der

König, ist wie ein Engel Gottes: so thue, was gut ist in

deinen Augen. Denn das ganze Haus meines Vaters ist

nichts gewesen als Männer des Todes vor meinem Herrn,

dem König; und doch hast du deinen Knecht unter die gefetzt,

welche an deinem Tische essen. Und was für ein

Recht habe ich noch? und um was hätte ich noch zum

König zu schreien?" Wie schön ist diese Einfalt und

Aufrichtigkeit des Herzens, und wie schlagend ist der Gegensatz

zwischen Ziba und Mephiboseth! Der erstere trachtete

nach dem Erbe Sauls, der letztere wünschte nur in

der Nähe des Königs zu sein. Wenn deshalb David sagte:

„Warum redest du noch von deinen Sachen? Ich sage:

Du und Ziba, ihr sollt die Felder teilen", gab Mephiboseth

sofort die Richtung seiner Gedanken und Wünsche kund mit

den Worten: „Er mag auch das Ganze nehmen,

nachdem mein Herr, der König, in Frieden in sein Haus

gekommen ist". Sein Herz war von David erfüllt, nicht

von „seinen Sachen". Wie hätte er mit Ziba auf einem

Boden stehen, wie mit einem solchen Manne die Felder

teilen können? Unmöglich! Der König war zurückgekehrt;

das war genug für ihn. In seiner Nähe weilen zu dürfen,

war weit besser als das ganze Erbe des Hauses Sauls.

97

„Er mag auch das Ganze nehmen." Die Person des

Königs erfüllte und befriedigte das Herz des armen Lahmen

so völlig, daß er ohne Bedenken alles das aufgeben konnte,

um dessen Besitz Ziba ein Betrüger und Verleumder geworden

war.

Gerade so wird es mit allen sein, welche den Namen

und die Person des Sohnes Gottes lieben. Die Aussicht

auf Seine baldige Erscheinung wird alle Neigungen

zu den Dingen dieser Welt im Keime ersticken. Ausdrücke

wie „erlaubt" oder „nicht erlaubt" find viel zu kalt für

solche Herzen. Schon die Thatsache, daß sie nach dem

Morgenstern ausschauen, wird sie notwendigerweise von

allem anderen ablenken; denn wenn man mit gespannter

Aufmerksamkeit aus einen besonderen Gegenstand blickt, kann

man nichts anderes ins Auge fassen. Ach, wenn die

Gläubigen mehr die Kraft ihrer gesegneten Hoffnung verwirklichten,

wie würden sie dann getrennt von der Welt

wandeln und hoch über ihren Zielen und Beweggründen

stehen! Der Feind weiß das sehr wohl, und deshalb ist

er mit allen Mitteln bemüht, diese Hoffnung zu einem

bloßen Kopswissen herabzudrücken, zu einer Lehre, die wenig

oder gar keine praktische Kraft, ja kaum eine feste, unbestreitbare

Grundlage hat. Es ist ihm gelungen, gerade

jenen Teil des göttlichen Buches, der in besonderer Weise

die mit der Ankunft des Herrn in Verbindung stehenden

Ereignisse behandelt, beinahe völliger Vernachlässigung anheim

fallen zu lassen. Bis vor gar nicht langer Zeit war

man gewöhnt, das Buch der Offenbarung als ein so tiefes

und unauflösliches Geheimnis zu betrachten, daß nur

wenige, wenn überhaupt jemand, es wagen durften, sich

mit ihm zu beschäftigen. Und selbst seitdem die Aufmerk

98

samkeit der Christen wieder mehr auf die Erforschung der

Offenbarung gelenkt worden ist, hat der Feind solch widerstreitende

Meinungen und verkehrte Erklärungen darüber

hervorgerufen, daß einfache Gemüter fast vor dem Buche

zurückschrecken, in der Meinung, dasselbe sei nur eine Zusammenstellung

von dunklen, unerklärlichen Bildern und verwirrenden

Prophezeiungen.

Hierfür giebt es nur ein Heilmittel, und das ist: eine

aufrichtige Liebe zu Jesu und zu Seiner Erscheinung. Alle,

welche wirklich auf Jesum warten, werden über die Art

Seines Kommens nicht viel disputieren. Überhaupt können

wir es als einen feststehenden Grundsatz betrachten, daß

in demselben Verhältnis, wie die Liebe abnimmt, der Geist

des Streitens und Disputierens wächst. Mephiboseth

fühlte, daß er David alles verdankte, daß er durch ihn

vom Verderben errettet und zu hoher Würde gelangt war.

Für ihn gab es deshalb nur einen Gegenstand, nur e i n

Interesse; nnd wenn Davids Platz durch einen Empörer

eingenommen wurde, so mußten die ganze äußere Erscheinung

und das Verhalten Mephibosets beweisen, daß er mit dem

bestehenden Zustand der Dinge nicht einverstanden war. Er

war ein Fremdling inmitten desselben und seufzte nach der

Rückkehr des Mannes, dessen Güte ihn zu dem gemacht

hatte, was er war. Seine Interessen und Hoffnungen

standen alle mit David in Verbindung, und nichts als

seine Rückkehr konnte ihn glücklich machen.

O möchte es auch so mit uns sein, geliebter christlicher

Leser! Möchten wir mehr unsern Charakter als

Fremdlinge und Pilgrime verwirklichen inmitten eines Schauplatzes,

wo Satan regiert! Die Zeit naht heran, wo unser

geliebter König unter den jubelnden Zurufen Seines Volkes

99

zurückkehren, der Empörer von seinem Throne gestoßen

und jeder Feind zum Fußschemel unsers hochgelobteu Immanuel

gelegt werden wird. Die Absaloms, die Ahitophels

und die Simeis werden alle ihren gebührenden Platz und

Lohn finden, und andrerseits werden alle, die gleich Mephiboseth

über den abwesenden David getrauert haben, alle

Wünsche ihres Herzens überströmend befriedigt finden.

„Wie lange, Herr?" das sei unser Ruf, während wir

sehnsüchtig auf den ersten Laut warten, der uns Sein

Kommen ankündigt! Der Weg ist lang und nicht selten

rauh und schmerzlich; die Nacht ist finster und niederdrückend.

Aber das Wort ruft uns zu: „Habt nun Geduld,

Brüder!" und: „Noch über ein gar Kleines, und der

Kommende wird kommen und nicht verziehen. Der Gerechte

aber wird aus Glauben leben; und wenn jemand sich

zurückzieht, so wird meine Seele kein Wohlgefallen an ihm

haben."

Ich denke nicht, auf die Einzelheiten der Verschwörung -

Absaloms näher einzugehen. Er fand ein schreckliches Ende,

wie seine Thaten es verdienten, obwohl eines Vaters Herz

über ihn trauern und eines Vaters Thränen um seinetwillen

fließen mochten. Seine Geschichte mag mit Recht

als ein Vorbild jenes Mannes und seines Thuns betrachtet

werden, der, wie Daniel uns berichtet, „sich des Königtums

durch Schmeicheleien bemächtigen" würde. Dies, wie

manchen anderen interessanten Punkt, möchte ich jedoch der

Beurteilung und näheren Betrachtung des Lesers überlassen,

indem ich den Herrn bitte, ihm die Erforschung Seines Wortes

zur Erfrischung und Erbauung dienen zu lassen. Nie

hat es wohl eine Zeit gegeben, wo es für die Christen

notwendiger gewesen wäre, unter Gebet und Flehen die

100

Schriften zu erforschen, wie heute. Widerstreitende Meinungen,

befremdende Behauptungen und haltlose, böse Lehren

schwirren umher, und das einfältige Herz weiß oft nicht,

wohin es sich wenden soll. Doch Gott sei gepriesen!

Sein Wort liegt vor uns in all seiner Einfachheit und

Klarheit, und in ihm besitzen wir die ewige Quelle der

Wahrheit, den unveränderlichen Maßstab, an welchem wir

alles messen und durch welches wir alles beurteilen müssen.

Was uns not thut, ist ein Herz, das der Belehrung des

Wortes Gottes unterworfen ist. „Wenn dein Auge einfältig

ist, so wird dein ganzer Leib licht sein"; und:

„Jehova bewahrt die Einfältigen", und „den Demütigen

giebt Er Gnade".

„Erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes."

(Judas Vers 2t.)

Die Epistel Judas führt uns den traurigen Verfall

der bekennenden Kirche vor Augen, mit der Absicht, die

Gläubigen zu warnen, damit sie nicht von demselben mit

fortgerissen werden. Sie ermahnt uns nicht, den Verfall

aufzuhalten, betont vielmehr in bestimmter Weise, daß derselbe

unter stets zunehmender Verschlimmerung bis zum Gericht

vorangehen werde. Ihn aufhalten zu wollen, wäre

nicht nur vergebliche Mühe, sondern würde auch ebenso anmaßend

und thöricht sein, als wenn einer versuchen wollte,

den Rheinstrom in seinem mächtigen Laufe aufzuhalten.

Deswegen sind auch alle, die sich mit dem Verderben der

Kirche beschäftigt haben, in der Absicht, sie zu ihrem ursprünglichen

Zustande zurückzuführen, sie neu zu beleben

101

und in ihrer alten Schönheit darzustellen, nicht nur völlig

zu Schanden geworden, sondern sie sind selbst auch in

den Verfall mit hineingezogen worden, und ihre Bemühungen

haben nur dazu gedient, die Verwirrung zu vermehren.

Anstatt daher den Gläubigen die Anweisung zu geben,

sich mit dem Verfall zu beschäftigen und ihm entgegen zu

arbeiten, zeigt unsre Epistel ihnen vielmehr, wie sie sich

vor demselben bewahren können, um nicht mit fortgerissen

zu werden. Sie zeigt ihnen, daß ihre Sicherheit inmitten

des Verderbens darin besteht, sich selbst in der Liebe

Gottes zu erhalten, und giebt ihnen zugleich Anleitungen,

wie dies geschehen kann. Sie werden ermahnt, für den

einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen, sich

auf Grund ihres allerheiligsten Glaubens zu erbauen, in

dem Heiligen Geiste zu beten, und die Barmherzigkeit

unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben zu erwarten.

(Vers 3. 20. 21.) Wenn sie dieses thun, so werden sie

sich selbst in der Liebe Gottes erhalten, gemäß den Worten

des Herrn: „Gleichwie mich der Vater geliebt hat, habe

auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe. Wenn

ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe

bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten

habe und in Seiner Liebe bleibe." (Joh. 15, 9. 10.)

Nichts kann köstlicher sein, als in der Liebe Gottes

zu bleiben; denn sie macht das Herz glücklich und erfüllt

es mit Ruhe, Frieden und Vertrauen zu Gott, so daß es

selbst inmitten des Verfalls weit bleibt für alle Heiligen,

hingebeud für die Errettung verlorner Sünder, und offen

für die Bedürfnisse einer seufzenden Schöpfung. Sie

richtet unsern Blick auf Gott, ihre Quelle, denn Er ist

102

Liebe; „und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und

Gott in ihm". (1. Joh. 4, 7. 8. 16.) Welch ein Ergebnis

! Wer in der Liebe bleibt, steht außerhalb des

Verfalls, des Haders der Parteien, der spitzfindigen, fruchtlosen

Spekulationen des menschlichen Geistes, durch welche

das geistliche Leben geschwächt und die Herzen verengt

werden. Er bleibt in Gott, frei von den Befleckungen

der Welt und des Fleisches, geschützt gegen die Angriffe

des Feindes, indem dieser nicht wagt, ihn anzutasten.

„Wir wissen, daß jeder, der ans Gott geboren ist, nicht

sündigt; sondern der aus Gott Geborene bewahrt sich,

und der Böse tastet ihn nicht an." (1. Joh. 5, 18.) Und

Gott bleibt in ihm, erfüllt sein Herz, seine Gedanken und

Neigungen und giebt sich ihm zu erkennen und zu genießen.

Kurz, er ist in die unmittelbare Nähe Dessen gebracht,

der, unendlich in sich selbst, die Quelle unendlicher Liebe

und Segnungen, unendlichen Glückes und Trostes ist, die

Quelle alles wahren Lebens.

Wie wichtig ist es daher für die Gläubigen, auf die

Ermahnung zu achten: „Erhaltet euch selbst in der Liebe

Gottes", sowie aus die Bedingungen, unter welchen dies

geschehen kann! Der Herr sagt: „Wenn ihr meine Gebote

haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben". Wir

können wohl sagen, daß diese Gebote für die Gläubigen

in den bereits angeführten Anleitungen unsrer Epistel kurz

zusammengefaßt sind. Zunächst sollen wir für den einmal

den Heiligen überlieferten Glauben kämpfen. Denn wie

könnten wir uns in der Liebe Gottes erhalten, wenn wir

den uns überlieferten Glauben, die im Christentum geoffenbarten

Wahrheiten, die Lehre der Apostel, nicht bewahrten?

Das Abweichen von diesen Wahrheiten, und

103

die Annahme andrer über diese hinausgehender Lehren,

war der erste Schritt zum Verfall, zur Entfernung aus

der Liebe Gottes. Daher die Ermahnung: „Ihr, was

ihr von Anfang gehört habt, bleibe in euch. Wenn

in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so

werdet auch ihr in dem Sohne und in dem Vater bleiben."

(1. Joh. 2, 24.) Um aber in dem zu bleiben, was wir

von Anfang gehört haben, bedarf es nicht menschlicher

Weisheit und Gelehrsamkeit, sondern nur der Einfalt

gegen Christum. Schwindet diese, so stehen wir in Gefahr,

falschen Lehren Gehör zu geben. Dies war die Befürchtung

des Apostels bei den Korinthern: „Ich fürchte aber, daß

etwa, wie die Schlange Eva verführte durch ihre List,

also auch euer Sinn verderbt und abgewandt werde von

der Einfalt gegen den Christus. Denn wenn der, welcher

kommt, einen andern Jesus predigt, den wir nicht gepredigt

haben, oder ihr einen andern Geist empfanget, den ihr

nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das

ihr nicht angenommen habt, so ertrüget ihr's gut."

(2. Kor. 11, 3. 4.) Wie uns die göttliche Geschichte

mitteilt, suchte die Schlange zunächst Zweifel gegen das

Wort Gottes, und dann Mißtrauen gegen Gott selbst im

Herzen der Eva zu erwecken. „Hat Gott wirklich gesagt?"

so fragte sie, und als Eva ihr Gehör schenkte,

ging sie sofort einen Schritt weiter und sagte: „Mit

nichten werdet ihr sterben; sondern Gott weiß, daß, welches

Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgethan,

und ihr werdet sein wie Gott". (I.Mose 3, 1—5.) Wäre

Eva einfältig bei dem geblieben, was Gott gesagt hatte,

so würde sie nicht in die Schlingen des Feindes gefallen

sein.

104

In derselben Einfalt nun, wie wir an dem uns

überlieferten Glauben festzuhalten haben, sollen wir uns

auch auf ihm als unserm allerheiligsten Glauben

erbauen. Wie die Lehre des Herrn und Seiner Apostel

nicht von dieser Welt, sondern aus Gott ist, völlig abgesondert

von menschlichen Erdichtungen, Erfindungen und

Spekulationen, so sondert sie auch uns zunächst von diesen

Dingen und allem Bösen ab, und zeigt uns Gott selbst,

geoffenbart in Christo. Und auf diesem Boden der Absonderung

stehend, vermögen wir uns, unter der Leitung

des Heiligen Geistes, mit den köstlichen Gedanken und

Offenbarungen Gottes zu beschäftigen, wie diese uns in

Seinem teuren Worte mitgeteilt sind; und unsre Herzen

werden erbaut und nehmen zu in der Erkenntnis der

Liebe Gottes. Das ist immer das Ergebnis wahrer Erbauung,

und diese ist um so nötiger, weil unsre Seelen

unter dem ausdörrenden Einfluß dieser Welt und des uns

umringenden Verderbens viel zu leiden haben. Die Erfüllung

dieser zweiten Bedingung ist also ebenso unerläßlich,

wie diejenige der ersten; denn so wichtig und unschätzbar

es auch ist, auf dem Boden der Wahrheit zu stehen, zurückgekehrt

zu sein und zu bleiben in dem, was von Anfang

war, so würden wir doch bald den Genuß der Liebe

Gottes verlieren, wenn wir uns nicht auch fleißig auf

unsern allerheiligsten Glauben erbauten.

Unzertrennlich hiervon ist das Gebet; denn ohne

Gebet giebt es keine wahre Erbauung. Die Beschäftigung

mit der Wahrheit würde vielmehr zu einer leeren, kraftlosen

Form herabsinken, selbst wenn sie sich in den richtigen

Schranken hielte. Man würde vielleicht tiefe Blicke in

die Wahrheit thun und die Erkenntnis vermehren, aber

105

trotz allem würde das Herz leer ausgehen und die Einfalt

Schiffbruch leiden, und man würde nichts weniger als

in der Liebe Gottes bleiben. „Die Erkenntnis bläht auf,

die Liebe aber erbaut. Wenn jemand sich dünkt, er erkenne

etwas, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen

soll; wenn aber jemand Gott liebt, der ist von Ihm erkannt."

(1. Kor. 8, 1—3.)

Jemehr wir den Ernst der gegenwärtigen schweren

Zeiten erkennen, desto mehr werden wir uns angetrieben

fühlen zu anhaltendem und inbrünstigem Gebet. Doch

vergessen wir nicht, daß dies geschehen muß in dem Heiligen

Geiste, unter Seiner Leitung und in Seiner Kraft. Jede

Wirksamkeit des Fleisches ist wertlos vor Gott, unter

welcher Form sie sich auch offenbaren möge. Und nur zu

leicht mischt sich das Fleisch in die Dinge des Geistes ein;

sogar, wenn wir nicht wachsam sind, in unsre Gebete.

Andrerseits können Umstände und Verhältnisse eintreten,

daß wir in unsrer Schwachheit und Kurzsichtigkeit nicht

wissen, was wir beten sollen. Da sei es denn zu unserm

Troste gesagt, daß der Geist sich unsrer Schwachheit annimmt

; denn wissen wir nicht, „was wir beten sollen, wie

sich's gebührt, so bittet der Geist selbst in unaussprechlichen

Seufzern. Der aber die Herzen erforscht (Gott), weiß,

was der Sinn des Geistes ist, denn Er bittet für die

Heiligen Gott gemäß". (Röm. 8, 26. 27.) Gott versteht

Seinen Geist, kennt die tiefsten Bedürfnisse unsrer Herzen,

und weiß den Sinn Seines Geistes zu unterscheiden, wie

schwach auch die Art und Weise unsrer Gebete sein mag.

„Betend in dem Heiligen Geiste" ist der uns angewiesene

Weg, auf welchem wir uns bei aller Schwachheit

und inmitten des allgemeinen Verderbens erbauen, in der

106

Liebe Gottes erhalten, und Andern zum Segen dienen

können. Wir bleiben alsdann in der Nähe Gottes, und

lassen Seiner Dazwischenkunft und Seinem mächtigen

Wirken Raum; während wir zugleich durch unser anhaltendes

und demütiges Flehen bezeugen, daß unsre Hilfe

bei Ihm allein, und daß die Stärke Gottes ist. „Einmal

hat Gott geredet, zweimal habe ich dieses gehört, daß die

Stärke Gottes sei." (Psalm 62, 11.) Viele Heilige haben

es schon erfahren, daß das inbrünstige Gebet eines Gerechten

viel vermag. „Elias war ein Mensch von gleichen

Gemütsbewegungen wie wir, und er betete mit Gebet,

daß es nicht regnen sollte, und es regnete nicht auf der

Erde drei Jahre und sechs Monate. Und wiederum betete

er, und der Himmel gab Regen, und die Erde brachte ihre

Frucht hervor." (Jak. 5, 16—18.)

Das also sind die drei kostbaren Dinge, mittelst deren

wir uns in der Liebe Gottes erhalten können, wobei wir

die trostreiche Hoffnung haben, daß die Ankunft unsers

geliebten Herrn nahe ist. Diese aber wird in unsrer

Epistel als ein Werk der „Barmherzigkeit" seitens unsers

Herrn Jesu Christi bezeichnet, da sie dem gegenwärtigen

Zustand, unter welchem die Treuen leiden, ein Ende macht.

Denn dieser wird je länger je schlimmer werden; die Gefahren

werden sich mehren, und die Finsternis des Unglaubens

und die Größe des Verfalls werden zunehmen.

Schon heute zeigen sich in erschreckender Weise die Vorboten

jener Stunde der Versuchung, „die über den ganzen Erdkreis

kommen wird, zu versuchen die auf der Erde wohnen".

(Offbg. 3, 10.) In jener Stunde wird sich die Wirksamkeit

Satans offenbaren in aller Macht und in Zeichen und

Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtig

107

keit denen, die verloren gehen, darum daß sie die Liebe

zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden.

(2. Thess. 2, 9. 10.) „Denn cs werden falsche Christi und

falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen thun

und Wunder, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten

zu verführen." (Matth. 24, 24.)

Dieser Geist ist schon jetzt wirksam in der Verbreitung

böser Lehren und schrecklicher Irrtümer, so daß selbst die

Gläubigen in großer Gefahr stehen, von denselben mit

fortgerissen zu werden, ja daß selbst viele bereits mit fortgerissen

worden sind. Nichts vermag diese finstere Macht

aufzuhalten. Aber der Herr wird uns durch Seine große

Barmherzigkeit aus dem Bereich ihrer Wirksamkeit herausnehmen,

indem Er kommen wird, um uns in jenen seligen

Bereich einzuführen, wo die Macht des ewigen Lebens

sich in ihrer ganzen Fülle offenbaren wird. Glückselige

Hoffnung! Glückseliges Teil aller derer, die in dem

gegenwärtigen Genuß der Liebe Gottes auf das Kommen

ihres Herrn warten! „Und Er zeigte mir einen Strom

des Wassers des Lebens, glänzend wie Krystall, der hervorging

aus dem Throne Gottes und des Lammes. In

der Mitte ihrer Straße und des Stromes, diesseits und

jenseits, der Baum des Lebens .... Ter" diese Dinge

bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald. — Amen; komm,

Herr Jesu!" (Offbg. 22, 1. 2. 20.)

Glaube nur!

Wie einfach ist alles, wenn das Herz eines Sünders

in kindlichem Glauben die frohe Botschaft von Jesu erfaßt,

und den Gott, der nicht lügen kann, bei Seinem Worte

108

nimmt! Ich möchte hier eine kleine Geschichte erzählen,

die ich einst von den Lippen eines Freundes vernahm, und

die in lieblicher. Weise die Einfachheit des Evangeliums

und die Liebe Gottes zeigt, mit welcher Er dem Sünder

nachgeht.

Mein Freund hatte einen Traum. Ich zweifle nicht

daran, daß Gott ihm denselben gesandt hatte, denn das

Seelenheil meines Freundes war der Gegenstand desselben.

Er träumte, er besände sich allein in einem Zimmer, auf

dessen einer Wand alle seine Sünden geschrieben standen.

Es war eine erschreckend große Zahl, und unter ihnen

befand sich eine Sünde, welche mit großen, schwarzen

Buchstaben geschrieben war und sich unheimlich leuchtend

von der weißen Wand abhob. Der Träumer erinnerte

sich dieser besonderen Sünde sehr wohl; sie hatte schon

oft auf seinem Gewissen gelastet, und er konnte sie nicht

vergessen. Eine Zeit lang betrachtete er seine Sünden,

und seine Angst wurde immer größer. Da auf einmal

hörte er eine fanfte Stimme neben sich flüstern: „Blicke

einmal nach dem andern Ende des Zimmers!" Sogleich

wandte er sein Auge von der schrecklichen Wand ab, und

siehe da! auf der gegenüberliegenden Wand leuchtete ein

kleiner Stern. Je länger er ihn betrachtete, desto größer

und glänzender wurde er, und unter dem Sterne standen

zwei Worte in strahlendem Licht geschrieben.

Es waren sehr einfache Worte. Sie kamen einst von

den Lippen des Herrn Jesu, als Er einem bekümmerten

Herzen Mut und Trost zusprach; und in der That, sie

sind unaussprechlich kostbar für Seelen, die nach Ruhe und

Frieden verlangen, ja, für alle, welche sich in irgendwelcher

Not und Sorge befinden. Möchten sie in die Herzen meiner

109

Leser hineinleuchten, wie sie meinem Freunde ins Auge

strahlten! Die beiden Worte lauteten: „Glaube nur!"

Der Träumer betrachtete sie lange Zeit; er konnte

seine Blicke gar nicht von ihnen abwenden. „Was?"

fragte er sich, „nur glauben? Ist das alles? Ist es so

einfach, so leicht?" Und je mehr er über die beiden

Worte Jesu nachdachte, desto friedlicher wurde es in seinem

Innern.

Plötzlich ertönte wieder eine Stimme. Diese hatte

indes nicht den sanften, freundlichen Klang wie die erste,

welche ihn aufgefordert hatte, nach der Seite des Zimmers

zu blicken, wo der Stern leuchtete. Nein, sie war scharf und

drohend und gebot ihm, sein Auge wieder auf die Wand

zu richten, auf welcher seine Sünden geschrieben standen.

Er gehorchte. O Schrecken! die Sünden waren noch genau

so da wie früher, auch die eine schwarze leuchtete so unheimlich

wie zuvor. Armer Mann! Verzweifelnd blickte

er auf die lange, schreckliche Liste. Alles, was er je gethan

hatte, war da ausgezeichnet mit furchtbarer Deutlichkeit.

Nichts war vergessen. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Doch in diesem Augenblick ließ sich die erste liebliche

Stimme wieder vernehmen: „Schaue auf die andere

Wand!" Er wandte sich noch einmal um und sah den

Stern wieder freundlich glänzen, und die beiden Worte:

„Glaube nur" leuchteten Heller als je. Ach, wie schön

sie waren! Seine ganze Seele wurde davon erfüllt.

„Glaube nur!" — also kein eignes Wirken, kein eignes

Thun — nur glauben! Er drehte sein Haupt ein

wenig zur Seite, aber auch jetzt sah er nur die beiden

Worte. Er wagte sich noch ein wenig weiter umzudrehen,

aber wieder leuchteten ihm dieselben Worte entgegen. Das

110

ganze Zimmer schien von ihnen erfüllt zu sein. Jetzt

wandte er sich mit einem Ruck nach der Wand, auf welcher

feine Sünden ausgezeichnet standen. Aber o Wunder! die

Wand war blendendweiß, und in der Mitte strahlten auch

hier die Worte: „Glaube nur!" Das ganze Zimmer war

jetzt von Hellem Licht durchflossen, und wohin er blicken

mochte, überall las er: „Glaube nur! glaube nur!" —

In diesem Augenblick erwachte mein Freund, und ich

brauche wohl nicht zu sagen, daß Friede und Freude seinen

Geist erfüllten. Gott hatte ihm gezeigt, daß Jesus alles

gethan hat, was der verlorene Sünder zu seiner Errettung

bedarf, und daß diesem nichts zu thun übriggeblieben ist,

als nur zu glauben. Jahre sind seitdem vergangen, aber

der Friede meines Freundes ist derselbe geblieben. Das

Zimmer ist in der That voll von Licht. Gottes Liebe

nnd freie Gnade umleuchten und umgeben ihn von allen

Seiten, und er erfährt täglich, daß der Glaube auch im

Blick auf andere Dinge nie beschämt werden läßt.

„Dem aber, der nicht wirkt, sondern an Den glaubt,

der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit

gerechnet", und: „Da wir nun gerechtfertigt

worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott

durch unsern Herrn Jesum Christum." So schrieb einst

der Apostel Paulus an die Gläubigen in Rom, und so

erfuhr es mein Freund, und so haben es viele Tausende

und Millionen vor ihm und nach ihm erfahren, zur Ehre

und zum Preise des Gottes aller Gnade.

Darum, mein lieber Leser, glaube uur! „Habe ich

dir nicht gesagt, wenn du glauben würdest, so würdest du

die Herrlichkeit Gottes sehen?" (Joh. 11, 40.)

111

Der Hirte und die Herde.

„Das Verlorene will ich suchen und das

Versprengte zurückführen, und das Verwundete

will ich verbinden, und das Kranke will ich

stärken." (Hes. 34, 16.)

Der große Hirte ist stets beschäftigt, Seine Schafe

zu weiden. Welch ein Trost für alle Gläubigen, besonders

für die Leidenden unter ihnen! Er überschaut nicht nur

die Herde in ihrer Gesamtheit, sondern Er kennt auch

genau den Zustand und die Bedürfnisse jedes einzelnen

Schäfleins. Er sucht das Verlorene, und Er kennt

die Versprengten, die Verwundeten und Kranken;

und Er bekümmert sich um jeden Einzelnen insonderheit

nach Seiner unveränderlichen Liebe und göttlichen Weisheit.

Wir dürfen zu allen Zeiten mit Zuversicht sagen: „Der

Herr denkt an mich". (Pf. 40, 17.) Er kennt alle deine

Umstände, mein lieber Leser, und Er erwägt deinen Fall

nach allen Seiten hin, wie ein guter Arzt es macht bei seinen

Kranken. Vielleicht befindest du dich in einer Prüfung,

die du einem Mitmenschen nicht offenbaren magst oder

kannst; aber Jesu kannst du dein Leid klagen. Wenn

niemand dich versteht, Er versteht dich; wenn niemand

trösten oder helfen kann, Er kann beides. Wie bringt uns

dieses Bewußtsein Seinem Herzen so nahe!

Lieber Dulder, liebe Dulderin! Jesus will, daß du

Ihm Vertrauen schenkest. Es erfreut Ihn, wenn Seine

Liebe dir genug ist. „Er weiß, was du hast, Er trägt

deine Last und führt dich mit mächtigen Händen." Darum

laß dich nicht von Ihm „auf einem andern Felde" finden!

(Ruth 2, 22.)

Aus dem 4. Verse des oben angeführten Kapitels

112

(Hes. 34) ersehen wir, daß die Hirten Israels die Herde

schmählich vernachlässigt hatten. Das Schwache war nicht

gestärkt, das Kranke nicht geheilt und das Verwundete nicht

verbunden worden, und deshalb sagt der Erzhirte im

15. und 16. Verse, daß Er selbst jetzt alles thun wolle:

„Ich will meine Schase weiden, und ich will sie lagern,

spricht der Herr, Jehova." Das ist gerade der Charakter

unsers hochgelobten Herrn. Er kann nicht zulassen, daß

Seine geliebte Herde Mangel leide, ja Er ist mit Seinem

eignen Leben für sie eingetreten. In einer Stunde, die

allen Erlösten ewig im Gedächtnis bleiben wird, hat Er

gesagt: „Wenn ihr denn mich suchet, so lasset diese gehen!"

Darum, du leidendes Kind Gottes, vertraue dich den

treuen Händen an, die immer noch die Nägelmale tragen.

Laß die Liebe des sterbenden, jetzt aber zur Rechten Gottes

lebenden Jesus dein Trost sein in der Stunde der Drangsal.

Er achtet dein Kreuz nicht gering. Irdische Freunde sind

oft schlechte Tröster und leidige Ärzte; aber Jesus sorgt

sür dich, weil Er aus Erfahrung mit deinem Schmerze

bekannt ist.

Einer der Ehrennamen Christi, die Er sich als Mensch

hienieden erworben hat, lautet: „Mann der Schmerzen".

Seine Todesangst in Gethsemane konnten selbst Seine vier

auserwählten Jünger nicht verstehen; und unter ihnen

befand sich doch der geliebte Jünger, welcher an der Brust

Jesu gelegen hatte. Jesus war „ungefähr einen Steinwurf

weit" von ihnen entfernt. In dieser schrecklichen Stunde

wußte Gott allein, was in dem Herzen Seines Geliebten

vorging. Und dieser Jesus, der in allem versucht worden

ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde,

und der gelitten hat, wie kein Mensch jemals auch nur

im Entferntesten leiden könnte, ist unser großer Hoher-

priester, der Mitleid zu haben vermag mit unsern Schwachheiten.

Die Stimme der Fremden.

„Einem Fremden aber werden sie nicht folgen,

sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die

Stimme der Fremden nicht kennen."

(Joh. tO, 5)

Es giebt in unsern Tagen viele fremde Stimmen.

Männer stehen auf, selbst aus der Mitte der Gläubigen,

welche „verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen

hinter sich her". Die Wahrheit Gottes wird verdreht.

Die Schäflein Christi werden auf Weiden geführt, welche

Giftpflanzen enthalten, äußerlich schön und verführerisch

anzusehen, aber innerlich voll verderblichen Giftes. Die

für den Gläubigen bestimmte Speise wird mit schädlichen

Stoffen vermengt; oder, um nicht länger im Bilde zu

reden, es werden Meinungen, Ideen und Ansichten der

Menschen mit dem Worte Gottes vermischt und in einer

Weise vorgetragen, daß sie die Gedanken Gottes zu sein

scheinen und daher Anspruch auf unsere Aufnahme und

unsern Glauben machen, ja wohl gar auf unsern Dank

dem Geber aller guten Gaben gegenüber.

Woher kommen diese fremden Dinge, die mit dem

reinen, lautern Worte Gottes vermischt werden? Wir

nannten sie „Meinungen und Ideen der Menschen". Ist

das richtig? Ja und nein. Denn hinter allem diesem steht

Satan. Er ist es, der solche bösen Lehren „inspiriert",

einbläst; er ist der eigentliche Lehrer derselben. „Aber

XI-IV s

114

wie ist das möglich?" wird vielleicht mancher Leser denken.

„Wie können Kinder Gottes, die doch durch den Geist

unterwiesen sind, sich durch Lehren Satans irreleiten lassen?"

Wer so fragt, vergißt, daß Satan „die alte Schlange"

heißt, die heute noch, um den Ausdruck der Schrift zu gebrauchen,

„listiger ist als alles Getier des Feldes". Er

kommt nicht in grober, plumper Weise. Würde er einem

Gläubigen einzureden suchen, es gebe keinen Gott, oder

Christus sei nicht der Sohn Gottes, so würde er keinen

Erfolg haben. Denn um solch grobe Lügen zu durchschauen,

bedarf es keiner großen geistlichen Erkenntnis.

Jeder nur äußerlich rechtgläubige Bekenner des Christentums

wird sie mit Abscheu von sich weisen. Nein, um Seelen

zu überlisten, die ein Eigentum des Herrn sind, muß

der Feind ein feineres Netz spinnen. Er stellt das, was

er bringt, als eine tiefere Erkenntnis dar (die „fälschlich

sogenannte Kenntnis", 1. Tim. 6, 20), als eine höhere

Wahrheit, die nur von den Begabteren und Einsichtsvolleren

erfaßt werden kann, und als einen Fortschritt

im geistlichen Leben. O er weiß dem armen menschlichen

Herzen zu schmeicheln und es zu umgarnen, ehe es sich

dessen versieht. In der Gestalt eines „Engels des Lichts"

kommend, giebt er sich den Anschein, als bringe er nur

das Wort und die lautere Lehre Gottes.

Vor allem ist er bemüht, den Verstand, die Vernunft

des Menschen rege zu machen. Er sucht ihn zu

bewegen, die Dinge Gottes, die nur durch den Glauben

des Herzens erfaßt und genossen werden können, nach den

Regeln menschlicher Weisheit zu betrachten und zu behandeln.

Und indem der arme Mensch, nicht wissend was er thut,

mit seinen armseligen Werkzeugen auf diesen erhabenen

115

und unermeßlichen Bauplatz tritt, ist er der blinde Sklave

eines Gewaltigen, der ihn zu seinen Zwecken benutzt, nämlich

zu verwirren und zu verderben. „Aber", fragt man,

„wozu hat Gott mir denn den Verstand gegeben, wenn ich

ihn nicht gebrauchen soll?" Ich möchte diese Frage mit

einer einsachen Gegensrage beantworten? Wozu dienen

dem Handwerksmann seine Werkzeuge? Nicht wahr? zur

Ausführung derjenigen Arbeiten, welche seine Hand zu

verfertigen vermag und zu deren Herstellung jene Werkzeuge

geschickt sind. Wollte er sie zu andern Arbeiten verwenden,

so würden sie sich, so scharf und gut sie an und für sich

sein mögen, ja eben weil sie das sind, als verderblich

erweisen. Gerade so ist es mit dem Verstände. Er ist

gut, ja eine kostbare Gabe Gottes, wenn er an seinem

Platze bleibt, d. h. wenn er zur Beurteilung und Behandlung

derjenigen Dinge benutzt wird, die ihm unterworfen

sind. Sobald er sich aber in Dinge mischt, die

nicht in seinen Bereich fallen, wirkt er verderblich und

zerstörend.

Hat denn der Verstand gar nichts mit göttlichen

Dingen zu thun? Wird nicht durch den Verstand dem

Herzen des Menschen die Erkenntnis der Heilswahrheiten

vermittelt? Könnte der Mensch glauben, wenn er nicht

fähig wäre, das Gehörte mit Verständnis aufzunehmen? —

Nun, es ist ganz klar, daß der Mensch gerade deshalb

mit Einsicht und Verstand von Gott begabt worden ist,

um Seine Mitteilungen aufnehmen und auf diesem Wege

in eine geistige Verbindung mit Ihm treten zu können.

Aber das Verstehen und Begreifen-können dieser Mitteilungen

hat, eben weil dieselben ihre Quelle in Gott,

in dem Unendlichen, haben, seine Grenzen. Wir können

116

mit unserm endlichen Verstände nicht die unendlichen

Dinge Gottes ergründen. Wir können sie im Glauben

erfassen, darüber sinnen, uns ihrer erfreuen, Kraft und

Trost aus ihnen schöpfen; aber sie so zu erklären, daß

für unsern Verstand nichts Unfaßbares, nichts Unbegreifliches

mehr bleibt, das ist unmöglich. Sie würden aufhören,

göttlich zu sein, wenn es anders wäre.

Und wenn das schon wahr ist von göttlichen Mitteilungen,

von dem geschriebenen Wort, wie viel

mehr dann von der Person Dessen, in welchem (nicht

nur: durch welchen) Gott am Ende der Tage zu uns

geredet hat — von dem lebendigen Wort, dem Sohne

Gottes! Wenn der menschliche Verstand sich daran macht,

diese Person zu erklären und zu ergründen, so ist ein

Jrregehen die unausbleibliche Folge. Dieser kostbare

Gegenstand ist für den Menschen, der nur mit seinen eignen

armseligen Hilfsmitteln arbeiten kam, ein Geheimnis, ein

unentwirrbares Rätsel. Wir thun gut, uns immer wieder

an die Worte eines anderen bewährten Schreibers *) zu

erinnern. Er sagt: „Hüten wir uns vor der Anmaßung,

alles das erkennen zu wollen, was die Vereinigung

(oder Verbindung) von Menschheit und Gottheit

in der Person des Herrn betrifft. Diese Vereinigung

ist unerforscht ich. „Niemand erkennt den Sohn als

nur der Vater." Jesus nahm zu an Weisheit. Was

manche Christen in solche Irrtümer hat geraten lassen,

ist, daß sie gewünscht haben, den Zustand Christi als

Mensch zu unterscheiden und zu erklären. Wir

wissen, daß Er Gott war und ist; wir wissen, daß Er

Mensch wurde, und das Zeugnis von Seiner wahren

*) I. N. Darby.

117

Gottheit wird in jenem Zustande der Erniedrigung aufrecht

erhalten durch die Unerforschlichkeit der Vereinigung.

Man mag darthun, daß gewisse Ansichten

etwas von Seiner Herrlichkeit und von der Wahrheit

Seiner Person wegnehmen; aber ich wünsche ernstlich, daß

die Brüder sich nicht daran geben möchten, über Seine

Person bestimmte Lehrsätze aufzustellen. Sie würden

sicherlich in irgend einen Irrtum geraten. Ich habe nie

jemanden das thun sehen, ohne daß er in irgend eine

unbeabsichtigte Ketzerei verfallen wäre."

Der Herr bewahre uns deshalb davor, mit unserm

Verstände in die Dinge Gottes eindringen oder gar die

Person Seines Sohnes ergründen zu wollen! Laßt uns

sorgfältig acht haben, daß unser Verstand unter dem Gehorsam

des Christus und unter der Leitung Seines Geistes

stehe! Laßt uns stets mit heiliger Ehrfurcht, in einem

anbetenden Geiste und in dem Bewußtsein unsers Nichts

an die göttlichen Dinge herantreten! Hüten wir uns vor

allen Vernunftschlüssen! Maßen wir uns nicht an, in

Dinge Hineinschanen zu wollen, welche Gott Seiner

alleinigen Erkenntnis Vorbehalten hat, und deren nnheilige,

anmaßende Berührung Er mit ernstem Gericht ahnden

muß! Vergessen wir nicht, daß geschrieben steht: „Glückselig

der Mann, der sich beständig fürchtet!"

(Spr. 28, 14.) Die Gefahr ist groß. Satan ist unaufhörlich

beschäftigt, seine Fallstricke zu legen, und schon

mancher ist in dieselben hineingeraten, und nur die unergründliche

Barmherzigkeit Gottes kann ihn wieder daraus

befreien.

Angesichts dieser großen Gefahr möchte nun eine

einfältige Seele voll Bekümmernis ausrufen: „Was soll

118

ich denn thun, um vor den Netzen Satans bewahrt zn

bleiben? Was läßt mich seine Wirksamkeit erkennen, und

wie kann ich ihr entfliehen?" O liebe Seele, die du so

sprichst, laß dir erzählen von dem gesegneten Ort, an

welchem man völlig vor aller Verführung, vor allem

Betrug Satans geborgen ist. Es ist die Nähe Jesu, der

lebendige Verkehr und die innige Gemeinschaft mit Ihm.

Er „bewahrt die Einfältigen". Von diesen gilt auch

das kostbare Wort des guten Hirten: „Die Schafe folgen

Ihm, weil sie Seine Stimme kennen. Einem Fremden

aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm

fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen."

(Joh. 10, 4. 5.) Solche Seelen brauchen sich nicht zu

fürchten „vor dem Schrecken der Nacht, vor dem Pfeile,

der bei Tage fliegt, vor der Pest, die im Finstern wandelt,

vor der Seuche, die am Mittag verwüstet". Tausende

mögen an ihrer Seite fallen, aber sie werden unter den

Fittichen, wo sie Zuflucht gefunden haben, bewahrt bleiben.

Der Herr wird sie von der Schlinge des Vogelstellers,

von der verderblichen Pest erretten.

Wohl allen Seelen, die unter Seinen Flügeln geborgen

ruhen! Die höchste Segnung, der köstlichste Genuß

und die größte Sicherheit sind ihr Teil. Sie haben

nichts zu fürchten. Nicht daß sie weiser wären als andere.

Sie sind im Gegenteil in sich einfältig, unwissend; aber

der Herr ist ihre Weisheit. Sie „kennen" einfach die

Stimme der Fremden nicht. Sie können die fremde

Sprache, die ungewohnten Laute nicht erklären; sie vermögen

nicht sich auf Widerlegungen des Verkehrten einzulassen

oder die verborgenen Tiefen der Bosheit aufzudecken;

es ist eine „fremde" Stimme, ein Klang, an den sie nicht

119

gewöhnt sind, und das ist für sie genug. Sie können die

liebliche Stimme ihres teuren Hirten in jenen Tönen nicht

wiedererkennen. Daher sind sie besorgt und mehr als das:

sie fliehen! Sie gehen nicht näher hinzu, betrachten

und behorchen nicht das Neue in neugieriger Weise, oder

halten sich für klug genug, um am Ende aus der gefährlichen

Sache doch noch etwas Gutes für sich herausfinden

zu können; nein, sie wenden dem Fremden den Rücken

und fliehen nahe, nahe zu dem Hirten hin. Solche, die

sich selbst klug dünken, mögen eine solche Handlungsweise

belächeln; aber es ist das einzig richtige Verhalten eines

Schafes des guten Hirten dem „Fremden" gegenüber.

Die einzige Frage, die entschieden werden muß, ist: ob

der Geist oder die Lehre aus Gott ist. Muß dies, ich

will nur sagen „bezweifelt" werden, so ist für die einfältige

Seele alles entschieden — sie wendet sich ab, sie

flieht. Das ist ihr einziges Heil, ihre einzige Sicherheit.

Denn wenn der Geist und die Lehre nicht aus Gott sind,

woher stammen sie dann? Von dem „Vater der Lüge", dem

„Menschenmörder von Anfang". Das Wort mag hart erscheinen,

aber einen Mittelweg giebt es hier nicht. Und dürfen

wir hoffen, daß Satan allmählich von seiner Verkehrtheit

ablassen werde? Dürfen wir mit einer Sache, deren Vater

er ist, in Verbindung bleiben, in der Hoffnung, sie werde

nach und nach ihren gefährlichen Charakter verlieren, oder

in der Meinung, es sei mit dem Bösen doch noch manches

Gute vermischt, und dieses werde über jenes endlich den

Sieg erringen? Gott bewahre uns davor! Die Folge

würde nur die sein, daß wir selbst allmählich von dem

Sauerteig durchsäuert und von dem Bösen angesteckt würden.

(Gal. 5, 9.) Das Wort sagt von solchen, die verkehrte,

120

ungöttliche Dinge reden: „Ihr Wort wird um sich fressen

wie ein Krebs". (2. Tim. 2, 17.) Wohl dürfen wir für

die Seelen, welche eine Beute des Feindes geworden sind,

hoffen und für sie flehen, daß des Herrn Gnade ihnen

die Augen öffne und sie befreie; der Sache gegenüber

aber, die als böse geoffenbart ist, dürfen wir keinen

Augenblick eine unentschiedene, schwankende Stellung einnehmen.

Das würde nichts anderes heißen, als Satan

gegenüber nachgiebig sein und dem Herrn, der die verirrten

Seelen wiederherstellen möchte, entgegen arbeiten. Natürliche,

menschliche Gefühle, Rücksichtnahme auf freundschaftliche

oder verwandtschaftliche Beziehungen, so richtig beide

an ihrem Platze sein mögen, sind hier vom Übel.

Handelt es sich um böse Dinge in Wandel oder Lehre, so

erwartet der Herr von uns Entschiedenheit, völlige Absonderung.

Wie scharf lauten die Worte des Apostels

Johannes: „Jeder, der weitergeht und nicht bleibt

in der Lehre des Christus, hat Gott nicht"! Die

falsche Lehre, welche damals unter den Gläubigen verbreitet

wurde, bestand darin, daß man „Jesum Christum

im Fleische gekommen" leugnete. Heute wird dieselbe

Wahrheit angetastet, indem man leugnet, daß Jesus Christus

persönlich Mensch war, und indem man Seine Menschheit

nur als einen von dem Sohne angenommenen Zustand

bezeichnet, so daß Er nur objektiv *) als Mensch

betrachtet werden könne. Man sagt, „es sei ein Irrtum,

wenn man behaupte, die Wahrheit von der

Person Christi bestehe in der Bereinigung

von Gott undMensch inJhm; eine Lieblingsformel

*) sachlich, d. h. also nur nach Seiner äußern Gestalt, nach

dem „Fleisch- und Blutzustand", wie man es nennt.

121

derer, welche diese Behauptung aufrecht erhalten, laute:

„Gott und Mensch ein Christus"; diese Formel samt

jener Behauptung sei herabwürdigend und entehrend

für den Sohn u. s. w." — Wie haben wir uns

dem gegenüber zu verhalten? Hören wir, was der Apostel

weiter sagt: „Wenn jemand zu euch kommt und diese

Lehre (die Lehre des Christus) nicht bringt, so nehmet ihn

nicht ins Haus auf und grüßet ihn nicht. Denn wer ihn

grüßt (wer zu ihm sagt: „Gott segne dich!" oder: „Der

Herr sei mit dir!") nimmt teil an seinen bösen

Werken." (2. Joh. 10. 11.)

„Sobald die Lehre von der Person Christi angetastet

wurde, mußte eine unerbittliche Strenge geübt werden.

Vor einem jeden, der dieselbe verfälschte, war die Thür

zu verschließen. Ein solcher durfte nicht einmal gegrüßt

werden, denn wer ihn grüßte, machte sich seines schlechten

Werkes teilhaftig: er leistete den Versuchungen

Satans Vorschub. Ferner zeigt der Apostel, daß die

scheinbare Liebe, welche die Wahrheit nicht aufrecht

erhält, sondern sich dem anbequemt, was nicht Wahrheit

ist, nicht wirkliche, göttliche Liebe, sondern vielmehr ein

Mißbrauch des Namens Liebe ist, der darauf abzielt, die

Versuchungen Satans zu unterstützen. In den letzten

Tagen ist der Prüfstein der wahrhaftigen

Liebe die A ufrechthalt nng der Wahrheit.

Gott will, daß wir uns unter einander lieben; aber

der Heilige Geist, durch dessen Macht wir die göttliche

Natur empfangen haben und der die Liebe Gottes in

unsre Herzen ausgießt, ist der Geist der Wahrheit, und

Seine Aufgabe ist es, Christum zu verherrlichen. Deshalb

ist es unmöglich, daß eine Liebe, welche eine die Person

122

Christi verfälschende Lehre ertragen und gegen dieselbe

gleichgültig sein kann, vom Heiligen Geiste ist — und dies

noch weniger, wenn diese Gleichgültigkeit als der Beweis

jener Liebe hingestellt wird. . . Dieser zweite Brief des

Johannes stellt die Christen auf die Hut gegen alles,

was hinsichtlich der Person Christi zweideutig

ist, und ermahnt sie zu einer unerschütterlichen

Festigkeit in diesem Punkte." *)

*) Vergl. I. N. Darby: Betrachtungen über die Episteln des

Johannes, Seite 72 u. 73.

Doch warum, hört man oft fragen, läßt es der Herr

dem Feinde zu, in solch schmerzlicher Weise die Herde zu

sichten? Der Apostel sagt: „Es müssen auch Parteiungen

unter euch sein, auf daß die Bewährten unter euch offenbar

werden". (1. Kor. 11, 19.) Und überdies möchte ich

fragen: Müssen nicht auch diese Dinge, wie alles andere,

denen, die Gott lieben, zum Guten mitwirken? Wird ihnen

nicht Christus um so teurer werden? Werden sie Sein

Wort nicht umsomehr schätzen, nicht nur um der kostbaren

Wahrheiten willen, die es enthält, sondern weil sie Seine

Stimme in demselben wahrnehmen? Werden sie nicht von

neuem die heilsame Erfahrung machen, daß sie in ihrer

Schwachheit und Unwissenheit nicht imstande sind, sich auf

dem rechten Pfade zu erhalten, und werden sie sich nicht

umso fester an ihren unveränderlich treuen, liebevollen

und starken Herrn anklammern? Werden sie nicht —

wenn sie sehen, wie selbst begabte Brüder, zu denen sie

mit Liebe und Achtung aufzublicken gewohnt waren, mit

sortgerissen werden — tiefer als je ihre Abhängigkeit von

dem Herrn und der Leitung Seines Geistes fühlen?

Und werden sie nicht erfahren, daß Er in Gnade und

123

Erbarmen auf sie blickt in ihrer Niedrigkeit und ihr Flehen

beantwortet?

O möchte die gegenwärtige Heimsuchung bei uns allen

diese gesegneten Früchte hervorbringen! Daß wir „auf

der richtigen Seite" stehen, genügt sicherlich dem Herzen

Jesu noch nicht. Er erwartet mehr von den Seinigen.

Er sieht auf das Herz. Er untersucht die Beweggründe,

die uns leiten. Er erforscht Herzen und Nieren. Er erwartet

wahre Demütigung, ein aufrichtiges Selbstgericht

von uns. Das Wort des Psalmisten ist ernst: „Bevor

ich gedemütigt ward, irrte ich; jetzt aber bewahre

ich dein Wort". (Pf. 119, 67.) Wir leben in den

letzten Tagen, und das Wort sagt: „Dieses wisse, daß in

den letzten Tagen schwere Zeiten da sein werden". Satan

wird sein Werk nicht einstellen. Er wird immer neue

Angriffe machen, und die Macht der Verführung wird

immer mehr zunehmen, und zwar werden die Verführungen

stets unter einer Form der Gottseligkeit kommen. Und

wenn wir nicht einfältig, demütig und wachsam sind, so

werden wir nicht standzuhalten vermögen.

Darum schenke uns der Herr, daß wir, uns fernhaltend

von aller Art des Bösen, Ihm nachfolgen

und Zuflucht suchen unter dem Schatten Seiner Flügel!

Er kennt alle Gefahren, die uns auf dem Wege noch

bevorstehen, und Er kennt auch unsre ganze Schwachheit.

Er allein kann uns bewahren und sicher hindurchführen

bis ans Ziel. Darum laßt uns „wachsen in der Gnade

und Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi!

Ihm sei die Herrlichkeit sowohl jetzt, als auch auf den

Tag der Ewigkeit! Amen." (2. Petr. 3, 18.)

124

Das Lied und die letzten Worte Davids.

(2. Sam. 22 u. 23.)

Das 22. Kapitel des 2. Buches Sainuel enthält das

herrliche Lied Davids. (Vergl. Ps. 18.) Es ist der Ausdruck

des Geistes Christi in David, verbunden mit Seinem

Triumph über den Tod durch die mächtige Wirkung der

Kraft Gottes. (Eph. 1, 19.) Wie die inspirierte Über­

schrift uns belehrt, preist David Jehova für seine Errettung

aus der Hand aller seiner Feinde und vornehmlich aus

der Hand Sauls. Er zählt mit dankbarem Herzen die

herrlichen Thaten Gottes auf, jedoch in einer Sprache,

welche uns von David und allen seinen Kämpfern unmittelbar

zu jenem schrecklichen Kampfe hinüberleitet, der ausgestritten

wurde, als alle Mächte der Finsternis sich in

grimmer Wut gegen Gott und Seinen Christus zusammengeschart

hatten. Furchtbar war das Schauspiel! Nie

vorher und nachher ist solch ein Kampf ausgefochten oder

solch ein Sieg erstritten worden. Nie haben solche Mächte

mit einander gerungen, und nie sind ähnliche Ergebnisse

erzielt worden. Der Himmel stand auf der einen, die

Hölle auf der andern Seite. Und was die Ergebnisse des

Kampfes betrifft, wer könnte sie aufzählen, wer sie würdig

beschreiben? Da ist zunächst die Verherrlichung Gottes

und Seines Christus, dann die Erlösung der Kirche, die

Wiederherstellung und Segnung der Stämme Israels, und

endlich die völlige Befreiung des weiten Bereichs der Schöpfung

von der Herrschaft Satans, dem Fluche der Sünde

und der Knechtschaft des Verderbnisses. Das sind einige

der herrlichen Ergebnisse jenes Kampfes, der mit teuflischer

Wut geführt wurde von feiten des großen Feindes Gottes

und des Menschen; gewaltig waren die Anstrengungen des

125

Starken, um die Wegnahme seiner Waffenrüstung zu verhindern

und nicht zu erlauben, daß sein Haus beraubt

werde. Aber alles war vergeblich; Jesus triumphierte.

„Denn mich umfingen die Wogen des Todes, die

Ströme Belials erschreckten mich; die Bande des Scheols

umringten mich, es ereilten mich die Fallstricke des Todes.

In meiner Bedrängnis rief ich zu Jehova, und ich rief

zu meinem Gott; und Er hörte aus Seinem Tempel

meine Stimme, und mein Schrei kam in Seine Ohren."

(V. 5—7.) Hier begegnen wir scheinbarer Schwachheit,

aber thatsächlicher Kraft. Der anscheinend Besiegte wurde

der Sieger. Jesus ist „in Schwachheit gekreuzigt worden",

aber „Er lebt durch die Kraft Gottes". (2. Kor. 13, 4.)

Nachdem Er Sein Blut vergosfen und sich selbst durch

den ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hatte, übergab

Er sich den Händen des Vaters, der Ihn aus den

Toten wiederbrachte. Er widerstand nicht, sondern ließ

sich willig schlagen und martern; Er bot Seinen Rücken

den Schlagenden und Seine Wangen den Raufenden, und

fo zerbrach Er-dir^Macht des Feindes. Satan ließ Ihn

durch die Hand seiner willigen Werkzeuge ans Kreuz

nageln, und als Er im Grabe lag, ließ er ein Siegel

darauf setzen, damit Er nicht auferstehen möchte. Aber

alles war umsonst; Jesus stand siegreich auf, „nachdem Er

die Fürstentümer und die Gewalten ausgezogen hatte".

Er begab sich gleichsam mitten in das Reich des Feindes

hinein, um ihn öffentlich zur Schau stellen zu können.

In den Versen 8—20 wird uns die Dazwischenkunft

Jehovas zu Gunsten Seines gerechten Knechtes in erhabener,

gewaltig ergreifender Sprache geschildert. Die von dem

Psalmisten gebrauchten Bilder sind über alle Beschreibung

126

ernst und ausdrucksvoll. „Da wankte und bebte die Erde;

die Grundfesten des Himmels zitterten und wankten, weil

Er entbrannt war . . . Und Er neigte die Himmel und

fuhr hernieder, und Dunkel war unter Seinen Füßen.

Und Er fuhr auf einem Cherub und flog daher, und Er

erschien auf den Fittichen des Windes. Und Finsternis

machte Er rings um sich her zum Gezelt, Sammlung der

Wasser, dichtes Himmelsgewölk ... Es donnerte Jehova

vom Himmel her, und der Höchste ließ Seine Stimme

erschallen. Und Er schoß Pfeile und zerstreute sie, Seinen

Blitz, und verwirrte sie. Und es wurden gesehen die

Betten des Meeres, die Grundfesten des Erdkreises wurden

ausgedeckt durch das Schelten Jehovas, vor dem Schnauben

des Hauches Seiner Nase. Er streckte Seine Hand aus

von der Höhe, Er nahm mich, Er zog mich aus großen

Wassern: Er errettete mich von meinem starken Feinde, von

meinen Hassern." — Welch eine Sprache! Wo könnten

wir etwas Ähnliches finden? Der Zorn des Allmächtigen,

der Donner Seiner gewaltigen Stimme, das Schnauben

des Hauches Seiner Nase, die Erschütterung des ganzen

Gebäudes der Schöpfung — alle diese Gedanken, in die

glühende Sprache des Propheten gekleidet, übersteigen weit

jede menschliche Vorstellung. Das Kreuz und das Grab

Christi bildeten den Mittelpunkt, um welchen der Kampf

in all seiner Wut tobte; denn in diesem Grabe lag der

Fürst des Lebens. Satan that sein Äußerstes; er führte

die ganze „Macht der Finsternis" ins Feld, aber er konnte

seinen Gefangenen nicht behalten, er konnte das Feld nicht

behaupten. Der Herr Jesus triumphierte über Satan,

Tod und Hölle, und Er that dies (obwohl das nicht der

Gegenstand unsers Psalmes ist) in vollkommener Erfüllung

127

aller Ansprüche der göttlichen Gerechtigkeit. Und das ist

die Freude und der Friede des glaubenden Sünders. Es

würde uns nichts helfen, zu wissen, daß der Gott über

alles, gepriesen in Ewigkeit, Satan, ein Geschöpf Seiner

eignen Hand, überwunden habe. Aber zu hören, daß Er,

als der Stellvertreter des Menschen, des Sünders, als der

Bürge der Kirche, den Sieg errungen hat, das giebt der

glaubenden Seele süßen, unaussprechlichen Frieden. Und

gerade das ist es, was das Evangelium uns mitteilt, das

ist die Botschaft, die in des Sünders Ohr hineintönt.

Der Apostel sagt uns, daß „Er (Christus) unsrer Über­

tretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung

wegen auferweckt worden ist". Nachdem Er unsre Sünden

auf sich genommen und das Gericht, den göttlichen Zorn,

dafür erduldet hatte, war die Auferstehung notwendig als

Beweis der vollkommenen Verherrlichung Gottes und der

ewig gültigen Vollendung des Bersöhnungswerkes. Der

Heilige Geist stellt uns Jesum vor Augen als auferstanden,

gen Himmel gefahren und nun sitzend zur Rechten der

Majestät in der Höhe, und verbannt so jeden Zweifel,

jede Furcht, jede Besorgnis aus dem Herzen des Gläubigen

„Der Herr ist wirklich auferweckt worden und dem

Simon erschienen." (Luk. 24, 34.)

Die Beweisführung des Apostels in 1. Kor. 15

gründet sich auf diese große Thatsache. Die Vergebung

der Sünden ist bewiesen durch die Auferstehung Christi.

„Wenn Christus nicht auferweckt ist, so ist euer Glaube

eitel; ihr seid noch in euern Sünden." Die Auferstehung

Christi und die Vergebung der Sünden des Gläubigen

stehen und fallen mit einander. Sobald ich anerkenne,

daß Christus auferweckt worden ist, erkenne ich auch an,

128

daß jeder, der an Ihn glaubt, Vergebung seiner Sünden

hat. Und wie lautet der triumphierende Schluß der Beweisführung

des Apostels? „Nun aber ist Christus

aus den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen."

Das ordnet alles. Sobald du dein Auge

von einem auferstandenen Christus abwendest, verlierst du

das tiefe, göttliche, friedengebende Bewußtsein der Vergebung

deiner Sünden. Die reichste Erfahrung und die

tiefste Erkenntnis reichen nicht aus als Grundlage deines

Vertrauens. Nichts als der gekreuzigte und auferstandene

Jesus kann dir Frieden und Ruhe geben.

Die Verse 21—25 enthalten den Grund der Dazwischenkunft

Jehovas zu Gunsten Seines Knechtes. Sie

beweisen auch hinlänglich, daß ein Größerer als David in

diesem Liede vor uns steht. David konnte nicht sagen:

„Jehova vergalt mir nach meiner Gerechtigkeit, nach der

Reinheit meiner Hände erstattete Er mir. Denn ich habe

die Wege Jehovas bewahrt, und bin von meinem Gott

nicht frevelhaft abgewichen. Denn alle Seine Rechte

waren vor mir, und Seine Satzungen, ich entfernte sie

nicht von mir. Und ich war vollkommen gegen Ihn, und

hütete mich vor meiner Ungerechtigkeit. Und Jehova erstattete

mir nach meiner Gerechtigkeit, nach der Reinheit

meiner Hände vor Seinen Augen." Ach! David hatte

Ursache, ganz anders zu reden. Seine Gerechtigkeit war

wie ein unflätiges Kleid, und wenn eine gerechte Vergeltung

seines Thuns in Frage gekommen wäre, so hätte

er die ewige Verdammnis verdient gehabt. Der Feuersee

mit seinen Schrecken war' alles, was er auf Grund dessen,

was er war, gerechterweise beanspruchen konnte.

Die Sprache in unserm Psalme ist deshalb die

129

Sprache Christi. Er allein konnte so reden. Er konnte

Gott erinnern an Seine Gerechtigkeit, an Seine Lauterkeit

und Vollkommenheit und an die Reinheit Seiner Hände.

Und auf Grund dieser Dinge, auf Grund Seines voll-

kommnen Gehorsams und Seiner Abhängigkeit von Jehova,

wurden ihm die Rettung und der Sieg zu teil. Zugleich

aber werden wir hier an die wunderbare Gnade erinnert,

welche uns aus dem Erlösungswerk entgegenleuchtet. Der

einzig Reine und Gerechte nahm den Platz des Unreinen

und Ungerechten ein. „Den, der Sünde nicht kannte, hat

Er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir

Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm." (2. Kor. 5, 21.)

Hier ist der ewige Ruheort des Sünders. Er sieht das

fleckenlose Opfer an das Fluchholz genagelt für sich,

den feindseligen Sünder; er sieht das vollkommene Werk

des Lammes Gottes und in demselben eine volle, bedingungslose

Erlösung; und er sieht auch, wie Gott zu

Gunsten seines erhabenen Stellvertreters, und deshalb

auch zu seinen Gunsten, ins Mittel tritt, und dies auf

durchaus gerechter Grundlage. Welch einen tiefen Frieden

verleiht das dem sündenbeladenen Herzen, das sich im

Glauben zu Jesu wendet!

Mein Leser! wenn du bis heute noch nicht in den

Genuß dieses Friedens eingetreten bist, so laß mich dich

fragen, warum du es noch nicht gethan hast. Kannst du

einer solchen Liebe gegenüber noch länger gleichgültig bleiben?

Oder kannst du, wenn der Geist Gottes bereits an deinem

Herzen gewirkt und dir deinen verlornen Zustand gezeigt

hat, noch einen Augenblick zögern, dich zu Jesu zu wenden

und die gesegneten Resultate des Werkes des Gekreuzigten

und Auferstandenen dir im Glauben zuzueignen? Bedenke:

130

Gott hat nichts ungeschehen gelassen, um deinen Frieden

zu verbürgen; Christus hat nichts ungeschehen gelassen,

um dich von dem ewigen Verderben zu erretten, und der

Heilige Geist legt ein so klares, unzweideutiges Zeugnis

ab von dem vollkommnen Heil, welches in Christo Jesu

ist, unserm Herrn, daß nichts anderes als böser, gottloser

Unglaube dir im Wege stehen kann. Alles ist geschehen,

was geschehen mußte. O möchte doch dein Herz in dieser

herrlichen Botschaft ruhen und hinsichtlich aller deiner

Sünden auf das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,

vertrauen lernen!

Davids Lied schließt mit einem schönen Hinweis auf

die Herrlichkeiten der letzten Tage; und dies verleiht ihm

eine Vollständigkeit und einen Umfang, die überraschend

sind. „Die Söhne der Fremde unterwarfen sich mir mit

Schmeichelei; beim Hören des Ohres gehorchten sie mir.

. . . Darum, Jehova, will ich dich preisen unter den

Nationen und Psalmen singen deinem Namen." So werden

wir in diesem Liede einen wunderbaren Pfad geführt, der

an dem Kreuze beginnt und in dem tausendjährigen Reiche

endigt. Er, der einst im Grabe lag, wird bald auf dem

Throne sitzen; in denselben Händen, welche einst von den

grausamen Nägeln durchbohrt wurden, wird bald das

königliche Scepter ruhen; und dieselbe Stirn, welche mit

einer schimpflichen Dornenkrone verunziert war, wird das

glänzende Diadem der Herrlichkeit schmücken. Alle Nationen

werden sich Ihm unterwerfen, und Sein Name wird bekannt

werden bis zu den Enden der Erde. Und nicht

eher wird der Schlußstein in das Gebäude eingefügt sein,

welches die erlösende Liebe zu errichten begonnen hat, bis

der verachtete Jesus von Nazareth den Thron Davids

131

bestiegen hat und in Frieden über das Haus Jakob herrschen

wird. Dann werden die Herrlichkeiten der Erlösung ohne

Aufhören gepriesen werden im Himmel und auf Erden;

denn der Erlöser wird erhaben sein und die Erlösten

vollkommen glücklich. Dann werden wir, aus dem Glanze

dieses herrlichen und seligen Tages, unsern Blick rückwärts

wandern lassen zu dem Kreuze hin, als der Grundlage

des ganzen herrlichen Gebäudes; und die Erinnerung an

die Liebe, die dort für uns litt und starb, wird dem

neuen Liede Wärme und Kraft verleihen: „Du bist würdig,

das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn

du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft,

durch dein Blut, aus jedem Geschlecht und Sprache und

Volk und Nation"; und: „Würdig ist das Lamm, das

geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und

Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit

und Segnung". (Offbg. 5.)

In den letzten Worten Davids lernen wir eine ähnliche

Lektion. Es ist in der That interessant, in der

Geschichte aller wahren Knechte Gottes dieselbe Erscheinung

wiederzufinden: nachdem sie die völlige Leere und Unzulänglichkeit

aller menschlichen und irdischen Hilfsquellen

erfahren haben, bleibt Gott allein übrig als ihr unfehlbares

Teil und ihre sichere Zuflucht. So war es auch mit David.

Während seines ganzen langen Lebens hatte er an der

Wahrheit zu lernen, daß die göttliche Gnade allein

seinen Bedürfnissen zu begegnen vermochte; und am Schluffe

seiner Laufbahn giebt er dieser köstlichen Erfahrung Ausdruck.

Hier in seinen „letzten Worten", wie vorhin in feinem

132

„Liede", ist der leitende, alles beherrschende Gedanke die

Genügsamkeit der göttlichen Gnade.

„Es spricht David, der Sohn Jsais, und es spricht

der hochgestellte Mann, der Gesalbte des Gottes Jakobs

und der Liebliche in Gesängen Israels: der Geist Jehovas

hat durch mich geredet, und Sein Wort war auf meiner

Zunge. Es hat gesprochen der Gott Israels, der Fels

Israels zu mir geredet: Ein Herrscher unter den

Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottes-

surcht." (Kap. 23, 1—3.) Das ist der Maßstab, den

Gott an einen Herrscher legt. Aber wo werden wir

in den Reihen menschlicher Herrscher einen finden, der

diesem Maßstabe entspräche oder entsprochen hätte? Wir

mögen die alte und neue Geschichte durchforschen und die

hervorragendsten Fürsten, die je auf einem Thron gesessen

haben, an unserm Geistesauge vorüberziehen lassen, aber

wir werden nicht einen Einzigen finden, der den beiden

großen Charakterzügen entspräche, welche nach unserm

Verse einen Herrscher kennzeichnen sollten. Er muß gerecht

sein und in Gottesfurcht herrschen. Aber wo giebt

es einen solchen, selbst unter den Besten der Menschen?

Wer ist denn dieser Gerechte, dieser Herrscher in

Gottesfurcht, von welchem David redet? Es ist der wahre

David, unser geliebter Herr und Heiland; Er, von dem

es heißt: „Ein Scepter der Aufrichtigkeit ist das Scepter

deines Reiches. Gerechtigkeit hast du geliebt, und Gesetzlosigkeit

gehaßt"; und an einer andern Stelle: „Er wird

Recht schaffen den Elenden des Volkes; Er wird retten

die Kinder des Armen, und den Bedrücker wird Er zertreten.

- . Er wird herabkommen wie ein Regen auf die

gemähte Flur, wie Regenschauern, Regengüsse auf das

133

Land". (Ps. 45; 72.) Ja, „Er wird sein wie das Licht

des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne

Wolken: von ihrem Glanze nach dem Regen sproßt das

Grün aus der Erde." (V. 4.) In allen diesen Stellen

ist in prophetischer Weise die Rede von dem Kommen

des Sohnes des Menschen und von der Herrlichkeit Seines

Reiches hienieden. Mit welch inniger Freude wendet sich

das Herz von dem finstern, fünde- und schmerzerfüllten

Schauplatz, den wir durchschreiten, zu jenem „Morgen ohne

Wolken", der einmal über dieser Erde anbrechen wird!

Jetzt giebt es keinen Morgen ohne Wolken. Wie wäre

es auch möglich? Wie könnte ein gefallenes Geschlecht,

eine seufzende Schöpfung sich eines wolkenlosen Himmels,

eines reinen, unvermischten Glückes erfreuen? Das ist

unmöglich, so lange nicht die sühnende Wirkung des Kreuzes

auf alle Dinge Anwendung gefunden hat und die ganze

Schöpfung in ihre volle Ruhe eingegangen ist unter dem

Schatten der Flügel Immanuels.

Schaue um dich her, mein Leser, richte dein Auge,

wohin du willst — überall begegnen Wolken und Finsternis

deinen Blicken. Eine seufzende Kreatur, ein zerstreutes

Israel, eine verfallene Kirche, verderbte Grundsätze, ein

leeres Bekenntnis, Parteiungen und Sekten, Unglaube und

Aberglaube, Krankheit und Tod — alles, alles dient dazu,

gleich „dem Rauche aus dem Schlunde des Abgrundes",

den Gesichtskreis um uns her zu verdunkeln und unsern

Blick zu trüben. Wie klammert sich da das Herz an die

Aussicht auf einen Morgen ohne Wolken; wie sehnlich

wünscht es ihn herbei! Wohl mochte David diesen Morgen

mit „einem Glanz nach dem Regen" vergleichen. Die

Kinder Gottes haben immer gefühlt, daß diese Welt eine

134

Stätte der Wolken und des Regens, ein Thal der Thränen

ist; aber der Morgen des tausendjährigen Reiches wird

allem diesem ein Ende machen: die Sonne dieses Morgens

wird bei ihrem Aufgange alle Wolken zerstreuen, und Gott

selbst wird alle Thränen abwischen von den Augen der

Seinigen. Welch eine herrliche, beglückende Aussicht!

Dank, ewig Dank sei der göttlichen Gnade, die uns eine

solche Aussicht geschenkt, und der versöhnenden Liebe, die

uns ein unumstößliches Anrecht darauf gegeben hat!

Wir haben bereits bemerkt, daß kein menschlicher

Herrscher jemals dem göttlichen Maßstabe entsprochen hat,

welchen David hier in seinen letzten Worten aufstellt.

David selbst fühlte das; und darum hören wir ihn auch

weiter sagen: „Obwohl mein Haus nicht also

ist bei Gott". Wir haben schon früher gesehen, wie

tief und gründlich sein Bewußtsein war bezüglich des

weiten Abstandes zwischen dem, was er persönlich war,

und den gerechten Anforderungen Gottes. Damals rief er

aus: „Ich bin in Ungerechtigkeit geboren", und: „Du

hast Lust an der Wahrheit im Innern". Wenn er sich

jetzt in seiner Eigenschaft als Herrscher betrachtet, so

ist seine Erfahrung dieselbe: „Mein Haus ist nicht also

bei Gott". Weder als Mensch noch als König war

er, was er hätte sein sollen; und darum War die Gnade

seinem Herzen so köstlich. Wenn er in den Spiegel des

vollkommenen Gesetzes Gottes hineinschaute, so sah er nur

seine Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit; aber dann

wandte er sich von diesem häßlichen Bilde zu dem „ewigen

Bunde" Gottes, „geordnet in allem und verwahrt",

und darin ruhte er mit nicht zweifelnder Glaubenseinfalt.

Obwohl Davids Haus nicht geordnet war in allem, so

135

War es doch der Bund Gottes; und David konnte sagen:

„Dies ist all meine Rettung und all mein Begehr". Er

hatte gelernt, von sich und seinem Hause abzublicken und

sein Auge aus Gott und Seinen ewigen Bund zu richten.

Und wir dürfen hinzufügen: Gerade so wirklich und tief

er sein Nichts als Mensch und König erkannte, gerade so

wirklich und tief war sein Bewußtsein von dem, was die

Gnade für ihn gethan hatte. Die Erkenntnis dessen, was

Gott war, hatte ihn gedemütigt, aber dieselbe Erkenntnis

hatte ihn auch erhoben. Es war seine Freude, als er

sein Ende herannahen fühlte, in dem Bunde seines Gottes

zu ruhen, in welchem er all sein Heil und all sein Begehr

eingeschlossen und verwahrt fand.

Wie gesegnet ist es, geliebter Leser, so unser Alles

in Gott zu finden! nicht nur Ihn als Den zu kennen,

der all unsern Mangel oder die Unzulänglichkeit alles

Irdischen und Menschlichen ausfüllt, sondern als Den, der

in unsern Augen alles, Menschen und Dinge, unendlich

übertrifft. Das ist es, was wir bedürfen. Gott muß den

ersten Platz haben, über allem stehen, nicht nur im Blick

auf die Vergebung unsrer Sünden, sondern auch hinsichtlich

aller unsrer Bedürfnisse. „Ich bin Gott, und keiner

sonst." „Wendet euch zn mir!"

Es giebt viele Gläubige, die Gott wohl vertrauen

können im Blick auf ihre ewige Errettung, die aber in den

kleinen Einzelheiten des täglichen Lebens kein Vertrauen

zu Ihm zu haben scheinen; und doch wird Gott gerade

darin so sehr verherrlicht, daß wir Ihn zu dem Vertrauten

aller unsrer Sorgen und zu dem Träger aller unsrer

Lasten machen. Nichts ist so klein und geringfügig, daß

wir es nicht vor Ihn bringen könnten; aber auch nichts

136

so klein, daß es nicht unsre Krast und Fähigkeit übersteigen

könnte. Hätten wir nur ein tieferes Bewußtsein

von unsrer Unfähigkeit und unserm Nichts, so würden

wir reichere und gesegnetere Erfahrungen von der Macht

und der liebevollen Fürsorge unsers Gottes und Vaters

machen.

Doch wir finden in unserm Kapitel noch eine andere

Sache, die in Verbindung mit dein Bunde Gottes sehr

bemerkenswert ist, obwohl sie ziemlich unvermittelt eingeführt

zu sein scheint. Ich meine den Bericht über die

Helden Davids. Es gab zwei Dinge, welche das Herz

des alternden Königs erfreuten, nämlich die Treue Gottes

und die Hingebung seiner Knechte. Ähnliches finden wir

bei dem Apostel Paulus. Am Schlüsse seines bewegten

und leidensvollen Pilgerlaufes schöpfte er aus denselben

Quellen Trost und Ermunterung. In seinem zweiten

Briese an Timotheus beschreibt er den Zustand der Dinge

um ihn her; er sieht das „große Haus", welches sicherlich

nicht so war, wie Gott es zu sehen wünschte; er sieht,

daß alle, die in Asien waren, sich von ihm abgewandk

hatten; er sieht, daß Hymenäus und Philetus falsche

Lehren verkündigten und den Glauben etlicher verkehrten;

er sieht Alexander, den Kupferschmied, viel Böses thun;

er sieht viele sich selbst Lehrer aufhäufen und sich von

der Wahrheit zu den Fabeln hinwenden; er sieht die gefährlichen,

schweren Zeiten mit erschreckender Schnelligkeit

herannahen — mit einem Wort, er sieht das ganze

Gebäude, menschlich gesprochen, in Stücke gehen: aber,

gleich David, ruhte er in der Gewißheit, daß „der feste

Grund Gottes steht", nnd wurde zugleich erquickt durch

die persönliche Hingebung des einen oder andern Glaubens

137

Helden, der durch die Gnade Gottes fest stand inmitten

des allgemeinen Zusammenbruchs. Er erinnerte sich des

Glaubens eines Timotheus, der Liebe eines Onesiphorus,

und wurde überdies erinuntert durch die Thatsache, daß

selbst in den finstersten Zeiten eine Schar Treuer da sein

würde, welche den Herrn anrufen würden aus reinem

Herzen. Er ermahnt Timotheus, sich diesen letzteren anzuschließen,

nachdem er sich von den Gefäßen zur Unehre

in dem großen Hause gereinigt habe.

So war es auch mit David. Er konnte seine Helden

aufzählen und ihre Thaten rühmen. Obwohl sein eignes

Haus nicht war, wie es hätte sein sollen, und obwohl

„die Söhne Belials" nm ihn her waren, konnte er doch

reden von einem Adino, einem Eleasar und einem Schamina,

von Männern, die ihr Leben um seinetwillen aufs Spiel

gesetzt und ihre Namen durch außergewöhnliche Heldenthaten

unter den Unbeschnittenen berühmt gemacht hatten.

Gott sei Dank! Er wird sich nie ohne ein Zeugnis

lassen; Er wird stets ein Volk haben, das Seiner Sache

in dieser Welt ergeben ist. Wenn wir das nicht wüßten,

so möchten unsre Herzen in Zeiten, wie die gegenwärtigen,

wohl verzagen. Wenige Jahre haben genügt, um eine

gewaltige Veränderung in dem Verhalten vieler Christen

hervorzurufen. Die Dinge liegen nicht mehr unter uns,

wie sie einst lagen, und wir dürfen in Wahrheit sagen:

„Unser Haus ist nicht also bei Gott". Manche hohe Erwartungen

sind in Nichts zerronnen. Wir haben erfahren

müssen, daß wir uns in keiner Beziehung von Andern

unterschieden haben; oder wenn wir uns unterschieden, so

war es darin, daß wir ein höheres Bekenntnis ablegten

und infolge dessen auch eine größere Verantwortlichkeit auf

138

uns brachten und in auffallenderer Weise, als Andere, den

Mangel an Übereinstimmung zwischen unserm Bekenntnis

und Wandel kundwerden ließen. Haben wir nicht viel

Vertrauen auf Menschen gesetzt und gemeint, wir wären

etwas? Ach! wir haben uns sehr, sehr geirrt, und lernen

nun in schmerzlicher, demütigender Weise unsern Irrtum

einsehen. Der Herr gebe, daß wir die Unterweisung, die

Er uns giebt, wirklich und gründlich lernen, daß wir sie

lernen in Seiner Gegenwart, im Staube liegend, damit

wir uns nie wieder überheben, sondern in dem bleibenden

Bewußtsein unsers Nichts und unsrer Ohnmacht unsern

Weg fortsetzen bis zum Ziel! Die Worte, welche der Herr

an die Gemeinde in Laodicäa richtet, sind ernst, und es

kann uns nur von Nutzen sein, wenn wir sie uns oft ins

Gedächtnis rufen und uns Prüfen, ob wir nicht in der

einen oder andern Weise sie auf uns anwenden müssen.

Sie lauten: „Weil du sagst: Ich bin reich und bin reich

geworden und bedarf nichts, und weißt nicht, daß du der

Elende und der Jämmerliche und arm und blind und bloß

bist. Ich rate dir, Gold von mir zu kaufen, geläutert

im Feuer, auf daß du reich werdest; und weiße Kleider,

auf daß du bekleidet werdest, und die Schande deiner

Blöße nicht offenbar werde: und Augensalbe, deine

Augen zu salben, auf daß du sehen mögest.

Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun

eifrig und thue Buße!"

Wenn die Erfahrungen, die wir in den vergangenen

Tagen gemacht haben, uns dahin führen, einfältiger und

inniger an Jesu zu hangen, so haben wir Ursache, dem

Herrn für sie zu danken, so schmerzlich sie gewesen sein

mögen; und wie die Dinge liegen, können wir es nur als

139

eine Gnade betrachten, von jedem falschen Vertrauen auf

uns selbst oder ans Menschen befreit und dahin gebracht

worden zn sein, uns fester an das Wort zu klammern und

uns einfältiger der Leitung des Heiligen Geistes zu überlassen,

dieses unfehlbaren, treuen Begleiters der Kirche

auf ihrem Pfade durch die Wüste.

Auch hat es nicht an lieblichen Ermunterungen

gefehlt von feiten solcher, die dem Herrn aufrichtig ergeben

waren. Viele haben ihre Liebe zu der Person

Christi bewiesen, treu für den einmal den Heiligen überlieferten

Glauben gekämpft und die Lehre von der Kirche

Christi festgehalten. Das ist eine große Gnade. Obwohl

der Feind viel Unheil angerichtet hat, ist es ihm doch

nicht erlaubt worden, seine Pläne auszuführen. Viele

stehen nach wie vor bereit, ihre Zeit und Kraft für die

Verteidigung des Evangeliums zu verwenden. Möge der

Herr ihre Zahl vermehren und auch ihr Zeugnis voller

nnd kräftiger machen! Möge Er in uns allen eine immer

wachsende Dankbarkeit für Seine Gnade erwecken, die uns

in Seinem Worte so klar und deutlich die wahre Stellung

und den Pfad Seiner Knechte in diesen letzten bösen Tagen

vorgezeichnet hat, sowie die Grundsätze, welche uns inmitten

der immer mehr überhand nehmenden Verwirrung

allein an dem Platze erhalten können, wo Er uns haben

will! Gott sei Lob und Dank! mag auch alles wanken

und sich verändern, Seine Wahrheit wankt nnd verändert

sich nie. Alles was wir zu erwarten und zu erflehen

haben, ist, treu erfunden zu werden bis ans Ende. Wenn

wir suchen, Aufsehen zu machen in dieser Welt, etwas

aufzurichten zu unsrer Ehre und Verherrlichung, so werden

wir enttäuscht und der Name des Herrn wird verunehrt

140

iverden. Sind wir aber zufrieden, klein zu sein, ja nichts

zu sein nnd demütig mit Gott zu wandeln, so wird Er

nut uns sein, und wir werden allezeit Ursache finden, uns

zu freuen und zu loben und zu danken; und wahrlich,

unsre Mühe wird nicht vergeblich sein im Herrn.

David hatte gedacht, in seinen Tagen vieles thun

zu können, und er war aufrichtig in diesem Gedanken;

ober er mußte lernen, daß der Wille Gottes betreffs seiner

fier war, daß er „seinem Geschlecht dienen" sollte. Wir

müssen dies ebenfalls lernen. Wir müssen lernen, daß

eine demütige Gesinnung, ein hingebendes Herz, ein zartes

-Gewissen, ein aufrichtiger Herzensvorsatz weit kostbarer

sind in den Augen Gottes, als ein bloß äußerlicher Dienst,

so glänzend und anziehend er auch sein mag. „Gehorchen

ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das Fett der

Widder." Das sind gesunde Worte für eine Zeit wie die

unsrige, in welcher die göttlichen Grundsätze so wenig beachtet

und so leicht aufgegeben werden.

Der Herr erhalte uns treu bis ans Ende, damit

wir, sei es daß wir in Jesu entschlafen, wie die uns

vorangegangenen Heiligen, oder entrückt werden, um Ihm

in der Luft zu begegnen, „ohne Flecken und tadellos von

Ihm erfunden werden in Frieden"! Inzwischen aber

mögen unsre Herzen sich erfreuen an den Worten des

Apostels an sein geliebtes Kind Timotheus: „Der feste

Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr

kennt, die Sein sind; und: Jeder, der den Namen des

Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!"

Saul, der Mann nach dem Herzen des

Menschen.

Nachdem wir die Geschichte Davids, des Mannes

nach dem Herzen Gottes, mit einander betrachtet und

seinen Weg verfolgt haben von den Schafhürden Bethlehems

bis zu dem Glanze des Königtums in Jerusalem,

wird es für den Leser von doppeltem Interesse sein, einen

Blick auf die Geschichte Sauls, des Mannes nach dem

Herzen des Menschen, zu werfen, und zu untersuchen, aus

welchem Wege er König wurde und wie er den Anforderungen

seiner erhabenen Stellung sich gewachsen zeigte. Laßt uns

denn, an der Hand des 1. Buches Samuel, kurz den Gang

der Ereignisse verfolgen, welche zu der Errichtung des

Königtums in Israel führten.

In den ersten Kapiteln des genannten Buches entwirft

der Geist Gottes ein höchst belehrendes nnd ernstes

Gemälde von dem damaligen Zustande des Volkes. Das

Haus Elkanas bietet dem geweihten Schreiber Gelegenheit,

uns eine treffende bildliche Darstellung Israels nach dem

Fleische nnd Israels nach dem Geiste vor Augen zu führen.

Elkana „hatte zwei Weiber: der Name der einen war

Hanna, und der Name der andern Peninna; und Peninna

hatte Kinder, aber Hanna hatte keine Kinder."

So spielte sich in dem häuslichen Kreise dieses Ephra-'

thiters die Geschichte der Sarah und der Hagar gleichsam

XI. IV s

142

noch einmal ab. Hanna war das unfruchtbare Weib, und

sie mußte dies tief fühlen; denn „ihre Widersacherin kränkte

sie mit vieler Kränkung, um sie aufzubringen, weil Jehova

ihren Mutterleib verschlossen hatte". Das unfruchtbare

Weib wird in der Schrift stets als ein Bild des

verderbten und hilflosen Zustandes der Natur dargestellt.

Die menschliche Natur ist unfähig, etwas für Gott zu

thun; sie hat keine Kraft, Ihm irgendwelche Frucht zu

bringen; alles ist Tod und Unfruchtbarkeit. Das ist der

Zustand eines jeden Kindes Adams; es kann weder etwas

für Gott, noch für sich selbst thun, wenn seine ewige Bestimmung

in Frage kommt. Der Mensch ist durchaus

ohne Kraft; er ist ein „dürrer Baum", ein „Strauch in

der Wüste".

Der Herr aber ließ Seine Gnade die Schwachheit

Hannas überströmen und legte ein Loblied in ihren Mund.

Er setzte sie in den Stand, zu sagen: „Mein Horn ist

erhöht in Jehova; mein Mund ist weit aufgethan über

meine Feinde, denn ich freue mich in deiner Rettung".

Es ist das besondere Vorrecht Jehovas und Sein gnadenreiches

Thun, die Unfruchtbare zu erfreuen und zum Frohlocken

zu bringen. Er allein kann sagen: „Jubele, du

Unfruchtbare, die nicht geboren, brich in Jubel aus und

jauchze, die keine Wehen gehabt hat! denn der Kinder der

Vereinsamten sind mehr als der Kinder der Vermählten."

(Jes. 54, 1.)

Hanna erfuhr die Wahrheit dieser Worte, und das

verwitwete Israel wird sie binnen kurzem auch erfahren;

„denn der es gemacht hat ist sein Mann — Jehova der

Heerscharen ist Sein Name — und der Heilige Israels

ist sein Erlöser". Ter herrliche Gesang Hannas stellt in

143

prophetischer Weise die dankbare Anerkennung der Wege

Gottes mit Israel dar: „Jehova tötet und macht lebendig;

Er führt in den Scheol hinab und führt herauf. Jehova

macht arm und macht reich; Er erniedrigt und erhöht

auch. Er hebt aus dem Staube empor den Geringen,

aus dem Kote erhöht Er den Armen, um ihn sitzen zu

lassen bei den Edlen; und den Thron der Erde giebt Er

ihnen als Erbteil." Alles dieses wird sich in den letzten

Tagen im Blick auf Israel bewahrheiten, und schon heute

erfährt es jede Seele, welche durch die Gnade ihrem verderbten

natürlichen Zustande entrissen und zu dem Segen

und Frieden in Jesu geführt wird.

In jenen Tagen seufzte wohl jeder treue, gottesfürchtige

Israelit unter dem traurigen Zustand, in welchem

sich das Volk und vor allem die priesterliche Familie befand.

Denn die Interessen des Hauses Jehovas wurden

mißachtet, Seine Opfer entweiht und Seine heiligen Gebote

von den gottlosen Söhnen Elis mit Füßen getreten. In

dem Verlangen Hannas nach einem „männlichen" Kinde

gaben sich daher nicht nur die Gefühle eines Mutterherzens

kund, sondern auch diejenigen einer gottesfürchtigen

Israelitin. Sie hatte ohne Zweifel den Verfall von

allem, was mit dem Hause Jehovas in Verbindung stand,

gesehen und darüber getrauert. Das blöde Auge Elis,

die schändlichen Thaten seiner Söhne Hophni und Pinehas,

der entweihte Tempel, das verachtete Opfer — alles das

sagte der Hanna, daß ein tiefes, dringendes Bedürfnis

vorlag, welches allein durch die kostbare Gabe eines Sohnes

von feiten des Herrn befriedigt werden konnte: Deshalb

sagte sie zn ihrem Manne: „Bis der Knabe entwöhnt ist,

dann will ich ihn bringen, daß er erscheine vor

144

Jehova und daselbst bleibe auf immer". „Bleibe

auf immer" — nichts Geringeres als das konnte die verlangende

Seele Hannas befriedigen. Es war nicht nur

das Hinwegthun ihrer eignen Schmach, was Samuel so

kostbar in ihren Augen machte. Nein, sie verlangte darnach,

„einen treuen Priester" vor Jehova stehen zu sehen;

und im Glauben ruhte ihr Auge auf einem, der auf immer

dort bleiben sollte. Kostbarer, herzerquickender Glaube!

Er erhebt die Seele über den niederdrückenden Einfluß

der sichtbaren und zeitlichen Dinge und versetzt sie in das

Licht der unsichtbaren und ewigen.

In Kapitel 3 finden wir die Ankündigung des schrecklichen

Zusammenbruches des Hauses Elis. „Und es geschah

in selbiger Zeit, als Eli an seinem Orte lag — seine

Augen aber hatten begonnen blöde zu werden, er konnte

nicht sehen — und die Lampe Gottes war noch nicht

erloschen, und Samuel lag im Tempel Jehovas, woselbst

die Lade Gottes war, da rief Jehova den Samuel."

Wie ausdrucksvoll ist alles in dieser Scene!. Elis Augen

sind blöde geworden, und Jehova ruft den Samuel. Mit

anderen Worten: Elis Haus steht im Begriff zu verschwinden,

und der treue Priester tritt in den Vordergrund.

Samuel läuft zu Eli; aber ach! alles was dieser ihm

sagen konnte, war: „Lege dich wieder". Er hatte keine

Botschaft für den Knaben. Er konnte seine Zeit mit

Schlafen zubringen, während die Stimme des Herrn in

seiner nächsten Nähe ertönte. Welch eine ernste Warnung!

Eli war ein Priester des Herrn, aber er unterließ es, in

Wachsamkeit zu wandeln, sein Haus nach den Gedanken

Gottes zu ordnen, seine Söhne zu strafen; und so sehen

wir das traurige Ende, zu welchem er kam. „Und Jehova

145

sprach zu Samuel: Siehe, ich will eine Sache thun in

Israel, daß jedem, der sie hört, seine beiden Ohren gellen

sollen. An selbigem Tage werde ich wider Eli aufrecht halten

alles, was ich über sein Haus geredet habe: ich werde

beginnen und vollenden. Denn ich habe ihm kundgethan,

daß ich sein Haus richten will ewiglich, um der Ungerechtigkeit

willen, die er gewußt hat, daß seine Söhne

sich den Fluch zuzogen, und er hat ihnen nicht gewehrt."

(V. 11—13.)

„Was irgend ein Mensch säet", sagt der Apostel,

„das wird er auch ernten". Wie bewahrheitet sich dieses

Wort in der Geschichte eines jeden Kindes Adams, und

wie augenscheinlich bewahrheitet es sich in der Geschichte

eines jeden Kindes Gottes! Wie wir säen, so werden wir

ernten. Eli mußte das fühlen, und auch wir, Schreiber

wie Leser dieser Zeilen, müssen es fühlen. Es giebt viel

mehr praktische Wirklichkeit in diesem göttlichen Ausspruch,

als manche sich vorstellen. Wenn wir in Gedanken, Worten

und Werken eine verkehrte Richtung einschlagen, so müssen

wir früher oder später unvermeidlich die Früchte davon

ernten. *) Möchte diese Erwägung uns zu einer heiligeren

*) Ich brauche kaum zu sagen, daß dies nichts mit der ewigen

Beständigkeit der göttlichen Gnade oder mit der vollkommenen Annahme

des Gläubigen in Christo zu thun hat. Christus ist das

Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen, und deshalb kann der

Grund seines Friedens nie angetastet werden. Gott selbst hat

diesen Frieden auf einer unerschütterlichen Grundlage errichtet, und

ehe dieser angegriffen werden kann, müßte die Thatsache der Auferstehung

Christi in Zweifel gezogen werden; denn offenbar könnte

Christus nicht da sein, wo Er ist, wenn nicht der Friede zwischen

Gott und dem Gläubigen vollkommen gemacht wäre. Der Gläubige

besitzt einen vollkommenen Frieden. Warum? Weil er weiß, daß

146

Wachsamkeit in all unserm Wandel anspornen! Laßt uns

Sorge tragen, daß wir „für den Geist säen", damit wir

„von dem Geiste ewiges Leben ernten".

Das 4. Kapitel giebt uns eine demütigende Schilderung

von dem Zustande Israels in Verbindung mit

dem traurigen Hause Elis. „Und Israel zog aus, den

Philistern entgegen zum Streit; nnd sie lagerten sich bei

Eben-Eser, und die Philister lagerten zn Aphek. Und die

Philister stellten sich auf, Israel gegenüber; und der Streit

breitete sich aus, und Israel wurde von den Philistern

geschlagen; und sie erschlugen in der Schlachtordnung auf

dem Felde bei viertausend Mann." (V. 1.2.) Israel mußte

hier den Fluch eines gebrochenen Gesetzes au sich erfahren.

(5. Mose 28, 25.) Sie konnten vor ihren Feinden nicht

ec vollkommen gerechtfertigt ist. Und woher weiß er das? Well

er durch den Glauben an das Wort Gottes weiß, daß eine vollkommene

Sühnung für ihn geschehen ist. Das ist die göttliche

Ordnung: ein vollkommenes Versöhnungswerk ist die Grundlage

meiner vollkommenen Rechtfertigung; und meine vollkommene Rechtfertigung

ist die Grundlage meines vollkommenen Friedens. Gott

hat diese drei Dinge unauflöslich mit einander verbunden, und das

ungläubige Herz des Menschen bemüht sich vergebens, sie aus

einander zu reißen.

Aber so wahr das alles ist, kann der Gläubige doch sehr

leicht den Genuß dieser kostbaren Dinge verlieren, und er wird es

thun, sobald er in seiner Wachsamkeit nachläßt oder ungehorsam

ist. Wenn mein Kind, - trotz meines Verbotes, ans Feuer geht,

wird es sich verbrennen und sich vielleicht heftige Schmerzen zuziehen.

Nichtsdestoweniger ist und bleibt es mein Kind, so sehr

mich sein Verhalten auch betrübt.

Die Worte des Apostels sind so umfassend wie möglich:

„Was irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten". Er

redet nicht von „bekehrt" oder „unbekehrt"; die Stelle bezieht sich

auf alle ohne Ausnahme und Unterschied.

147

standhalten, da sie infolge ihres Ungehorsams schwach und

kraftlos waren.

Beachten wir ferner die Grundlage ihres Vertrauens

in dieser Zeit der Drangsal und Not. „Und als das

Volk ins Lager kam, da sprachen die Ältesten Israels:

Warum hat uns Jehova heute vor den Philistern geschlagen?

Lasset uns von Silo die Lade des Bundes Jehovas zu

uns holen, daß sie in unsre Mitte komme und uns rette

von der Hand unsrer Feinde." Ach, welch eine armselige

Grundlage des Vertrauens! Sie redeten kein Wort von

dem Herrn selbst. Sie dachten gar nicht an Ihn;

sie machten Ihn nicht zu ihrem Schirm und Schild. Sie

vertrauten auf die Bundeslade und bildeten sich ein, daß

diese sie retten könne. Welch eine Thorheit! Wie konnte

die Lade ihnen irgendwie nützen, wenn nicht Jehova der

Heerscharen, der Gott der Schlachtreihen Israels, sie begleitete?

Unmöglich! Und Er war nicht mehr in ihrer

Mitte. Sie hatten Ihn durch ihre ungerichtete Sünde

betrübt und vertrieben; und kein Symbol, kein gottesdienstliches

Gerät, keine noch so feierliche Ceremonie konnte

an Seine Stelle treten.

Israel meinte indes, die Lade würde alles für sie

ausrichten; und groß war die Freude im Lager, als die

Bundeslade erschien, begleitet nicht von Jehova, sondern

von den bösen Priestern Hophni und Pinehas. „Und es

geschah, als die Lade des Bundes Jehovas ins Lager

kam, da jauchzte ganz Israel mit großem Jauchzen, daß

die Erde erdröhnte." (V. 5.) In der That, diese lärmende

Freude war geeignet, einen tiefen Eindruck auf den Beschauer

zu machen; aber ach! es war nichts als leerer

Schein, nichts als eine hohle Form. Israels Jauchzen

148

war ebenso grundlos wie unzeitig und ungeziemend.

Wahrlich, sie hätten etwas anderes thun sollen, als ein

solch leeres, eitles Gepränge zu machen. Aber ihr

Triumphgeschrei stand in trauriger Übereinstimmung mit

ihrem niedrigen moralischen Zustand in den Augen Gottes.

Denn immer wieder wird man die Erfahrung machen,

daß solche, die sich selbst am wenigsten kennen, in anmaßendster

Weise von sich reden und das erhabenste Bekenntnis

im Munde führen. Der Pharisäer im Evangelium

schaute mit stolzer Verachtung auf den Zöllner herab;

er bildete sich ein, sehr hoch zu stehen, während er dem

Zöllner einen gar niedrigen Platz anwies; doch wie ganz

anders waren Gottes Gedanken über diese beiden Männer!

Ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz ist die Wohnstätte

Gottes, und Er weiß ein solches Herz aufzurichten

und zu trösten, wie niemand anders es kann. Das ist,

gepriesen sei Sein Name! ein Werk, an welchem Er Sein

besonderes Wohlgefallen findet.

Die Menschen dieser Welt jedoch werden stolzen

Anmaßungen stets viel Wert und Wichtigkeit beimessen.

Sie lieben sie, und räumen im allgemeinen denen, die

da vorgeben, etwas zn sein, einen hohen Platz ein, während

sie andrerseits den wirklich demütigen Mann noch tiefer

herabzusetzen suchen. So legten auch in der höchst belehrenden

Scene in unserm Kapitel die Philister dem

Jauchzen und Triumphieren der Männer von Israel eine

hohe Bedeutung bei. Es glich ihnen selbst, und darum

konnten sie es auch verstehen und ihm Wert beimessen.

„Und die Philister hörten die Stimme des Jauchzens

und sprachen: Was bedeutet die Stimme dieses großen

Jauchzens in dem Lager der Hebräer? Und sie erkannten,

149

daß die Lade Jehovas ins Lager gekommen war. Da

fürchteten sich die Philister, denn sie sprachen: Gott ist

ins Lager gekommen." (B. 6. 7.) Sie dachten natürlich,

daß das Triumphgeschrei wirklich begründet sei. Sie sahen

nicht unter die Oberfläche; sie wußten nicht, was ein

verunreinigtes Priestertum, ein verachtetes Opfer und ein

entweihter Tempel bedeuteten. Sie schauten nur auf das

sichtbare Zeichen der Gegenwart Jehovas und meinten,

daß Gottes Macht dasselbe begleite. Daher ihre Furcht.

Sie wußten nicht und konnten es nicht wissen, daß ihre

Furcht gerade so unbegründet war wie das Jauchzen

Israels. „Fasset Mut", sagten sie, „und seid Männer,

ihr Philister, daß ihr nicht den Hebräern dienen müsset,

wie sie euch gedient haben; so seid denn Männer und

streitet!" Hierin lag die einzige Hilfsquelle für die Philister:

„Seid Männer!" Israel konnte nicht so reden.

Wenn die Sünde sie verhinderte, die göttlichen Hilfsquellen

sich in ihren Umständen zu nutze zu machen, so

waren sie schwächer als andere Menschen. Israels einzige

Hoffnung lag in Gott; und wenn Gott nicht mit ihnen

war, wenn es sich um einen bloßen Kampf zwischen

Mensch nnd Mensch handelte, dann war ein Israelit einem

Philister nicht gewachsen. Dies bewahrheitete sich bei der

vorliegenden Gelegenheit in schlagender Weise. „Und die

Philister stritten, und Israel wurde geschlagen." Wie hätte

es anders sein können? Israel mußte geschlagen werden

und fliehen, wenn ihr Schirm und Schild, Gott selbst,

nicht in ihrer Mitte war. Sie wurden vollständig besiegt,

die Herrlichkeit wich von ihnen, die Bundeslade wurde

genommen, nnd ihr Triumphgeschrei verwandelte sich in

Jammern und Wehklagen. Ihr Teil war Niederlage und

150

Schande, und der greise Eli, den wir als den Stellvertreter

des damals bestehenden Systems betrachten können,

fiel mit demselben und wurde unter seinen Trümmern

begraben.

Die Kapitel 5 und 6 umfassen den Zeitabschnitt,

während dessen „Jkabod" (Nicht-Herrlichkeit) auf das Volk

Israel geschrieben war. Während dieser Zeit trat Gott

nicht öffentlich für Sein Volk ein, und die Lade Seiner

Gegenwart wanderte von Stadt zu Stadt unter den Unbeschnittenen.

„Und die Philister hatten die Lade Gottes

genommen, und sie brachten sie von Eben-Eser noch Asdod.

Und die Philister nahmen die Lade Gottes und brachten

sie in das Haus Dagons und stellten sie neben Dagon."

Trauriges und demütigendes Resultat der Untreue Israels!

Mit welch sorgloser Hand und treulosem Herzen mußte

es die Bundeslade bewahrt haben, daß sie jemals eine

Stätte in dem Götzentempel der Philister finden konnte!

Wahrlich, Israel hatte schwer gefehlt- es hatte alles

seinen Händen entgehen lassen, ja, es hatte das Heiligste

aufgegeben, so daß es von den Unbeschnittenen entweiht

und verlästert werden konnte.

Nach den Gedanken der Philister war das Haus

Dagons heilig genug für die Lade Jehovas, deren Platz

im Allerheiligften sein sollte. Der Schatten Dagons trat

an die Stelle der Strahlen der göttlichen Herrlichkeit.

Aber Gott dachte anders als die Fürsten der Philister.

Mochten auch die Israeliten sich treulos erwiesen haben,

und die Philister in vermessenem Übermut den Gott Israels

ihrem Götzen Dagon gleichstellen, so konnte Gott doch

nicht anders als sich selbst und Seiner Heiligkeit treu

bleiben, und Dagon mußte auf sein Angesicht fallen vor

151

der Lade Seiner Gegenwart. „Und als die Asdoditer

am andern Tage früh aufstanden, siehe, da lag Dagon

auf seinem Angesicht zur Erde vor der Lade Jehovas;

und sie nahmen Dagon und stellten ihn wieder an seinen

Ort. Und als sie am andern Tage des Morgens früh

aufstanden, siehe, da lag Dagon auf seinem Angesicht zur

Erde vor der Lade Jehovas, und das Haupt Dagons und

seine beiden Hände abgehauen auf der Schwelle; nur der

Fischrumpf war au ihm übriggeblieben."

Es ließe sich kaum etwas Niederdrückenderes oder

Demütigenderes denken als der Zustand der Dinge, wie

er damals in Israel lag. Die Bundeslade war aus ihrer

Mitte weggeführt, sie selbst hatten sich vor den Augen

der umwohnenden Völker als unfähig erwiesen, Gottes

Zeugen hienieden zu sein, und die Feinde der Wahrheit

triumphierten: „die Bundeslade war im Hause Dagons!"

Es war in der That ein schrecklicher Zustand, von feiten

des Menschen aus betrachtet; aber Gott sei Dank! es

gab auch noch eine andere Seite. Zwar hatte Israel sich

schwer versündigt und den Feinden erlaubt, seine Ehre in

den Staub zu treten; alles war ihm genommen; aber

Einer blieb, trotz aller Fehler und Untreuen, und dieser

Eine stand über allem und konnte in unumschränkter

Gnade und Macht handeln. Welch eine Quelle des Trostes

für jedes treue Herz, das sich noch in der Mitte des abtrünnigen

Volkes befand! Ja, Gott blieb treu, und Er

offenbarte sich in wunderbarer Macht und Herrlichkeit.

Wenn Israel es unterließ, für die Wahrheit Gottes zu

streiten, so mußte Er selbst auf den Schauplatz treten;

und Er that es. Die Fürsten der Philister hatten Israel

besiegt, aber die Götter der Philister mußten auf ihr

152

Angesicht niederfallen vor derselben Lade, welche einst die

Wasser des Jordan zurückgetrieben hatte. In der Stille

und Einsamkeit des Hauses Dagons, wo kein Ange es

sah und kein Ohr es hörte, trat der Gott Israels zur

Aufrechthaltung jener großen Grundsätze der Wahrheit

ein, welche Israel so schmählich aufgegeben hatte. Dagon

fiel und verkündigte in seinem Falle laut die Ehre des

Gottes Israels. Die Finsternis jener Stunde gab der

göttlichen Herrlichkeit nur eine Gelegenheit, in all ihrem

Glanze hervorzustrahlen. Der Schauplatz war so völlig

von dem Geschöpf gesäubert, daß der Schöpfer sich selbst

in Seinem majestätischen Charakter zeigen konnte. So ist

es immer. Die Not und Hilflosigkeit des Menschen giebt

Gott Gelegenheit, Seine Macht zu zeigen. Die Untreue

des Menschen macht Raum für die Entfaltung der Treue

Gottes. Die Philister hatten sich stärker erwiesen als die

Israeliten; aber Jehova war stärker als Dagon.

Alles dieses ist höchst belehrend und ermunternd in

einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo das Volk Gottes

ini allgemeinen so wenig jene innige Hingebung und

heilige Absonderung offenbart, welche es kennzeichnen sollten.

Wahrlich, wir haben Ursache, dem Herrn für die Gewißheit

zu danken, daß Er treu bleibt. „Der feste Grund

Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt, die

Sein sind, und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt,

stehe ab von der Ungerechtigkeit." Gott wird in den

finstersten Zeiten Seine Wahrheit aufrecht erhalten und

ein Zeugnis für sich erwecken, selbst wenn es in dem

Hause Dagons sein sollte. Die Christen mögen von den

Grundsätzen Gottes abweichen, aber die Grundsätze bleiben

dieselben; ihre Reinheit, Kraft und himmlische Schönheit

153

werden in keiner Weise durch die Unbeständigkeit und den

Wankelmut untreuer Bekenner beeinträchtigt, und schließlich

wird die Wahrheit triumphieren.

Die Bemühungen der Philister, die Bundeslade bei

sich zu behalten, erwiesen sich als völlig nutzlos. Sie

konnten nicht Dagon und Jehova bei einander wohnen

lassen. Ein jeder solcher Versuch ist böse, ja lästerlich.

„Welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis? und welche

Übereinstimmung Christus mit Belial?" (2. Kor. 6.)

Keine irgendwelcher Art! Der Maßstab Gottes kann niemals

herabgestimmt werden, um so allmählich den Grundsätzen,

welche die Menschen dieser Welt regieren, sich

anzupassen. Jeder Versuch, Christum mit der einen und

die Welt mit der andern Hand fest zu halten, muß in

Verwirrung und Beschämung enden. Und doch, wie manche

machen diesen Versuch! Wie viele giebt es, die sich unaufhörlich

mit der Frage zu beschäftigen scheinen, wieviel sie

von der Welt behalten können, ohne den Namen und die

Vorrechte eines Christen völlig aufgeben zu müssen! Das

ist ein tödliches Übel, eine schreckliche und verhängnisvolle

Schlinge Satans; ja es ist im Grunde nichts anderes als

Selbstsucht in ihrer entwickeltsten Form. Es ist traurig

genug, wenn Menschen in der Gesetzlosigkeit und dem Verderben

ihrer Herzen wandeln; aber den eignen Willen

und die Begierden der Natur mit dem heiligen Namen

Christi verbinden, ist der Gipfelpunkt der Bosheit. „So

spricht Jehova der Heerscharen, der Gott Israels: Machet

gut eure Wege und eure Handlungen . . . Siehe, ihr

verlasset euch auf Worte der Lüge, die nichts nützen.

Wie? stehlen, morden und Ehebruch treiben und falsch

schwören, und dem Baal räuchern und anderen Göttern

154

nachwandeln, die ihr nicht kennet! und dann kommet ihr

und tretet vor mein Angesicht in diesem Hause, welches

nach meinem Namen genannt ist, und sprechet: Wir sind

errettet, — damit ihr alle diese Greuel verübet?" (Jer. 7,

3—10.) Auch wird uns als einer der besondern Charakterzüge

der letzten Tage angegeben, daß die Menschen „eine

Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen

werden". Die äußere Form gefällt dem Menschen, weil

sie dazu dient, das Gewissen zu beruhigen, während das

arme, begehrliche Herz die Welt und ihre Freuden genießt.

Welch ein Betrug! Wie nötig ist daher die Ermahnung

des Apostels: „von diesen wende dich weg!"

Satans Meisterstück ist die Vermengung des anscheinend

Christlichen mit dem Unheiligen; er betrügt und verführt

hierdurch weit mehr Seelen als durch offenbare, grobe

Sünden und Laster, und es ist weit mehr geistliches Verständnis

nötig, um dieses Übel in seinen schrecklichen Folgen

zu entdecken. Der Herr gebe uns ein solches Verständnis!

Er weiß, wie sehr wir es bedürfen. (Schluß folgt.)

„Ihr seid meine Freunde."

(Joh. 15, 14.)

Sehr verschiedenartig sind die Beziehungen, in welche

wir als Gläubige zu dem Herrn gebracht sind. Er ist

unser Heiland, unser Sachwalter, Hoherpriester, Hirte u. s. w.

Und Er ist das alles, unabhängig von uns und unserm

Verhalten, obwohl wir und unser Thun der Anlaß für

Ihn gewesen sind, in diese verschiedenen Beziehungen zu

uns zu treten. Unsre Sünden waren der Anlaß, daß

155

Er herniederkam und unser Heiland wurde; und Er

kam aus freier Liebe zu uns, nicht aber weil wir Ihn

begehrt hätten. Aus demselben Grunde ist Er jetzt unser

Sachwalter, unser Hohepriester und guter Hirte. Wir

haben Ihn nicht gebeten, unsre Sachen bei dem Vater

zu vertreten, aber Er thut es aus freier Liebe und ohne

Ermüden. Ebenso wenig haben wir Ihn gebeten, auf dem

Wege durch diese Welt Sorge für uns zu tragen; aber

als der gute Hirte hat Er beständig Sein Auge auf jedes

einzelne Seiner Schafe gerichtet. Er weidet und hütet sie.

Wenngleich es dem Wolfe gelungen ist, die Herde zu zerstreuen,

kann doch niemand die wahren Schafe aus Seiner

Hand rauben. Er hat sie alle unter Seiner Obhut, und

nicht eines entgeht Seiner wachsamen und treuen Hirtenpflege.

Mag es zuweilen auch scheinen, als ob sie sich

selbst überlassen, oder der Willkür des Feindes preisgegeben

wären, so ist es in Wirklichkeit doch nicht so;

nicht eines wird vermißt werden am Tage Seiner Herrlichkeit.

In derselben freien Liebe, in welcher Er für sie

starb, als sie noch tot in Sünden waren, vertritt Er sie

jetzt bei dem Vater, trägt, Pflegt und weidet Er sie. Die

Bewahrung aller unsrer Beziehungen zu Ihm wird durch

Seine unwandelbare Treue verbürgt; und darum haben

wir eine unwandelbare Gewähr für unser ewiges Heil und

unsre vollkommene Sicherheit.

Indes geht das Verlangen Seiner Liebe im Blick

auf uns viel weiter, als nur unsern Bedürfnissen entgegenzukommen.

Er wünscht mit uns zu Verkehren als mit

Seinen Freunden; Er will ein inniges und vertrautes

Verhältnis mit uns pflegen. Ein solches Verhältnis kann

nur auf gegenseitigem Vertrauen, auf gegenseitiger Offen

156

heit und Treue beruhen. Er hat es Seinerseits daran

nicht fehlen lassen. Er ist den Seinigen entgegengekommen

mit vollkommnem Vertrauen, und Er interessiert sich für

alles, was sie betrifft; nichts ist Ihm gleichgültig betreffs

ihrer Umstände und Angelegenheiten, seien es persönliche,

häusliche oder geschäftliche. Seine Treue gegen sie ist

unerschütterlich. Nichts hat Er ihnen verhehlt von dem,

was in Seinem Herzen für sie war. Ihre Freuden und

Leiden hat Er stets zu den Seinigen gemacht. Wie innig

nahm Er z. B. teil an dem Wohl und Wehe der Familie

in Bethanien! Er ließ sich von ihr bedienen, hörte die

Beschwerden der Martha an und beschwichtigte sie. Die

drei Geschwister erfuhren, daß kein Freund, und sei es der

beste auf Erden, so vertrauenswürdig und zuverlässig war

wie Er; und Er blieb dies für sie auch in ihren tiefsten

und dunkelsten Wegen. Oder war Er etwa nicht mehr

ihr Freund, als Er den Lazarns sterben ließ? Hören wir,

was Er sagt: „Lazarus, unser Freund, schläft, und ich

gehe hin, daß ich ihn aufwecke". (Joh. 11, 11.) War

auch der Himmel in diesem Augenblick schwarz bewölkt für

die beiden Schwestern, so war er es doch nicht für den

Herrn. Er wußte, was Er thun wollte. Noch wenige

Stunden, und Lazarus sollte, zu neuem Leben erstanden,

in sein Haus zurückkehren. Trotzdem nahm der Herr den

innigsten Anteil an der Trauer der Schwestern und fühlte

ihren Schmerz als Seinen eignen. Er vergoß Thränen.

Er weinte mit den Weinenden.

Und wie bei Lazarus, so wird auch das Ende Seiner

Wege mit uns ein herrliches sein. Sind diese auch für

den Augenblick noch so dunkel und nnerforschlich, ihr Ende

wird in glänzendster Weise darthun, daß Er unser treuester

157

und bewährtester Freund ist. Wie tief und innig Er uns

liebt und wie fest und unwandelbar Seine Treue ist, sei

es als Hirte oder als Freund, das hat Er ja schon in

unumstößlicher Weise erwiesen, indem Er Sein Leben für

uns gelassen hat. „Der gute Hirte läßt Sein Leben für

die Schafe." „Größere Liebe hat niemand als diese,

daß jemand fein Leben läßt für seine Freunde." (Joh.

10, 11: 15, 13.) Sollten wir Ihm also nicht unser

völliges Vertrauen schenken?

Auch hat Er uns alles mitgeteilt, was Er von

Seinem Vater gehört hat. „Ich nenne euch nicht mehr

Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr thut;

aber ich habe euch Freunde genannt, weil ich alles,

was ich von meinem Vater gehört, euch kundgethan

habe." (Joh. 15, 14.) Er hat dies gethan in der Voraussetzung,

daß wir uns als Seine Freunde für diese Mitteilungen

interessieren würden. Sie enthalten den Vorsatz

Gottes, der in erster Linie die Verherrlichung Christi

zum Zweck hat. Dieser Vorsatz, in welchem die Welten,

die Himmel und die Erde mit allen ihren Herrlichkeiten,

nur insofern Bedeutung haben, als die Herrlichkeit Christi

in ihnen geoffenbart werden soll, hat naturgemäß für das

Herz Gottes, des Vaters, das größte Interesse, und so

auch für Christum. Und nun hat der Herr uns Sein

ganzes Vertrauen bewiesen, indem Er, auf unser Interesse

für Ihn, für Seine Verherrlichung, Seine Ehre und

Freude rechnend, uns diese Mitteilungen seitens des Vaters

gemacht hat. Rechtfertigen wir dieses Vertrauen? Oder

findet Er sich in uns getäuscht? Unser praktisches Verhalten

ist die beste Antwort auf diese beiden Fragen.

Schätzen wir wirklich die Ehre, Seine Freunde genannt

158

zu werden, hoch, haben wir ein wahres Interesse, ein

Herz für Seine Mitteilungen, so wird sich dies darin

kundgeben, daß wir den Pfad der Absonderung von der

Welt Ihm nachwandeln und in der lebendigen Erwartung

Seiner Ankunft stehen. Diese beiden Dinge gehen stets

zusammen und sind das Zeichen wahrer Treue und Anhänglichkeit

an den Herrn.

Andrerseits ist es klar, daß alle, die sich mit der

Welt oder mit irgend etwas verbinden, wodurch der Name

des Herrn verunehrt wird, nicht verdienen, Seine

Freunde genannt zu werden. Wir sagen nicht, daß

sie nicht wahre Christen sein können; weit davon entfernt!

Sie sind das vielleicht; aber wie könnte der Herr sie

Seine Freunde nennen, wie ihnen Sein Vertrauen schenken,

da sie ja, unbekümmert um Seine Ehre und entgegen

Seinem Willen, ihren Platz in dem Lager Seiner Feinde

gewählt haben? Lot war ganz sicher ein Gläubiger; oberer

wählte seinen Platz in Sodom, und so wurde er nicht

Freund Gottes genannt wie Abraham. Dieser bewährte

seinen Glauben, indem er sich in dem Lande der Verheißung

aufhielt, wie in einem fremden, und, als er versucht

wurde, willig seinen Sohn Isaak ans dem Altar

opferte. (Hebr. 11, 9; Jak. 2, 21 — 23.) Auch lesen wir

betreffs derer, die gleich ihm bekannten, Fremdlinge und

ohne Bürgerschaft auf der Erde zu sein, indem sie ein

himmlisches Vaterland suchten, daß sich Gott ihrer nicht

schämte, ihr Gott genannt zu werden. (Hebr. 11, 13—16.)

Wahrlich, es ist eine traurige, tieftraurige Sache,

wenn Gläubige sich der Untreue gegen ihren treuen, guten

Herrn schuldig machen, und sich dann damit zu trösten

suchen, daß sie doch wahre Christen seien; wenn es

159

ihnen gleichgültig ist, daß der Herr sich herablassen will,

sie Seine Freunde zu nennen; gleichgültig, ob sie Sein

Vertrauen besitzen oder nicht; wenn sie sich in die

Reihen derer stellen, welche Seinen Namen verunehren.

Mögen sie bedenken, daß sie sich dadurch eins machen mit

denen, die sich unter dem Deckmantel eines christlichen Bekenntnisses

der Heuchelei gegen den Herrn schuldig machen;

eins mit denen, deren Teil sein wird mit den

Heuchlern! (Matth. 24, 51.) Ja, mögen sie bedenken,

daß auch Judas, unter dem Deckmantel der Freundschaft,

den Herrn verriet mit einem Kuß!

Der Herr gebe uns allen Gnade, die Bedingungen

aufrichtig zu erfüllen, auf Grund deren Er uns Seine

Freunde nennt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr

alles thut, was ich euch gebiete"! Er gebe uns,

treu und entschieden auf Seiner Seite zu stehen, getrennt

von der Welt und allem, was Ihn verunehrt, und Seine

Ankunft erwartend! „Siehe", ruft Er uns zu, „ich komme

bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten,

wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)

Der Wandel vor Gott.

Sobald der Gläubige versteht, wie nahe ihn das

Werk Christi gebracht hat und in welch innige Beziehungen

er zu Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesu Christo

gekommen ist, so ist es ihm auch klar, daß er in seinem

ganzen Wandel nur auf die Verherrlichung Gottes bedacht

sein darf. Wir sind Gottes Werk, geschaffen in Christo

Jesu zu guten Werken. (Eph. 2, 10.) Wir gehören

nicht mehr uns selbst an, sondern Dem, der uns so teuer

160

erkauft hat. In dem Geliebten Gottes annehmlich gemacht,

sind wir jetzt zu Seinem Dienst berufen und bereitet.

Dieser Dienst ist unser seliges Vorrecht. Die Welt kann

Gott nicht dienen; uns aber ist der Weg ins Heiligtum

geöffnet durch das Blut Jesu, und, mit diesem Blute besprengt,

sind wir fähig gemacht, als geistliche und heilige

Priester Gott die Opfer des Lobes darzubringen. Der

Vorhang ist zerrissen, und wir nahen mit aller Freimütigkeit

zu Gott, um Ihm zu dienen. Wir haben nicht mehr

nötig zu zittern, wie das Volk Israel am Berge Sinai;

Gott hat sich nicht mehr in eine dunkle Wolke gehüllt,

aus welcher Blitze und Donner hervorkommen. Nein,

Jesus hat uns das Vaterherz Gottes völlig geoffenbart

und uns als Seine Kinder Ihm nahe gebracht; und nun

sind wir berufen, unsre „Leiber Gott darzustellen als ein

lebendiges Schlachtopfer, heilig, Gott wohlgefällig", und

unsre Glieder Ihm zu weihen als Werkzeuge der Gerechtigkeit.

(Röm. 6 u. 12.)

Welch ein hohes Vorrecht! Nicht nur dürfen wir

vor Gott dienen im Heiligtum, sondern auch in unserm

Leben unter den Gläubigen und in unserm Verhalten der

Welt gegenüber kundwerden lassen, daß wir eines Andern

geworden sind, des aus den Toten Auferstandeneu. Wir

sind schuldig, uns überall als Kinder Gottes zu erweisen,

als solche, die den Geist Christi haben. Unsre Berufung

in Christo Jesu ist etwas überaus Hohes und Herrliches

und unser Wandel soll dieser Berufung würdig sein. Wir

sind durch den Heiligen Geist von dieser Welt für Gott

abgesondert und unter den Gehorsam und die Blutbesprengung

Jesu Christi gebracht. Wir sind jetzt schuldig,

nicht mehr nach dem Fleische zu leben, sondern durch den

161

Wist hie Handlungen des Leibes zu töten und uns von

t«m -Mesen und Geist dieser Welt getrennt zu halten.

W-M 8^ 12—14.) „Wenn ihr nun mit dem Christus

WferwecktMorden seid, so suchet, was droben ist, wo der

Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das,

was, droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist;

denn ihr feid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit

dem Christus in Gott." (Kol. 3, 1—3.)

Wir wissen, daß unsre Stellung vor Gott in jeder

Beziehung vollkommen ist; denn da sie einzig und allein

sich gründet auf das Werk Christi, so kann es nichts Unvollkommenes

in ihr geben. Es ist überaus köstlich und

durchaus notwendig für einen Christen, dies zu verstehen.

Denn so lange der Gläubige feine Stellung vor Gott nicht

verstanden hat, kann von einem einsichtsvollen Dienst und

Wandel keine Rede sein. So lange er nicht erkannt hat,

daß er durch den Glauben gerechtfertigt und durch die

Besprengung mit dem Blute Christi für immer gereinigt

ist, ja daß dieses Blut jeden Augenblick für ihn

redet, kann sein Gottesdienst und Wandel Gott nicht gefallen.

Denn er wird, bewußt oder unbewußt, eine

Gerechtigkeit und Heiligkeit im Fleische aufzurichten trachten:

und das ist vor Gott ein Greuel. Auch wird er nicht

imstande sein, den Vater im Geist und in Wahrheit anzubeten;

denn er kennt und genießt dieses Verhältnis nicht.

Vielleicht ist er sehr eifrig und geschäftig; er möchte

gern Gott dienen ; aber im Grunde ist all seine Geschäftigkeit

nur ein Treiben des Fleisches, das sich selbst dient

und seine eigne Ehre sucht. Wie könnte ein solcher Dienst

Gott gefallen?

Der Christ, welcher seine Stellung vor Gott in Christo

162

wirklich erkannt hat, ruht in Christo und dienL GM

im Geiste. Er ist mit dem eignen Ich zu Wde M

kommen. Er bemüht sich nicht mehr, Gott etwas zu

bringen und sich dadurch vor Ihm wohlg^Wg.Pt

machen. Er weiß, daß ihm Gott alles gebracht -h all ,

und daß er wohlgefällig geworden ist in Christo Jesu.

Als ein Kind des Vaters, geleitet durch den Geist Gottes,

dient und wandelt er vor Ihm in glückseliger Freiheit.

Er weiß, daß er aus sich selbst nichts vermag, und daß

alle seine Hilfsquellen in Gott sind; und so klammert er

sich an Den, welcher ihm den Vater geoffenbart hat,

wünscht zu gehorchen, wie Er gehorcht hat, und unverrückt

auf Ihn blickend, wird er in dasselbe Bild verwandelt.

So lange wir aber diesen glückseligen Platz in Christo

nicht kennen und noch nicht zu der Freiheit des Glaubens

durchgedrungen sind, dienen wir mit dem Fleische und

bringen dem Tode Frucht. Es ist gut, den Dienst des

Geistes und des Fleisches wohl zu unterscheiden. Der

erstere ist vor Gott angenehm, der letztere verwerflich.

Jener ist ein Dienst des Eigenwillens und der Eigenliebe,

dieser eine Frucht des Werkes Christi und ein Ausfluß

der erkannten und genossenen Liebe Gottes.

Unser Dienst vor Gott kann schwach und unvollkommen

sein; aber es ist gut, wenn wir ihn als ein

Vorrecht der Kinder Gottes erkennen. Wir werden dann

suchen, in der Erkenntnis Christi Jesn und der Kraft

Seiner Auferstehung zu wachsen. (Phil. 3, 10.) Und den

Aufrichtigen läßt Gott es gelingen. Wir werden dann

nicht immer so schwach und unvollkommen bleiben, sondern

Fortschritte machen. Der Geist Gottes wird uns weiter

führen und in alle Wahrheit leiten. Er offenbart uns

163

Jesum und die ganze Segenssülle in Ihm; der Glaube

besitzt in Ihm alles, was zum Leben und zur Gottseligkeit

notwendig ist. Ohne uns selbst Rechenschaft darüber

geben zu können oder gar mit unsern Fortschritten und

unserm Wachstum uns zu beschäftigen, werden wir von

Gott selbst immer mehr zu Seinem Dienst znbereitet. Er

ist der Gott aller Gnade, der uns zu Seiner ewigen Herrlichkeit

berufen hat in Christo Jesu und uns vollkommen

machen, befestigen, kräftigen und gründen will. (1. Petr.

5, 10.) Er beschäftigt sich mit uns im Wege der Erziehung.

Er reinigt die Reben, auf daß sie mehr Frucht

bringen; denn darin wird der Vater verherrlicht, daß wir

viel Frucht bringen. (Joh. 15.) Er züchtigtuns, damit

wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Die heilbringende

Gnade Gottes „unterweist uns, daß wir, die Gottlosigkeit

nnd die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht

nnd gottselig leben sollen in dem fetzigen Zeitlauf, erwartend

die glückselige Hoffnung und Erscheinung der

Herrlichkeit unsers großen Gottes und Heilandes Jesu

Christi". (Tit. 2, 12. 13.) Der Heilige Geist führt uns

immer weiter in die Erkenntnis des Werkes Christi ein

und läßt uns die Bedeutung Seines Todes und die Kraft

Seiner Auferstehung immer besser verstehen; und unser

Glaube findet darin Leben und Seligkeit, Kraft und Sieg.

Der Heilige Geist lehrt uns ferner alle unsre köstlichen

Beziehungen zu Gott erkennen nnd genießen und weckt

und erhält in unsern Seelen die Hoffnung auf die Herrlichkeit.

Er ermuntert und tröstet, belehrt und ermahnt,

unterweist und straft uns, ja Er vertritt uns vor Gott

mit unaussprechlichen Seufzern.

So ist also alles von Gott, nichts aus uns. Welch

164

eine Gnade, befreit zu sein von allem eignen Thun und

Wirken, ja von sich selbst, und im Glauben die kostbare Thatsache

verwirklichen zu dürfen, daß wir mit Christo gestorben

und auferstanden sind! „Wenn jemand in Christo ist —

eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist

neu geworden." (2. Kor. 5, 17.) Keine Kraft in uns,

aber eine Fülle von Kraft in Christo, unserm Herrn;

und diese Kraft steht dem Glauben allewege zu Gebote.

Der Apostel Paulus war tief in die Erkenntnis dieser

Wahrheit eingedrungen; deshalb hören wir ihn auch sagen:

„Daher will ich am allerliebsten mich meiner Schwachheiten

rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir

wohne." (2. Kor. 12, 9.) Das Gefäß ist nichts; aber

Christus ist alles.

Doch noch eins: Unsre kostbare Stellung in Christo

und unsre nahen, innigen Beziehungen zum Vater verpflichten

uns nicht nur zu einem würdigen Wandel

und einer geistlichen Gesinnung, sondern es ist auch unser

teures Vorrecht, uns in einer Gottes würdigen Weise

zu Verhalten. Wir sind Kinder Gottes, und werden

als solche aufgefordert, Seine Nachahmer zu sein

und in Liebe zu wandeln. (Eph. 5, 1.) Denke einen

Augenblick hierüber nach, geliebter Leser! Ein Nachahmer

Gottes sein zu dürfen — welch ein hohes, erhabenes

Vorrecht! Schätzest du es, und freust du dich, es ausüben

zu können? Wir waren einst fern von Gott, in

der Finsternis, hassenswürdig und einander hassend, und

nun sind wir in Christo so nahe gebracht und all der

Segnungen des Kindes-Verhältnisses teilhaftig geworden!

Ein Kind Gottes — kostbarer, herrlicher Titel! trägst

du ihn? Nun, dann sei ein Nachahmer Gottes, deines

165

Vaters, in allem nnd wandle in Liebe, gleichwie auch

der Christus uns geliebt Und sich selbst für uns hingegeben

hat. Wandle, wie Er gewandelt hat. (1. Joh. 2, 6.)

Sei gesinnt, wie Er gesinnt war. (Phil. 2, 5.) Verkündige

in deinem geringen Maße die Tugenden Dessen, der dich

aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht berufen

hat. (1. Petr. 2, 9.)

Wir sind die Brant des Lammes und warten auf

unsern geliebten Bräutigam, der uns um den Preis Seines

eignen Lebens erkauft hat. Ist es nicht ein wunderbares

Vorrecht, uns so nennen zu dürfen? Und wenn wir dieses

Vorrecht verstehen, wie könnte es dann anders sein, als daß

wir in keuscher Liebe und mit unerschütterlicher Treue an

Ihm hangen nnd auf Ihn harren? Wie könnten wir anders,

als von Herzen begehren, am Tage Seiner Ankunft

lauter und tadellos erfunden zu werden?

Wir sind der Leib Christi, Seine Versammlung,

die Er geliebt und für die Er sich selbst hingegeben hat,

auf daß Er sie sich verherrlicht darstellte, ohne Flecken und

Runzel oder etwas dergleichen. (Eph. 5, 25—27.) Er

ist unser Haupt, wir sind Seine Glieder, die Glieder Seines

Leibes. Welch eine innige Beziehung, eine unverbrüchliche,

unzertrennliche Verbindung! Wer hätte solche Gedanken

ausdenken, solche Beziehungen schaffen können, als allein

die göttliche Liebe? Aber was fordern diese Beziehungen?

Die ganze Unterwürfigkeit des Leibes und jedes einzelnen

Gliedes unter das Haupt, einen Wandel in Gemeinschaft

mit und in Abhängigkeit von Ihm. All unser Thun

und Lassen darf sich nur auf Ihn beziehen und muß unter

Seiner Leitung stehen. Sein wohlgefälliger Wille allein

darf die Triebfeder unsers Handelns sein. Er ist unser

166

Haupt, Er ist unser Herr; wie könnten wir uns noch

selbst leben wollen! O wohl uns, wenn wir diese innigen

Beziehungen zn Ihm kennen und verwirklichen! Wir

werden dann in kleinen und großen Dingen nur an die

Verherrlichung Seines Namens denken.

Wir sind ferner ein himmlisches Volk, das hie-

nieden keine bleibende Stadt hat, dessen Bürgerrecht

proben ist. Wir sind wie Davoneilende, die alles verlassen

haben, um einer unvergänglichen Krone nachzujagen,

dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in

Christo Jesu. So lange wir in dieser Hütte sind, bleibt

unser Leben ein Kampf. Unsrer Feinde sind viele, und

sie find voll List und Bosheit. Es sind die unsichtbaren

Mächte der Finsternis, die geistlichen Mächte der Bosheit

in den himmlischen Örtern. Darum bedürfen wir der

ganzen Waffenrüstnng Gottes, um ihnen gegenüber das

Feld zu behalten. Die Kraft des Herrn allein kann uns

befähigen, sie zu überwinden und in die Flucht zu schlagen.

-(Eph. 6, 10 ff.) Auch umgiebt uns die Welt mit ihren

verführerischen Reizen; die Sünde legt uns ihre geheimen

Netze, und das Fleisch in uns sucht seine Ansprüche geltend

zu machen. Also Feinde ringsum! Deshalb thut es uns

not, wachsam und nüchtern zn sein zum Gebet und in der

Kraft des Glaubens zu wandeln; anders werden wir den

Versuchungen unterliegen. Das Gebet erhält uns in dem

Bewußtsein unsers Nichts und in der Gemeinschaft mit

der Quelle unsrer Kraft. Zur Ermutigung im Kampfe

und um uns ausharrende Geduld darzureichen, hat uns

Gott die herrliche Hoffnung unsrer Berufung gegeben.

Wir wissen, daß noch „über ein gar Kleines" der Kommende

kommen wird; Er wird nicht verziehen. Und dann

„werden wir Ihm gleich sein, denn wir werden Ihn sehen,

wie Er ist". Diese Hoffnung treibt uns an, uns selbst zu

reinigen, „gleichwie Er rein ist"; sie macht und erhält uns

frei von den sichtbaren Dingen, von dem verunreinigenden

Einfluß dieser Welt. (1. Joh. ll.) Sie unterhält unsre

Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, wo Jesus als der

167

Erstgeborene vieler Brüder bereits eingegangen ist, und befähigt

uns, alles Zeitliche zu verleugnen und in den

Drangsalen dieses Lebens freudig auszuharren.

Wir haben oben gesagt, daß wir auch in unserm

Leben unter den Gläubigen kundwerden lassen sollten, daß

wir eines Andern geworden sind. Auch das ist nicht nur

eine Pflicht, sondern ein großes Vorrecht. Die Gemeinschaft

der Glieder Christi unter einander kann, wenn

sie wirklich ihrem Wesen nach verstanden wird, nur eine

innige und herzliche sein; denn sie ist gegründet auf die

Liebe, das Band der Vollkommenheit. Jeder wahre Gläubige

ist ein Kind Gottes, also mein Bruder; er ist' ein

Glied an demselben Leibe, gehört zu der Braut Christi,

zu dem himmlischen Volke Gottes. Ist dieses Bewußtsein

in mir lebendig, so wird es eine dienende und tröstende

Liebe, eine sanftmütige und geduldige Tragsamkeit in mir

Hervorrufen. Verstehe ich wirklich, wie teuer jeder Miterlöste

dem Herrn geworden ist, und mit welcher Liebe,

Barmherzigkeit und Langmut ich selbst unaufhörlich getragen

und gepflegt werde, so werde ich von Herzen an

alledem teilnehmen, was jedes Glied des Leibes Christi

betrifft. „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder

mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich

alle Glieder nut." (1. Kor. 12, 26.) Die Erkenntnis der

Gedanken Gottes über uns in Christo Jesu wird mich an-

treiben, auf das Wohl aller mit mir Geliebten bedacht zu

sein. Indem ich wünsche, daß der Name Gottes aus

Vieler Mund gepriesen und durch Vieler Wandel verherrlicht

werde, werde ich nicht müde werden, alle meine Brüder

und Schwestern durch Wort und That zur Liebe und zu

guten Werken anzureizen; und das umsomehr, jemehr ich

den Tag herannahen sehe. (Hebr. 10, 24. 25.)

Der Herr ist nahe, Geliebte! „Daher seid fest, unbeweglich,

allezeit überströmend in dem Werke des Herrn,

da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn."

(1. Kor. 15, 58.) Haltet eure Lampen geschmückt; der

Bräutigam hat sich aufgemacht. Laßt uns Ihm entgegen

168

gehen in Lauterkeit des Herzens, mit sehnendem Verlangen!

Das mitternächtliche Geschrei: „Siehe, der Bräutigam!"

wird in unsern Tagen immer lauter, und immer mehr

werden hinzugethan, welche mit Verlangen auf Den warten,

den ihre Seele liebt. „Der Geist und die Braut sagen:

Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!" (Offbg. 22, 17.)

Der Herr ruft uns zu: „Ich komme bald; halte fest,

was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!"

(Offbg. Z, 11.) O laßt uns diese Seine Verheißung festhalten

und mit liebendem Herzen nach Ihm ausschauen!

Nicht mehr lange, und unser Auge wird Ihn schauen,

und wir werden allezeit bei Ihm sein. Diese Welt vergeht

mit ihrer Lust: aber Gott sei Dank! sie ist nicht

unsre Heimat. Unsre Heimat ist droben, am Throne des

Lammes, nnd unser Erbe ist ewig, unverwelklich und unbefleckt.

Wir sind Christi Eigentum geworden, und vielleicht

giebt es um Seinetwillen Spott oder allerlei Drangsale zu

ertragen; aber getrost! wir sind bald am Ziele unsrer

Reise; sie kürzt mit jedem Tage ab. Jeder Sonnenuntergang

bringt uns jenem ewigen Tage näher, wo wir des

Lichtes der Sonne und des Mondes nicht mehr bedürfen

werden. Darum laßt uns mit Freuden unsern Lauf vollenden,

unverrückt hinschauend auf den Kampfpreis unsrer

Berufung in Christo Jesu. Bald ist der letzte Schritt gethan,

der letzte Schweißtropfen abgewischt, und dann Wird

unser Sehnen gestillt und unser Glaube in seliges Schauen

verwandelt werden. Darum laßt uns nicht ermatten und

nicht müde werden im Gutesthun; bald werden wir ernten

ohne Anfhören. „Wachet, stehet fest im Glauben;

seid männlich, seid stark!" (1. Kor. 16, 13.)

Saul, der Mann nach dem Herzen des

Menschen.

(Schluß.)

Wir kommen jetzt zu der glücklichen Wiederherstellung

Israels in Verbindung mit dem Dienst des „treuen Priesters".

Das Volk hatte unter der Zulassung Gottes manchen Tag

über die Abwesenheit der Bundeslade trauern müssen;

ihr Geist welkte hin unter dem ausdörrenden Einfluß des

Götzendienstes, aber endlich begannen ihre Zuneigungen

sich wieder Jehova zuzuwenden. Wir lesen: „Und das

ganze Haus Israel wehklagte Jehova nach". Die Lade

war zurückgekehrt, aber zwanzig Jahre lang blieb sie in

dem Hause Abinadabs zu Kirjath-Jearim. Dann erst kam

es den Israeliten allmählich zum Bewußtsein, wie viel sie

durch ihre Untreue verloren hatten.

Aber gerade dieses geistliche Aufwachen zeigte, wie

weit sie abgeirrt und wie tief sie gesunken waren. So

wird es immer sein. Ehe Jakob vor alters berufen wurde,

aus den Befleckungen Sicherns heraus nach Bethel hinaufzuziehen,

hatte er wenig Verständnis darüber, wie tief er

mit seiner Familie bereits in die Netze des Götzendienstes

geraten war. Aber der Ruf: „Ziehe hinauf nach

Bethel!" weckte sein schlafendes Gewissen auf, öffnete

sein Auge und rief die geziemenden Gefühle in seinem

Innern wach. „Und Jakob sprach zn seinem Hause und

XNIV 7

170

zu allen, die bei ihm waren: Thut hinweg die fremden

Götter, die in eurer Mitte sind, und reiniget euch, und

wechselt eure Kleider." (1. Mose 35, 2.) Die bloße

Erinnerung an Bethel übte einen belebenden, erweckenden

Einfluß ans und zeigte Jakob mit einem Schlage den

Zustand seines Hauses in Sichem. Und nachdem er selbst

wieder aufgewacht war, vermochte er auch Andere auf den

richtigen Weg zurückzuführen.

Gerade so ist es mit den Nachkommen Jakobs in

unserm Kapitel. „Und Samuel sprach zu dem ganze»

Hause Israel und sagte: Wenn ihr mit eurem ganzen

Herzen zu Jehova umkehret, so thut die fremden Götter

aus eurer Mitte hinweg und die Astaroth, und richtet

euer Herz auf Jehova und dienet Ihm allein;

und Er wird euch erretten aus der Hand der Philister."

(V. 3.) Aus diesen Worten geht hervor, welch eine abschüssige

Bahn Israel in Verbindung mit dem treulosen

Hause Elis verfolgt hatte. Der erste Schritt zum Böse»

in religiöser Beziehung besteht darin, das Wesen der

Wahrheit aufzugeben und aus eine äußere Form Vertrauen

zu setzen — auf eine Form ohne Leben, ohne Gott, ja

unter Aufgebung aller jener Grundsätze, welche die Form

schätzenswert machen. Der zweite Schritt ist: selbst diese

Form des wahren Gottesdienstes aufzugeben und sich ein

Götzenbild zu machen. Den ersten Schritt hatte Israel

längst gethan; darum hatten sie gesagt: „Laßt uns von

Silo die Lade des Bundes Jehovas zu uns holen, daß

sie in unsre Mitte komme und uns rette von der

Hand unsrer Feinde". Dem ersten Schritt war der zweite

bald gefolgt, so daß Samuel sie auffordern mußte: „Thut die

freniden Götter und die Astaroth aus eurer Mitte hinweg".

171

Mein Leser! liegt nicht in allem diesem eine ernste

Mahnung für die bekennende Kirche von heute? Unsre

Zeit wird in hervorragender Weise durch eine Form der

Gottseligkeit ohne wahres Leben und innere Kraft gekennzeichnet.

Der Geist eines kalten, herz- und gefühllosen

Formenwesens macht sich immer mehr geltend; die wahren

Gläubigen scharen sich zusammen, und das Übrige versinkt

in die totenähnliche Ruhe eines leeren Bekenntnisses oder

in den Fanatismus einer falschen Religion, bis die Stimme

des Sohnes Gottes ertönen und von allen Trägern des

christlichen Namens Rechenschaft fordern wird wegen ihres

Thuns.

Das Verhalten Israels im vorliegenden Kapitel

steht indes in völligem Gegensatz zu ihrem früheren Thun.

„Und Samuel sprach : Versammelt ganz Israel nach Mizpa,

und ich will Jehova für euch bitten. Und sie versammelten

sich nach Mizpa, und schöpften Wasser und gossen es aus

vor Jehova ; und sie fasteten an selbigem Tage und sprachen

daselbst: Wir haben gesündigt gegen Jehova." Hier begegnen

wir in der That einem echten, wirklichen Werke, und

wir dürfen Wohl sagen: Gott ist hier. Bon einem

Vertrauen auf ein bloßes Symbol oder eine leblose Form

ist keine Rede mehr; auch findet sich keine leere Anmaßung,

kein eitles Jauchzen und grundloses Rühmen —

nein, alles ist tiefe, ernste Wirklichkeit. Das Ausgießen

des Wassers, das Fasten, das Bekennen, das Rufen zum

Herrn — alles redet von der mächtigen Veränderung,

welche in dem innern Zustande Israels vorgegangen war.

Sie nahmen jetzt ihre Zuflucht zu dem treuen Priester,

und durch ihn zu Jehova selbst. Sie redeten nicht mehr

davon, die Bundeslade herbeizuholen, sondern sprachen zu

172

Samuel: „Laß nicht ab, für uns zu schreien zu Jehova,

unserm Gott, daß Er uns rette von der Hand der

Philister. Und Samuel nahm ein Milchlamm und opferte

es ganz als Brandopfer dem Jehova; und Samuel schrie

zu Jehova für Israel, und Jehova erhörte ihn." Endlich

hatte Israel die wahre Quelle seiner Kraft wiedergefunden:

die Götzen waren aus seiner Mitte hinweggethan, und es

schrie zu Jehova, seinem Gott. Das ausgegossene Wasser

war ein Zeichen seiner Buße und Zerknirschung (vergl.

2. Sam. 14, 14); das Milchlamm, welches als Brandopfer

Jehova dargebracht wurde, ein Zeichen (obwohl ein

schwaches Zeichen) seiner wiederhergestellten Gemeinschaft

mit Gott. Infolge dieses Bekenntnisses und der Opferung

des Lammes gewannen ihre Umstände sofort ein anderes

Aussehen. Wir stehen bei dieser Gelegenheit an einem

Wendepunkt in der Geschichte des Volkes.

Doch wenn Israel sich versammelt, selbst wenn

Deinütigung und Selbstgericht der Zweck ihres Zusammenkommens

ist, offenbart der Feind sofort seinen Widerstand.

Er kann nicht ertragen, daß das Volk Gottes eine Stellung

einnehme, welche Jehova als den alleinigen Gott anerkennt.

So lange es den Götzen dient, läßt er es in Ruhe; sobald

es aber zu Jehova umkehrt, zeigt sich seine Feindschaft.

„Und die Philister hörten, daß die Kinder Israel sich nach

Mizpa versammelt hatten, und die Fürsten der Philister

zogen herauf wider Israel." Diese Fürsten handelten

unbewußt als Werkzeuge Satans. Sie selbst waren ohne

Zweifel völlig unwissend über das, was zwischen Jehova

und Seinem Volke vorging. Da sie kein Triumphgeschrei

hörten, wie ehedem, mögen sie Wohl gedacht haben, daß

Israel sich in einem noch armseligeren Zustande befinde,

173

als jc vorher. Da war kein Jauchzen unter dem Volke,

daß die Erde erdröhnte, wie in Kap. 4; statt dessen ging

im Stillen ein Werk vor sich, welches das Auge eines

Philisters nicht sehen und von welchem das Herz eines

Philisters keine Ahnung haben konnte. Was verstand ein

Philister von dem Schrei der Buße, von dem Ausgießen

des Wassers vor Jehova, oder von dem Opfern eines

Milchlammes auf dem Altar Gottes? Nichts. Die Menschen

dieser Welt können nur von dem Kenntnis nehmen, was

sich dem natürlichen Auge zeigt, was an der Oberfläche

liegt. Äußerer Glanz nnd Schimmer, fleischliche Kraft

und Größe — das sind Dinge, die von der Welt verstanden

und geschätzt werden; aber von den tiesen Er­

fahrungen einer vor Gott geübten Seele weiß sie nichts.

Und doch ist gerade das letztere eine Sache, nach welcher

der Christ ernstlich trachten sollte. Eine geübte Seele ist

überaus kostbar in den Augen Gottes; Er kann bei einer

solchen Seele wohnen zu aller Zeit. Laßt uns deshalb

nicht meinen und nicht begehren, etwas zu sein, sondern

laßt uns in Einfalt unsern wahren Platz vor Gott einnehmen;

dann wird Er sicher und gewiß uns Kraft und

Stärke darreichen, so wie die Gelegenheit es erfordert.

„Und es geschah, während Samuel das Brandopfer

opferte, rückten die Philister heran znm Streit wider Israel.

Und Jehova donnerte mit großem Donner an selbigem

Tage über den Philistern und verwirrte sie, und sie wurden

geschlagen vor Israel." (V. 10.) Das war das beglückende

Resultat der einfältigen Abhängigkeit von dem Gott der

Heerscharen Israels. „Jehova ist ein Kriegsmann" —

so hatte Er sich einst an den Ufern des Roten Meeres

erwiesen, und so erweist Er sich zu allen Zeiten, wenn

174

Sein Volk Seiner bedarf; und ihr Glaube kann Gebrauch

von Ihm machen in diesem Charakter. Wenn Israel

seinem Jehova zuließ, für sie zu streiten, so erschien Er

mit einem gezückten Schwert in Seiner Hand; aber die

Ehre muß auch Ihm allein bleiben. Israels Triumphgeschrei

mußte verstummen und einem stillen Warten auf

Gott Platz machen, ehe das Rollen des Donners Jehovas

gehört werden konnte. Und, mein Leser, wie gesegnet ist

es, stille zu sein und Jehova reden zu lassen! Welch

eine wunderbare Kraft liegt in Seiner Stimme! eine

Kraft, welche Frieden, tiefen Frieden in die Herzen Seines

Volkes senkt, aber Schrecken und Entsetzen unter Seinen

Feinden verbreitet. „Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten

und deinen Namen verherrlichen?" (Offbg. 15, 4.)

In Kapitel 8 kommen wir der Aufrichtung des

Königtums in Israel einen bedeutenden Schritt näher.

„Und es geschah, als Samuel alt geworden war, da setzte

er seine Söhne als Richter über Israel. . . Aber seine

Söhne wandelten nicht in seinen Wegen; und sie neigten

sich dem Gewinne nach und nahmen Geschenke und beugten

das Recht." Welch ein trauriges Gemälde! Ach! der

Mensch ist immer derselbe, wo wir ihn auch erblicken

mögen. „Ich weiß, daß nach meinem Abschiede verderbliche

Wölfe zu euch hereinkommen werden, die der Herde

nicht schonen." (Apstgsch. 20, 29.) Kaum hatte sich Israel

von den Wirkungen des sittenlosen Lebenswandels der

Söhne Elis erholt, da mußte es den schrecklichen Einfluß

der Habsucht der Söhne Samuels erfahren, und so wurde

es auf dem Pfade vorwärts getrieben, welcher in der

Verwerfung Jehovas und in der Erhebung Sauls zum

Könige endete. „Als Samuel alt geworden war, setzte

175

e r seine Söhne als Richter über Israel." In der That,

das war sehr verschieden von einer Einsetzung und Bestimmung

von feiten Gottes. Die Treue Samuels bot

keine Gewähr für das Verhalten seiner Söhne. Wir finden

dasselbe, wenn wir an die sogenannte apostolische Nachfolge

denken. Was für Nachfolger haben wir gesehen! Wie

wenig waren sie ihren Vorgängern ähnlich! Paulus

konnte sagen: „Ich habe niemandes Silber oder Gold oder

Kleidung begehrt". Können die sogenannten Nachfolger

der Apostel dasselbe sagen? Samuel konnte auch sagen:

„Hier bin ich; zeuget wider mich vor Jehova und vor

Seinem Gesalbten. Wessen Rind habe ich genommen?

oder wessen Esel habe ich genommen? oder wen habe ich

übervorteilt? wem habe ich Gewalt angethan? oder aus

wessen Hand habe ich Lösegeld genommen, daß ich dadurch

meine Augen verhüllt hätte?" (Kap. 12, 3.) Aber ach!

Samuels Söhne und Nachfolger konnten das nicht sagen;

„schmutziger Gewinn" war die Triebfeder ihres Handelns.

Nach der Aussage der Israeliten in unserm Kapitel

bot das böse Verhalten der Söhne Samuels die unmittelbare

Veranlassung zu der Forderung eines Königs. „Siehe,

du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in

deinen Wegen; nun setze einen König über uns, der uns

richte, wie alle die Nationen haben." Welch ein

beklagenswerter Niedergang! Israel ist bereit, sich auf

einen und denselben Boden mit den Völkern um sie her

zu stelle», uud zwar nur deshalb, weil Samuel alt geworden

war und seine Söhne der Habsucht fröhnten. Der Herr

wird ganz und gar ausgeschlossen. Hätten sie zu Ihm aufgeblickt,

so würden sie keinen Anlaß gehabt haben, sich

unter den Schutz eines armen Sterblichen zu stellen. Aber

17k

ach! an des Herrn Fähigkeit und Bereitwilligkeit, sie zu

leiten und zu bewahren, dachten sie nicht. Sie vermögen

nicht über Samuel und seine Söhne hinauszublicken. War

bei diesen keine Hilse zu finden, so mußten sie ihren

erhabenen Platz verlassen und sich den Nationen gleichstellen.

Glaube und Abhängigkeit ansrecht zu erhalten, ist schwierig,

wenn die Zeiten günstig sind und die Umstände uns nicht

zu Gott treiben. Im 7. Kapitel hörten wir keinen Laut

von einem König; dort war Gott alles für Israel, aber

hier ist es nicht mehr so. Gott wird ausgeschlossen, und

das einzige Begehren ist auf einen König gerichtet. Die

traurigen Folgen davon werden wir bald sehen. Nicht

Samuel war verworfen, sondern Gott selbst.

Die Kapitel 11—13 schildern den Charakter Sauls

und berichten von seiner Salbung und dem Beginn seiner

Herrschaft. Saul war in ganz besonderem Sinne der

Mann nach dem Herzen des Menschen. Er besaß alles,

was das Fleisch wünschen konnte; er war „jung und schön,

und kein Mann von den Kindern Israel war schöner als

er; von seiner Schulter an aufwärts war er höher als

alles Volk". Welch einen Eindruck mußte seine Erscheinung

auf alle machen, die nur auf das Äußere blickten! Aber

ach! welch ein Herz lag unter diesem anziehenden Äußern!

Sauls ganzes Verhalten ist durch Selbstsucht, Unaufrichtigkeit

und Stolz gekennzeichnet, die sich unter dem Mantel

einer äußerlichen Demut verbargen. Wenn Saul sich versteckt,

so geschieht es nur, um die allgemeine Aufmerksamkeit

umsomehr auf sich zu lenken. Ja, bei jeder Gelegenheit

erkennen wir in ihm einen Mann von selbstsüchtiger, ungebrochener

Gesinnung. Wohl kam der Geist zeitweilig auf

ihn, weil er mit einem Amte unter dem Volke Gottes

177

betraut war; aber er suchte in allem sich selbst und benutzte

den Namen und die Dinge Gottes nur als die Unterlage,

aus welcher er seine eigne Ehre aufbauen konnte. Zwischen

Saul in seiner amtlichen Würde und Saul als Mensch

besteht ein großer Unterschied. Wohl mochte er zeitweilig

mit den Propheten weissagen, weil der Geist Gottes über

ihn geraten war; aber niemals hat er die wiedergebährende

Kraft des Heiligen Geistes an sich erfahren. Er war ein

eigenwilliger, ungläubiger und unaufrichtiger Mann. Die

Scene in Gilgal ist durchaus charakteristisch für ihn. Unfähig,

auf Gott zu vertrauen und Seine Zeit abzuwarten, unternahm

er es selbst, das Brandopfer zu opfern, und mußte

infolge dessen von Samuels Lippen die ernsten Worte

vernehmen: „Du hast thöricht gehandelt, du hast nicht

beobachtet das Gebot Jehovas, deines Gottes, das Er dir

geboten hat; denn jetzt hätte Jehova dein Königtum über

Israel bestätigt auf ewig. Nun aber wird dein Königtum

nicht bestehen; Jehova hat sich einen Mann gesucht nach

Seinem Herzen, und Jehova hat ihn bestellt zum Fürsten

über Sein Volk; denn du hast nicht beobachtet, was Jehova

dir geboten hatte." (Kap. 13, 13. 14.)

Das war in der That die Summe der Sache, soweit

es Saul betraf: „Du hast thöricht gehandelt — du hast

nicht beobachtet das Gebot Jehovas, deines Gottes — dein

Königtum wird nicht bestehen". Welch ernste Wahrheiten!

Saul, der Mann nach dem Herzen des Menschen, wird

beiseite gesetzt, um für den Mann nach dem Herzen Gottes

Platz zu machen. Den Kindern Israel wurde Gelegenheit

genug geboten, um den Charakter des Mannes zu erproben,

welchen sie sich erwählt hatten, damit er vor ihnen herziehe

und ihre Kriege führe. Das Rohr, auf welches sie

178

sich so gern gestützt hätten, war bereits zerbrochen und

sollte bald ihre Hand durchbohren. Ach, was ist der König

des Menschen? Was kann er thun? Wird er auf die

Probe gestellt, so kennzeichnen Selbstvertrauen und Unaufrichtigkeit

all sein Thun. Von wahrer Würde, von einem

heiligen Vertrauen auf Gott oder einem Handeln nach den

Grundsätzen der Wahrheit ist keine Spur bei ihm zu entdecken.

Das Ich steht überall im Vordergründe, selbst bei

den feierlichsten Gelegenheiten und bei scheinbarer Thätigkeit

für Gott und Sein Volk.

Im 14. Kapitel wird uns der Gegensatz zwischen

menschlichen Auskunftsmitteln und dem einfältigen Vertrauen

auf Gott lebendig vor Augen geführt. Saul sitzt unter

einem Granatbaum, und sechshundert Mann sind bei ihm

— eine leere Entfaltung königlichen Glanzes ohne eine

Spur von wirklicher Kraft. Während er dort unthätig

sitzt, wird sein Sohn Jonathan, in dem Geiste eines ungekünstelten

Glaubens, in der Hand Gottes das glückliche

Werkzeug zur Befreiung Israels. Das Volk hatte im

Unglauben nach einem König verlangt, und hatte ohne

Zweifel gedacht, unter der Führung eines Mannes wie

Saul würde kein Feind vor ihm standhalten können. Aber

war es so? Eine einzige Zeile aus dem 13. Kapitel beantwortet

diese Frage. Sie lautet: „Und das ganze Volk

zitterte hinter ihm". Ach! ihr lange ersehnter König

war da und zog vor ihnen her, und doch zitterten sie.

Warum? Weil Gott nicht mit ihnen war. Wie ganz

anders war es einst gewesen, als Josua die Heerscharen

Jehovas gegen die mächtigen und zahlreichen Völker Kanaans

geführt hatte! Damals gab es Feinde ringsum, aber keiner

vermochte den Siegeslauf Israels einzuhalten. Heute war nur

179

e i n Volk vor ihnen, und doch erfüllten Angst und Schrecken

ihre Seelen. Einst hatte Mose Wunder gethan, mit einem

einfachen Stabe in seiner Hand; und jetzt, mit dem Manne

ihrer eignen Wahl vor ihren Augen, zitterten sie vor ihren

Feinden. So ist der Mensch. Wahrlich, „es ist besser

auf Jehova zu vertrauen, als zu vertrauen auf Fürsten."

Jonathan erprobte dies in gesegneter Weise. Er trat den

Philistern entgegen in der Kraft jenes Wortes: „Für

Jehova giebt es kein Hindernis, durch viele zu retten oder

durch wenige". Jehova füllte den ganzen Gesichtskreis

seiner Seele aus, und wenn man Ihn zur Seite hat, so

macht es nichts ans, ob „viele oder wenige" mit uns

sind. Der Glaube läßt sich durch Umstände und Schwierigkeiten

nicht beeinflussen.

Und beachten wir die Veränderung, welche in der

äußeren Lage Israels vor sich ging, sobald der Glaube

unter ihnen zu wirken begann. Das Zittern übertrug sich

von den Israeliten auf die Philister: „Und ein Schrecken

entstand im Lager, auf dem Felde und unter dem ganzen

Volke; die Aufstellung und der Berheerungszug, auch sie

erschraken; und das Land erbebte, und es ward zu einem

Schrecken Gottes." (B. 15.) Israels Stern war jetzt

entschieden im Steigen begriffen, und zwar einfach deshalb,

weil einer aus ihrer Mitte nach den Grundsätzen des

Glaubens handelte. Jonathan erwartete die Befreiung

nicht von seinem Vater Saul, sondern von Jehova; er

wußte, daß Jehova ein Kriegsmann war, und auf Ihn

stützte Er sich an dem Tage der Bedrängnis. Wie schön

ist eine solche Abhängigkeit und ein solches Vertrauen!

Nichts kommt ihnen gleich. Menschliche Einrichtungen und

Hilfsmittel verschwinden, menschliche Hilfsquellen trocknen

180

aus; aber „die auf Jehova vertrauen sind gleich dem

Berge Zion, der nicht wankt, der ewiglich bleibt". (Ps. 125,1.)

„Es ward zu einem Schrecken Gottes"; ja, Gott selbst

legte Seinen Schrecken in die Herzen der Feinde und gab

Israel Freude und Triumph. Jonathans Glaube wurde

von Gott auch darin anerkannt, daß diejenigen, welche mit

den Philistern gezogen oder aus Furcht vor ihnen von dem

Schlachtfelde in die Berge geflohen waren, nunmehr Mut

faßten und ebenfalls den Philistern nachsetzten im Streit. So

ist es immer. Wir können nicht in der Kraft des Glaubens

wandeln, ohne Andern ein Antrieb und eine Ermunterung

zu sein; und andrerseits ist oft ein furchtsames Herz

genügend, um viele schlaff und ängstlich zu machen.

Überdies treibt der Unglaube uns stets von dem Schau­

platz des Dienstes oder des Kampfes weg, während der

Glaube uns gerade hinführt.

Doch wie stand es um Saul bei dieser Gelegenheit?

Handelte er in Gemeinschaft mit dem Manne des Glaubens?

Ach nein; er war völlig unfähig dazu. Er saß unter

dem Granatbaum, aber er vermochte den Herzen der

Männer, die ihn zu ihrem Anführer erwählt hatten, keinen

Mut einzuflößen; und wenn er es endlich wagte handelnd

aufzutreten, so konnte er nur durch seine Übereilung und

Thorheit den kostbaren Resultaten des Glaubens hinder­

lich sein.

In Kapitel 15 finden wir die letzte Probe, auf welche

der König nach dem Herzen des Menschen gestellt wurde,

und dann seine völlige Beiseitesetzung. „Ziehe hin

und schlage Ama lek!" Das war die Probe, welche

den Zustand des Herzens Sauls völlig offenbar machte.

Wäre er in einer richtigen Stellung vor Gott gewesen, so

181

Würde er sein Schwert nicht eher in die Scheide gesteckt

haben, bis die Amalekiter völlig ausgerottet waren. Aber

der Ausgang des Kampfes bewies, daß Saul viel zn viel

mit Amalek gemein hatte, um den göttlichen Willen voll

und ganz aussiihren zu können. Was hatte Amalek gethan?

„So spricht Jehova der Heerscharen: Ich habe angesehen,

was Amalek Israel gethan, wie er sich ihm in den Weg

gestellt hat, als es aus Ägypten heraufzog." (V. 2.)

Amalek hatte einst das erste große Hindernis gebildet auf

der Reise des erlösten Volkes aus Ägypten nach Kanaan;

und wir wissen, was heute einen ähnlichen Platz ausfüllt

im Blick auf diejenigen, welche aufrichtig dem Herrn nachzufolgen

begehren.

Wie hätte nun Saul, der sich eben als ein Hindernis

in dem Wege des Mannes des Glaubens erwiesen hatte,

ja, dessen ganzes Verhalten mit den göttlichen Grundsätzen

im Widerspruch stand, — wie hätte er Amalek vernichten

können? Unmöglich. „Und Saul und das Volk verschonten

Agag und das Beste vom Klein- und Rindvieh." (V- d.)

Recht so. Saul und Agag paßten zu gut zu einander,

als daß Saul Kraft gehabt hätte, das Strafgericht Gottes

an diesem unversöhnlichen Feinde seines Volkes zu vollstrecken.

Und beachten wir hier die Unaufrichtigkeit und

Selbstgefälligkeit dieses unglücklichen Mannes : „Und Samuel

kam zu Saul; und Saul sprach zu ihm: Gesegnet seiest

du von Jehova! Ich habe das Wort Jehovas

erfüllt." (V. 13.) Das Wort Jehovas erfüllt? Und

doch lebte Agag, der König der Amalekiter, noch, und mit

ihm das Beste vom Vieh! Ach, zu welch eitler Selbsttäuschung

kann es bei einem Menschen kommen, der nicht

aufrichtig vor Gott wandelt! „Und Samuel sprach: Was

182

ist denn das für ein Blöken von Kleinvieh in meinen

Ohren?" Ernste, erforschende Frage! Vergebens sucht

Saul Schutz hinter dem so annehmbar klingenden Vorwand,

das Volk habe das Vorzüglichste vom Klein- und Rindvieh

verschont, „um es Jehova zu opfern". Als wenn

der Herr ein Opfer annehmen könnte von solchen, die in

unmittelbarer Auflehnung gegen Sein Gebot wandeln!

Aber wie viele haben seit den Tagen Sauls den Versuch

gemacht, einen ungehorsamen Geist mit dem schönen Mantel

eines „Opfers für Jehova" zu bedecken! Die Antwort

Samuels läßt die ganze Armseligkeit einer solchen Ausflucht

ans Licht treten: „Und Samuel sprach zu Saul: Hat

Jehova Lust an Brandopfern und Schlachtopfern, wie daran,

daß man der Stimme Jehovas gehorcht? Siehe, Gehorchen

ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das Fett der

Widder. Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit,

und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst."

(B. 22. 23.) Es macht nichts aus, wie kostbar

das Opfer ist; eine einzige Handlung des Gehorsams

gegenüber der Stimme des Herrn ist unendlich kostbarer

für Ihn als das reichste Opfer. Der Herr sucht nicht Opfer,

sondern Gehorsam; ein unterwürfiges Herz und ein williger

Geist verherrlichen Ihn mehr, als das Vieh von tausend Bergen.

Wie nötig ist es, uns diesen ernsten Grundsatz immer

wieder ins Gedächtnis zu rufeu! „Gehorchen ist

besser als Opfer." Es ist weit besser, den eignen

Willen unter Gott zu beugen und einfältig Seinem Worte

zu folgen, als die kostbarsten Opfer auf Seinen Altar zu

legen. Wenn der Wille unterworfen ist, wird alles andere

von selbst an seinen richtigen Platz kommen; aber von

Opfern zu reden, während das Herz sich in Auflehnung

183

gegen Gott befindet, ist nichts als eitle Täuschung. Gott

schaut nicht auf die Größe des Opfers, sondern aus den

Geist, aus welchem es hervorgeht. Auch wird man immer

finden, daß alle, welche in dem Geiste Sauls davon reden,

Gott ein Opfer darzubringen, irgend einen eigennützigen

Zweck darunter verbergen: den einen oder andern Agag,

das Beste vom Rind- und Kleinvieh, irgend etwas Anziehendes

für das Fleisch, welches mehr Einfluß auf das

Herz hat als der Dienst oder die Anbetung des hochgelobten

Gottes.

Möchten doch alle, welche diese Zeilen lesen, darnach

trachten, den Segen eines Gott völlig unterworfenen

Willens kennen zu lernen! Denn nur so werden sie jene

selige Ruhe finden, welche der sanftmütige und von Herzen

demütige Jesus einst allen denen verhieß, die Sein Joch auf

sich nehmen und von Ihm lernen würden, — die Ruhe,

welche Er selbst darin fand, daß Er sagen konnte: „Ich

Preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde . . . .

denn also war es wohlgefällig vor dir."

(Matth. 11, 25. 26.) Der ruhelose, ehrgeizige Saul

kannte hiervon nichts. Sein Wille stand nicht im Einklang

mit Gottes Willen bezüglich Amaleks. Gott hatte ihm

geboten, Amalek und alles, was er hatte, zu verbannen

und seiner nichtzu schonen; aber sein Herz verlangte

darnach, das zu verschonen, was ihm gut und begehrenswert

erschien. Er war bereit, den Willen Gottes auszuführen

betreffs alles dessen, was „gering nnd schwächlich" war;

aber er meinte, einige Ausnahmen machen zu können, als

ob der Unterschied Zwischen dem „Schwächlichen" und dem

„Besten" seinem Urteil überlassen gewesen wäre, anstatt dem

Urteil Dessen, der Amalek von dem einzig richtigen Gesichts

184

punkt aus betrachtete, und der in Agags Schönheit nichts

anderes als Verächtliches und Verwerfliches erblickte.

Er sah in ihm einen Mann, der nach wie vor Israels

erbitterter Feind bleiben würde, ja dessen ganzes Haus

und Volk schon seit lange unter Seinem gerechten Strafurteil

stand. (Vergl. 2. Mose 17, 14.)

Der Schluß unsers Kapitels zeigt nur zu deutlich,

woraus Sauls Gedanken und Wünsche gerichtet waren.

Er erscheint hier in seinem wahren Lichte. Er hatte die

ernsten Worte Samuels gehört und die Anklagen Gottes

gegen sich vernommen, welche mit dem feierlichen Urteil

schlossen: „Weil du das Wort Jehovas verworfen hast,

so hat Er dich verworfen, daß du nicht König seiest . . .

Jehova hat heute das Königtum Israels von dir abgerissen

und es deinem Nächsten gegeben, der besser ist als du."

(B. 23. 28.) Diese niederschmetternden Worte hatten sein

Ohr erreicht: aber er war so voll von seinem eignen Ich,

so verblendet von eitler thörichter Ehrsucht, daß er in

diesem ernsten Augenblick fähig war zu sagen: „Nun ehre

mich doch vor den Ältesten meines Volkes und vor Israel,

nnd kehre mit mir nm!" Ja, das war Saul. „Das

Volk", hatte er gesagt, „hat von der Beute genommen,

Klein- und Rindvieh, das Vorzüglichste des Verbannten."

Das Volk trug Schuld an dem Geschehenen, nicht er, der

König und Anführer. Mochte er auch sagen: „Ich habe

gesündigt", so war das doch nur ein eitles, leeres Bekenntnis

und wohl nur darauf berechnet, Samuel zur Umkehr mit

ihm zu bewegen. „Ehre mich doch vor den Ältesten

meines Volkes und vor Israel!" Ach, welch eine Thorheit!

Ein Herz, beladen mit Ungerechtigkeit, verlangt nach Ehrung

vor den Augen seiner Mitmenschen. Von Gott verworfen

185

als der Träger der königlichen Würde, klammert er sich

an die Möglichkeit, vor den Menschen seine Ehre und sein

Ansehen noch ein wenig aufrecht erhalten zu können. Ihm

lag wenig daran, was Gott von ihm dachte, wenn er nur

in den Augen des Volkes seinen geehrten Platz behielt.

Aber er wurde von Gott verworfen, und das Königtum

wurde von ihm abgerissen; auch nutzte es nicht viel, daß

Samuel endlich feinem Drängen nachgab, mit ihm umkehrte

und dabeistand, als Saul vor Gott anbetete. Diese

Anbetung war nur die Erfüllung einer äußern Form, um

so den Einfluß unter dem Volke nicht zu verlieren.

„Und Samuel sprach: Bringet Agag, den König der

Amalekiter, zu mir her. Und Agag kam lustig zu ihm;

und Agag sprach: Fürwahr, die Bitterkeit des Todes ist

gewichen! Und Samuel sprach: Wie dein Schwert Weiber

kinderlos gemacht hat, so sei kinderlos unter Weibern

deine Mutter! Und Samuel hieb Agag in Stücke

vor Jehova zn Gilgal." (V. 32. 33.) Wie bemerkenswert

ist es, daß dies gerade in Gilgal geschah!

Gilgal war der Ort, wo die Schande Ägyptens von

Israel abgewälzt worden war, und wenn wir die

Geschichte des Volkes verfolgen, so finden wir in Verbindung

mit Gilgal immer eine besondere Kraft dem Bösen

gegenüber. Hier nun fand jener Amalekiter sein Ende

durch die Hand des gerechten Samuel. Das ist höchst

belehrend. Wenn die Seele in dem Bewußtsein steht,

völlig von Ägypten befreit zu sein infolge des Todes und

der Auferstehung, so ist sie in der passenden Lage, das

Böse besiegen zu können. Hätte Saul etwas von der

Bedeutung und den Grundsätzen Gilgals verstanden, so

würde er Agag nicht verschont haben. Aber er verstand

186

nichts davon. Er war völlig bereit, nach Gilgal zu gehen,

„nm das Königtum zu erneuern", aber keineswegs bereit, das

was von dem Fleische war Hinwegzuthun und zu vernichten.

Samuel aber handelte mit Agag in der Kraft des Geistes

Gottes, nach den Grundsätzen der Wahrheit und nach den

Gedanken Gottes. Denn es steht geschrieben: „Die Hand

ist am Throne Jahs: Krieg hat Jehova wider Amalek

von Geschlecht zu Geschlecht". (2. Mose 17, 16; vergl.

5. Mose 25, 17—19.) Der König von Israel

hätte das wissen sollen; aber sein Herz war gefühllos

und sein Auge verfinstert. Armer, beklagenswerter Mann!

Gedanken über Apostelgeschichte 12.

i.

Die Ursache des Falles des ersten Menschen war

Hochmut; er wollte sein wie Gott. Der ^natürliche Mensch

offenbart stets diesen Charakter; sein ganzes Streben ist

darauf gerichtet, sich in der Welt Geltung zu verschaffen

und sich einen Namen zu machen. Er trachtet nach Reichtum,

nach Wissen, nach eigner Gerechtigkeit, und immer

liegt diesem Trachten das Gelüste zu Grunde, Ehre und

Ansehen zn genießen. Der Mensch will vor dem Menschen

etwas sein. Obwohl Gott ihm hinreichend bezeugt hat,

daß er ein armer, verlorener Sünder ist, und daß gar

kein Ruhm für ihn übrigbleibt, so sucht er doch entweder

sein wahres Wesen unter einem äußeren schönen Schein

zu verbergen, oder er sucht seine Ehre in der Schande.

Der natürliche Mensch denkt nie an den Ruhm und die

Verherrlichung Gottes, sondern nur an seinen eignen

187

Ruhm und an seine Verherrlichung vor den Menschen.

Ja, er haßt Gott und alle, die Ihn ehren und Ihm zu

dienen begehren.

In dem 12. Kapitel der Apostelgeschichte finden wir

einen Mann, in welchem uns der oben beschriebene Charakter

des natürlichen Menschen in auffallender Weise entgegentritt.

Es ist Herodes, der König der Juden. Von ihm

lesen wir in Vers 1—3: „Um jene Zeit aber legte

Herodes, der König, die Hände an etliche von der Versammlung,

sie zu mißhandeln; er tötete aber Jakobus,

den Bruder des Johannes, mit dem Schwerte. Und als

er sah, daß es den Juden gefiel, fuhr er fort, auch Petrus

festzunehmen."

Herodes war ein Feind Gottes und Seines Volkes.

Er fand seine Freude daran, die Auserwählten und Geliebten

Gottes zu mißhandeln und zu töten. Er begann

Krieg zu führen wider Gott, und das Wohlgefallen der

Juden trieb ihn an, auf dem eingefchlagenen Wege voranzugehen.

Das Wohlgefallen Gottes galt ihm nichts.

Dem vergänglichen Ruhm bei den Menschen, die doch

weniger sind als nichts und die dem Fluch und dem Gericht

verfallen sind, brachte er gern alles zum Opfer.

Er haßte Christum, und Er tötete Seine Diener, weil

Er sah, daß es den Juden wohlgefiel, so daß er hoffen

konnte, auf diesem Wege seine Macht und Herrschaft zu

befestigen.

Doch der Mensch ist nicht nur eigenwillig und ruhmsüchtig,

er möchte sogar sein wie Gott. Das war das

begehrliche Ziel, welches Satan einst dem Menschen im

Paradiese mit den Worten vorhielt: „Mit Nichten werdet

ihr sterben, sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr

188

davon esset, so werden eure Augen aufgethan, und ihr

werdet sein wie Gott." (1. Mose 3, 4. 5.) Dasselbe

Ziel suchte Herodes zu erreichen. „An einem festgesetzten

Tage aber hielt Herodes, nachdem er königliche Kleider

angelegt und sich auf den Thron gesetzt hatte, eine öffentliche

Rede an sie. Das Volk aber rief ihm zu: „Eines

Gottes Stimme, und nicht eines Menschen!" (B. 21.22.)

So raubte Herodes Gott, was Ihm gehörte. Er stellte

sich neben Gott und ließ sich göttliche Ehre erweisen.

Das Volk, dem Gottes Ehre nichts galt, zollte sie ihm;

das was allein Gott gebührte, brachten sie einem sterblichen

Menschen dar.

Doch, wie einst im Paradiese, so traf auch hier ein

unmittelbares Gericht die Vermessenheit des Menschen:

„Alsbald aber schlug ihn ein Engel des Herrn, darum

daß er nicht Gott die Ehre gab; und von Würmern gefressen,

verschied er." (V. 23.) Der Sünder nimmt ein

Ende mit Schrecken. Er will in seinem Hochmut sein wie

Gott und sich neben Ihn setzen; aber sobald Gott nur

ein wenig Seine Macht offenbart, stürzt der Mensch in

die tiefsten Tiefen. Der Gottlose und Hochmütige kann

nicht vor Gott bestehen; das Gericht rafft ihn hinweg.

Herodes ist ein treffendes Vorbild von dem Menschen

der Sünde, dem Antichristen. Bon diesem heißt es in

2. Thess. 2, 4: „Welcher widersteht und sich selbst

erhöht über alles, was Gott heißt oder ein

Gegenstand der Verehrung ist, so daß er

sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst

dar stellt, daß er Gott sei". Er „wird nach

seinem Gutdünken handeln, nnd er wird sich erheben

und groß machen über jeden Gott, und

189

wider den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden".

(Dan. 11, 36.) Seine Sprache ist: „Zum Himmel will

ich hinaufsteigen, hoch über die Sterne Gottes meinen

Thron erheben . . . Ich will hinauffahren auf Wolkenhöhen,

mich gleich machen dem Höchsten." (Jes. 14, 13. 14.)

In dem Antichristen werden der Hochmut Adams

und die Selbstverherrlichung des Menschen ihren Gipfelpunkt

erreichen. Eigenwille und Hochmut, Vermessenheit

gegen Gott und Selbstvergötterung inmitten eines abtrünnigen

Volkes werden ihn kennzeichnen. Er trägt

darum auch den Namen Antichrist oder Widerchrist, weil er

in allem das schroffste Gegenbild von Christo ist. In

Christo erblicken wir eine vollkommene Selbstverleugnung

nnd Unterwerfung unter den Willen Seines Vaters. Obgleich

Er in Gestalt Gottes, ja Gott selbst war, machte

Er sich selbst zu nichts, nahm Knechtsgestalt an und ward

gehorsam bis zum Tode am Kreuze. (Phil. 2.) Er suchte

nie Seine eigne Ehre, sondern nur die Verherrlichung

Gottes. Darum hat Gott Ihn auch hoch erhoben und

Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist.

Bor Ihm, dem demütigen Menschensohne, wird sich bald

jedes Knie beugen, und jede Zunge wird bekennen müssen,

daß Er Herr ist.

So wie Herodes in seinem Übermut ein plötzliches

Ende nahm, so wird auch der Antichrist dereinst unversehens

zu seinem Ende kommen und keinen Helfer haben.

Der Herr Jesus „wird ihn verzehren durch den Hauch

Seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung

Seiner Ankunft". (2 Thess. 2, 8.) „Gott widersteht den

Hochmütigen, den Demütigen aber giebt Er Gnade."

(1. Petr. 5, 5.) Er wird den Abfall und den Hochmut

190

des Menschen richten; denn „Jehova der Heerscharen hat

einen Tag über alles Hoffärtige und Hohe und über alles

Erhabene, und es wird erniedrigt werden . . . Und der

Hochmut des Menschen wird gebeugt und die Hoffart des

Mannes erniedrigt werden; und Jehova wird hoch erhaben

sein, Er allein, an jenem Tage." (Jes. 2, 12. 17.)

Der Gedanke hieran sollte in uns eine heilige Furcht

erwecken, in keinerlei Weise eitler Ehre geizig zu sein oder

nach Menschengnnst zn trachten. Wie nahe liegt uns diese

Gefahr! Möchten wir vielmehr in allen Dingen die Ehre

nnd Verherrlichung Gottes suchen; denn Ihm allein gebührt

Ruhm und Ehre und Herrlichkeit bis in alle Ewigkeit!

Vergessen wir auch nicht, daß wir nicht uns selbst, sondern

Dem angehören, der uns um einen so teuren Preis erkauft

hat. Christus hat sich hingegeben für Seine Versammlung,

welche Sein Leib ist; Er hat sie erlöst und

versöhnt. Sie ist Seine Braut, die Er sich erworben hat

durch Sein eigenes Blut und die deshalb Ihm allein

gehört. Ihre Neigungen und Wünsche dürfen nur auf

Ihn gerichtet sein; ihr ganzes Leben darf nur Ihm gehören,

in welchem Gott sich uns völlig geoffenbart hat.

Sein Gott und Vater ist unser Gott und Vater geworden.

Das stete Bewußtsein dieser innigen Beziehungen zu Gott

als Kinder und Erben, die um Christi willen mit einer

vollkommenen Liebe geliebt sind, wird in unsern Herzen

die geziemenden Gefühle und Wünsche wachrufen. Das

Kind gehört ganz dem Vater an nnd sollte seinem Willen

allein unterworfen sein.

2.

In unserm Kapitel giebt es indes noch eine andere

Person, die unsre Aufmersamkeit in hervorragender Weise

191

in Anspruch nimmt und im schroffsten Gegensatz steht zu

der Person des Herodes. Es ist der Apostel Petrus.

In ihm erblicken wir eine völlige Hingabe an Gott. Er

hatte nicht das Wohlgefallen und die Gunst der Menge

gesucht; nein, er hatte Christum bekannt, und wer das

thut, findet in der Welt keine Anerkennung. Seine Ketten

zeugten von seiner Treue für feinen Herrn. Der Christ

darf niemals auf Anerkennung in dieser Welt rechnen.

Thut er es, so wird er bald mutlos werden oder sich der

Welt anbequemen.

Petrus war wohl verwahrt, wenigstens nach menschlichem

Urteil. Herodes „setzte ihn ins Gefängnis und

überlieferte ihn an vier Abteilungen von je vier Kriegsknechten

zur Bewachung, indem er willens war, ihn nach

dem Passah dem Volke vorzuführen." (V. 4.) In der

Nacht vor dem zur Hinrichtung bestimmten Tage nun

„schlief Petrus zwischen zwei Kriegsknechten, gebunden

mit zwei Ketten, und Wächter vor der Thür verwahrten

das Gefängnis". Es könnte uns Wohl wundern, Petrus

in einer solchen Lage so ruhig schlafend zu finden. Ein

schrecklicher Tod stand vor ihm; denn sein Richter war ein

bittrer Feind Gottes, ein grausamer, gewissenloser Tyrann.

Alle Hoffnung auf Entrinnen war ausgeschlossen. Dennoch

schlief Petrus. Es war der Schlaf eines Christen, der

ein ruhiges Gewissen hat und nicht an sich selbst, sondern

nur an die Verherrlichung Gottes denkt; der Schlaf eines

Kindes Gottes, welches sich überall in den guten Händen

Seines himmlischen Vaters weiß; der Schlaf eines Dieners

Christi, der sich willenlos seinem treuen Herrn übergeben hat

und sich freut, um Seines Namens willen leiden zu dürfen.

In Petrus finden wir den Glauben wirksam, der sich

192

nicht durch das Sichtbare leiten läßt, sondern in jeder

Lage auf Gott vertraut. Wir sehen sein Herz mit Liebe

erfüllt, die bereit ist, sich zur Verherrlichung Gottes selbst

zum Opfer zu bringen; und es offenbart sich eine lebendige

Hoffnung, die da weiß, daß Sterben Gewinn ist, die

auf Erden nichts sucht, sondern eine unvergängliche Herrlichkeit

bei Christo im Himmel erwartet. Wir werden

immer finden, daß, wenn in dem Christen diese drei

Stücke: Glaube, Liebe und Hoffnung, wirksam sind, sein

Herz auch in der schwierigsten Lage ruhig und getrost bleibt.

Andrerseits tritt uns die Treue Gottes hier in lieblicher

Weise entgegen. Er weiß in den trostlosesten Umständen

die Seinigen mit Mut und Zuversicht zu erfüllen.

Ist unser Glaubensauge ans Ihn gerichtet, so werden wir

selbst da ganz ruhig bleiben, wo Andere mit Furcht und

Schrecken erfüllt sind. Das Härteste, das einem Menschen

in dieser Welt begegnen kann, nämlich als ein Missethäter

zu sterben, sollte das Los Petri sein. Der Haß des

Herodes, die Erwartung des blutdürstigen, jüdischen Volkes,

die strenge Überwachung im Gefängnis — alles war da­

zu angethan, den letzten Hoffnungsschimmer auf Befreiung

zu zerstören und das Herz niederzudrücken. Allein Petrus

ruhte selbst inmitten des Kerkers, angesichts des Todes,

füll und friedlich in seinem Gott. So läßt uns der

Glaube überall sicher ruhen und Gott preisen. Paulus

und Silas sangen nicht lange nachher im Gefängnis zu

Philippi um Mitternacht Loblieder zur Ehre ihres Herrn,

und zwar mit solcher Kraft und Freudigkeit, daß die übrigen

Gefangenen davon erwachten.

Und wie herrlich entfaltet sich jetzt die Macht Gottes

zur Errettung Seines Knechtes! Ein Engel des Herrn

193

erscheint; ihn hindern weder Thüren noch Riegel, weder

Wachen noch Kriegsknechte. Er weckt Petrus auf und

gebietet ihm, sich anzukleiden und ihm zu folgen. Die

Ketten fallen zu Boden, die Thüren öffnen sich, die Wachen

sind mit Blindheit geschlagen, und Petrus geht ungehindert

durch ihre Mitte hindurch. „Und sie traten hinaus und

gingen eine Straße entlang, und alsbald schied der Engel

von ihm. Und als Petrus zu sich selbst kam, sprach er:

Nun weiß ich in Wahrheit, daß der Herr Seinen Engel

gesandt und mich gerettet hat aus der Hand des Herodes

und aller Erwartung des Volkes der Juden." (V. 7 — 11.)

Der Eindruck, welchen diese Offenbarung der Macht

Gottes auf Petrus machte, war ein gewaltiger. Anfänglich

meinte er ein Gesicht zu sehen, aber bald überzeugte er

sich von seiner wirklichen Errettung. Ja, unser Gott ist

ein wunderbarer Gott. „Weg' hat Er allerwegen, an

Mitteln fehlt's Ihm nicht." Wie sollte dieses Bewußtsein

unsre Herzen erheben und im Vertrauen befestigen! Gott

ist den Seinigen stets nahe. Seine Treue ist unwandelbar,

und Er weiß sich an denen zu verherrlichen, welche die

Ehre Seines Namens suchen. Möchte uns das ermuntern,

uns allezeit Seinem Willen und Seiner Führung vertrauensvoll

zu überlassen! Er hält immer bei uns aus;

und wo Er ist, da giebt es keinen Mangel. Seine Treue,

Gnade und Macht übersteigen alles. Darum ist Er auch für

eine Seele, die auf Ihn harrt, in allen Lagen genug.

Sie bedarf nichts anderes als Seinen starken Arm und

Sein liebendes Herz.

Doch noch eins. Während Petrus im Gefängnis

für einen baldigen Tod aufbewahrt wird, sehen wir die

Versammlung zu Jerusalem im Gebet für ihn thätig.

194

„Von der Versammlung geschah aber ein anhaltendes

Gebet für ihn zu Gott." (V. 5.) „Wenn ein Glied leidet,

so leiden alle Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht

wird, so freuen sich alle Glieder mit." (1. Kor. 12, 26.)

Das wird sich stets bewahrheiten, wenn die Glieder des

Leibes Christi sich ihrer Gemeinschaft und Einheit lebendig

bewußt sind. Dieses Bewußtsein erweckt herzliche Liebe

und aufrichtige Teilnahme. Im Hause der Maria waren

viele im Gebet vereinigt. Ihr Vertrauen war, wie bei

Petrus, allein auf Gott gerichtet. Mochten sie auch jede

Hoffnung auf Wiedervereinigung mit ihrem geliebten Apostel

aufgegeben haben, so verharrten sie doch im gemeinsamen

Gebet für ihn. Und über alles Erwarten wurde ihr

Flehen erhört. Petrus selbst bringt ihnen die frohe

Botschaft von feiner Errettung, und sie sind nicht weniger

überrascht, wie er selbst es gewesen war. „Als er aber

an der Thür des Thores klopfte, kam eine Magd, mit

Namen Rhode, herbei, um zu horchen. Und als sie die

Stimme des Petrus erkannte, öffnete sie vor Freude das

Thor nicht; sie lief aber hinein und verkündete, Petrus

stehe vor dem Thore. Sie aber sprachen zu ihr: Du

bist von Sinnen. Sie aber beteuerte, daß es also sei.

Sie aber sprachen: Es ist sein Engel. Petrus aber blieb

am Klopsen. Als sie aber aufgethan hatten, sahen sie ihn

und waren außer sich." (B. 13—16.)

So weiß der Herr unsere Gebete zu erhören, unser

Vertrauen überströmend zu belohnen und die Gerechten

aus der Versuchung zu erretten. Wer auf Ihn harrt,

wird nimmermehr beschämt werden. Aber dieses Ausharren,

dieses Warten auf Ihn, wird uns oft schwer.

Ohne Glauben ist es ganz und gar unmöglich. Darum

195

ermuntert der Apostel die gläubigen Hebräer mit den

Worten: „Werfet nun eure Zuversicht nicht weg, die

eine große Belohnung hat. Denn ihr bedürfet

des Ausharrens, auf daß ihr, nachdem ihr den Willen

Gottes gethan habt, die Verheißung davontraget."

(Kap. 10, 35. 36.) So laßt denn auch uns die Zuversicht

nicht wegwerfen, sondern mit Ausharren laufen den

vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesum, den

Anfänger und Vollender des Glaubens! Das Ende wird

herrlich sein. So schrecklich der Ausgang des Herodes

war, der auf sich selbst vertrante und Ehre bei Menschen

suchte, so herrlich war der Ausgang Petri, der sich selbst

vergaß und nur an die Verherrlichung Gottes dachte.

Wir haben oben gesagt, daß wir in dem gottlosen

König Herodes ein Vorbild des Antichristen erkennen

könnten. Nun, in den Drangsalen des Petrus und der

betenden Versammlung, sowie in der wunderbaren Errettung

des Apostels sehen wir ein Bild von den Leiden des

gläubigen Überrestes von Israel in den letzten Tagen und

von seiner Errettung durch die Erscheinung Christi. Wie

unter Herodes, so werden auch unter dem Antichristen die

Gläubigen mißhandelt und verfolgt werden, und viele

werden nm ihres Zeugnisses willen den Märtyrertod erleiden.

Aber wenn die Not ihren Gipfelpunkt erreicht

hat und nirgendwo ein Ausweg mehr zn sehen ist, dann

wird Plötzlich der Erlöser ans Zion erscheinen. Die

Füße des Herrn werden wieder auf dem Ölberge stehen,

und angesichts ihres verherrlichten Messias wird der Über­

rest ausrufen: „Gesegnet, der da kommt im Namen des

Herrn!" Und dann wird auch der 126. Psalm seine

völlige Erfüllung finden. Israel wird singen und sagen:

196

„Als Jehova die Gefangenen Zions zurückführte, waren

wir wie Träumende. Da ward unser Mund voll Lachens

nnd unsre Zunge voll Jubels; da sagte man unter den

Nationen: Jehova hat Großes an ihnen gethan. —

Jehova hat Großes an uns gethan: wir waren fröhlich!

Führe unsre Gefangenen zurück, Jehova, gleich Bächen

im Mittagslande! Die mit Thränen säen, werden mit

Jubel ernten."

Der Herr aber befestige unsre Herzen in der Wahrheit

und schenke uns Gnade, den herrlichen Ausgang der

Gerechten anzuschauen und ihren Glauben nachznahmen!

„Mein Angesicht wird mrtgehen, und

ich werde dir Ruhe geben."

(2. Mose 83, 14.)

Sorge nicht, banges Herz,

Gieb dich in Ruh'!

Mach' dir nicht tanger Schmerz,

Sieh stille zu,

Wie dich dein Bater führt,

Alles so treu regiert,

Bringt dich durch diese Welt,

Wie's Ihm gefällt.

Decket auch Finsternis

Ringsum Len Pfad,

Bringt dich hindurch gewiß

Doch Seine Gnad'.

Sein Herz schlägt treu und warm,

Sein starker Wunderarm

Führt dich aus böser Zeit

Zur Herrlichkeit.

Gieb nicht den Zweifeln Raum,

Traue Ihm nur;

Hältst sonst im Auge kaum

Himmlische Spur.

Siehe, Sein Angesicht

Strahlet so mild und licht,

Leuchtet dir heimatwärts;

Freu' dich, mein Herz!

Blicke nur stets aufs Ziel,

Nicht um dich her;

Weile im Himmel viel,

Unten nicht mehr!

Naht dann auch Schmerz und Pein,

Kannst dennoch glücklich sein;

Rühmst deines Vaters Treu'

Tagtäglich neu.

Gesichtet wie Weizen.

(Gedanken über Lukas 22, 14—34.)

Wie gut ist es, daß wir zu allen Zeiten auf den

Herrn blicken können; denn wenn unser Auge stets auf

uns selbst gerichtet sein müßte, so würden wir nicht nur

keine Fortschritte machen, sondern auch durch den Gedanken

an das Böse in uns völlig entmutigt werden. Wir würden

uns immerfort mit diesem Bösen beschäftigen und uns so

der Kraft berauben, es überwinden zu können.

Die Natur des Fleisches und die Blindheit des

menschlichen Herzens sind erstaunlich. Welch thörichte

Dinge treten oft zwischen Gott und uns, um vor unsern

Blicken das zu verbergen, was wir sehen sollten! Wie

folgen die Gedanken des natürlichen Herzens so leicht ihrem

natürlichen Lauf sselbst wenn der Herr uns nahe ist) und

machen uns gefühllos für die eindrucksvollsten Dinge um

uns her! Wir finden ein schlagendes Beispiel dafür in

dem oben angegebenen Schriftabschnitt. Der Herr war

im Begriff, jenes Werk zu vollbringen, welches mit keinem

andern verglichen werden kann. Er stand auf dem Punkte,

den Zorn Gottes für uns arme Sünder zu tragen. Er

befand sich in Umständen, welche das Herz Seiner Jünger

hätten tief bewegen sollen. Er hatte gerade in den

rührendsten Ausdrücken von dem Passahmahle gesprochen,

welches Er noch einmal mit ihnen essen wollte, ehe Er

XUIV 8

198

litt. Auch hatte Er ihnen gesagt, daß einer von ihnen

Ihn verraten würde. Alles das hätte sie niederbeugen

und ihre Herzen mit ernsten Gefühlen erfüllen sollen.

Aber wie stand es mit ihnen? Sie stritten mit einander,

wer Wohl von ihnen der Größte sei!

Für uns ist jetzt der Vorhang weggezogen, und wir

können kaum verstehen, wie die Jünger in jenem Augenblick

mit solchen Dingen beschäftigt sein konnten; aber vergessen

wir nicht, daß w i r wissen, was bald nachher sich ereignen

sollte. Und wenn wir an uns selbst denken, wie viele

Dinge vermögen selbst uns, die wir mehr Licht haben als

die Jünger damals, von den Gedanken abzulenken, welche

in jener Stunde das Herz Jesu erfüllten! Ach! so ist

das Herz des Menschen angesichts der ernstesten und

feierlichsten Dinge. Fragen wir uns: Welchen Einfluß

übt der Tod Christi auf unsre Herzen aus? Ist er kostbar

für uns? Wenn wir zu zweien oder dreien in dem

Namen Jesu versammelt sind, so ist der Herr bei uns;

und doch, welche Gedanken durchkreuzen dann oft unsern

Geist und beschäftigen unsre Herzen! Wir sehen hier das­

selbe bei den Jüngern, und zwar unter Umständen, die,

wie gesagt, in besonderer Weise geeignet waren, ihre

Herzen zu rühren. Jesus sagt ihnen, daß Sein Blut

für sie vergossen werden würde. „Siehe, die

Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir über Tische

. . . wehe aber jenem Menschen, durch welchen Er überliefert

wird!" (V. 21. 22.) Daraufhin fangen die Jünger

an, sich unter einander zu befragen, wer es Wohl von

ihnen sein möchte, der dies thun würde; und man

sollte meinen, sie hätten an nichts anderes mehr denken

können, als an den bevorstehenden Tod ihres gnaden-

199

-reichen Herrn. Aber nein! „Es entstand ein Streit

unter ihnen, wer von ihnen für den Größten

zu halten sei." Welch ein Gegensatz! Aber wir

brauchen uns nicht so sehr darüber zu verwundern; denn

wenn wir unsre eignen Herzen erforschen, so werden wir

sehr oft diese beiden Dinge neben einander finden, nämlich

wirkliche Gefühle, die von unsrer Liebe zu Jesu Zeugnis

geben, und zugleich (vielleicht in derselben halben Stunde)

Gedanken, die gerade so unwürdig sind wie jener Streit

unter den Jüngern. Das zeigt uns die Eitelkeit und

Thorheit des Herzens des Menschen; wahrlich, er ist

gleich dem feinen Staube auf der Wagschale.

Der Herr, stets voll Güte und Sanftmut, vergißt

sich selbst in Seiner Sorge für Seine Jünger und sagt

zu ihnen: „Der Größte unter euch sei wie der Jüngste,

und der Leiter wie der Dienende". Er weiß sie durch

Sein eignes Beispiel darüber zu belehren, was die Liebe

Gottes ist; und zugleich zeigt Er ihnen die Gnade, welche

in Ihm ist, und alle die Treue, die sie Ihm allein zu

verdanken hatten. Er sagt gleichsam zu ihnen: Ihr

habt nicht nötig, euch selbst zu erheben;

mein Vater wird euch erheben. „Ihr seid es,

die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen;

und ich verordne euch, gleichwie mir mein Vater verordnet

hat, ein Reich, auf daß ihr esset und trinket an meinem

Tische in meinem Reiche und auf Thronen sitzet, richtend

die zwölf Stämme Israels." (V. 28—30.)

Anstatt durch das verabscheuungswürdige Verhalten

Seiner Jünger erregt zu sein, zeigt Er ihnen, daß, wenn

auch in den Menschen keine Gnade zu finden war, es

doch Gnade in einem Menschen gab, in Ihm selbst.

200

Diese Gnade in Ihm ist vollkommen, und Er versetzt

Seine Jünger in dieselbe, so häßlich auch ihr Verhalten

gegen Ihn gewesen sein mochte. Er befestigt sie in dem

Grundsatz der Gnade, gegenüber der Thorheit des Fleisches,

welche sich eben bei ihnen geoffenbart hatte. Er sagt

gleichsam: Möget ihr sein, wie ihr wollt, ich bin nichts als

Gnade gegen euch, und ich vertraue euch das Reich an.

Wir sind, Gott sei dafür gepriesen! unter Gnade

gestellt, und diese Gnade redet. Sie versichert uns, daß

wir, trotz aller unsrer Schwachheit, mit Jesu ausgeharrt

haben, und daß Er uns das Reich geben will, gleichwie

der Vater es Ihm gegeben hat. Nichtsdestoweniger muß

die Seele, um diese kostbaren Dinge genießen zu können,

geübt werden. Das Fleisch muß uns geoffenbart werden,

und dies läßt uns die Notwendigkeit aller jener Prüfungen

erkennen, durch welche wir gehen. Aber Jesus befähigt

uns, auszuharren, weil wir Ihm angehören. Wenn Er

Seinen Jüngern einerseits sagt: „Ich verordne euch ein

Reich, und ihr sollt auf Thronen sitzen rc.", sorgt Er

andrerseits dafür, daß sie erfahren, was das Fleisch ist.

„Simon, Simon!" sagt der Herr, „siehe, der Satan

hat euer begehrt, euch zu sichten wie den Weizen. Ich

aber habe für dich gebetet, auf daß dein Glaube nicht

aufhöre." (V. 31. 32.) Er sagt nicht: „Du sollst nicht

versucht werden; ich werde Satan verhindern, dich zu

sichten". Nein; auch verhindert Er die Sichtung nicht.

So läßt Gott oft Seine Kinder in der Gegenwart des

Feindes; aber indem Er das thut, wacht Er über sie.

In Offbg. 2, 10 lesen wir: „Siehe, der Teufel wird etliche

von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr geprüft

werdet . . . Sei getreu bis zum Tode, und ich werde dir

201

die Krone des Lebens geben." Gott erlaubt dem Feinde

zuweilen, bis zum Äußersten zu gehen, zur Prüfung des

Glaubens der Seinigen; aber Er verläßt sie niemals, und

das Ende der Prüfung ist immer Segen.

Petrus hätte zum Herrn sagen können: „Du kannst

es verhindern, daß ich also gesichtet werde". So meinten

auch Martha und Maria, Jesus hätte den Tod ihres

Bruders verhindern können; und wahrlich, Er, der die

Krone des Lebens zu geben vermag, kann uns auch behüten,

daß Satan uns nicht antasten darf. Aber Er

thut es nicht, auf daß wir geprüft werden. Satan begehrte

einst Hiob zu sichten wie den Weizen, und Gott erlaubte

es ihm. Ähnliches widerfährt auch uns. Wie oft sagen

wir zu uns selbst: „Warum handelt Gott so mit mir?

Warum hat Er mich in diesen oder jenen Schmelztiegel

geworfen?" Nun, Satan hat es begehrt, und Gott hat

es erlaubt. Es geschehen oft Dinge, die wir nicht verstehen

können; und wozu sollen sie dienen? Sie sollen

uns zeigen, was das Fleisch ist.

Wenn Gott einen Gläubigen in Seinem Werke gebrauchen

will, so nimmt Er gerade den, der am weitesten

auf dem Pfade der Prüfung vorgeschritten ist. So wird

auch hier die Gefahr zwar allen Jüngern vorgestellt, aber

dann sagt der Herr zu Petrus: „Ich habe für dich gebetet",

für dich insonderheit. Jesus unterscheidet ihn von

allen übrigen Jüngern, weil er eine hervorragendere Stellung

eingenommen hatte als die andern und deshalb der Gefahr

mehr ausgesetzt war, obgleich alle bei dem Tode Jesu

gesichtet wurden. Weiter sagt der Herr zu Petrus: „Und

du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder".

Keinem Seiner Jünger sollte die Sichtung erspart bleiben;

202

aber Petrus sollte 'am ernstesten gesichtet werden, und des­

halb war er nachher auch am besten geeignet, seine Brüder

zu stärken. Trotz allem diesem war Petrus voll Selbstvertrauen

und erkühnte sich zu sagen: „Herr, mit dir bin

ich bereit, auch ins Gefängnis und in den Tod zu gehen".

Doch der Herr antwortete ihm: „Ich sage dir, Petrus,

der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet

hast, daß du mich kennest". (B. 33. 34.)

Das Fleisch in Petrus hatte nur Kraft, ihn bis zu

der Stunde der Prüfung zu führen; dann ließ es ihn im

Stich. Petrus verleugnete seinen Herrn sogar in dessen

Gegenwart. Er hätte seinen Heiland sehen können, wenn

sein Herz sich nicht von Ihm abgewandt hätte. Das

Wort einer Magd genügte, um sihn zu dem Ausruf zu

bringen: „Weib, ich kenne Ihn nicht!" Er war gewarnt

worden; aber der Herr erlaubte nicht, daß er in jenem

Augenblick durch göttliche Macht bewahrt wurde, weil er

nötig hatte, durch Erfahrung zu lernen, was in ihm war.

Mit welcher Sorgfalt und Liebe aber wachte Jesus andrerseits

über Seinen armen Jünger! Seine Gnade kam ihm

entgegen und trug Sorge für ihn während der ganzen

Versuchung.

Das Erste, was Jesus ihm sagt, ist, daß Er für

ihn gebetet habe. Es führte also nicht etwa die Buße

Petri die Fürbitte des Herrn herbei, sondern umgekehrt

brachte die Fürbitte Jesu die Buße bei Petrus hervor.

„Ich habe für dich gebetet"; und später lesen wir: „Der

Herr wandte sich um und blickte Petrus an".

(B. 61.) Auch Judas verleugnete den Herrn, und als

Sein Gewissen erwachte, tötete er sich. Sobald das Verbrechen

begangen war, verließ ihn alles Vertrauen, und

203

er ging hin und erhängte sich. Bei Petrus aber bewirkte

die Fürbitte Jesu die Bewahrung des Glaubens in der

Tiefe seines Herzens, so daß er, als Jesus ihn anblickte,

zusammenbrach. Erstens also hatte der Herr für Petrus

gebetet, und zweitens hatte Er stets seiner gedacht, und

sobald der Hahn krähte, wandte Er sich um und blickte

ihn an; und dann ging Petrus hinaus und weinte

bitterlich.

Das ist die Art und Weise, wie der Herr mit uns

handelt. Er betet für uns und erlaubt dann, daß wir

in die Versuchung kommen. Aber ob Er uns auch leitet,

wenn wir in der Versuchung sind, so fordert Er uns doch

auf, zu beten, daß wir nicht hineinkommen; und Gott

erlaubt alles dieses, weil Er das Ende davon sieht. Wäre

Petrus sich seiner Schwachheit bewußt gewesen, so würde

er es nicht gewagt haben, sich vor dem Hohenpriester zu

zeigen. Die Prüfung war die naturgemäße Folge dessen,

was er im Fleische war; aber es war Gottes Vorsatz, ihn

zu benutzen und ihm selbst einen hervorragenden Platz in

Seinem Werke zu geben. Die Ursache seines Falles war

Selbstvertrauen; das Fleisch war da und war wirksam.

Gott machte alles Wohl für Petrus, und dieser erkannte,

wie groß die Macht der Sichtung Satans war.

Die übrigen Jünger besaßen nicht dieselbe fleischliche Kraft

und flohen deshalb sofort. Sie hatten nicht so viel Vertrauen

wie Petrus; aber Gott ließ ihn mit Satan streiten,

und Jesus betete für ihn, trotz seines tiefen Falles, damit

sein Glaube nicht aufhöre. Sobald Petrus den Fall gethan

hatte, wandte sich das Auge Jesu auf ihn. Dieser Blick

gab ihm keinen Frieden, sondern verursachte Beschämung

des Angesichts und Zerknirschung. Petrus weinte bitterlich.

204

Er ging hinaus, und alles war vorüber. Er hatte gelernt,

was er war. Der Fall war gethan, die Sünde war geschehen

und konnte nie wieder ungeschehen gemacht werden.

Sie mochte vergeben werden; aber sie auslöschen, als nie

geschehen, war unmöglich. Petrus hat sicherlich nie wieder

vergessen können, daß er den Herrn verleugnet hatte; aber

Jesus benutzte seinen Fall, um ihn von seiner Anmaßung

und Überhebung zu heilen.

Gerade so ist es mit uns. Wir begehen oft, aus

zu großem Vertrauen auf das Fleisch, Fehler, die nicht

Wieder zu heilen sind. Aber wenn nun keine Möglichkeit

vorliegt, unsre Fehler wieder gut zu machen, was muß

dann geschehen? Die einzige Zuflucht ist, sich auf die

Gnade Gottes zu werfen. Wenn das Fleisch zu stark ist,

erlaubt Gott oft, daß wir fallen, weil wir nicht in jenem

gesegneten Stande der Abhängigkeit sind, welcher uns vor

dem Fall bewahren würde. Wenn Gott das Herz in

dieser Weise Prüft, überläßt Er es zuweilen den Händen

Satans; niemals aber überläßt Er das Gewissen Seiner

Kinder den Händen des Feindes. Das Gewissen des

unglücklichen Judas war in den Händen Satans, und deshalb

geriet er in Verzweiflung. Das Herz Petri war

für eine Zeit in seinen Händen, niemals aber sein Gewissen;

und darum, anstatt zu verzweifeln, wie Judas,

hatte die Liebe Jesu, die sich in jenem Blick ausdrückte,

Gewalt, sein Herz zu rühren.

Sobald die Gnade in dem Herzen wirkt, erwacht das

Bewußtsein von der Sünde, die geschehen ist; aber zu

gleicher Zeit erreicht die Liebe Christi das Gewissen und

vertieft dieses Bewußtsein. Und weshalb und in welchem

Maße wird dieses Bewußtsein von der Sünde vertieft?

205

Weil, und in demselben Maße wie, das Bewußtsein von

der Liebe Christi ties ist.

Die Vergebung, welche Petrus zu teil wurde, war

vollkommen. Aber nicht nur wurde ihm Vergebung zu

teil, sondern sein Gewissen war auch in den Händen des

Herrn, als der Heilige Geist ihm die Fülle des Herzens

Jesu offenbarte. Sein Gewissen wurde so völlig gereinigt,

daß er hernach die Juden gerade jener Sünde beschuldigen

konnte, die er selbst unter den ernstesten Umständen begangen

hatte. „Ihr habt den Heiligen und Gerechten

verleugnet", so lautet seine Anklage wider

sie. (Apstgsch. 3, 14.) Das Blut Christi hatte sein Gewissen

vollkommen gereinigt. Aber wenn es sich um ihn

und seine Kraft in dem Fleische handelte, so hat er seine

Sünde nie wieder vergessen; von sich selbst konnte er

nichts anderes sagen als: Ich habe den Herrn verleugnet;

und, wäre es nicht aus Grund Seiner reinen, unvermischten

Gnade, so wäre ich nicht imstande, meinen Mund zu öffnen.

Jesus warf Seinem Jünger in den Unterredungen,

die Er später mit ihm hatte, niemals seine Sünde vor.

Wir hören nicht die Frage: Warum hast du mich verleugnet?

Oder: Wie war es nur möglich, daß du so

handeln konntest? Nein; Er erinnert ihn nicht einmal an

seinen schweren Fall. Er handelt im Gegenteil nach jenem

kostbaren Ausdruck der Liebe: „Ihrer Sünden und ihrer

Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken". Jesus

hatte gleichsam alles vergessen. Aber eine Sache gab

es, die Er Petrus zeigen mußte, und das war die Wurzel

seiner Sünde, der Punkt, wo er gefehlt hatte. Satans

Versuchung, verbunden mit seinem Mangel an Liebe, war

die Ursache seines Falles gewesen und hatte sein Vertrauen

206

zerstört. Jetzt aber, nachdem sein Gewissen aufgewacht

war, war es notwendig, daß ein geistliches Verständnis in

ihm wachgerufen wurde. Petrus hatte sich gerühmt,

Jesum mehr zu lieben als alle die übrigen Jünger; und

Petrus war tiefer gefallen als sie alle.

So sagt denn der Herr zu ihm: „Simon, Sohn

Jonas', liebst du mich mehr als diese?" Wo ist jetzt das

Selbstvertrauen Petri? Jesus fragt dreimal: „Liebst du

mich?" aber Er erinnert Seinen Jünger nicht an das,

was geschehen war. Petrus antwortet: „Ja, Herr, du

weißt, daß ich dich lieb habe". Er beruft sich auf Jesum

selbst und auf Seine göttliche Kenntnis: „Herr, du weißt

alles; du erkennst, daß ich dich lieb habe." So also

handelte Jesus mit Seinem Jünger; das that Er für

Petrus, und zwar nach seinem Falle. Er hatte ihm diesen

Fall vorhergesagt, und jetzt fragt Er ihn: „Liebst du mich

mehr als diese?" Petrus kann nichts sagen, ausgenommen

daß er seine Schwachheit kennen gelernt und daß er Jesum

weniger geliebt habe als die andern Jünger. Das Verhältnis

zwischen Jesu und Petrus ist ausschließlich ein

Verhältnis der Gnade. Petrus hatte keine andere Zuflucht

mehr, als auf Jesum zu vertrauen; alles Selbstvertrauen

war zerstört, und nun konnte er ein Zeuge für seinen

Herrn sein. Er hatte die Kraft eines Blickes Jesu an

sich erfahren.

Es ist, als ob Petrus sagen wollte: Ich setze mein

Vertrauen auf dich, Herr; du weißt, wie ich dich verleugnet

habe. Thue mit mir, was dir gut dünkt. Und Jesus

hatte bereits dafür gesorgt, daß Satan dem Herzen Seines

Knechtes das Vertrauen nicht rauben konnte, indem Er

ihm gesagt hatte: „Bist du einst zurückgekehrt, so stärke

207

deine Brüder". Was machte ihn dazu fähig, seine Brüder

zu stärken? Seine Verleugnung des Herrn hatte ihn so

eindringlich darüber belehrt, was das Fleisch war, daß er nicht

mehr daran dachte, sich zu irgend etwas zu verpflichten;

er wußte, daß er nichts anderes zu thun hatte, als auf

Gott zu vertrauen. Wie groß auch seine eigne Unfähigkeit,

Satan zu widerstehen, sein mochte, er konnte sich

auf die Gnade Dessen berufen, der alles weiß. Die Erkenntnis,

daß er auf Jesum vertrauen konnte, war es, was

ihn stark machte; und erst nachdem der Herr Seinen

Jünger an die völlige Unfähigkeit des Fleisches erinnert

hatte, vertraute Er ihm Seine Schafe an: „Weide meine

Lämmlein!" Und auch erst dann war Petrus fähig,

seine Brüder zu stärken.

Das Fleisch setzt immer ein gewisses Vertrauen auf

das Fleisch, und in diese Thorheit verfallen auch wir oft.

Es wird dann notwendig für uns, durch den Kampf mit

Satan uns selbst kennen zu lernen. Ein jeder Christ

hat durch die Umstände, in welche er versetzt ist, zu lernen,

was er ist. Gott läßt es zu, daß wir darin von Satan

gesichtet werden, damit wir unsre Herzen kennen lernen.

Besäßen wir Demut und Treue genug, um zu sagen:

„Ich kann nichts thun ohne dich, Herr", so würde Gott uns

diese traurige Erfahrung unsrer Schwachheit nicht machen

zu lassen brauchen. Wenn wir wirklich schwach sind, hat

Gott nicht nötig, uns einen Augenblick uns selbst zu überlassen;

wenn wir uns aber unsrer Schwachheiten nicht

bewußt sind, so müssen wir sie auf dem Wege schmerzlicher

Erfahrung kennen lernen. Wandelt ein Christ nicht in

dem steten Gefühl seiner Schwachheit, so läßt Gott ihn

in der Gegenwart des Feindes, damit er sie dort kennen

208

lerne. Gerade dann macht er auch Fehler, welche oft

unheilbar sind; und das ist das Schmerzlichste von allem.

Jakob hinkte sein ganzes Leben lang. Warum das?

Weil er einundzwanzig Jahre lang in moralischem Sinne

gehinkt hatte. Er rang mit aller Macht an der Furt des

Jabbok (1. Mose 32); doch muß er sich bewußt gewesen

sein, welch ein schwaches Geschöpf er im Fleische war,

obwohl Gott nicht zuließ, daß er mit Esau kämpfen

mußte. Er überließ ihn nicht dem Hasse seines Bruders,

sondern gab ihm so viel Glauben, daß er durch die

Schwierigkeit hindurchkam; und Jakob konnte am Ende

seines Lebens sagen: „Der Gott, der mich geweidet hat,

seitdem ich bin bis auf diesen Tag, der Engel, der mich

erlöst hat von allem Übel u. s. w." (1. Mose 48, 15. 16.)

Wir dürfen niemals überrascht sein, wenn der Herr

uns in einer Schwierigkeit läßt. Er thut es, weil es

irgend etwas in uns giebt, was gebrochen werden muß,

und weil es nötig ist, daß wir ein Gefühl darüber bekommen.

Aber hinter allem steht die Gnade. Christus

ist lauter Gnade, und wenn Er uns auch zuweilen uns

selbst zu überlassen scheint, damit wir unsre Schwachheit

kennen lernen, so ist Er doch Gnade, vollkommene Gnade

gegen uns. Nicht als Petrus seinen Blick Jesu zuwandte,

zeigte sich ihm der Herr, (wenn es sich um den Genuß

der Gemeinschaft handelt, so ist es allerdings so,) sondern

schon vor seinem Falle hatte Jesus gesagt: „Ich

habe für dich gebetet". Die Gnade kommt uns stets zuvor.

Jesus sieht, was Satan begehrt, und Er überläßt

uns diesem Begehren, aber Er trägt Sorge, daß wir bewahrt

bleiben. Nicht als Petrus auf Jesum blickte, sondern

als dieser Petrus ansah, ging der letztere hinaus und

209

weinte bitterlich. Die Liebe Christi begleitet uns allezeit,

kommt uns zuvor in unsern Schwierigkeiten und bringt

uns durch alle Hindernisse hindurch. Während Er uns

den Händen Satans überläßt, damit wir durch Erfahrung

lernen, was wir sind, ist Er uns allezeit nahe und weiß

uns vor den Listen Satans zu beschützen. Welch eine

vollkommene Güte und Gnade! Unser teurer Herr liebt

uns nicht nur, wenn unsre Herzen Ihm zugewandt sind,

sondern Er paßt sich jedem Fehler in unserm Charakter

an, damit wir völlig und überströmend gesegnet werden

möchten gemäß der Ratschlüsse Gottes.

Alles das sollte uns lehren, uns unter die mächtige

Hand Gottes zu demütigen, damit Er uns erhöhe zu

seiner Zeit. Wenn ich mich nach einem Falle niedergebeugt

und schmerzlich bewegt fühle bei dem Gedanken an

mich selbst, so sollte ich nicht sofort Trost zu finden suchen,

so natürlich das auch erscheinen mag, sondern zu allererst

Christum. Ich habe die Unterweisung zu lernen, welche

Gott für mich vorgesehen hat. Und wenn du, mein Leser,

inmitten schmerzlicher Umstände sagst, du könnest die Belehrung

Gottes nicht verstehen, so weiß Gott, worin sie

besteht, und Er läßt deine Sichtung zu, damit du auf

diesem Wege zu einer tieferen Erkenntnis Seiner und deiner

selbst kommen mögest. Er wünscht dir alles das zu zeigen,

was Er in dir gesehen hat, so daß du nicht vor einer

solchen Sichtung zurückschrecken, sondern lieber suchen solltest,

dir die kostbare Belehrung zu eigen zu machen, welche

der Herr dir durch dieselbe darbietet. Thun wir das,

so werden wir eine viel tiefere Erkenntnis von dem

erlangen, was Er für uns ist.

Wir müssen lernen, uns Seiner mächtigen Hand zu

210

überlassen, bis Er uns erhöht. Möge Gott uns geben,

Ihn allein zu kennen! Wenn wir nur zu lernen hätten,

was wir sind, so würden wir zusammenbrechen und völlig

verzagen müssen'; aber Gott läßt uns erfahren, was wir

sind und was Seine Gnade ist, um uns zu einem herrlichen,

ersehnten Endziel zu führen. Wir können darum sagen:

„Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage

meines Lebens; und ich werde wohnen im Hause Jehovas

auf Länge der Tage." (Pf. 23, 6.)

„Wenn du umkehrst, so will ich dich

zurückbringen."

(Jer. 15, 19.)

Die Zeit, in welcher Jeremia von Jehova in Seinen

Dienst berufen wurde, war eine äußerst schwierige. Der

Verfall des Volkes Gottes war aufs Höchste gestiegen,

und keine Aussicht auf Heilung mehr vorhanden. Es bedurfte

daher zur Ausführung des ihm gewordenen Auftrags

einer besonderen Treue, Hingabe und Energie, sowie

einer besonderen Ausrüstung von feiten des Herrn. Denn

voraussichtlich standen schwere Leiden und Prüfungen für

den Propheten zu erwarten, die umso fühlbarer für ihn

sein mußten, weil er sein Volk von ganzem Herzen liebte.

Im Gefühl der Schwere der ihm gestellten Aufgabe versuchte

er deshalb Einwendungen zu machen. „Ach, Herr,

Jehova!" sagte er, „siehe, ich weiß nicht zu reden, denn

ich bin jung." (Jer. 1, 6.) Aber gerade dieser Umstand,

daß er seine Unfähigkeit fühlte und frei von Selbstvertrauen

war, ließ ihn in den Augen des Herrn als das

passende Werkzeug für diese Aufgabe erscheinen. Er war

211

ein Gefäß, in welchem Er Seine Kraft offenbaren konnte.

„Da sprach Jehova zu mir: Sage nicht: Ich bin jung;

denn zu allen, wohin ich dich senden werde, sollst du gehen,

und alles was ich dir gebieten werde, sollst du reden.

Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir,

um dich zu erretten, spricht Jehova. Und Jehova streckte

Seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und Jehova

sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in

deinen Mund. Siehe, ich bestelle dich an diesem Tage

über die Nationen und über die Königreiche, um auszurotten

und niederzureißen und zu zerstören und abzubrechen,

um zu bauen und um zu Pflanzen." (V. 7—10.)

So empfing denn Jeremia seine Kraft und Fähigkeit unmittelbar

vom Herrn selbst, und zwar gerade wie sie der

ihm gestellten Aufgabe angemessen waren. Auf die Art

der Aufgabe kam es jetzt nicht mehr an; er hatte nur in

der Kraft Jehovas die Worte zu reden, die dieser in seinen

Mund legte. Ob dieselben gegen einzelne Personen oder

gegen ganze Völker und Königreiche gerichtet waren, ob

sie diesen gefielen oder mißfielen, ob man ihn dafür liebte

oder haßte und verfolgte, das kam nicht in Betracht. Er

bedurfte nur der Einfalt, der Treue und Hingebung gegen

den Herrn, der ihm verheißen hatte, für ihn einzustehen

und ihn zu erretten, mochte kommen was da wollte. Ihm

konnte er getrost alles überlassen.

Wie gnädig und herablassend kam der Herr Seinem

schwachen Diener zu Hilfe! Wie gern reicht Er den

Seinigen dar, was sie selbst in den schwersten Zeiten bedürfen,

wenn sie nur treu und einfältig an Ihm hangen,

frei von eingebildeter Kraft und thörichtem Selbstvertrauen!

„Siehe, die Hand Jehovas ist nicht zu kurz,

212

um zu retten, und Sein Ohr nicht zu schwer, um zu hören".

(Jes. 59, 1.) Er will für alles aufkommen, ist an nichts

gebunden und in nichts beschränkt; für Ihn giebt es weder

Hindernisse noch Schwierigkeiten. Alles was Er von uns

verlangt, ist Treue und Entschiedenheit.

Sicher waren die Zeiten und der Zustand des Volkes

Gottes böse in den Tagen Jeremias; aber für diesen galt

das Wort: „Du aber gürte deine Lenden". (Kap. 1, 17.)

Er hatte nur über sich selbst zu Wachen und die Neigungen

seines Herzens getrennt zu halten von dem Geiste, welcher

das abtrünnige Volk beseelte. Wir können unmöglich

gegen das Böse um uns her ein nachdrückliches Zeugnis

ablegen, wenn unsre eignen Herzen nicht frei davon sind,

wenn wir insgeheim die Dinge lieben und Pflegen, welche

das Wort Gottes verurteilt. Unsre Treue besteht zunächst

darin, daß wir bei uns selbst das Böse, jeden unlautern

Gedanken, verurteilen und in beständigem Selbstgericht

wandeln. So sagt auch Paulus, der treue Diener des

Herrn: „Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in

allem; jene freilich, auf daß sie eine vergängliche Krone

empfangen, wir aber eine unvergängliche. Ich laufe daher

also, nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe also, nicht wie

einer, der die Luft schlägt; sondern ich zerschlage

meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft,

auf daß ich nicht, nachdem ich Andern gepredigt, selbst

verwerflich werde." (1. Kor. 9, 25—27.)

Indes hatte Jeremia noch über eine andere Sache

zu Wachen. Die menschliche Natur ist nicht nur böse,

sondern auch verzagt und läßt sich leicht einschüchtern.

Darum ruft der Herr ihm zu: „Verzage nicht vor ihnen,

damit ich dich nicht vor ihnen verzagt mache". (Vers 17.)

213

Wir müssen unsre zaghafte Natur ebenso entschieden verurteilen,

wie alles Böse in uns; denn auch die Menschenfurcht

ist ein Hindernis im Dienste des Herrn. Sie

verrät, daß wir den Menschen mehr fürchten als den Herrn,

vor dem doch „Nationen geachtet sind wie ein Tropfen

am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Wagschale".

(Jes. 40, 15.) Wir können aber nicht auf die Dazwischenkunft

des Herrn zu unsern Gunsten rechnen, wenn wir

Ihm nicht den ersten Platz in unsern Herzen einräumen

und Ihm nicht unser ganzes Vertrauen schenken. Er muß

uns alsdann verzagt machen und beschämt werden lassen

vor den Menschen; denn es steht geschrieben: „Ich bin

Jehova, das ist mein Name; und meine Ehre gebe ich

keinem andern, noch meinen Ruhm den geschnitzten Bildern".

(Jes. 42, 8.) Er macht uns verzagt, wenn wir auf

Menschen blicken, wer sie auch sein mögen; ruht unser

Auge aber auf Ihm, auf Ihm allein, so macht Er uns

fest und stark. „Und ich, siehe, ich mache dich heute zu

einer festen Stadt und zu einer eisernen Säule und zu

einer ehernen Mauer wider das ganze Land, sowohl

wider die Könige von Juda als auch dessen Fürsten,

dessen Priester und das Volk des Landes. Und sie werden

gegen dich streiten, aber dich nicht überwältigen; denn ich

bin mit dir, spricht Jehova, um dich zu erretten." (Vers

18. 19.)

Dies war also die feste, sichere und unerschütterliche

Stellung Jeremias, so lange er einfältig und treu an dem

Herrn hing, das Böse bei sich selbst verurteilte und in allem

nur die Ehre Seines Herrn suchte. Mochte er auch den

Angriffen eines ganzen Landes, seiner Könige und Fürsten

ausgesetzt sein; mochte das ganze Volk gegen ihn streiten

214

nnd ihn zu verderben suchen — er war uneinnehmbar gleich

einer festen Stadt, fest wie eine eiserne Säule und eherne

Mauer. Und nicht nur das, er genoß auch etwas, das

sein Herz mit Freude erfüllte: die Worte Jehovas und

die Gemeinschaft mit Ihm. „Deine Worte waren vorhanden,

und ich habe sie gegessen, und deine Worte waren mir

zur Wonne und zur Freude meines Herzens; denn ich bin

nach deinem Namen genannt, Jehova, Gott der Heerscharen."

(Kap. 15, 16.) Was kümmerten ihn die Flüche, Verwünschungen

und Lästerungen seiner Widersacher, wenn er

die Worte Jehovas vernahm? Worte, die jenen ein

Schrecken waren, weil sie sich nicht darunter beugen wollten,

die ihm aber zur Nahrung dienten; er hatte sie gegessen, und

die Wirkung war Wonne und Freude für sein Herz gewesen.

Er wußte sich im Einklang mit dem Worte Gottes, und er

genoß die Anerkennung Gottes, was ihm nicht nur die

Leiden um seines Zeugnisses willen versüßte, sondern ihm

auch mehr galt als die Anerkennung von Königen und Fürsten.

Gerade so ist es heute. Wir leben auch in einer

Zeit allgemeinen Verfalls. Aber das Wort Gottes ist die

Stütze des Treuen. Es zeigt ihm in klarer und unzweideutiger

Weise den wohlgefälligen Willen Gottes betreffs

des Weges, der ihn sicher und wohlbehalten durch das

Labyrinth menschlicher Meinungsverschiedenheiten führt,

vorbei au den zahllosen Ab- und Irrwegen menschlicher

Betrügereien. Es ist sein Leuchtturm in finstrer Nacht

auf sturmbewegtem Meere, dessen Licht der Herr selbst angezündet

hat, ja dessen Licht nimmer erlischt. Wohl haben

die Menschen es auszulöschen versucht, aber Jahrhunderte

und Jahrtausende hindurch sind ihre Anstrengungen erfolglos

geblieben. „Deine Worte waren vorhanden",

215

konnte Jeremias sagen; und wir können es ihm heute

noch zum Preise Gottes nachsprechen. Und indem wir

uns von diesen Worten nähren und uns betreffs unsers

Verhaltens im Einklang mit ihnen wissen, erfreuen wir

uns der Anerkennung und Billigung Gottes, des Vaters

und des Sohnes. „Wenn jemand mich liebt", sagt der

Herr, „so wird er mein Wort halten, und mein Vater

wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und

Wohnung bei ihm machen". (Joh. 14, 23.)

„Denn ich bin nach deinem Namen genannt, Jehova,

Gott der Heerscharen." Jeremia wußte, daß sich Gott

unter dem Namen „Jehova" mit Seinem irdischen Volke

verbunden hatte, und zwar zu dem Zwecke, es zu befreien

und zu segnen. „Ich bin Jehova. Und ich bin Abraham,

Isaak und Jakob erschienen als Gott, der Allmächtige,

aber mit meinem Namen Jehova bin ich ihnen nicht bekannt

gewesen." Gott, der Allmächtige, der Gott der Heerscharen,

wollte Sein Volk Israel unter dem Namen Jehova aus

Ägypten befreien und sie in das Land Kanaan führen.

„Darum sprich zu den Kindern Israel: Ich bin Jehova,

und ich werde euch herausführen unter den Lastarbeiten

der Ägypter hinweg . . . und ich werde euch bringen in

das Land, welches dem Abraham, Isaak und Jakob zu

geben ich meine Hand erhoben habe, und werde es euch

zum Besitztum geben, ich, Jehova." (2. Mose 6, 2—8.) An

diesen Namen „Jehova" knüpfte sich für Jeremia die Erinnerung

an die freie, bedingungslose Gnade, in welcher Gott

Sein irdisches Volk mit sich verbunden hatte, und in

welcher Er Seine Macht zu dessen Gunsten verwenden

wollte. Wie traurig auch der augenblickliche Zustand Israels

sein mochte, Jeremia erfreute sich für seine Person der

216

Süßigkeit der in diesem Namen ausgedrückten Gnade und

Gunst des Herrn: „Ich bin nach deinem Namen genannt,

Jehova, Gott der Heerscharen".

Für uns ist es der Name Jesu, in welchem sich

Gott in all Seiner Gnade und Liebe geoffenbart hat, an

welchen sich alle unsere Segnungen knüpfen. In ihm

besitzen wir die Erlösung und die Bürgschaft der ewigen

Herrlichkeit. Unser ganzes Heil, die Gunst Gottes, des

Vaters, der offene Zugang in Seine unmittelbare Gegenwart,

alles das ist uns in diesem Namen gesichert und

verbürgt, was auch der gegenwärtige Zustand der Kirche

sein mag. In diesem Namen findet der Glaube die vollkommene

Befriedigung seines Herzens auf seinem Wege

durch die Wüste, wo weder Brot noch Quelle ist. Und

wie Jeremia seiner Zeit in den Worten und dem Namen

Jehovas einen reichen Ersatz fand für die Leiden und

Drangsale, welche ihm aus der allgemeinen Untreue des

Volkes erwuchsen, so und noch weit mehr findet der Glaube

heute in dem Worte Gottes und dem Namen Jesu alles

was er bedarf, um in der Zeit der überhandnehmenden

Untreue unsrer Tage stark und widerstandsfähig zu sein.

Wie damals der Herr eines Zeugen bedurfte, der gleich

einer ehernen Mauer dem Anprall des überhandnehmenden

Verderbens stand hielt, so bedarf Er auch heute, wo der

Strom des Verderbens alles überflutet, und die Tage des

Abfalls vor der Thüre stehen, nicht minder treuer Zeugen.

Er kann keinen gebrauchen, der wie die Meereswoge vom

Winde bewegt und hin und her getrieben wird (Jak. 1, 6. 8);

keinen, der sich der öffentlichen Meinung, oder doch wenigstens

der großen Mehrheit anzupassen sucht; keinen, dem die Autorität

der Heiligen Schrift nnd der Name Jesu nicht über

217

alles geht; keinen, der sich mit einer bloßen Erkenntnis

gewisser Wahrheiten begnügt, während sein Herz sich nicht

nährt von dem Worte Gottes und sich nicht erfreut an

der kostbaren Person des Herrn Jesu.

Aber selbst wenn wir mit Herzensentschluß bei dem

Herrn zu verharren und Ihm allein zu folgen begehren,

bedürfen wir doch der beständigen Wachsamkeit über uns selbst,

damit wir stets unsre Lenden umgürtet halten. Denn

infolge des uns umgebenden Zeitgeistes und der Schwachheit

unsrer menschlichen Natur siud wir stets in Gefahr,

aus unsrer Festigkeit zu fallen. (2. Petr. 3, 17.) Selbst

ein Jeremia wurde durch den anhaltenden Widerstand von

außen und durch seine natürlichen Gefühle überwältigt und

ließ sich mit Betrachtungen über feine schwierige Lage ein.

„Wehe mir, meine Mutter", ruft er aus, „daß du mich

geboren hast, einen Mann des Haders und einen Mann

des Zankes für das ganze Land! Ich habe nicht ausgeliehen,

und man hat mir nicht geliehen; alle fluchen mir."

(Kap. 15, 10.) Seine Festigkeit schien für einen Augenblick

zu wanken, und die Freude, mit welcher er einst die Worte

Jehovas gegessen hatte, war einer großen Niedergeschlagenheit

gewichen. Selbst sein Vertrauen auf die unerschöpflichen

Hilfsquellen Jehovas schien erschüttert zu sein:

„Willst du mir wirklich wie ein trügerischer Bach sein,

wie Wasser, die versiegen?" Ach, das ist der Mensch!

Selbst der Stärkste kann ermatten und fehlen. Gideon,

David, Elias, Johannes der Täufer, Paulus rc. rc., sie alle

hatten ihre Stunden des Kleinglaubens und der Verzagtheit.

Diese Erde hat nur einen vollkommnen Menschen gesehen,

der nie gewankt und nie gefehlt hat, und dieser Eine ist

unser anbetungswürdiger Herr und Heiland.

218

Doch welche Antwort wurde dem klagenden und völlig

mutlos gewordenen Propheten zu teil? Hören wir, was

Gott ihm sagt, und möchte es tief in unsre Herzen dringen:

„Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbringen, daß

du vor mir stehest; und wenn du das Köstliche vom Gemeinen

ausscheidest, so sollst du wie mein Mund sein.

Jene sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen

umkehren." (Kap. 15, 19.) Der Leser möchte sich versucht

fühlen zu fragen: War denn Jeremia schon zu den

Widersachern Jehovas übergegangen, daß er zur Umkehr

aufgefordert werden mußte? Nein; aber sein Herz hatte

sich vom Herrn entfernt, war nicht mehr fest und entschieden;

er hatte angefangen zu überlegen und sich mit dem Sichtbaren

zu beschäftigen, und so war er verzagt geworden.

Das war der erste Schritt aus unheilvoller Bahn, und

wollte er wieder in seine frühere Stellung der Kraft und

Freude eintreten, so mußte er umkehren, ohne Zaudern

und mit aller Entschiedenheit. „Wenn du umkehrst, so

will ich dich zurückbringen, daß du vor mir stehest."

Haben wir nicht Ursache, geliebte Brüder, uns mit

allem Ernst zu fragen, ob wir uns nicht auch in der einen

oder andern Weise vom Herrn entfernt haben? Vielleicht

nicht so, daß es allen offenkundig geworden ist; aber unsern

Herzen nach? Stehen diese noch in der ersten Liebe

zu Ihm? Ist das Wort Gottes wirklich unsre tägliche

Nahrung und ein Genuß für unsre Herzen? Stehen wir

noch so entschieden getrennt von dieser Welt und in der

lebendigen Erwartung des Herrn, wie ehedem? Ist unser

Leben in Wort und Werk ein entschiedenes Zeugnis gegen

das Verderben um uns her? Oder geben wir uns menschlichen

Berechnungen und Überlegungen hin, indem wir zag-

219

haft und mutlos auf die Umstände und die Verwirrung in unfern

Tagen Hinblicken? Ist dies der Fall, so haben wir schon

den ersten Schritt auf dem Wege gethan, der uns immer

weiter von dem Herrn und aus der Stellung der Kraft

und Festigkeit, des frohen Mutes und der Freude entfernt.

Und wir haben nötig, uns allen Ernstes die Warnung

ins Gedächtnis zu rufen: „Verzage nicht vor ihnen, damit

ich dich nicht vor ihnen verzagt mache". Es ist

alsdann ein ernstes Sichaufraffen und ein aufrichtiges Selbstgericht

erforderlich. Denn wenn der Herr nicht mehr den

ersten Platz in unsern Herzen hat, so gilt uns dasselbe

Wort, wie einst der Kirche, als sie ihre erste Liebe verlassen

hatte: „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und

thue Buße und thue die ersten Werke". (Offbg. 2, 5.)

Der Herr sieht das Herz an, und Er will es nicht halb,

sondern ganz haben. Aber Er ist auch bereit, zu vergeben

und wiederherzustellen. Kehren wir mit Aufrichtigkeit zu Ihm

um, so dürfen wir darauf rechnen, daß E r uns zu unsrer

früheren Kraft und Freude zurückführt, nach Seiner zuverlässigen

Verheißung: „so will ich dich zurückbringen". Man

meint oft, durch Nachgiebigkeit Andere von dem Irrtum ihres

Weges zurückführen zu können, indem man sich ihren Anschauungen

etwas anzupassen sucht und ihnen zu Liebe

etwas von der Wahrheit aufgiebt. Aber das ist nicht die

göttliche Weise, und in Wirklichkeit wird nur das Gegenteil

dadurch erreicht. Anstatt jene zurückzuführen, bestärkt

man sie nur noch in ihrem verkehrten Wege und wird

vielleicht schließlich selbst mit fortgerissen. Stehen wir

aber treu und unentwegt zum Herrn und zu Seinem

Worte, so wird Er uns gebrauchen zum Wohle Anderer;

wir können diesen dann zum Segen und Wegweiser dienen.

220

„Wenn du das Köstliche vom Gemeinen ausscheidest, so-

sollst du wie mein Mund sein. Jene sollen zu dir

umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen umkehren."

„Wenn sich jemand reinigt von den Gefäßen

der Unehre, der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt

und nützlich dem Hakus Herrn, zu allem guten Werke

bereitet." (2. Tim. 2, 21.)

Erst nachdem Jeremia von seinem zaghaften Herzenszustand

genesen und zn seiner früheren Entschiedenheit zurückgekehrt

war, führte der Herr ihn in seine frühere Stellung

der Kraft zurück. „Und ich werde dich diesem Volke zu einen

festen ehernen Mauer machen, und sie werden wider dich streiten,

aber dich nicht überwältigen. Denn ich bin mit dir, nm

dich zu retten und dich zu befreien, spricht Jehova. Und

ich werde dich befreien aus der Hand der Bösen und dich

erlösen aus der Faust der Gewältthätigen." (Vers 20. 21Z

Wie gnädig ist der Herr und wie bereitwillig, den

Ermatteten zu stärken und wieder aufzurichten, wenn dieser

sich Ihm nur aufrichtig und einfältig übergiebt! Mochten

wir dies stets thun und Ihm im Blick auf alles vertrauen!

Wir dürfen dann zuversichtlich auf Seine Hilfe rechnen

bis zum Ende hin. — „Siehe, ich bin bei euch alle Tage,

bis zur Vollendung des Zeitalters." (Matth. 28, 20.)

Erklärung.

Auf den Aufsatz in Nr. 5 des „Botschafter" —

„Die Stimme der Fremden" — ist eine Erwiderung erschienen

und vielen Lesern unsers Blattes zugesandt worden.

Wir beabsichtigen nicht daraus zu antworten, wie es überhaupt

nicht unser Zweck war, mit unsern Brüdern zn

221

streiten, sondern nur vor den bösen Lehren, *) welche der

Feind in unsre Mitte einzuführen trachtet, zu Warnen.

Nachdem dies geschehen ist, könnten wir füglich schweigen

und alles Weitere Dem überlassen, der recht richtet, wenn

nicht in genannter Erwiderung bezüglich mehrerer, vorgeblich

von uns festgehaltener Lehren Behauptungen

aufgestellt wären, welche jeglicher Begründung entbehren.

Da nun ein Schweigen hierüber als eine Anerkennung

jener Behauptungen aufgefaßt werden könnte, so fühlen

wir uns verpflichtet, noch ein kurzes Wort zu sagen.

*) Von solchen Lehren haben wir gesagt, daß sie vom Satan

inspiriert (eingeblasen) würden. Haben wir damit zuviel gesagt?

Wenn eine Lehre wirklich böse ist, woher stammt sie dann? Aus

der Wahrheit oder aus der Lüge? Ohne Zweifel aus der Lüge.

Und wenn sie aus der Lüge ist, wer ist der Vater der Lüge?

Es wird uns vorgeworfen, daß wir die Worte in

Joh. 1, 14: „Das Wort ward Fleisch" umdrehten und

sagten: „Das Fleisch war das Wort", und ferner, daß

wir damit sagten, das Wort sei zu Fleisch geworden.

Wir erklären hiermit, daß wir nie daran gedacht

haben, so etwas zu thun; denn zu sagen: „Das Wort

ward zu Fleisch" oder gar: „Das Fleisch war das

Wort", wäre nicht nur eine Verdrehung des Wortes

Gottes, sondern geradezu eine Gotteslästerung. Die

Schrift sagt einfach: „Das Wort ward Fleisch". Das

glauben wir, ohne daran zu deuteln oder darüber zu

vernünfteln; auch ohne den Versuch zu machen, es erklären

und verstehen zu wollen. Denn es ist nicht zu erklären

und zu verstehen; es ist einfach ein Gegenstand des

Glaubens. Es ist das wunderbare Geheimnis der

Gottseligkeit: „Gott ist geoffenbart worden im Fleische".

222

Es ist auch nicht etwa eine Weissagung (wie es in

jener Schrift heißt), deren Sinn erst durch andere Stellen

der Schrift ausgelegt und verstanden werden könnte, sondern

die einfache Mitteilung eines Vorgangs, einer geschichtlichen

Thatsache.

Nachdem Johannes uns im Anfang des 1. Kapitels

Seines Evangeliums mitgeteilt hat, was Christus von

Ewigkeit her war, sagt er uns im 14. Verse, was Er

geworden ist. „Das Wort ward Fleisch und wohnte

unter uns." Gerade so lesen wir in Hebr. 2, 14: „Weil

nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, so hat

auch Er gleicherweise an denselben teilgenommmen".

Er ist Mensch geworden, Er hat teilgenommen an Fleisch

und Blut. Er ist Mensch geworden, in dem wahrsten

Sinne des Wortes, nach Leib und Seele; aber Er heißt

selbst in diesem Sinne Gottes Sohn, Er war von

Gott gezeugt. „Du bist mein Sohn; heute habe ich

dich gezeugt." (Hebr. 1, 5.) Die Kraft des Höchsten

war die göttliche Quelle Seines Bestehens als Mensch

auf dieser Erde. Sein Geborenwerden im Fleische geschah

durch die Kraft des Heiligen Geistes. Der Engel

sagt zu Maria: „Der Heilige Seist wird über dich kommen,

und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum

wird auch das Heilige, das geboren werden

wird, Sohn Gottes genannt werden". (Luk. 1, 35.) Er

war also hinsichtlich des Fleisches von Gott geboren, heilig,

der Sohn Gottes. Er wurde, durch göttliche Kraft und

durch die Einwirkung des Heiligen Geistes auf jene Hochbegnadigte

Magd des Herrn, als „das Heilige", als Mensch

geboren. Das ist das wunderbare Geheimnis, und darum

kann niemand den Sohn erkennen als nur der Vater.

223

Weiter heißt es in jener Erwiderung: „Unsre Gegner

machen also das ewige Wort zu Fleisch oder Stoff,

und sie suchen ihre Meinung durch das Speisopfer

(Feinmehl gemengt mit Öl) zu stützen, indem sie sagen,

daß das Mehl die Menschheit, das Öl dagegen die

Gottheit unsers Herrn vorbilde".

Wiederum müssen wir erklären, daß diese Behauptung

durchaus grundlos ist. Wir haben stets geglaubt und

verkündigt, daß die vorbildliche Bedeutung des Speisopfers

die folgende sei: Das feine Weiße Mehl ist das Bild

der reinen, fleckenlosen Menschheit Christi, das Öl das

Bild des Heiligen Geistes. Das Mehl wurde mit dem

Öl gemengt; das will sagen: Die menschliche Natur Christi

war göttlichen Ursprungs, ein Ausfluß des göttlichen Willens;

sie war durch den Heiligen Geist empfangen. Der Wille

des Fleisches hatte nicht das Geringste mit der Geburt

Christi zu thun. Das Heilige, das von Maria geboren

wurde, war Gottes Sohn — ein wirklicher, wahrhaftiger

Mensch, von Maria geboren; aber zugleich ein

Mensch, von Gott geboren. Jesus war Gott und

Mensch in einer Person; persönlich Gott und Persönlich

Mensch. Beide Naturen, Gottheit und Menschheit, waren

in Ihm in unbegreiflicher Weise vereinigt, nicht aber

vermengt oder vermischt. Er war Gott; und Er

wurde Mensch, ohne aufzuhören, Gott zu sein. „Das

Menschliche in Ihm war wirklich menschlich, und das

Göttliche wirklich göttlich." Das ist das wunderbare, un-

erforschliche Geheimnis, die Wahrheit von der Person

des Christus.

Was schließlich den Vorwurf betrifft, daß wir in

dem Vorhänge „die Menschheit und Gottheit

224

Christi" erblickten, so ist es uns nicht bekannt, daß

jemals ein derartiger Ausspruch gethan worden ist. Der

Vorhang in der Stiftshütte war gemacht von Blau und

Purpur und Karmesin, in Kunstweberarbeit, mit Cherubim.

(2. Mose 26, 31.) Der weiße gezwirnte Byssus ist wiederum

ein Bild von der fleckenlosen Reinheit der menschlichen

Natur Christi; er war kunstvoll durchwebt mit Blau und

Purpur und Karmesin, d. h. mit allen göttlichen Gnaden

und himmlischen Tugenden, bestickt mit Cherubim, dem

Bilde richterlicher Gewalt. (Vergl. Joh. 5, 22. 27.) Und

nun sagt die Schrift: „Der Vorhang, das ist Sein

Fleisch". Mehr als das ist unsers Wissens nie gesagt

worden. Aber sollte wirklich einmal von Einzelnen ein

unüberlegter Ausdruck in dieser Beziehung gebraucht worden

sein, so wäre es doch ungerecht, die Gesamtheit dafür

verantwortlich zu machen.

Es würde nicht schwer sein, die Haltlosigkeit noch

mancher anderer, in jener Erwiderung erhobener Beschuldigungen

zu beweisen; wir möchten uns aber nur aus die

obigen Punkte beschränken, umsomehr als jene Beschuldigungen

zum großen Teil einen mehr persönlichen Charakter tragen.

Was wir begehren, ist nicht, unser Recht zu suchen,

sondern die Wahrheit, das was wir von Anfang gehört

haben, festzuhalten in Liebe und Einfalt; und dazu

wolle der Herr dem Schreiber und Leser dieser Zeilen in

Gnaden helfen!

Das Buch Ruth

Kapitel 1.

Die Ereignisse des Buches Ruth spielen sich zwar

innerhalb der traurigen Zustände und Verhältnisse ab,

welche die Herrschaft der Richter kennzeichneten, doch giebt

es zwischen dem Gedankengang dieser Erzählung und dem

der vorhergehenden nichts Gemeinsames. Das Buch der

Richter beschreibt uns den Verfall des seiner Verantwortlichkeit

überlassenen Volkes Israel, einen Verfall, der

trotz der zärtlichen Bemühungen des göttlichen Erbarmens,

welches das Volk wiederherzustellen suchte und ost auch

teilweise wiederherstellte, unheilbar war. Im Gegensatz

zu der Dürre und Unfruchtbarkeit der Wege des untreuen

Menschen im Buche der Richter ist das Buch Ruth voller Frische.

Man findet hier die „Wasserbäche, Quellen und Gewässer",

von denen Mose spricht (5. Mose 8, 7); es weht uns an

wie die Frische bei aufsteigendem Morgenrot. Alles

atmet hier Gnade, und kein Mißklang stört die liebliche

Harmonie. Es ist gleichsam eine grünende Oase in

der Wüste, eine freundliche Idylle inmitten der düstern Geschichte

Israels. Wenn wir dieses kleine Buch mit seinen

vier Kapiteln betrachten, so nimmt es für unsere Seele

unendliche Verhältnisse an. Der Schauplatz hat sich nicht

verändert, und doch sollte man meinen, daß die Gefühle

XI.iv s

226

und Zuneigungen des Himmels sich auf der Erde häuslich

niedergelassen hätten. Es fällt uns schwer, zu verstehen,

daß dasselbe Land, welches Zeuge von so vielen Kriegen,

Schandthaten und abscheulichen Götzendienereien war, zu

gleicher Zeit den Schauplatz von Ereignissen bilden konnte,

deren erhabene Einfachheit an die gesegneten Tage der

Patriarchen erinnert.

Und doch ist dies erklärlich. Seit dem Sündenfalle

laufen zwei geschichtliche Entwickelungen nebeneinanderher:

diejenige der Verantwortlichkeit des Menschen mit ihren

Folgen, und diejenige der Ratschlüsse und Verheißungen

Gottes mit der Art und Weise, wie Er dieselben trotz

allem erfüllen wird. Dies geschieht durch die Gnade.

Diese allein kommt in Betracht, wenn es sich um göttliche

Ratschlüsse und Verheißungen handelt; denn der verantwortliche

Mensch kann sie nicht erringen, seine Schuld

kann sie nicht umstoßen, eine Scene des Verfalls ist nicht

imstande ihnen Fesseln anzulegen, und Gott schilt Satan

selbst, wenn dieser ihren Lauf aufzuhalten sucht. (Sach. 3, 2.)

In dem Maße, wie sich das Böse ausdehnt, entwickelt

sich, stets zunehmend, die Geschichte der Gnade und

schreitet unwiderstehlich voran, bis sie das vorgesteckte Ziel

erreicht hat. Ihr Ausgangspunkt ist das Herz Gottes,

ihr Mittelpunkt die Person des Herrn Jesu, und sie endet

in der strahlenden Herrlichkeit des zweiten Menschen und

in den Segnungen, welche wir mit Ihm teilen werden.

Darum schließt auch das Buch Ruth mit der prophetischen

Erwähnung Desjenigen, welcher die Wurzel und das

Geschlecht Davids ist, des ruhmreichen Erlösers, der Israel

verheißen war.

Doch wenn das Buch Ruth ein Buch der Gnade ist,

227

so ist es notwendigerweise auch ein Buch des Glaubens.

Gnade und Glaube gehen immer mit einander; der Glaube

ergreift die Gnade und eignet sie sich zu, schließt sich den

göttlichen Verheißungen und dem Volke der Verheißungen

an und findet endlich seine Wonne an Dem, welcher der

Träger und der Erbe jener Verheißungen ist. Das also

ist der wunderbare Charakter des Buches, welches wir betrachten

wollen.

„Und es geschah in den Tagen, als die Richter

richteten, da ward eine Hungersnot im Lande." (B. 1.)

Diese Worte schildern die besonderen Umstände der Scene.

Wir befinden uns in den Tagen der Richter, im Lande

Israel. Aber Hungersnot herrscht im Lande,- es

ist eine Zeit, wo die Borsehungswege Gottes sich im

Gericht gegen Sein Volk offenbaren. „Und es zog ein

Mann von Bethlehem-Juda hin, um sich aufzuhalten in

den Gefilden Moabs, er und sein Weib und seine beiden

Söhne." Bethlehem, die Stadt, welche der irdische Geburtsort

des Messias werden (Micha 5,1) und das Vorrecht

haben sollte, den von Israel erwarteten Stern bei seinem

Aufgehen erglänzen zu fehen, erblickte in den Tagen

Noomis nur die Armut und unbedingte Hilfslosigkeit des

Menschen. Die Hand, welche das Volk aufrecht gehalten

hatte, war zurückgezogen, und es mangelte an allem. Diese

in dem Buche der Richter eingehend entwickelte Wahrheit

wird in dem Buche Ruth nur festgestellt, jedoch unter Hinzufügung

gewisser wichtiger Thatsachen. (V. 2—5.)

Während dieser Tage des Verfalls und unter der

züchtigenden Hand Gottes wandert Elimelech, dessen

228

charakteristischer Name „Gott, der König," bedeutet, mit

Noomi („Lieblichkeit") und seinen Kindern aus. Unter

göttlicher Leitung suchen sie einen Zufluchtsort bei den

Heiden. In dieser großen Trübsal ist Noomi immerhin

noch mit ihrem Manne und ihren Kindern verbunden.

Ihr Name hat sich noch nicht verändert; sie trägt ihn

noch, trotz des Verfalls. Aber Elimelech, „Gott, der

König," stirbt, und Noomi bleibt als Witwe zurück.

Durch die Verbindung mit der götzendienerischen Nation

Moabs entweihen sich ihre Söhne und sterben gleichfalls.

Allem Anschein nach ist das Geschlecht Elimelechs ohne

Hoffnung auf Nachkommenschaft erloschen, und Noomi

(„Lieblichkeit"), in Trauer und von nun an unfruchtbar,

ist in bittere Betrübnis versetzt.

„Und Noomi machte sich auf, sie und ihre Schwiegertöchter,

und kehrte zurück ans den Gefilden Moabs; denn

sie hatte im Gefilde Moabs gehört, daß Jehova Sein

Volk heimgesucht habe, nm ihnenBrotzu

geben. Und sie zog aus von dem Orte, wo sie gewesen

war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr; und sie

zogen des Weges, um in das Land Juda zurückzukehren."

(V. 6. 7.) Sobald die Nachricht, daß Jehova Seinem

Volke wieder Gnade erwies, zu Noomi drang, machte sie sich

auf, um in ihr Land zurückzukehren. Der Zustand Israels

war unverändert geblieben; Gott selbst aber hatte den

Tagen des Gerichts, welches schwer auf dem Volke gelastet

hatte, ein Ende gemacht, und diese arme, unter der Bürde

ihres Kummers gebeugte Witwe durfte wieder auf bessere

Tage hoffen. Die Gnade ist eben, wie wir schon gesagt

haben, die erste und vorherrschende Note in dem Buche Ruth.

Alle Segnungen, von denen es spricht, hängen von der

229

Thatsache ab, daß „Gott Sein Volk heimgesucht hatte, um

ihnen Brot zu geben". Mit diesem wohlbekannten Ausdruck

bezeichnet das Alte Testament die Wohlthaten, welche

Israel durch den Messias zufließen werden. „Seine Speise

will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen."

(Ps. 132, 15). Ach! wenn das Volk gewollt hätte, so

würden diese Guter ihr dauerndes Teil geworden sein,

als der Christus in ihrer Mitte erschienen war und den

5000 und den 4000 Männern die Brote vervielfältigte!

Die Schwiegertöchter Noomis begleiten sie, von dem

Gedanken beseelt, „mit ihr zu ih rem Vo lke zurückzukehren."

(B. 10). Aber der gute Wille thut's

nicht allein; denn um mit der Gnade in Berührung zu

kommen, bedarf es nichts Geringeres als des Glaubens.

Das Verhalten Orpas und Ruths erläutert diesen Grundsatz.

Scheinbar unterschieden sich die Beiden in nichts von

einander. Gemeinsam brechen sie mit Noomi auf, reisen

mit ihr zusammen und beweisen ihr so ihre Anhänglichkeit.

Die Zuneigung Orpas entbehrt auch nicht der Wirklichkeit:

sie weint schon bei dem Gedanken, ihre Schwiegermutter verlassen

zu müssen, und vergießt voller Mitgefühl noch viele

Thränen, als sie wirklich Abschied nimmt. Sie, die

Moabiterin, liebt auch das Volk Noomis. „Sie sprechen

(also beide) zu ihr: Doch, wir wollen mit dir zu deinem

Volke zurückkehren." (V. 10.) Man kann aber einen

sehr liebenswürdigen Charakter haben, ohne den Glauben

zu besitzen. Der Glaube ist es, der zwischen diesen beiden,

in vielen Beziehungen so ähnlichen Frauen eine Kluft gräbt.

Das natürliche Herz weicht im Kampf mit unübersteig-

lichen Schwierigkeiten zurück, während der Glaube sich

gerade von denselben nährt und seine Kräfte in ihnen wachsen

230

sieht. Orpa verzichtet auf einen Weg, der keinen Ausgang

zeigte. Was konnte ihr Noomi bieten? Hatte diese,

ruiniert wie sie war, von Gott geschlagen und mit Bitterkeit

erfüllt, noch Söhne in ihrem Schoße, welche sie ihren

Schwiegertöchtern hätte zn Männern geben können? Orpa

küßt ihre Schwiegermutter und kehrt zu ihrem Volke und

zu ihren Göttern zurück. (V. 15.)

So enthüllt sich schließlich das Innere des natürlichen

Herzens. Es kann sich dem Volke Gottes anschließen,

ohne ihm anzugehören. Eine Frau, wie Noomi, ist wohl

wert, Sympathieen zu erwecken; aber Sympathien sind

noch kein Zeichen des Glaubens. Dieser trennt uns zu

allernächst von den Götzenbildern, läßt uns unsre

Götter aufgeben und treibt uns zu dem wahren Gott.

Das war auch der erste Schritt der Thessalonicher auf

dem Wege des Glaubens. (1. Thess. 1, 9.) Orpa hingegen

wendet sich von Noomi und dem Gott Israels ab,

um zu ihrem Volke und zu ihren Göttern zurückzukehren.

Angesichts der Schwierigkeit zeigt sie sich unfähig, die

Probe zu bestehen. Sie geht zwar weinend weg, aber

sie geht weg, ähnlich jenem liebenswürdigen Jüngling,

der traurig wegging, da er sich nicht entschließen konnte,

sich von seinen Gütern zu trennen, um einem armen und

verachteten Herrn nachzufolgen.

Ganz anders ist es mit Ruth. Ein kostbarer Glaube,

voll Bestimmtheit, Entschlossenheit und Entschiedenheit zeigt

sich bei ihr. Da giebt es keinen Einwand, der sie umzustimmen

vermocht hätte. Das Ziel steht ihr klar vor Augen.

Sie hört Wohl die Worte Noomis an, aber ihr Entschluß

ist gefaßt; sie kennt nur einen Weg, der für sie ein

Weg des Müssens ist. Was sind die Unmöglich

231

keiten der Natur gegenüber dem Muß des Glaubens?

Ruth läßt sich weder durch die Aussicht abhalten, nie

wieder einen Mann zu bekommen, noch selbst durch das

Bewußtsein, daß die Hand Jehovas gegen ihre Schwiegermutter

ausgestreckt war; sie erkennt in den sich häufenden

Schwierigkeiten nur umsomehr Gründe, ihrem Entschluß

treu zu bleiben. Noomi ist für Ruth alles, und „Ruth

hing Noomi an".

„Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir

weg umzukehren; denn wohin du gehst, will ich gehen,

und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein

Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will

ich sterben, und daselbst will ich begraben werden. So

soll mir Jehova thun und so hinzufügen, nur der Tod

soll scheiden zwischen mir und dir!" (V. 16. 17.)

Noomi zu begleiten und mit ihr, die für Ruth die einzig

mögliche Verbindung mit Gott und Seinem Volke bildete,

zu ziehen, zu leben und zu sterben, das ist das Begehren

dieser Frau des Glaubens. Indes gehen ihre Gedanken

weit über einen bloßen Anschluß an Israel hinaus; sie

macht sich eins mit dem Volke, wie niedrig auch dessen

Zustand sein mochte, um so dem Gott Israels anzugehören,

dem wahren Gott, der sich nie verändert: „Dein Volk

ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott". Nachdem

sie Moab und seinen Götzen den Rücken gekehrt hat, gehört

sie von nun an einer neuen Sache an, mit der sie sich

eins macht, mit Ausschluß jeder Möglichkeit einer Trennung.

Nur der Tod kann solche Bande zerreißen. Man sieht

hier, wie Gott und der Glaube sich begegnen, sich verstehen

und sich mit einander verbinden. Wie klar und deutlich

läßt uns diese Erzählung erkennen, daß der Glaube das

232

einzige Mittel ist, um den sündigen Menschen mit Gott

in Beziehung zu bringen ! Ähnlich wie Ruth Noomi

anhing, klammert sich der Glaube an den Mittler, den

Gegenstand der Ratschlüsse Gottes, welcher allein ihm

eine gesicherte Verbindung mit dem wahren Gott und eine

unerschütterliche Stellung vor Ihm geben kann.

In der That, es war eine rührende, köstliche Reise,

welche diese beiden betrübten Frauen nach Bethlehem

machten! Reich und voll war Noomi einst von dort

weggezogen, und arm und leer kehrte sie jetzt dahin

zurück. Gab es eine Lage, die an Trostlosigkeit der ihrigen

zu vergleichen gewesen wäre? Ihres Gatten und ihrer

beiden Söhne beraubt, zu alt, um nochmals einem Manne

anzugehören, ohne menschliche Hoffnung auf einen Erben,

ein wahres Bild von Israel, war von feiten der Natur

und des Gesetzes alles für sie zu Ende. Ja, noch mehr;

die Hand Jehovas war gegen sie ausgestreckt und der Allmächtige

selbst, welcher anscheinend die Stütze ihres Glaubens

hätte sein sollen, erfüllte sie unter der Schwere Seiner

Züchtigung mit Bitterkeit. Ihren Namen „Noomi" (Lieblichkeit)

hatte sie gegen „Mara" (Bitterkeit) umgetauscht,

weil „der Gott Israels gegen sie gezeugt und des Allmächtige

ihr Übles gethan hatte". Und Ruth, ihre Ge­

fährtin, Witwe und kinderlos wie sie, (die aber niemals

Kinder geboren hatte), dazu eine Fremde, die Tochter

eines verfluchten Volkes, hatte die einstmaligen Segnungen

Israels nie gekannt und besaß auch kein Anrecht auf seine

Verheißungen. So gingen denn beide mit einander; die

eine in vollem Verständnis ihres Zustandes und der auf

ihr lastenden züchtigenden Hand, die andere nur im Besitz

ihres Glaubens und der Noomi, als der einzigen Bande,

233

welche sie mit Gott verknüpften. Ihr Weg ist mit

Schwierigkeiten übersät, aber sie sehen einen Stern erglänzen,

der sie leitet. Die Gnade hat zn leuchten begonnen:

Gott hat Sein Volk heimgesucht, um ihm Brot

zu geben. Die beiden Frauen kommen nach Bethlehem

beim Beginn der Gerstenernte, erreichen also den Ort der

Segnung gerade in dem Augenblick, als die Segnung ausgeteilt

wird. Und dort sollten sie Boas treffen!

Die mit der Prophezeiung nur einigermaßen vertrauten

Leser können nicht verfehlen, in dieser ganzen

Scene ein Gemälde von der bisherigen Geschichte Israels,

sowie von den zukünftigen Wegen Jehovas mit diesem

Volke zu erkennen. Obgleich die Israeliten wegen ihrer

Untreue unter die Heiden vertrieben wurden, blieben doch

noch gewisse Bande zwischen dem Volke und Gott bestehen.

Jehova hatte ja durch einen ihrer Propheten gesagt:

„Obgleich ich sie unter die Nationen entfernt, und obgleich

ich sie in die Länder zerstreut habe, so bin ich ihnen doch

ein wenig zum Heiligtum geworden in den Ländern, wohin

sie gekommen sind." (Hes. 11, 16.) Ihr Elimelech aber

ist tot; das einzige Familienhaupt Israels, Christus, der

Messias, ist „abgeschnitten" worden. Darauf wurde die

Nation inmitten der Heiden gleich einer unfruchtbaren und

ihrer Kinder beraubten Witwe. Wenn sie aber zur

Einsicht kommt, das Gericht Gottes über sich anerkennt

und in Demut diesen Kelch der Bitterkeit trinkt, so wird

das Morgenrot eines neuen Tages für dieses arme Volk

anbrechen. Das alte Israel Gottes, welches in seinem

„Greisenalter" der Gegenstand der Wege Gottes in der

Fremde sein wird, macht sich dann in der Bitterkeit seiner

Seele auf, um die Segnungen der Gnade wiederzufinden.

234

Mit ihm erhebt sich ein neues Israel, ein Lo-Ammi,

welches „nicht sein Volk" war, das aber, in Ruth seinen

Ursprung findend, als ein armer Überrest aus den Ge­

filden Moabs zurückkehrt, um wieder „das Volk Gottes" zu

werden. Es wird uns hier unter dem Bilde einer Fremden

vorgestellt, weil es auf Grund des Gesetzes kein Anrecht

auf die Verheißungen hat und durch neue Grundsätze,

durch Gnade und Glauben, in Verbindung mit Jehova

gebracht wird. Auf diesem Boden stehend, wird Gott es

als Sein Volk anerkennen und ihm einen erhabenen Ehrenplatz

geben, indem Er es mit der Herrlichkeit Davids und

des Messias in Verbindung bringt. Dem unfruchtbaren

Boden ist eine frischsprudelnde Quelle entsprungen, welche

aber erst in dem Augenblick hervorkam, als alle menschliche

Hoffnung verloren war. Diese Quelle wird zu fließendem

Wasser, ja zu einem breiten und tiefen Strome, zu dem

Strome der göttlichen Gnade, welcher Israel hinträgt bis

zu dem Meere der messianischen und tausendjährigen

Segnungen.

Kapitel 2.

Wir haben im ersten Kapitel gesehen, wie wunderbar

der Glaube Ruths zum Ausdruck kam. Wunderbar, in

der That, wie ja alles wunderbar ist, was von Gott

kommt! Wunderte sich nicht Jesus selbst über den Hauptmann

von Kapernaum, der durch den Glauben sowohl seine eigene

Unwürdigkeit, als auch die Allmacht des Wortes des Herrn

zur Heilung seines Knechtes erkannte? Das vorliegende

zweite Kapitel stellt uns die verschiedenen Charakterzüge

dieses Glaubens vor, sowie die Segnungen, welche die

Gnade ihm zufließen läßt.

235

Der Glaube Ruths stützte sich bis dahin auf das

Werk der Gnade, welches Gott zu Gunsten Seines Volkes

gethan hatte. Sie bedarf aber eines Gegenstandes für

ihren Glauben, eines persönlichen Gegenstandes, und

es ist unmöglich, daß sie ihn nicht finden sollte. Sie

kennt zwar jenen vermögenden Mann noch nicht, von

welchem im ersten Verse dieses Kapitels die Rede ist;

sie hofft aber auf dem Boden der Gnade mit ihm zusammenzutreffen.

Sagt sie doch zu Noomi: „Laß mich

doch aufs Feld gehen und unter den Ähren auflesen

hinter dem her, in dessen Augen ich Gnade

finden werde." (V. 2.) Dieses Land Israel, wo

Gott Sein Volk heimgesucht hatte, um ihm Brot zu geben,

wird auch wohl einige Ähren für sie übrig haben. Ob­

schon arm und ohne Rechte, weiß sie doch, daß sie auf

die Hilfsquellen Jehovas rechnen kann. Ihr Weg ist

klar, wie das ja der Weg des Glaubens stets ist; aber

sie schlägt ihn nicht eigenwillig ein. Wir sind oft geneigt,

das Resultat unsrer eignen Gedanken, oder die Frucht

der Wünsche unsrer natürlichen Herzen als den Weg des

Glaubens zu betrachten, während der Glaube niemals

anders als in voller Abhängigkeit von dem Worte Gottes

handelt. Ruth fragt Noomi um Rat, und diese antwortet

ihr: „Gehe hin, meine Tochter". Sicherlich würde Gott

sie auf diesem Wege in Seine Führung nehmen. Seine

vorsorgliche Gnade läßt sie denn auch das Feldstück des

Boas treffen.

Boas, ein Glied der Familie des verstorbenen Eli-

melech, tritt sozusagen an dessen Stelle. Noomi hat in

Israel einen Beschützer, ein reiches und mächtiges Haupt

ihrer Familie. „In ihm ist die Stärke", um dieses arme,

236

gänzlich verfallene Haus wiederherzustellen. Er trägt den

Namen einer der beiden Säulen des späteren Salomonischen

Tempels (1. .Mn. 7, 21), welche von Salomo aufgestellt

wurden als Zeugen der Aufrichtung seines Reiches, dieser

herrlichen Zeit, welche auf die Drangsale der Regierung

Davids folgte. Boas kommt von Bethlehem, ruft seinen

Leuten den Erntegruß zu (Ps. 129, 8) und erblickt alsbald

Ruth inmitten der Schttitter. So kommt die Gnade dem

Glauben zuvor. Der über die Schnitter bestellte Knecht

giebt auf Befragen von der Moabitin Zeugnis. Arm

und demütig bittend, sagt er, ist sie gekommen; sie hat

sich gleich an die Arbeit gegebsn und sich kaum Ruhe

gegönnt. Ähnlich wie dieser Knecht, giebt heute der

Geist Gottes von dem Charakter und der Thätigkeit unsers

Glaubens Zeugnis. „Unablässig eingedenk euers Werkes

des Glaubens", schreibt der Apostel an die Thessalonicher.

Der Glaube müht sich und ruht nicht eher, bis er die

Segnungen, die Gott auf seinen Weg gestreut, eingesammelt

hat.

Bon welch rührender Schönheit ist dieses erste Zusammentreffen

zwischen Boas und Ruth! Die Worte,

welche über die Lippen des vermögenden Mannes kommen,

tönen wie himmlische Musik in den Ohren der armen

Fremden. Macht er ihr Vorstellungen über ihr unberechtigtes

Eindringen? Wer könnte das von ihm denken!

Nein, er sagt: „Hörst du, meine Tochter?" Gerade auf

meinem Felde und auf keinem andern wollte und will ich

dich haben. Nichts soll dich zwingen, es zu verlassen. —

Boas gesellt sie seinen Schnitterinnen zu. Auch hat sie

niemanden zu fürchten; hat er nicht ihretwegen Befehl gegeben

? Und wie ihr das Feld des Boas Nahrung bietet,

237

so findet sie dort auch Gelegenheit, ihren Durst zu löschen.

Wie häufen sich hier die Gnadenbeweise für Ruth! Doch

Geduld! dieses Kapitel berichtet noch von anderen, und die

folgenden Kapitel wieder von anderen Gunsterweisungen.

Sie vervielfältigen sich und wachsen bis zu den Grenzen

der Ewigkeit! Was sollte Ruth dazu sagen? Wenn der

Glaube eine wunderbare Sache ist, wie viel wunderbarer

noch ist Er, der Gegenstand des Glaubens! Welch eine

Majestät, verbunden mit tiefster Herablassung, ja mit einer

fast mütterlichen Zärtlichkeit zeigt sich in ihm! Er erhebt sich

wie die eherne Säule des Tempels Salomons und läßt sich

herab bis zu der eingehendsten und lieblichsten Fürsorge

der Liebe — einer Liebe, die nichts mit menschlicher

Leidenschaft gemein hat, welche voll heiliger und barmherziger

Würde den geliebten Gegenstand zu sich erhebt,

nachdem sie sich vorher zu ihm herabgelassen hat. So ist

Boas, und so ist unser Jesus!

Nicht auf einmal kommt uns die Kenntnis der Hilfsquellen

der Gnade. Diese werden erst nach dem Maße

der Thätigkeit unsers Glaubens unser Teil. Nach und

nach eröffnet uns Christus den Genuß der unendlichen

Schätze Seines Herzens.

Das Erste, was Ruth thut, ist, auf ihr Angesicht zu

fallen und sich zur Erde zu bücken. Sollte sie nicht

dankbar sein, wenn Boas so zu ihr sprach? — Ihr, die ihr

behauptet, Christum zu kennen, ihr habt niemals an Ihn

geglaubt, wenn nicht die Worte Seines Mundes euch zu

Seinen Füßen haben niedersinken lassen! Ihr Rationalisten

unsrer Tage, mit euern trockenen Herzen und dürren

Seelen, die ihr den Namen „Christen" zu tragen waget,

aber über das Wort unsers Herrn zu Gericht sitzet, anstatt

238

es aufzunehmen; Unsinnige, die ihr euch stolz in Seiner-

Gegenwart erhebt und eure Kritiken und Zerstückelungen

jenes Wortes Ihm entgegenschleudert, welche im Grunde

beschimpfender sind als die lästerlichen Flüche roher Soldaten

— während ihr vernichtet euch Ihm zu Füßen werfen solltet

. . . . gehet, ziehet euch zurück, verharret bei euerm

Stolze, bis das Gericht euch erreicht! Die Felder des

Boas, seine Verheißungen und seine Person werden euch

niemals angehören.

Ruth öffnet jetzt ihrerseits den Mund. „Warum",

fragt sie, „habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, daß

du mich beachtest, da ich doch eine Fremde bin?" Dieses

„Warum" ist schön; es bekundet eine tiefe Demut bei

diesem jungen Weibe. Sie sagt damit gleichsam: Ich

habe kein Recht auf solche Gunst. Sie beschäftigt sich

mit sich selbst nur, um ihre Unwürdigkeit zu bekennen;

wie aber schätzt sie ihn! „Du hast mich beachtet, als ich

nichts war für dich!"

Der Knecht hatte von der armen Moabitin bereits

Zeugnis abgelegt; jetzt ist es der Herr selbst, welcher ihr

sagt, was er in ihr findet. Sie war ihm nicht mit ihrer

Gerechtigkeit entgegengetreten, wie einst Hiob vor Gott

trat. Ihre Erfahrungen hatten da begonnen, wo Hiob

die seinigen beendet hatte, und Derjenige, zu dessen Füßen

sie niedergesunken war, übernimmt es jetzt, ihren Charakter

ans Licht zu stellen; denn er wußte alles. „Es ist mir

wohl berichtet worden, alles was du gethan hast an

deiner Schwiegermutter, nach dem Tode deines Mannes,

indem du deinen Vater und deine Mutter und das Land

deiner Geburt verlassen hast und zu einem'Volke gezogen

bist, das du früher nicht kanntest." Boas stellt bei Ruth

239

die Bemühung der Liebe, die Frucht des Glaubens, fest;

ihre Sorge für Noomi, dieses Vorbild des bekümmerten

und bedrängten Volkes, war von ihm nicht unbeachtet geblieben.

Ja, diese arme Tochter Moabs war eine wahre

Israelitin, in welcher kein Trug war. Auch hatte sie,

als wahre Tochter Abrahams, ihr Land und ihre Verwandtschaft

verlassen und sich zu einem ihr unbekannten

Volke begeben. Boas drückt das Siegel seiner Zustimmung

auf soviel Liebe und Glauben und verheißt ihr dann eine

Belohnung: „Jehova vergelte dir dein Thun, und voll

sei dein Lohn von Jehova, dem Gott Israels, unter dessen

Flügeln Zuflucht zu suchen du gekommen bist!" Der

Lohn ist nicht das Endziel des Glaubens, aber er dient

zu seiner Ermunterung.

Ruth antwortet wie einst Mose in 2. Mose 33, 13.

Das Lob des Boas macht sie nicht stolz; sie fühlt, daß

alles Gnade ist, und wünscht noch mehr Gnade zu finden.

Sie erkennt seine Autorität über sich an und nennt sich

seine unwürdige Dienerin. Dann zeichnet Boas sie dadurch

aus, daß er sie zu seiner Mahlzeit einladet. Ruth sitzt

an der Tafel des Boas! Welch eine Gunstbezeigung für

die arme Fremde! „Sie aß, und wurde satt und ließ

übrig." Ist es nicht, als wenn wir der Vermehrung der

Brote durch Jesum beiwohnten?

Die Gemeinschaft, welche Ruth soeben an der

Tafel des Boas gefunden hat, läßt sie indes ihre Pflicht

nicht vergessen. Im Gegenteil schöpft sie daraus neue

Kraft zu frischer Thätigkeit, und zwar mit Ergebnissen,

welche noch reicher und gesegneter sind als die vorhergehenden.

Unser Werk muß, wenn es erfolgreich sein

soll, aus dem entspringen, was wir für uns selbst empfangen

240

haben, und wird um so größere Erfolge aufweisen, je

mehr wir Persönlich die Gegenwart des Herrn genossen

haben.

Ein Herz, das von Christo Speise und Trank

empsangen hat, kann niemals selbstsüchtig sein. Steht

nicht geschrieben: „Aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen

Wassers fließen"? (Joh. 7.) Ruth denkt an Noomi

und bringt ihr bei ihrer Rückkehr die Reste der Mahlzeit

und was sie an Ähren aufgelesen hat mit, damit ihre

Schwiegermutter gleichfalls gesättigt werde. So widmet auch

der Gläubige seine Arbeit dem Volke Gottes und sucht

dessen Wohl zu befördern. Wie wenige Christen verwirklichen

das! Welche Wichtigkeit hat das Wohl der Kirche Christi

für solche, welche die eigene Kirche oder ihr Volk mit

seinen Göttern ihr vorziehen? Das arme, bekümmerte

Volk Jehovas erscheint diesen gleichgültigen Herzen der

Sorgfalt nicht wert. Sie bestehen vielleicht auf dem

Werke des Evangeliums der Welt gegenüber; aber ein

Herz, das mit dem Herrn in Gemeinschaft ist, bringt

nicht das Eine dem Andern zum Opfer. Der Apostel

Paulus war ebensowohl Diener der Versammlung als

Diener des Evangeliums. Er liebte die Kirche, welche

Christus in Seiner Liebe mit Seinem eignen Blute erkauft

hatte. Weit davon entfernt, an einer Sekte oder einer

Kirche nach seinen Gedanken zu hängen, kannte er nur

die Versammlung Christi, und wachte über sie mit einer

göttlichen Eifersucht, um sie dem Herrn als eine keusche

Jungfrau darzustellen.

Noomis Herz ist voll Dankbarkeit gegen den Mann,

der Ruth beachtet hatte, als er sie wie eine Fremde hätte

zurückweisen können. Wie lieblich ist die Unterhaltung

241

zwischen diesen beiden gottesfürchtigen Frauen! Ruth

spricht den schönen Namen Boas aus, und Noomi antwortet

mit Danksagungen gegen Den, dessen Güte nicht

abgelassen hatte von den Lebenden und von den Toten.

Der Charakter Noomis ist wahrhaft rührend. Ruth

zeigt mehr von dem ersten Feuer eines jungen Glaubens,

während Noomi die Erfahrung eines Glaubens verrät,

der in der Schule der Prüfung gereift ist. — Geht nicht,

ihr jungen christlichen Seelen, achtlos an der Erfahrung

solcher vorüber, welche den Herrn lange Zeit vor euch

gekannt hüben! — Noomi hilft ihrer Schwiegertochter zu

besserem Verständnis: „Der Mann ist uns nahe verwandt",

sagt sie, „er ist einer von unseren Blutsverwandten"

(eigentl. Lösern; vergl. 3. Mose 25, 25 ff.; 5. Mose 25, 5).

Die Erfahrung ist stets mit Verständnis verbunden.

Noomi hat ein Bewußtsein davon, was sich in Israel

geziemt, von der Ordnung, welche das Haus Gottes zieren

soll. Die Ratschläge christlicher Erfahrung fesseln die

Seele stets an die Familie Gottes und an Christum, so

wie der Rat Noomis Ruth an die Umgebung des Boas

fesselte. Zugleich trennen sie die Seele von allen andern

Feldern. (V. 22.) Vielleicht würden diese letzteren den

Lesenden ebenso viele Ähren darbieten, aber die Gegen­

wart desjenigen, mit welchem das Herz Ruths von jetzt

an unauflöslich verbunden war, sowie der Frieden und

die Freude, die er austeilt, würden fehlen. Es ist dies

eine kostbare Erfahrung solcher, die auf dem Wege des

Glaubens alt geworden sind; denn sie trägt dazu bei, bei

jungen Seelen einen Wandel in Heiligkeit zu bewirken.

So ist es auch der Mund der Erfahrung, der

stets am besten zu danken verstehen wird; denn er kennt

242

die Gnade und Güte Jehovas in der Vergangenheit wie

in der Gegenwart. — Ruth hält sich zu Boas und

wohnt bei ihrer Schwiegermutter.

(Schluß folgt.)

Sünde, Tod und Sieg.

„Der Stachel des Todes aber ist die Sünde,

die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz. Gott

aber sei Dank, der uns den Sieg giebt durch unsern

Herrn Jesum Christum!" (1. Kor. 15, 56. 57.)

Sünde und Tod sind beide Eindringlinge in die

herrliche Schöpfung Gottes. Beide sind durch den Menschen

in die Welt gekommen, obwohl Gott das erste Menschenpaar

aufrichtig erschaffen und in Seinem eigenen Bilde

gemacht hatte. „Durch einen Menfchen ist die Sünde in

die Welt gekommen." „Durch einen Menschen kam der

T od." (Röm. 5, 12; 1. Kor. 15, 21.) Wie schmerzlich und

demütigend ist der Gedanke an das, was der Mensch gethan

hat! Wir sind vertraut mit Sünde und Tod. Sie stehen jeden

Tag vor unsern Augen. Die Sünde mit ihren schrecklichen

Ergebnissen, als da sind: Raub und Mord, Auflehnung

gegen göttliche und menschliche Autorität, Neid

und Streit, Jammer und Elend, Schmerzen und Krankheiten

— die Sünde umgiebt uns von allen Seiten; und

der Tod in seinen mannigfaltigen, erschreckenden Gestalten,

mit all seinen niederbeugenden und oft herzzerreißenden Neben-

nmständen, fordert unaufhörlich seine Opfer. Die Sünde

frißt, gleich einem Krebse, an der Lebenskraft des Menschen,

und durch seine vielgestaltigen Wirkungen sind die Krankenhäuser

überfüllt, die Irrenhäuser und Besserungs-Anstalten

bis zum letzten Platze besetzt, und die Gefängnisse mit

243

Tausenden und aber Tausenden von Menschen aus jung

und alt, vornehm und gering bevölkert. Man seufzt und

klagt, man weint und jammert, man flucht und tobt.

Man ist unzufrieden mit allem, und viele sind eifrig beschäftigt,

jede Sitte und Ordnung abzuschaffen und den

Umsturz alles Bestehenden vorzubereiten. Die Sünde erniedrigt

nicht nur, sie verdirbt auch; sie gräbt ihre furchtbaren

Zeichen in die Tafeln der Zeit und führt ihre

Opfer blindlings der finstern Ewigkeit zu. Wie schön muß

diese Erde gewesen sein, ehe die Sünde kam! Wie ungleich

muß sie heute ihrem ursprünglichen Bilde sein, nachdem

seit nahezu sechstausend Jahren die Sünde geherrscht hat

zum Tode!

Auf die Sünde gründen sich die unbeugsamen Ansprüche

des Todes. Kein Einziger aus der Nachkommenschaft

Adams steht außerhalb seines Bereichs. Der Tod

nimmt keine Entschuldigung an, gewährt keinen Aufschub.

Nichts kann ihm den Zutritt verwehren. Er macht keine

Ausnahme, und derer, welche täglich und stündlich seiner

kalten Umarmung anheimfallen, sind so viele, daß die Welt

eifrig beschäftigt ist, seine Opfer den Blicken der Lebenden

zu entziehen. Die Grabstätten füllen sich mit unglaublicher

Schnelligkeit, und die Zahl der Totenäcker mehrt

sich zusehends. Alles was da lebt und sich regt um uns

her, ist dem Tode unterworfen und geht ihm entgegen.

Die Menschen wissen das und handeln demgemäß. Sie

machen ihr Testament, versichern ihr Leben und sorgen für

ihre Nachkommen, weil sie sterblich sind; und obwohl die

meisten den Tod von sich persönlich weit entfernt wähnen,

zweifelt doch niemand an der Thatsache, daß er still, aber

sicher, sein Werk verrichtet. Kaum ist ein Kind in diese

244

Welt hineingeboren, so beginnen auch schon die Verwandten

um sein Leben zu bangen.

Doch der Tod wird einmal gänzlich aus der Welt

geschasst werden. „Der letzte Feind, der weggethan wird,

ist der Tod." Jesus hat den Tod zunichte gemacht, und

Er wird die Werke des Teufels zerstören und alle Dinge

Seiner Herrschaft unterwerfen. Tod und Hades werden

in den Feuersee geworfen werden. In dem neuen

Himmel und auf der neuen Erde werden keine Thränen

mehr fließen; „der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer,

noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das

Erste ist vergangen." (Offbg. 20, 14; 21, 4.) Herrliche,

beglückende Aussicht!

Jetzt sind wir uns in schmerzlicher Weise bewußt,

daß die Sünde herrscht zum Tode, und daß sie die Gebieterin

des Sünders ist. Und in der Gefolgschaft der

Sünde lauert der Tod. „Der Tod ist der Sünde Sold."

Welch ein furchtbarer Sold! Und so wie der Tod der

Sünde folgt, so folgt das Gericht dem Tode. „Es ist

den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, darnach aber

das Gericht." (Hebr. 9, 27.) Ernste Wahrheit! Die

Menschen können Sünde nnd Tod nicht aus ihrem Gesichtskreis

verbannen, obwohl viele ihrer armen Opfer so verborgen

gehalten werden, daß ein Fremder, der durch eine

volkreiche Stadt geht, sich zu der Frage versucht fühlen

könnte, ob es überhaupt Wohl Kranke und Sterbende in

ihr gäbe. Und doch ruhen beinahe in jeder Straße

Kranke auf ihren Schmerzenslagern, und in vielen Häusern

stehen unsterbliche Seelen an der Schwelle der Ewigkeit.

Die Menschen geben sich Mühe, jeden Gedanken an

das kommende Gericht ,aus ihrem Herzen zu verbannen;

245

Weil sie es nicht sehen, wollen sie nicht daran glauben,

obwohl nichts deutlicher sein könnte, als der inspirierte

und unwiderrufliche Ausspruch der göttlichen Wahrheit:

„Darnach (d. h. nach dem Tode) das Gericht''. Der

Mensch sucht die „Sünde" zu entschuldigen, sich dem

„Tode" gegenüber stark zu machen und jeden Gedanken an

das kommende „Gericht" von sich fern zu halten; trotzdem

geschrieben steht: „Wisset, daß eure Sünde euch finden

wird", und: „Also wird ein jeder von uns für sich selbst

Gott Rechenschaft geben". (4. Mose 32, 23; Röm. 14, 12.)

Auch im Blick auf den Tod sucht sich der Mensch zu

betrügen. Der Lieblingswnnsch vieler ist, „einen leichten

Tod" zu haben. Der Soldat schmeichelt sich damit, daß

er, wenn er auf dem Schlachtfelde fallen sollte, seine Pflicht

gethan habe und eines ehrenvollen Todes sterbe; an die

ernste Thatsache, daß nach dem Tode das Gericht kommt,

denkt er nicht. Der freigebige Menschenfreund, der seinen

wachsenden Reichtum dazu benutzt, die Not seiner Mitmenschen

zu lindern, sucht sich mit der falschen Vorstellung

zu trösten, seine Werke seien so verdienstvoll, daß es im

Jenseits sicher wohl um ihn stehen werde; als wenn Gott

nicht wieder und wieder erklärt hätte, daß niemand aus

Werken gerechtfertigt wird, auf daß sich kein Fleisch rühme.

Der sittliche, sich selbst verleugnende Mensch erkühnt sich

zu sagen: „Ich schrecke nicht vor dem Tode zurück; denn

ich bin stets ein aufrichtiger, ehrlicher Mensch gewesen.

Ich habe mich mein Lebenlang redlich bestrebt, gegen Gott

und Menschen meine Pflichten zu erfüllen" ; trotzdem die

Schrift klar und deutlich beweist, daß alle „unter der

Sünde" sind und daß die, „welche im Fleische sind, Gott

nicht gefallen können". Thatsache ist, daß Hunderttausende

246

und Millionen blindlings und gedankenlos der Ewigkeit

entgegen eilen, als wenn sie „ohne Sünde" wären, anstatt

„Sünder", die einen heiligen, die Sünde hassenden Gott

tausendfach beleidigt haben.

Aber der Tod hat seinen Stachel: „Der Stachel

des Todes ist die Sünde". Es ist in der That etwas

Furchtbares, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

Der Mensch muß Gott Rechenschaft geben von all seinem

Thun und Lassen. Die Sünde stachelt das Gewissen.

Der Mensch kann nicht sterben, wie er es gern möchte.

Es giebt etwas in dem menschlichen Herzen, das durch

nichts anderes als durch die ewigen Dinge befriedigt

werden kann. „Gott hat die Ewigkeit in ihr Herz gelegt."

iPred. 3, 11.) Allerlei Vorkehrungen, mit welchen freundliche

Hände ein Sterbebett zu erleichtern suchen, und nicht

selten auch eine Menge trügerischer Einflüsse und Einflüsterungen

vereinigen sich, um den armen Sterbenden

über den Ernst seiner Lage hinweg zu täuschen und ihm

den Übergang aus dem Zeitlichen in das Ewige so leicht

wie möglich zu machen. Aber ach! wie mancher hat in

seinen letzten Stunden zu seinem Schrecken erkennen

müssen, daß nicht alles stand, wie es stehen sollte; denn

die Sünde hat ihren furchtbaren Stachel. Der Gedanke,

vor dem dreimal heiligen Gott erscheinen und sogar von

jedem unnützen Wort Rechenschaft geben zu müssen, ist

schrecklich. Das Gewissen erhebt seine anklagende Stimme;

die vielen verlornen Tage, das Trachten nach den vergänglichen

Schätzen dieser Welt, die Sucht nach ihren sündhaften

Vergnügungen, die Erinnerung an so manche häßliche

Gedanken, Worte und Werke — alles das erhebt sich

vor dem Geistesauge des Sterbenden, während er erzittert

— 247

unter der harten, erbarmungslosen Faust, die sich nach

ihm ausstreckt. Gleich jenem Könige, der, an prunkender

Tafel sitzend, die geheimnisvolle Schrift auf der Wand

seines Palastes erscheinen sah, lösen sich die Bänder seiner

Hüften, seine Kniee schlagen an einander, und die Seelenangst

wird unerträglich. Tod und Gericht, Himmel und

Hölle, Sünde und Schuld, ziehen an den Blicken des

Unglücklichen vorüber, der seine Kräfte immer mehr schwinden

fühlt und für eine einzige Stunde Frist sein ganzes Vermögen

hingeben möchte. Aber es ist umsonst, die Gnadenzeit

ist abgelaufen. Schrecklich, so in die Ewigkeit hinüberzugehen,

ohneHoffnung und mit seinen Sünden.— Wahrlich,

der Tod hat seinen Stachel, und dieser Stachel ist die Sünde!

Nichts auf Erden vermag diesen scharfen, verwundenden

Stachel zu entfernen, nichts dessen Schärfe zu mildern;

selbst das Gesetz Moses nicht, das doch heilig, gerecht und

gut ist. Im Gegenteil, je mehr eine beunruhigte Seele

sich an die zehn Gebote als Heilmittel klammert, desto

größer wird ihre Not, desto tiefer und fühlbarer ihr Elend;

denn die Kraft der Sünde ist das Gesetz. „Aus

Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt

werden, denn durch Gesetz kommt Erkenntnis

der Sünde." — „Das Gesetz aber kam daneben ein,

auf daß die Übertretung überströmend würde." (Röm. 3,

20; 5, 20.) So nützlich also das Gesetz ist, um dem

Menschen zu zeigen, daß er ein Sünder ist, so stellt es

doch nur die Sünde ans Licht, anstatt sie zu entfernen,

und es verurteilt den Sünder; und anstatt dem beunruhigten

Gewissen Ruhe zu bringen, verschärft es nur noch das

Schuldbewußtsein und vermehrt die Schwere der Bürde.

Das Halten des Gesetzes ist nicht das göttliche Heilmittel

248

für den Sünder; nein, „die Kraft der Sünde ist das

Gesetz". Je mehr ein Mensch sich vornimmt sich zu bessern,

je mehr er seine Anstrengungen zu verdoppeln sucht, desto

mehr wird sein Gewissen aufwachen, und desto elender

und hoffnungsloser wird er sich fühlen. Ja, mehr als

das; da die fleischliche Gesinnung Feindschaft ist gegen

Gott und Seinem Willen nicht Unterthan, so ist der Mensch

geneigt, jedes Gebot, das Gott giebt, sofort zu übertreten.

Anstatt sich zu unterwerfen, lehnt sich das Fleisch

gegen das Gebot auf, „so daß", wie der Apostel sagt,

„die Sünde, auf daß sie als Sünde erschiene, durch das

Gute (das Gesetz) in mir den Tod bewirkt". Denn das

Gesetz ist heilig, und das Gebot heilig und gerecht und

gut. (Röm. 7, 12. 13.) Mein Zustand ist so verderbt,

mein Fleisch so unverbesserlich böse, daß das Erlassen

eines Gebotes nur die Sünde in mir auflebeu läßt. Es

bewirkt die Lust in mir, gerade das Entgegengesetzte des

Gebotenen zu thun. Ist also die Sünde der Stachel

des Todes, so ist das Gesetz die Kraft der Sünde.

So stehen denn Sünde, Tod und Gericht mit dem

Menschen als Sünder in Verbindung, und so weit es ihn

betrifft, ist diese Verbindung unauflöslich. „Ich elender

Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des

Todes?" So lautet die verzweifelte Frage am Ende des

7. Kapitels des Römerbriefes. Das ist das Ende aller

Anstrengungen in eigner Kraft, das Gute zu thun und

das Böse zu lassen. Doch der Glaube hat eine triumphierende

Antwort; sie lautet: „Ich danke Gott durch Jesum

Christum, unsern Herrn." Ja, Gott sei gepriesen!

Er hat Sünde, Tod und Gericht mit Seinem fleckenlosen

Opfer auf Golgatha in Verbindung gebracht, damit wir

249

davon befreit würden. Das ist nicht Gesetz, sondern Gnade-

Es zeigt, was Gott gethan hat für das ewige Heil und

die ewige Segnung aller derer, welche an Jesum glauben.

Die Sünde mußte gerichtet und ihr Sold ausbezahlt werden.

Deshalb hat Jesus für die Sünden gelitten, ist für unsre

Sünden gestorben und hat Sein Blut vergossen zur Vergebung

der Sünden Vieler. Der Ungläubige geht dem

großen weißen Throne entgegen, um dort für seine Sünden

gerichtet und in den Feuersee geworfen zu werden, welches

ist der zweite Tod. Dort, an jener schrecklichen Stätte,

werden alle Nichterlösten mit Sünde, Tod und Gericht

für alle Ewigkeit in Verbindung sein. Der Gläubige

aber ist, Gott sei Dank! kraft des Versöhnungswerkes

Seines Sohnes von aller Sünde gereinigt und wird nicht

ins Gericht kommen, weil alle seine Sünden bereits an

seinem Heilande gerichtet worden sind und er aus dem

Tode in das Leben hinübergegangen ist. Tod und Gericht

liegen hinter dem Gläubigen, und die Hoffnung der Herrlichkeit,

welche bei der Ankunft Christi sein Teil sein wird,

unmittelbar vor ihm. Alles ist von Gott und kann heute

gekannt und genossen werden. Preis und Anbetung geziemt

uns deshalb gegenüber dem Gott und Vater unsers

Herrn Jesu Christi für Seine überströmende Gnade und

Seine wunderbare Gabe. Er hat uns, den ohnmächtigen

Sklaven Satans, „Sieg" verliehen. Deshalb wird auch in der

Stelle, die wir betrachten, sogleich hinzugefügt: „Gott

aber sei Dank, der uns den Sieg giebt durch unsern

Herrn Jesum Christum!"

Der Leser wolle sorgfältig beachten: 1) Daß Gott

die Quelle all unsers Heils und Segens ist, der Gott,

welcher heilig ist in allen Seinen Wegen und gerecht in

250

all Seinem Thun — „Gott aber sei Dank!" 2) Daß

der Sieg eine freie, unverdiente Gabe ist — „der uns

den Sieg giebt" —nicht erworben oder verdient, sondern

gegeben, und zwar jetzt gegeben; nicht erst später, sondern

jetzt. Es ist die unverdiente Gabe des Gottes, der

Liebe ist und uns also geliebt hat, daß, während wir noch

Sünder waren, Christus für uns gestorben ist. 3) Daß

das, was Gott uns giebt, der Sieg ist, nicht Hilfe, nicht

Religion, nicht nur Vergebung, sondern Sieg — „Gott

aber sei Dank, der uns den Sieg giebt!" — den Sieg

über die Schuld und Herrschaft der Sünde, über alle

Mühsale nnd Beschwerden der Wüstenreise, den Sieg über

Tod und Grab (der Tod ist unser, 1. Kor. 3, 22),

ja selbst über Satan, der die Macht des Todes hat; ein

Sieg durch Den, der das Gericht über unsere Sünden

getragen und in der Auferstehung über alle unsere Feinde

triumphiert hat. Diesen Sieg, den Christus errungen

hat, giebt uns Gott, und zwar, weil alle unsere Sünden

gemäß der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ihr Gericht

empfangen haben, und weil Er, der am Kreuze unter der

ganzen Last unsrer Sünden in den Tod ging, siegreich

aus den Toten auferstanden und als Mensch in die Herrlichkeit

Gottes zurückgekehrt ist. Wir, mit Ihm im Leben

nnd durch den Heiligen Geist verbunden, stehen nun vor

Gott, annehmlich gemacht in Ihm, dem Geliebten, gesegnet,

vollkommen gemacht und bewahrt in Ihm.

Beachten wir 4l, daß alles von Gott ist und alles

durch Jesum Christum. „Gott aber sei Dank, der

uns den Sieg giebt durch unsern Herrn Jesum

Christum!" Welch eine Gnade, welch eine Segnung,

alle unsre.Bedürfnisse als Sünder in dem Tode Christi

251

beantwortet zu finden! Und nicht nur das; auch ein

gegenwärtiger Sieg ist uns geschenkt in Ihm und

durch Ihn, der unser Leben ist und sich auf immerdar

jenseits des Todes und Grabes befindet. Ein gegen­

wärtiger Sieg für alle, die Christum als ihren Heiland

im Glauben aufnehmen! Wie tief und reich ist doch die

Gnade Gottes! Alle unsere ewigen Segnungen sind in

Gerechtigkeit gegründet auf das Sühnungswerk Christi,

und der Sieg ist uns gegeben über die Herrschaft und

Strafe der Sünde! Der Sieg über den Tod! der Sieg

über das Grab! Denn wenn Jesus kommt, so lange

wir hienieden leben, werden wir weder sterben noch ins

Grab hinabsteigen, sondern in einem Augenblick verwandelt

und entrückt werden; und wenn wir in Jesu entschlafen,

ehe Er kommt, so ist der Stachel des Todes durch

Sein Blut hinweggenommen, so daß wir die Schrecken des

Todes nicht schmecken, und bei Seiner Ankunft werden unsere

Leiber auferweckt und verwandelt werden, so daß es immer

wieder Sieg über Tod und Grab, über Satan und alle

Mächte der Finsternis ist. — Mein Leser, kannst du sagen,

daß alles dieses dein Teil ist durch die Gnade Gottes

und durch den Glauben an Jesum Christum, Seinen geliebten

Sohn?

Es ist Gott, der uns, den Glaubenden, diesen Sieg

giebt. In Glaube und Hoffnung singen wir jetzt schon

Siegeslieder, und wenn der Herr kommt, wird der Himmel

wiederhallen von dem Siegesjubel der ins Vaterhaus einziehenden

Erlösten. Sollte es unser Los sein, in Jesu

zu entschlafen, so befähigt uns Seine Gnade, zu sagen:

„Wo ist, o Tod, dein Stachel? Wo ist, o Tod, dein

Sieg? . . . Gott aber sei Dank, der uns den Sieg giebt

252

durch unsern Herrn Jesum Christum!" — Welch ein

Sieg! Er ist Dessen würdig, der ihn für uns auf Kosten

Seines Lebens errungen hat. Ihm sei Lob und Dank

dafür in Ewigkeit!

O hochbeglückte Seele!

O hochbeglückte Seele,

Die es für Freude hält,

Zu thun des Herrn Befehle

Aufrichtig, unverstellt.

Die sich recht dankbar, kindlich

Ihm stets zu dienen freut,

Und herzlich und empfindlich

Den kleinsten Fehl bereut.

Sie lässet kaum sich's merken,

Wenn eine Last sie drückt;

Sie denkt: E r wird schon stärken,

Der mir die Last geschickt.

Sie lächelt durch die Thränen;

Und beugt sie auch der Schmerz,

Kann sie sich müde lehnen

An des Geliebten Herz.

Sie hänget Herz und Blicke

An den geliebten Herrn,

In keinem Augenblicke

Ist sie Ihm fremd und fern.

Er braucht nicht laut zu mahnen,

Sie folgt Ihm froh und still;

Die Liebe weiß zu ahnen,

Was der Geliebte will.

Da kann sie selig weinen,

Sie fühlt: Er fühlt es mit,

Der mehr als solchen kleinen,

Geringen Schmerz erlitt.

Ihm kann sie alles klagen,

Er hört sie an voll Huld,

Der, fremden Schmerz zu tragen,

Sich hingab voll Geduld.

Wie ist ihr Los erfreulich,

Wie geht es ihr so gut!

Drum dienet sie so treulich

Dem Herrn mit Gut und Blut.

In gut und bösen Tagen,

Gemach und Ungemach,

In Freuden und in Plagen

Geht sie Ihm folgsam nach.

(Nach SPitta)

Das Buch Ruth.

(Schluß.)

Kapitel 3.

Naomi liefert uns, wie bereits bemerkt, nicht nnr

ein Beispiel von Erfahrung, sondern auch von Verständnis.

Ein Glück für Ruth, daß sie eine solche

Führerin gefunden hat! Noomi gebietet; aber ihre Gebote

enthalten nichts Beschwerliches, weil es Gebote der Liebe

sind. „Meine Tochter, sollte ich dir nicht Ruhe suchen,

daß es dir Wohl gehe?" (V. 1.) Was sie anordnet,

geschieht im Blick auf das Wohlergehen der von ihr geliebten

Ruth, aber auch weil sie das Herz des Boas kennt: „Ist

er nicht unser Verwandter?" Ruth, die Frau des Glaubens,

gehorcht: „sie that nach allem, was ihre Schwiegermutter

ihr geboten hatte". (V. 6.) Möchten wir stets in gleicher

Weife gehorsam sein! Der Gehorsam fällt denen leicht,

welche wissen, daß Gott sie liebt und nur ihre Ruhe und

ihr Glück will; daß Christus sie liebt und sie stets auf

Seinem Herzen trägt. Das Gehorchen wird aber schwer,

wenn die Seele sich selbst befriedigen und Glück und Ruhe

außer Christo finden will.

Die Arbeit des Boas nahte ihrem Ende; nachdem

das Getreide eingeerntet war, mußte es auf der Tenne

geworfelt und dann in die Scheuern eingesammelt werden.

XUIV Ui

254

Sein Herz war fröhlich; wird er wohl die arme Moabitin

von sich stoßen? Noomi ist voll Vertrauen nnd weiß der

Ruth den Weg der Segnung anzudeuten. „Bade dich

und salbe dich nnd lege deine Kleider an, und gehe hinab

zur Tenne; laß dich nicht bemerken von dem Manne, bis

er fertig ist mit Essen und Trinken. Und es geschehe,

wenn er sich hinlegt, so merke den Ort, wo er sich hinlegt,

und gehe nnd decke auf zu seinen Füßen nnd lege dich

hin; er aber wird dir kundthun, was du thun sollst."

(V. 3 u. 4.) Ruth muß sich für diese Zusammenkunft

vorbereiten, sich zu seinen Füßen niederlegen und auf sein

Wort warten. Das wird auch den armen Überrest Israels

charakterisieren, welcher bei dem Wiederanfwachen des

Messias nach der langen Nacht, des Wartens treu erfunden

werden wird. Aber, möchte ich fragen, sollte das nicht

mit noch größerem Recht auch uns kennzeichnen? Wir

haben die Aufforderung gehört, uns zu waschen, zu salben

und uns für Ihn allein zu schmücken. Haben wir das

vergessen? Wo befinden wir uns in diesem Augenblick?

Sind wir in Seine Tenne eingetreten, um dort die Nacht

zu verbringen, oder befinden wir uns in der Tenne der

Fremden? Haben wir, wie Ruth, aus der Tiefe unsrer

Herzen geantwortet: „Alles was du gesagt hast, will ich

thun" ? Ja, Er will, daß wir Praktisch Seiner würdig

seien, daß wir, zu Seinen Füßen liegend nnd Seine Rechte

über uns anerkennend, während der Stunden der Nacht

still und friedlich auf Sein Wort warten. Bald wird

unser Boas Sein Schweigen brechen. Wird es geschehen,

um uus streng zu tadeln, oder um Seinem Beifall betreffs

unsers Verhaltens Ausdruck zu geben?

Mitten in der Nacht erkennt Boas sie, die sich unter

255

seinen Schutz gestellt hat, und er segnet sie. Das Buch

Ruth, diese Geschichte der Gnade, ist voll von Segnungen

des Gebers sowohl wie der Empfänger. Alle Herzen

sind fröhlich, sobald Boas den Schauplatz betritt. Seine

Gegenwart ruft Lob und Dank hervor; denn er streut

alle Güter der Gnade rund um sich her aus. Welch ein

unendliches Glück, unsern Boas Preisen zu dürfen! Aber

ist es nicht auch ein Glück, gleich Ruth, das Zeugnis

Seiner Zufriedenheit in Bezug auf uns zu empfangen?

O möchten wir begierig sein nach dem Beifall Christi!

Es ist demütigend für uns, daran zu denken, daß wir

diesen Beifall so wenig suchen. Das Lob der Menschen

bläht uns auf, das Seinige niemals. Er giebt dem Seinen

Beifall, was Seine unendliche Gnade an uns sieht, und

Er sieht an uns das, was Seine Gnade hervorgebracht

hat und was Seinen Gedanken entspricht.

Boas lobt Ruth, weil sie „ihre letzte Güte npch besser

erwiesen habe als die erste". Anfangs hatte sie Liebe

gegen ihre Schwiegermutter geübt, welche für sie das Volk

Gottes darstellte, und jetzt handelte sie aus Liebe zu Boas.

Sie war nicht zu jungen, ob reichen oder armen, Männern

gegangen; sie hatte keine Gefährten nach ihren natürlichen

Neigungen gesucht, sondern war zu ihm gekommen, dessen

Rechte über ihre Person sie anerkannte. Er flößt ihr

wiederum Mut ein und verspricht ihr die Erfüllung aller

ihrer Wünsche. (B. 11.) Welch eine Ermunterung für die

Treuen! Wir empfangen alles von Seiner Gnade, aber

Er giebt uns auch nach dem Maße unsers Gehorsams

und unsrer Hingabe an Ihn. „Gebet, und es wird euch

gegeben werden: ein gutes, gedrücktes und gerütteltes und

überlaufendes Maß wird man in euern Schoß geben."

256

(Luk. 6, 38.) Sobald Ruth den Boas kennen gelernt

hatte, that sie alles im Hinblick ans ihn; und jetzt thut er

alles für sie. Es genügt unserm Herrn nicht, in keiner.

Weise unser Schuldner zu bleiben; nein, Er will auch

dem treuen Herzen nach allen seinen Bedürfnissen geben.

„Das ganze Thor meines Volkes weiß, daß du ein

wackeres Weib bist." (V. 11.) Ruth vereinigt in sich die

Eigenschaften, von denen der Apostel Petrus spricht und

welche bewirken, daß man nicht träge noch fruchtleer in der

Erkenntnis des Herrn ist. Sie fügt zu ihrem Glauben die

Tugend, zur Tugend die Kenntnis, zur Kenntnis die Enthaltsamkeit,

zur Enthaltsamkeit das Ausharren, und zum

Ausharren die Gottseligkeit. Sie fügt zur Bruderliebe die

Liebe und erweist mehr Güte am Ende als am Anfang.

Auch wird ihr reichlich dargereicht der Eingang in das Reich.

Das Herz des Boas wird durch eine solche Treue gerührt:

„Alles was du sagst, werde ich dir thun". Welch ein

Beispiel für uns! Laßt uns eifrig darnach streben, auch

eine solche Antwort zu erhalten! Die Versammlung von

Philadelphia empfängt sie. Sie hat das Wort Jesu

bewahrt und, wie Ruth, in Seinem Ausharren und in

praktischer Heiligkeit gewandelt; darum sagt Jesus zu ihr:

Ich werde alles für dich thun! Auch den armen jüdischen

Überrest wird der Herr am Ende segnen nach der Tugend,

Heiligkeit und praktischen Gerechtigkeit, welche derselbe in

seinem Wandel zeigen wird. Uns segnet Er heute in gleicher

Weise: „Was irgend wir bitten, empfangen wir von Ihm,

weil wir Seine Gebote halten und das vor Ihm Wohlgefällige

thun." (1. Joh. 3, 22.)

Es war jedoch noch ein näherer Blutsverwandter da,

der ein größeres Recht auf die Lösung Ruths hatte als

257

Boas. Wird oder kann er von diesem Rechte Gebrauch

machen? Wir werden später darauf zurückkommen.

' " Ruth hat inzwischen das Borrecht, bis zum Morgen

zu den Füßen des Boas liegen zu dürfen. Das wird

das Teil des Überrestes sein, und ist auch das unsrige.

So lange die Nacht währt, können wir zn Seinen Füßen

ruhen. Ist das nicht ein gesegneter Platz? Zu Seinen

Füßen, in dem Besitz Seines Beifalls betreffs unsers

Wandels, als die Empfänger und die Gegenstände Seiner

Verheißungen, erfüllt mit der Gewißheit, daß Er uns

gehört hat, und daß all die Mühsal dieses elenden Lebens

bald ein Ende nehmen und der allen sichtbaren Offenbarung

unsrer Beziehungen zu Ihm, sowie dem Besitz der herrlichen

Früchte Seines Werkes Platz machen wird?

Jetzt ist es Boas (V. 14), der für den guten Ruf

Ruths Sorge trägt und die Heiligkeit derjenigen rechtfertigt,

welche er zu seiner Genossin machen will. Bevor

er jedoch ihre Sache öffentlich in die Hand nimmt, füllt

er ihren Mantel mit Gerste, und giebt ihr so im Verborgenen

ein Unterpfand für das, was er für sie thun

will. (V. 15.) Gerade so handelt der Herr mit uns.

Der Morgen bricht bald an; bevor wir jedoch Ihn sehen

und „erkennen" können, hat Er uns schon den Heiligen

Geist der Verheißung gegeben, als Unterpfand unsers

zukünftigen Erbteils.

Reich beladen kehrt Ruth zu ihrer Schwiegermutter

zurück und erzählt ihr, nicht, was sie für Boas gethan,

sondern „alles was der Mann ihr gethan hatte". Ihr

Herz ist voll von ihm, und sie bedarf, von ihrer Mutter

zur Geduld ermahnt zu werden. Sie wird nicht mehr-

lange zu warten haben; denn derjenige, welcher ihre

258

Sache in seine Hand genommen hat, wird nicht lange

zögern, sie zum Siege zu führen. „Er wird nicht ruhen",

sagt Noomi, „er habe denn die Sache heute beendigt."

Warum? Weil er Ruth liebt. Das ist der große und

einzige Beweggrund für seine Bemühungen zu ihren Gunsten.

Geliebte Brüder! Reden wir auch wie Noomi?

Besitzen wir dieses beglückende Bewußtsein von der Liebe

Jesu zu uns? Erwarten wir Ihn als Den, der sich

keine Ruhe gönnen wird, bis Er die Sache heute beendigt

hat? Dieses „Heute" bedeutet die tägliche Erwartung

unsers Herrn. Er will uns bei sich haben. Nur noch

ein wenig Geduld, und der Kommende wird kommen und

nicht verziehen!

Kapitel 4.

Noomi hatte wahr gesprochen. Boas gönnte sich

nicht eher Ruhe, bis das Werk, das er in seiner Güte

und Energie unternommen hatte, vollbracht war. Er

wollte, daß die Geliebte Ruhe fände und glücklich wäre

(Kap. 3, 1), und er wußte, daß sie das nur in Gemeinschaft

mit ihm sein konnte. Genau so verhält es sich mit

dem Herrn im Blick auf uns. Sein Leben hienieden war

ein Leben der Arbeit für uns und fand seinen Höhepunkt

in der unsäglichen „Mühsal Seiner Seele" auf dem Kreuze.

Damit hat Er Sein Versprechen: „Ich werde euch Ruhe

geben", erfüllt. Wir besitzen bereits eine Ruhe des Gewissens

durch die Kenntnis Seines Werks, sowie eine

Ruhe des Herzens durch die Kenntnis Seiner anbetungswürdigen

Person. Aber heute noch wirkt der Herr fort, um

uns in die zukünftige Ruhe, welche „dem Volke Gottes noch

übrigbleibt", einzuführen, in eine Ruhe der befriedigten

259

Liebe, in welcher alles ans immerdar den Gedanken Seines

Herzens entsprechen wird.

Boas wünschte auch darum seiner Vielgeliebten Ruhe

zu verschaffen, weil sie gearbeitet und mit dem Volke

Gottes gelitten hatte. So sagt der Heilige Geist auch zu

uns: „Es ist bei Gott gerecht, euch, die ihr bedrängt

werdet, Ruhe zu geben mit uns bei der Offenbarung des

Herrn Jesu vom Himmel". (2. Thess. 1, 7.) „Gott ist

nicht ungerecht, euers Werkes zu vergessen, und der Liebe,

die ihr gegen Seinen Namen bewiesen, da ihr den Heiligen

gedient habt und dienet." (Hebr. 6, 10.)

Das Buch Ruth spricht viel von Arbeit und

Ruhe: von Arbeit und Ruhe im Dienst, von Arbeit und

Ruhe des Glaubens, von Arbeit und Ruhe der Gnade.

Die Schnitter arbeiten und ruhen, ebenso der Herr der

Ernte, nnd so auch Ruth, die Braut seiner Wahl. Wie

friedlich ruht sie zu den Füßen des Boas während der

Stunden der Nacht! und wie ruht sie nachher in der

stillen Erwartung, daß die Bemühungen ihres Lösers ihr

die Ruhe verschaffen werden, von welcher dieses Kapitel

uns berichtet!

Nach israelitischer Sitte handelte es sich darum, den

Namen des Verstorbenen Wiederaufleben zu lassen und ihn

in sein Erbteil zurückzuführen. Diese Pflicht lag dem

nächsten Verwandten ob. Nun war ein Mann da, der

nähere Rechte auf die Erbschaft Elimelechs hatte als Boas,

und an diesen wandte sich Boas im Beisein zahlreicher

Zeugen. Dieser Mann hätte die Erbschaft gern angetreten-

da er aber wußte, „daß der Same nicht sein eigen sein

würde", so weigerte er sich, Ruth zu übernehmen. Hätte

er es gethan, so würde er dadurch sein eignes Erbgut

260

geschmälert und verderbt haben, da die Habe der Kinder

Ruths weder an ihn noch an seine Familie zurückgefallen

wäre.

Dieser nächste Verwandte ist ein sprechendes Vorbild

von dem Gesetz. In der That, das Gesetz, welches ältere

Rechte auf Israel hatte, fordert und nimmt, wie jener

Mann, aber es giebt nichts. Es würde eben nicht mehr

das Gesetz sein, wenn es das Werk der Gnade unternehmen

könnte. Indes entspringt diese Kraftlosigkeit nicht

aus ihm selbst, sondern aus denen, an welche es sich

richtet. Das Gesetz erwartet etwas von dem Menschen;

dieser aber erweist sich unfähig, Gott zu gefallen. Es

verheißt das Leben unter der Bedingung des Gehorsams;

da nun der Mensch sündig und ungehorsam ist, so kann das

Gesetz ihn nur verdammen. Es ist ein Dienst des Todes

und kann den Toten das Leben nicht geben. Unfruchtbar,

wie es ist, wird es niemals Nachkommenschaft haben und

kann nicht Söhne nach dem göttlichen Geschlecht des Messias

hervorbringen.

Die Gnade allein vermochte ein solches Werk zn

unternehmen. Indem sie den Menschen für verloren erklärt

und nichts von ihm erwartet, legt sie ihm keinerlei

Bedingungen auf, macht ihm auch keine Versprechungen,

sondern giebt ihm freiwillig, ohne Aufhören, für ewig.

Sie zeugt mittelst eines unverweslichen Samens und teilt

das Leben mit; sie bringt den Menschen in Beziehung zn

Gott, ruft in ihni Früchte hervor, die Gott anerkennen

kann, und führt ihn in die Herrlichkeit.

So erklärt sich denn das Gesetz ohnmächtig angesichts

des „zweiten Mannes", der nach ihm kommt, unsers Boas,

in welchem „die Stärke" ist. Dieser wird Sein Volk Israel

261

Wiederauferstehen lassen und „Samen sehen", wie Jesaja

sagt, aber erst dann, wie wir wissen, „wenn Er Seine

Seele ausgeschüttet hat in den Tod". (Jes. 53.) In der

Zwischenzeit ist das ganze Resultat Seines Werkes am

Kreuze auf uns Christen anwendbar. Im Blick auf unsre

Seelen sind wir bereits mit Ihm auferweckt, und was

unsre Leiber betrifft, so werden wir es sicherlich auch bald

sein, gleichwie Er es ist. Für uns ist Boas das Vorbild

eines auferstandenen Christus.

Der nächste Anverwandte zieht seinen Schuh aus:

das Gesetz überläßt seine Rechte Christo — Rechte, welche

von den zu diesem Zweck versammelten Zeugen anerkannt

werden. Boas löst das Erbteil, um Ruth zu besitzen;

denn er hat mehr Interesse an dem Wohlergehen dieser

Fremden, als an allem was ihr gehört. Für die Kirche

hat Christus noch weit mehr gethan. Er hat alles was

Sein war, aufgegeben, um uns zu gewinnen. Der

arme Überrest Israels wird das auch mit Freude er­

kennen, wenn er seinen einst verworfenen Messias in

Herrlichkeit wiederkommen sehen wird.

Die Zeugen dieser Scene, das Volk und die

Ältesten, segnen den mächtigen Boas und jauchzen ihm

zu; denn eine solche Güte ist alles Lobes wert. Der

Heilige Geist legt prophetische Worte in ihren Mund:

„Jehova mache das Weib, das in dein Haus kommt, wie

Rahel und wie Lea, die beide das Haus Israel erbaut

haben!" (V- 11.) Mit der armen Moabitin fängt sozusagen

die Geschichte des Volkes von neuem an, und zwar auf

dem Boden der Gnade. Nicht Lea, sondern Rahel, das

geliebte Weib, das Weib der freien Wahl Jakobs, um

welches er so lange dienend geworben hatte, steht hier in

262

erster Reihe. In jeder Beziehung, in jedem Umstand

lenkt das Buch Ruth unsern Blick auf die Gnade hin.

„Und werde mächtig in Ephrata und stifte einen Namen

in Bethlehem.'" Diese Städte, die Zeugen der Gnade,

sollen auch Zeugen der Macht des Boas werden: „Und

von dem Samen, den dir Jehova von diesem jungen Weibe

geben wird, werde dein Haus wie das Haus des Perez,

den Tamar dem Juda geboren hat!" Seine Nachkommenschaft

möge erstehen, wie Perez, nach der Wahl der Gnade!

„Und Jehova verlieh der Ruth Schwangerschaft."

Angesichts dieses Erben, den die Gnade gegeben hat, nehmen

die Weiber den prophetischen Gedankengang des Volkes

wieder auf. Sie sagen zu Noomi: „Gepriesen sei Jehova,

der es dir heute nicht hat fehlen lassen an einem Löser!"

Auf das Haupt des Sohnes des Boas übertragen sie das

Recht der von diesem vollzogenen Lösung, und sehen so

die zukünftige Lösung voraus, welche durch den von Ruth

geborenen Mann zuwege gebracht werden soll. In Ihm,

fügen sie hinzu, wird das Alter des Volkes eine Stütze,

seine Schwäche einen Wiederhersteller finden, und sein Name

wird mit demjenigen der Ruth verbunden sein; mit dem

Namen dieses armen Überrestes, dessen Herz in Liebe an

Noomi, dem schwer bedrängten Volke Gottes, hing und

der für Noomi mehr galt, als eine vollkommene Zahl von

Söhnen. (B. 15.)

Noomi Pflegt Obed in ihrem Schoße; er geht, wie

der Messias, aus diesem unfruchtbaren Volke hervor. Die

Nachbarinnen stimmen dann gleichfalls ihren prophetischen

Lobgesang an: „Ein Sohn ist der Noomi

geboren!" Der Kreis wird vertrauter, und damit wächst

das Maß des Verständnisses. Je näher man dem Volke

263

Gottes steht, desto mehr schätzt man Christum und Seine

Gnade. Begnügt man sich mit der Verwandtschaft „des

Volkes und der Ältesten", so wird man auch das Maß

ihres geistlichen Verständnisses nicht überschreiten, wogegen

das mit der Kirche oder Versammlung Gottes verbundene

Herz eine vertrautere und persönlichere Kenntnis von Christo

haben wird. „Ein Sohn ist der Noomi geboren!" So

wird sich einst das zukünftige Israel vor Ihm freuen,

gleich der Freude in der Ernte, wie man frohlockt beim

Verteilen der Beute, und es wird sagen: „Ein Kind ist

uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft

ruht auf Seiner Schulter; und man nennt Seinen Namen:

Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit,

Friedefürst." (Jes. 9.)

„Und sie nannten seinen Namen Obed." Obed bedeutet

„Diener". Bor allen andern wunderbaren Titeln

des Herrn ist dies Sein Ruhmestitel. Der Diener ist

die Wurzel und das Geschlecht Davids, der Träger der

königlichen Gnade. Beben unsre Herzen nicht vor Freude,

wenn wir Ihn mit diesem Namen nennen? Denn Er,

der Berater, der starke Gott, hat gedient, dient und bleibt

ewiglich Diener zum Wohle derer, welche Er liebt. Unsre

höchsten Segnungen finden sich in diesem Titel „Diener"

eingeschlossen: Seine Hingabe . an Gott, Seine Liebe zu

uns, Sein ganzes Werk bis zur Aufopferung Seines eigenen

Lebens, Seine gegenwärtige Gnade, die sich herabläßt, uns

die Füße zu waschen, und Sein ewiger Dienst der Liebe,

wenn wir einst bei Ihm sein werden in der Herrlichkeit

des Vaterhauses!

264

Fremdlinge und Pilgrime.

„Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde,

gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil

empfangen sollte; und er zog aus, nicht wissend, wohin

er komme. Durch Glauben hielt er sich auf in dem

Lande der Verheißung, wie in einem fremden, und wohnte

in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben

Verheißung; denn er erwartete die Stadt, welche Grundlagen

hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist."

(Hebr. 11, 8—10.)

Nachdem der Heilige Geist in den ersten 7 Versen des

angeführten Kapitels die großen Grundsätze und Charakterzüge

des Glaubens, dargestellt in dem Opfer Abels, dem

Leben Henochs und dem Bau der Arche durch Noah, uns

vor Augen geführt hat, sehen wir den Patriarchen Abraham

die Stadt erwarten, welche Grundlagen hat. Ausgezogen

auf das Geheiß des Herrn, fand er in Kanaan nichts als

ein Zelt und einen Altar. Nicht ein Fußbreit des Landes

gehörte ihm. Er war mit Isaak und Jakob, den Miterben

derselben Verheißung, ein Fremdling und Pilgrim im

Lande, zugleich aber auch ein Anbeter Gottes, der Gott

kannte und in Verbindung mit Ihm stand. Anscheinend

empfing sein Glaube nichts. Aber es ist ein wunderbares

Ding um den Glauben. Er schaut über das Sichtbare

hinweg und klammert sich an den unsichtbaren Gott und an

Sein unfehlbares Wort. Der Erwartung des Glaubens

kann nur die gänzliche Erfüllung der Gedanken Gottes

genügen. Abraham, völlig zufrieden, in Kanaan ein

Fremdling und Pilgrim zu sein, erwartete die Stadt, welche

Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.

265

Er rechnete auf Gott, ungeachtet aller Hindernisse und

scheinbaren Unmöglichkeiten.

Der Glaube forscht nie nach Mitteln; er fragt nicht:

Wie soll dies oder das geschehen? sondern er rechnet aus

die Zusage Gottes. Dem natürlichen Menschen kommt

es daher oft vor, als mangle dem Gläubigen die Klugheit.

Aber der Glaube kümmert sich nicht um menschliche

Meinungen. Er weiß, daß, sobald er sich nach Mitteln

umsieht, um sich selbst einen Ausweg zu schaffen, es nicht

mehr Gott ist, der da handelt; es ist nicht mehr Sein

Werk. Der Glaube wartet daher ruhig, bis es Gott gefällt,

ins Mittel zu treten. Er geht nicht mit Fleisch und

Blut zu Rate, er blickt nicht auf die Umstände, sondern

er schaut nach oben und beachtet einzig und allein den

Willen Gottes. Wenn der Glaube schwach ist, so nimmt

man Zuflucht zu äußern Mitteln, um selbst das Werk

Gottes zu thun. So hat es die Kirche gemacht, und wir

sehen das Ergebnis dieses verhängnisvollen Schrittes rund

um uns her. Und ach! wie ost machen wir cs auch so,

und müssen dann die Früchte unsrer Thorheit ernten.

Es ist offenbar, daß nur die Macht Gottes gesegnete

und große Resultate erzielen kann. Nun, wenn der

Glaube handelt, so entsprechen die Resultate dieser Macht

Gottes; denn der Glaube bringt Gott in alles hinein und

sucht nur Seine Verherrlichung. Man sieht oft Christen

eine große Thätigkeit entfalten, aber mit wenig Erfolg.

Woher kommt das? Weil sie selbst auf dem Plane sind und

ihre eigne Ehre suchen. Gott aber ist eifersüchtig auf Seine

Ehre; E r muß verherrlicht werden, nicht der Mensch. Da wo

ein wirklich gesegnetes Werk vorgeht, säet man oft mit

Thränen. Die Seele fühlt die Schwierigkeiten; und Gott will,

266

daß wir sie fühlen, damit wir unsre ganze Ohnmacht erkennen.

Man muß mit Thränen säen, um mit Jubel zu ernten.

Alle diejenigen, von welchen bis zum 13. Verse

unsers Kapitels die Rede ist, sind im Glauben gestorben.

Die Gläubigen des Alten Bundes erwarteten das Kommen

des Messias nach der Verheißung Gottes; wir haben

die Verheißung der Wiederkunft Jesu. Die Apostel

und die entschlafenen Heiligen des Neuen Testaments sind

auch im Glauben gestorben; sie haben die Erfüllung dieser

Verheißung nicht gesehen. Der Gläubige genießt die

Dinge, welche Gott ihm verheißen hat, hienieden nur in

Hoffnung. Infolge dessen führt er kein leichtes, aber doch

ein glückliches Leben. Wenn ein Mensch großen Fleiß

anwendet, um eine Sache zu erlangen, so thut er's, weil

er glaubt, sie einmal in seinen Besitz zu bekommen.

Gerade so ist es mit dem Leben des Glaubens. Wenn

ich eine Sache besitze, brauche ich keine Kraft mehr anzuwenden,

sie zu erlangen. Wir sind Fremdlinge hienieden;

unsre Heimat, alle unsre Segnungen sind droben. Wir

besitzen noch nicht, was wir erhoffen. Wir warten aber

mit Ausharren und haben das Vorrecht, hienieden treu

sein zu können inmitten vieler Schwierigkeiten. Im Himmel

giebt es keine Schwierigkeiten mehr; dort werden wir

ungestört die Gegenwart unsers Herrn genießen. Auch

haben wir das Vorrecht, treu sein zu können inmitten der

Feinde und der Untreuen. Das ist ein besonders großes

Vorrecht, nnd wenn wir nach demselben trachten, so werden

wir erfahren müssen, daß die Schwierigkeiten sich mehren;

aber unser Herz wird auch die süße Gemeinschaft des

Herrn genießen, und alle Zuneigungen und Triebe der

göttlichen Natur werden in Thätigkeit treten.

267

Die Gläubigen, von welchen der Schreiber des

Hebräerbriefes redet, waren nicht nur Fremdlinge und

Pilgrime; sie bekannten das auch ihr ganzes Leben

hindurch. Sie legten Zeugnis von ihrer himmlischen Berufung

ab durch Wort und Wandel. Man will bisweilen

fromm im Herzen sein, aber nicht davon reden. Niemand

soll etwas davon merken, daß man nicht der Welt angehört,

sondern Christo. Man fürchtet die Verachtung, das Kreuz,

aber das ist nicht die Kraft des Glaubens. Inmitten einer

Welt zu stehen, die dem Gericht entgegengeht, ja schon

gerichtet ist, und dann nicht von Christo zu zeugen, sich

nicht als einen Fremdling zu betrachten und zu bekennen,

wahrlich, das ist eine armselige Sache. Was würden wir

von einem Freunde sagen, der sich unter schwierigen Umständen

scheute, sich zu uns zu bekennen? Es wäre ein

schlechter Freund, nicht wahr? So ist auch ein Christ,

welcher sich scheut, Christum zu bekennen und Seine Schmach

auf sich zu nehmen, ein schlechter Christ.

Und noch eins. Wenn unser Glaubensauge auf

Christum gerichtet ist, so begrüßen wir die Dinge, welche

wir von ferne gesehen haben, und denken nicht an das,

was hinter uns liegt. Wir vergessen, was dahinten ist,

und strecken uns aus nach dem, was vor uns liegt. Die

Zukunft füllt alle unsre Gedanken aus. Als Rebekka

einst dem Knechte Abrahams folgte und zu Isaak zog,

war die Gegenwart für sie keineswegs erfreulich. Sie

mußte ihre Heimat, ihre Eltern und Verwandten verlassen

und mit einem fremden Manne eine weite Reise durch die

Wüste machen. Aber ihr Blick war in die Zukunft gerichtet,

und so verloren die Schwierigkeiten der Gegenwart

alles Abschreckende für sie. Sie eilte vorwärts mit der

268

Energie eines Glaubens, der von den herrlichen Dingen,

die sie noch nicht sah, überzeugt war. Hätte sie nicht an

die Zukunft gedacht oder den Worten Eliesers nicht völlig

geglaubt, so würde ihr Blick auf den Umständen und

Schwierigkeiten geruht haben, und die Reise nach Kanaan

wäre sicher unterblieben. Genau so ist es mit dem Christen.

Wenn Auge und Herz nicht auf Christum gerichtet sind,

so erscheinen die Schwierigkeiten wie unübersteigliche Berge,

und die Neigung zn der Welt und ihren Dingen kehrt

zurück. Man zieht den bequemen Weg der Weltlichkeit

dem oft rauhen Pfade des treuen Bekenntnisses vor. Und

je länger man in diesem traurigen Zustande beharrt, desto

zaghafter wird das Herz und desto trüber der Blick des

Glaubens.

Ein treuer Christ würde lieber sterben als in die

Welt zurückkehren. Ec will teilhaben an der Auferstehung

aus den Toten. (Bergl. Phil. 3, 7—14.) Er offenbart

eine Festigkeit und Beharrlichkeit des Herzens, welche beweist,

daß seine Zuneigungen auf die himmlischen Dinge

gerichtet sind. Seine Gedanken weilen in der Zukunft,

und sein Herz ist von den Dingen Gottes erfüllt. Darum

schämt sich Gott nicht, der Gott solcher Gläubigen zu

heißen. Er würde sich schämen, der Gott eines Weltlich-

gesinnten zu heißen. Er will nicht, daß von Ihm gesagt

werde, Er stehe in herzlicher Beziehung zu jemandem, der

den nichtigen Freuden dieser Welt, ihrer Ehre oder ihrem

Gelde nachjagt. Ja, Gott würde sich einer solchen Beziehung

schämen. Aber Er schämt sich nicht, der Gott derjenigen

zu heißen, welche den himmlischen Dingen nach-

trachteu. Um ein Jünger Jesu zu sein, muß man allem

Weltlichen entsagen. Wir befinden uns hienieden in der

269

selben Stellung der Selbstverleugnung, in welcher Jesus

war, aber auch in derselben Beziehung zu Gott wie Er.

„Ich fahre auf", läßt Er Seinen Jüngern sagen, „zu

meinem Vater und euerm Vater, und zu meinem Gott

und euerm Gott."

Entweder steht das Fleisch oder der Glaube im

Vordergründe; einen Mittelweg giebt es nicht. Zweck und

Ziel des Christen dürfen nur die himmlischen Dinge

sein. Die Bedürfnisse und Wünsche des neuen Menschen

sind durchaus himmlisch. Man will oft das Christentum gebrauchen,

um die Welt zu verbessern; aber das ist schnurstracks

den Gedanken Gottes zuwider. Jesus bittet nicht

für die Welt, und Gott beschäftigt sich jetzt nur insoweit

mit ihr, als Er Seelen aus ihr errettet. Jeder Versuch,

sich mit der Welt zu verbinden und das Christentum zur

Verbesserung der Welt zu gebrauchen, ist menschlich, irdisch,

fleischlich. Gott will uns allein mit dem Himmel verbunden

wissen. Man muß entweder den Himmel haben

ohne die Welt, oder die Welt ohne den Himmel. Der

Gott, welcher den Seinigen droben eine Stadt zubereitet

hat, kann nichts zwischen ihnen und den himmlischen Dingen

dulden. Nach dieser zukünftigen und bessern Stadt sehnt

sich die erneuerte Seele. Diese Sehnsucht ist himmlisch.

Wie kann ich hienieden ein Fremdling und Pilgrim sein,

wenn ich nach den irdischen Dingen trachte und eine Verbesserung

der Welt anstrebe? Die Berufung Gottes ist

himmlisch, und wenn wir sie verwirklichen, werden wir in

der Welt Schmach finden, aber die Anerkennung Gottes

wird unser Teil sein. Er schämt sich dann nicht, unser

Gott und Vater zu heißen. Und, Geliebte, wie wird uns

sein, wenn wir binnen Kurzem die Herrlichkeit des wahren

270

Salomo sehen werden! Wir werden mit der Königin von

Scheba ausrufen: „Nicht die Hälfte hat man mir gesagt!"

So gebe uns denn Gott, welcher uns eine Stadt

bereitet hat, die Seiner selbst und Seiner Liebe zu uns

würdig ist, daß wir hienieden nicht verfehlen, unsern

Charakter als Fremdlinge und Pilgrime zur Schau zu tragen!

Debora und Barak. *)

*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.

(Richt. 4.)

In den drei ersten Kapiteln des Buches der Richter

besteht das Gericht Gottes über Sein untreues Volk darin,

daß Er cs der Macht seiner äußeren Feinde anheimfallen

läßt. Durch eine neue Untreue aber zieht sich Israel jetzt

weit schwerere Folgen zu. Ein furchtbarer Gegner, Jabin,

der König der Kananiter, der zu Hazor regierte (B. 2),

bezwingt Israel und unterjocht es mit seinen neunhundert

eisernen Wagen. Im 11. Kapitel des Buches Josua finden

wir einen Vorfahren dieses Jabin, der auch über eiserne

Wagen verfügte und ebenfalls in Hazor wohnte. In jener

Zeit verstand Israel, unter der mächtigen Wirkung des Geistes

Gottes, daß zwischen ihm und dem Könige der Kananiter

gar keine Beziehungen bestehen durften. Sic erschlugen

ihn, nachdem sie seine eisernen Wagen mit Feuer verbrannt

nnd seine Hauptstadt zerstört hatten. Welche Beziehungen

hätte auch das Volk Gottes mit der politischen und militärischen

Welt haben können, deren Name und Gebiet von

der Karte Kanaans gestrichen werden sollte? Leider hatte

sich jetzt alles verändert: das untreue Israel ist unter die

271

Herrschaft der Welt geraten; der alte Feind ist aus seiner

Asche wiedererstanden, Hazor ist innerhalb der Grenzen

Kanaans wieder aufgebaut, und das Erbteil des Volkes

zum Königreiche Jabins geworden!

Die Geschichte der Kirche zeigt uns ein ähnliches

Bild. Zuerst befindet sie sich in einer Stellung völliger

Absonderung von der Welt, nnd niemand denkt daran, der

letzteren irgendwelchen Anteil an der Regierung der Versammlung

einzuräumen. Aber schon bald bringt sie der

fleischliche Zustand der Versammlung in Korinth auf diese

abschüssige Bahn. Ein Bruder aus dieser Gemeinde, der

mit einem andern in Streit geraten war, nimmt, um sich

sein Recht zu verschaffen, Zuflucht zu dem Gericht, nicht

etwa der Gläubigen, sondern der Unbekehrten. (1. Kor. 6.)

„Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden?"

fragt der Apostel und fügt tadelnd hinzu: „Zur Beschämung

sage ich's euch". Und welchen Weg hat die Kirche seitdem

verfolgt? Die Welt ist thatsächlich zu ihrer Herrin geworden.

„Ich weiß", sagt der Herr zu der Versammlung in Per-

gamus, „wo du wohnst, wo der Thron des Satan ist".

(Offbg. 2, 13.) Selbst in der großen Erweckungszeit der

Reformation nahmen die Heiligen zu den Herrschern der

Welt ihre Zuflucht und suchten dort ihre Stütze. Heute

noch nehmen die verfolgten Christen den Schutz der Mächtigen

und Angesehenen in dieser Welt in Anspruch, anstatt

die Leiden für Christum mit Freuden zu ertragen.

Das Gericht, welches Josua einst über Hazor ausgeübt

hatte, lebte nur noch in der Erinnerung des Volkes.

Die Kinder Israel hatten den Göttern der Kananiter gedient,

nachdem sie deren Töchter zu Weibern genommen und ihre

eigenen Töchter den Söhnen der Kananiter zu Weibern

272

gegeben hatten. (Kap. 3, 5. 6.) Diese Verbindung hatte

ihre Früchte getragen. Jabin unterdrückt das Volk und

zwingt es, gern oder ungern, seine Herrschaft zu erdulden.

Das ist aber nicht der einzige Charakterzug, der den

armseligen Zustand Israels in jenen traurigen Tagen kennzeichnete.

Wenn die Regierung des Volkes nach außen

hin in die Hände seines Feindes gefallen war, wie sah es

dann mit seiner inneren Verwaltung aus? Sie war den

Händen eines Weibes anvertraut. Das Wort Gottes

lehrt uns, daß in der ersten Zeit die V e rw al t u n g der

Kirche Ältesten übergeben wurde, welche zu diesem Zwecke

von den Aposteln oder deren Beauftragten unter der Leitung

des Heiligen Geistes eingesetzt worden waren. Die Ordnung

der Versammlung und alles was damit zusammenhing,

lag ihnen und den Dienern ob. Wäre es heute, ohne

von der kläglichen Nachahmung sprechen zu wollen, welche

die Menschen an Stelle dieser göttlichen, aber durch die

Untreue der Kirche verloren gegangenen Einrichtung gesetzt

haben, übertrieben, zu behaupten, daß sich in den Sekten

der Christenheit die Neigung, den Frauen die Regierung

ganz oder teilweise zu überlassen, immer breiter macht?

Ja, inan rühmt sich dessen, und es giebt Christen, welche

zu schreiben wagen und den Beweis zu führen suchen,

daß es so sein müsse, daß es nach Gottes Willen sei und

einen blühenden Zustand der Kirche beweise. Um ihre

Behauptung zu begründen, berufen sie sich auf Debora.

Prüfen wir denn, was Debora war.

Debora war eine außerordentliche Frau, ein Weib

des Glaubens, das ein tiefes Gefühl von dem niedrigen

Zustande des Volkes Gottes hatte. Sie erblickte in der

Thatsache, daß Gott einem Weibe eine Stellung öffentlicher

273

Thätigkeit inmitten des Volkes anvertraut hatte, eine

Schmach für die Führer von Israel. Sie sagt zu Barak:

„Ich will Wohl mit dir gehen; nur daß die Ehre nicht

dein sein wird auf dem Wege, den du gehst, denn in die

Hand eines Weibes wird Jehova den Sisera verkaufen."

(V. 9.)

Obgleich Debora zur Beschämung für das durch die

Sünde verweichlichte Volk die ihr von Gott verliehene

Autorität ausübte, bewahrte sie doch in diesen Umständen,

welche eine große Versuchung für sie werden konnten, die

dem Weibe im Worte Gottes angewiesene Stellung. Ohne

das wäre sie kein Weib des Glaubens gewesen. Dieses

Kapitel erzählt uns die Geschichte von zwei glaubensstarken

Weibern, von Debora und Jael. Beide blieben jedoch dem

von Gott dem Weibe verliehenen Charakter treu. Wie übte

Debora ihren Beruf aus? Durchreiste sie das Gebiet

Israels oder stellte sie sich an die Spitze der Heere, wie

es die anderen Richter gethan hatten? Nichts dergleichen;

und es scheint mir nicht ohne Grund zu sein, wenn das

Wort uns sagt: „Sie wohnte unter der Debora-Palme. . .

und die Kinder Israel gingen zu ihr hinauf zu Gericht."

(V. 5.) Obgleich Prophetin und Richterin in

Israel, verläßt sie den von Gott ihr angewiesenen Platz

nicht. Dorthin, wo sie ivohnte, läßt sie Barak holen,

anstatt zu ihm hinzugehen.

Barak ist ein Mann Gottes und wird durch das

Wort zu den Richtern Israels gezählt. „Die Zeit würde

mir fehlen, wenn ich erzählen wollte von Gideon nnd

Barak und Simson und Jephtha." (Hebr. 11, 32.) Aber

Barak ist ein Mann ohne Charakter, ohne innere Kraft

und ohne Gottvertrauen. In einer Zeit des Verfalls

274

darf man nicht erwarten, daß sich die göttlichen Hilfsquellen

alle in dem Besitz der von Gott benutzten Werkzeuge vereinigt

finden. Nicht nur ist heute die Zahl der Arbeiter

klein, sondern die vorhandenen Gaben des Geistes treten

auch äußerst schwach in die Erscheinung, und wie schmerzlich

wird selbst das Fehlen derselben unter den Christen

empfunden! Baraks Charakterschwäche läßt ihn wünschen,

der Gehilfe des Weibes zu sein, während doch nach

1. Mose 2, 18 das Weib die Gehilfin des Mannes sein

sollte. Er würdigt den ihm von Gott anvertrauten Dienst

herab, nnd, was noch schlimmer ist, er sucht Debora zu

verleiten, aus der abhängigen Stellung, welche ihr als

Frau geziemte, herauszutreten. „Wenn du mit mir gehst",

sagt er, „so gehe ich; wenn du aber nicht mit mir gehst,

so gehe ich nicht". (V. 8.) Debora antwortet: „Ich will

Wohl mit dir gehen". Sie kann es thun, ohne ihre

schriftgemäße Stellung zu verlassen. Die heiligen Frauen

gingen mit dem Herrn Jesu, begleiteten Ihn auf Seinen

Wegen und machten sich zu Dienerinnen Seiner Bedürfnisse.

Deboras Thun war gut; schlecht aber war der Beweggrund,

welcher Barak leitete, weshalb Debora ihn auch

streng tadelt. (V. 9.) Was war, im Grunde genommen,

Baraks Beweggrund? Er wollte Wohl von Gott abhängig

sein, aber nicht ohne eine menschliche und sichtbare

Stütze.

Die christliche Welt ist voll von solchen schwachen

Seelen. Die Verwirklichung der Gegenwart Gottes ist so

armselig, die Kenntnis Seines Willens so schwach, und

der Wandel so wenig fest und zielbewußt, daß man sich,

um auf dem Wege Gottes zu wandeln, lieber einer Mittelsperson

anvertraut, als daß man einzig und unmittelbar

275

von GM abhängig ist. Man folgt den Weisungen von

Mitmenschen, sogenannten „Leitern des Gewissens", anstatt

den HeiEn^ Seinen Geist und Sein Wort zu Führern zn

haben. Wenn nun der Berater, trotz bester Meinung,

sich täuscht, was dann? Gott aber, der Herr, Sein Geist

und Sein Wort sind unfehlbar. Die treue Debora veranlaßt

Barak nicht, diesen falschen Weg zu betreten, und

Barak mnß die Folgen seines Mangels an Glauben

tragen.

Er zieht mit seinem Heere hinauf, und Debora begleitet

ihn. Heber, einer jener Keniter, von denen wir

schon bei der Betrachtung des ersten Kapitels gesprochen

haben, hatte es in diesen unruhigen Zeiten für gut befunden,

sich von seinem Stamme zu trennen, und war

weggezogen, um seine Zelte anderwärts aufzuschlagen.

(V- 11.) Auch „herrschte Frieden zwischen Jabin, dem

Kürüge von Hazor, nnd dem Hause Hebers, des Keniters."

W tlssy

'ch; Eann das Vorgehen Hebers eine That des Glaubens

genärmt werden? Ich glaube nicht. Er trennte sich von

ftirKnr gedemütigten Volke und handelte, als wenn er die

Verantwortlichkeit für den traurigen Zustand Israels von

seinen Schultern hätte abwälzen wollen. *) Noch mehr; erhalte

Frieden mit dem anerkannten Feinde seines Volkes

geschlossen, und er hatte das gethan, nm nicht durch Jabin

beunruhigt zu werden. Ein schwaches Weib aber wohnte

in dem Zelte Hebers. Diese verschmähte eine Sicherheit,

welche um solchen Preis erkauft war, und erkannte das

*) Das ist mehr oder minder die Geschichte aller Sekten in

der Christenheit.

276

Bündnis mit dem Feinde ihres Volkes nicht au. Ihr

Herz schlug ungeteilt für Israel. > >

Barak trägt den Sieg davon; Debora, das- Werb des

Glaubens, diese Mutter in Israel, spielt dabei gar keine

Rolle. Das Heer Siseras wird vollständig geschlagen;

sein Führer ist gezwungen, zu Fuß zu entfliehen, und erreicht

das Zelt Jaels, wo er gastfreundliche Aufnahme zu finden

glaubt. Jael verbirgt ihn und giebt ihm auf seine Bitte

um Wasser ein besseres Getränk, nämlich Milch. Sie

behandelt ihn nicht von vornherein als Feind, sondern übt

Gnade gegen ihn; dann aber tritt sie gegen ihn, als den

Feind ihres Volkes, ohne Erbarmen auf. Das Werkzeug,

mit welchem sie Israel befreit, kam demjenigen Schamgars

noch nicht einmal gleich; denn sie besaß keine anderen

Waffen, als die Geräte einer Frau, welche das Zelt zu

hüten hat. Und mit diesen Geräten führt sie den verhängnisvollen

Schlag gegen den Kopf des Feindes. AaiiK

Weib des Glaubens, wie Debora, überschreitet JaÄ M

ihr gesteckten Grenzen in keiner Beziehung. Sie übt ihr

Rächeramt aus mit den Waffen, welche das Zelt ihr botz

und sie thut es im Innern ihrer Behausung und trägt ist

diesem engen Kreise den Sieg davon; denn auch das Werb

muß den Feind bekämpfen, aber an dem Platze und mit

den besonderen Waffen, welche Gott ihr anweist.

In diesem Kapitel strahlt der Glaube bei den Frauen

in besonderem Glanze. Jael sucht keinen Gehilfen, wie

Barak es gethan hatte; sie fühlt sich allein von Jehova

abhängig, und zwischen Ihm und ihr ruht das Geheimnis

ihrer That. Sie bedient sich ihrer eignen Waffen besser,

als ein Mann cs vermocht hätte; denn ein bloßes Zittern

der Hand hätte alles vereiteln können. Sie ist allein;

277

ihr Mann, ihr natürlicher Beschützer, ist abwesend. Aber

allein mit Jehova, kämpft sie unter ihrem Zeltdache, während

ihr- Herz mit den Schlachtreihen Israels verbunden ist.

Von ihr singt Debora hernach in ihrem Liede: „Gesegnet

vor Weibe rn sei Jael, das Weib Hebers, des Keniters,

vor Weibern in Zelten gesegnet!" (Kap. 5, 24.)

Barak kommt, tritt ein und sieht den Sieg dieses

Weibes. Welch ein Gesicht der Demütigung mußte diesen

Heerführer ergreifen, als er sah, daß Gott einem Weibe

die Ehre gegeben hatte, und zwar auf einem Wege, den

er, der Führer und Richter, nicht hatte betreten wollen!

Ja, Ehre sei diesen Frauen! Gott benutzte sie, um

in den Söhnen Seines Volkes das Gefühl ihrer Verantwortlichkeit

wieder wachzurufen. Denn einmal auf-

gcwacht, ruhten sie nicht eher, „bis sie Jabin, den König

der.Kananiter, ausgerottet hatten". (V. 24.)

Hingebung.

"MkMn treuer Hund legt sich auf das Geheiß seines

Herr«, neben dessen Kleidern nieder und bleibt stundenlang

rsHig an derselben Stelle, bis sein Herr zurückkehrt. Er

Mträgt Hitze und Kälte, Hunger und Durst, aber er ver-

Wßt seinen Posten nicht. Er ist für die Dinge seines

Herrn besorgt; um andere Dinge kümmert er sich nicht.

Man mag ihn locken, so viel man will; er weicht nicht

vom Fleck. Ja, sollte selbst ein Hase vornberlaufen, so

unterdrückt er eher die starken Triebe seiner Natur, als

daß er seiner Pflicht untreu würde. Sein Herr hat

ihm sein Gut anvertraut, so lauge er abwesend ist, und

278

dieses hütet der treue Wächter mit bewunderungswürdiger

Hingebung. ' wb

Können wir nicht von dem unvernünftige^ Tiere

lernen, mein lieber Leser? Was ist es, das gerade in

unsern Tagen so schmerzlich vermißt wird? Wahre, einfältige

Hingebung des Herzens an unsern Herrn; wahre,

treue Sorge für die Dinge Christi, weil sie Ihm angehören

und unsrer Hut anvertraut sind! Der Wert der Kleider

besteht für den Hund darin, daß es die Kleider seines

Herrn sind. Ob ihm ihre Bewahrung Unannehmlichkeiten

und Entbehrungen bereitet, das kümmert ihn nicht. Auch

kommt es ihm nicht in den Sinn, daß er während der

Zeit andere, nützlichere Dinge thun könne; nein, sein Herr

hat ihm seinen Dienst angewiesen, und so vollführt er denselben

treu und gewissenhaft.

Ach! es giebt viel Thätigkeit im Weinberge des,Herrn

in unsern Tagen, die sicherlich nicht vom Herrn geboten

ist und darum auch nicht auf Seine Anerkennung rechnen

kann. Nur ein Herz, das seinen Herrn kennt, mit Ihm

Umgang macht und in vertrautem Verkehr mit Ihm steht;

nur ein Herz, für welches das Wort und die Anerkennung

seines Herrn alles ist, wird den richtigen Weg undrdie

richtige Weise finden, Ihm zu dienen und Seine Dinge

zu besorgen. Es fragt nicht darnach, ob es große Dinge

thut, ob es bei Menschen Beachtung und Anerkennung

findet; es schreckt auch nicht vor Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten

oder Entbehrungen zurück, sondern es thut

einfältig und treu das, was ihm aufgetragen ist, was die

Hand zu thun findet. Eine innige Hingebung an den

Herrn unterscheidet stets ohne große Mühe die Dinge,

welche Ihm wohlgefällig sind, und ist für dieselben besorgt.

279

Begegnen einem Christen, dessen Herz wirklich für den

Herrn schlägts''Leiden ans dem Wege seines Dienstes, nun,

so tritt der Beweggrund, welcher ihn leitet, nur umsomehr

ans Licht. Sein Ziel ist stets dasselbe, mag es mit oder

ohne Leiden erreicht werden. Er wünscht seinem Herrn

zu dienen, und durch Leiden wird seine Hingebung und

Opferfreudigkeit nur umso offenbarer.

Wenn der Hund z. B. an einem schönen, warmen

Tape , die Kleider seines Herrn bewachen muß und ihm

von . keiner Seite etwas entgegentritt, was geeignet ist,

seine Aufmerksamkeit abzulenken, so wird seine Hingebung

nicht so sehr ans Licht treten, als wenn er dies bei kalter

Nächt thun muß, oder wenn Diebe kommen und ihn

zwinge,;, die Kleider zu verteidigen. Dann erst zeigt es

sich deutlich, wie ernst er seinen Dienst nimmt. Er setzt

unbedenklich für das Gut seines Herrn sein Leben aufs

Spiel.. . Ähnlich ist es auch mit einem Herzen, das an

Christa Hängt. Es hütet das ihm Anvertraute auch in

ernster'" trüber Zeit und sucht es zu bewahren, koste es

was es wolle. Mit welch einer treuen, zarten Sorge

wachte her Apostel Paulus über die Herde Christi! Er

konnte Wden von unaufhörlichem Mühen und Ringen, ja

von einem „großen Kampfe" um das Wohl der Gläubigen.

(Kol,. 1, 28. 29; 2, 1.) Mit welch einer eifersüchtigen

SäpHe wachte er ferner über die Unverletzlichkeit des

kostbaren, ihm anvertrauten Gutes, dessen Bewahrung er

auch seinem Kinde Timotheus so ernstlich ans Herz legte!

(2. Tim. 1, 14.) Wie scharf wies er diejenigen zurecht,

welche von der Wahrheit abirrten, und wie unerbittlich

streng trat er denen entgegen, welche sie gar zu verderben

trachteten! In ihm war ein Herz, das dem Herrn völlig.

280

ergeben war, das nichts anderes begehrte-als,Seine Ehre

nnd das Wohl der Seinigen, die Bewahrung dessen, was

Christo teuer war. .

O möchten wir doch von ihm lernen! Es giebt

nichts Höheres hienieden, nichts Wichtigeres und Wertvolleres,

als besorgt zu sein für die Dinge des Herrn.

Der Ruhmsüchtige sucht seine eigene Ehre, und niemals

steht er nach seinen Gedanken hoch genng. Der Habsüchtige

trachtet nach dem ungerechten und vergänglichen Mammon,

und niemals empfängt er für seine Begierde genug. Der

wahrhaft geistliche Christ trachtet nach der Verherrlichung

Christi, und niemals thut er sich darin genug. Nein, je

mehr er seinem Herrn ergeben ist, je mehr er Ihn kennen

lernt, je mehr er um Seinetwillen verachtet wirk und

leiden muß, desto mehr wächst seine Sorge für die Dinge

des Herrn, und in demselben Maße auch seine innere Kraft

und seine Freude an den Segnungen, welche das,Teil

aller derer sind, die mit Christo außerhalb des "Hagers

stehen und Seine Schmach tragen. Zugleich Msiimk- sein

Verlangen, das Antlitz seines geliebten Herrn uM Meisters

zu schauen, mit jedem Tage zu. Je trüber dsx .Zeiteg

werden, je mühevoller der Streit und je schmerzlicher die

Erfahrungen in dem Dienst, desto sehnsuchtsvoller' 'schaut

er nach oben und ruft: „Komm, Herr Jem!" ' Teiln

Sein Kommen endet alles Leid, allen Kampf, nkd bringt

dem treuen Streiter Ruhe und herrliche Belohnung, m

Darum, mein lieber Leser, weihe dein Leben, dem

Herrn! Wache auf, wenn du eingcschlafen, ermanne dich,

wenn du schwach und gleichgültig geworden bist! Dz^ne

dem Herrn in Einfalt und Treue, und freue dich, Wenn

es dich etwas kostet! „Siehe, ich komme bald", sagt der

Herr, „und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten,

wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)

Das Lied der Debora. *)

*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.

XI,IV II

(Richter 5.)

Jehova hatte also durch die Hand zweier Frauen und

eines charakterschwachen Mannes eine wunderbare Befreiung

bewirkt, und gerade durch die Schwachheit der von Ihm

benutzten Werkzeuge Seine Gnade und Macht in besonderer

Weise verherrlicht. (Vergl. S. 270—277.) Dieser Sieg

wird das Signal zum Erwachen des Volkes. Der Geist

Gottes giebt diesem Wiederauswachen durch den Mund der

Prophetin Ausdruck. Debora und Barak schildern und feiern

die durch die Befreiung Israels wiedergewonnenen Segnungen.

„Und Debora und Barak, der Sohn Abinoams,

sangen an selbigem Tage und sprachen. . . ." (V. 1.)

Das Erste, was der Befreiung folgt, ist der Lobgesang,

mag er sich auch in einer Zeit des Verfalls ohne Frage viel

schwächer äußern, als es im Anfang der Fall war. Als das

Volk einst aus Ägypten zog, „sangen Mose und die Kinder

Israel ein Lied dem Jehova". (2. Mose 15, 1.) Das ganze

Volk stimmte mit seinem Führer in das Befreiungslied ein.

Nicht eine Stimme fehlte. Vergegenwärtigen wir uns das

mächtige Zusammenklingen dieser 600000 Stimmen, welche

wie in eine einzige Zusammenstössen, um am Ufer des Roten

Meeres den von Jehova erfochtenen Sieg zu verherrlichen.

„Singen will ich Jehova, denn hoch erhaben ist Er!" Alle

Weiber, Mirjam an ihrer Spitze, beteiligten sich an diesem

282

Lobgesang, indem sie die nämlichen Worte wiederholten:

„Singet Jehova, denn hoch erhaben ist Er!"

Und nun betrachten wir den Lobgesang hier im Buche

der Richter! Welch ein Gegensatz! „Debora und Barak

sangen." Ein Weib und ein Mann, zwei Personen nur,

zwei Zeugen einer Zeit des Verfalls! Doch der Herr

ist gegenwärtig, der Geist Gottes ist da; und wenn auch

diese beiden Personen Zeugen des traurigen Verfalls sind,

so haben sie doch etwas, woran sie sich erfreuen können,

und sind imstande, das große Werk Jehovas zu Preisen.

Das Wiedererwachen des Lobes ist das erste Zeichen einer

wahren Erweckung, das erste Bedürfnis von Kindern

Gottes, die wieder zu sich selbst gekommen sind. Debora

und Barak trennen sich nicht von dem Volke; hat sich

dieses auch nicht ganz mit ihnen vereinigt, so erkennen sie

doch die Einheit desselben an, und ihr Lied ist der Ausdruck

von dem, was ganz Israel hätte aussprechen sollen.

„Weil Führer führten in Israel, weil freiwillig sich

stellte das Volk, preiset Jehova!" (V. 2.) Der Anlaß

zum Lobe ist die Thatsache, daß die Gnade Gottes in den

Herzen der Führer und des Volkes gewirkt hatte. Gott

erkennt das an und ermutigt auf diese Weise die Seinigen,

welche so schwach und schwankend sind.

„Höret, ihr Könige, horchet auf, ihr Fürsten! Ich

will, ja, ich will Jehova singen, will singen und spielen

Jehova, dem Gott Israels." (B. 3.) Der Lobgesang

kommt einzig und allein den Treuen zu. „Ich will, ja

ich will", sagen sie. Die Könige und Fürsten der Nationen

werden aufgefordert, zu hören; sie haben aber keinen Anteil

an diesem Liede, denn die Befreiung Israels bedeutet

ihren Untergang.

283

„Jehova! als du auszogest von Seir, als du einher-

schrittest vom Gefilde Edoms, da erzitterte die Erde; auch

troffen die Himmel, auch troffen die Wolken von Wasser.

Die Berge erbebten vor Jehova, jener Sinai vor Jehova,

dem Gott Israels." (V. 4. 5.) Diese Worte erinnern

uns an den Anfang des Liedes Moses (5. Mose 32), auf

welchen auch die Verse 7 u. 8 in Psalm 68 anspielen. Sie

machen uns auf einen zweiten wichtigen Grundsatz aufmerksam,

der in Zeiten geistlichen Erwachens gewöhnlich hervortritt.

Die Seelen fühlen sich angetrieben, ihre Blicke zu den

ersten Segnungen zurückzuwenden, zu dem, was Gott im

Anfang gethan hat. Unbekümmert um das, was sie vor

Azigen sehen, fragen sie: „Was hat G o tt gethan?" Das ist

unser Bewahrungsmittel in einer Zeit des Verfalls. Sagen

wir deshalb nicht mit so manchen untreuen Christen: Wir

müssen uns den Tagen, in denen wir leben, anpassen! Nein,

in einer Zeit, von welcher der Apostel Johannes sagen mußte:

„Es ist die letzte Stunde", besaßen die Heiligen als ihre

Hilfsquelle „das was von Anfang war". (1. Joh. 1, 1.)

„In den Tagen Schamgars, des Sohnes Anaths, in

den Tagen Jaels feierten die Pfade u. s. w." (V. 6—8.)

Ein neuer Grundsatz tritt hier hervor. Die Treuen erkennen

den Verfall Israels an. Sie suchen ihn nicht zu

beschönigen, noch das Böse zu entschuldigen, sondern sie

urteilen darüber, wie Gott urteilt. Vier Thatsachen kennzeichnen

diesen Verfall:

1) „Die Pfade feierten, und die Wanderer betretener

Wege gingen krumme Pfade." Das war es, was die

Unterjochung seitens des Feindes hervorgerufen hatte. Es

gab keine Sicherheit mehr für das Volk auf den betretenen

Wegen, auf den Straßen, wo alle miteinander gewandelt

284

hatten; denn dyrt traf inan den Feind. Deshalb wählte

die Menge krumme, verborgene Pfade, so wie das Herz

es einem jeden eingab. Kennzeichnet dieselbe Erscheinung

nicht auch in unsern Tagen die Kirche Gottes?

2) „Es feierten die Dörfer ) in Israel." Die Orte,

welche das Volk in stillem Frieden bewohnt hatte, standen

verlassen. Die sichtbare Einheit Israels war bis zu dem

Augenblick, wo Debora für die teilweise Wiederherstellung

des Volkes erweckt wurde, verschwunden. Nun, kann man

heute noch die Einheit der Familie Gottes wahrnehmen?

Ach! wenn auch eine gewisse Anzahl von Gläubigen dieselbe

darzustellen sucht, so existiert sie doch im Ganzen nur

noch für den Glauben und in den Ratschlüssen Gottes.

*

3) „Es erwählte neue Götter; da war Streit an den

Thoren!" Ja, das Volk hatte Gott, den ewigen Gott, verlassen

und die wahre Religion mit dem Götzendienst vertauscht.

Israel hatte Jehova beleidigt; daher war es gezüchtigt worden

mit Krieg und einem unablässig drängenden Feinde.

4) „Ward wohl Schild und Lanze gesehen unter

vierzigtausend in Israel?" Es gab keine Waffen mehr

gegen das Böse. Und, möchte ich fragen, wo sind dieselben

jetzt? Was hat man mit dem Schwerte des Geistes

gemacht? Wo ist die Macht des Wortes, um den

falschen Lehren Widerstand zu bieten, welche inmitten der

Christenheit emporwuchern, wie ein Krebs um sich fressen

und den unvergleichlichen Namen Christi in den Staub

ziehen? „Bis wann", fragt der Psalmist, „soll meine Herrlichkeit

zur Schande sein?" Selbst dec Schild des Glaubens

ist zu Boden geworfen, das Böse herrscht, und das

Volk Gottes kann sich nicht davor schützen.

*) So nach der franz. Übersetzung der Bibel.

285

Inmitten der Verwirrung ist es Sache des Gläubigen,

all das Böse mit demutsvoll gebeugtem Haupte anzuerkennen.

Es ist nicht genug damit, daß wir unsre himmlischen

Segnungen verstehen; nein, Gott will auch, daß wir den

Zustand, durch welchen wir, Sein Volk, Ihn verunehrt haben,

völlig anerkennen, damit wir uns davon getrennt halten.

Wenn wir dem Zeugnis Gottes angehören, so laßt uns

auch von dem Bösen fern bleiben. Das schlimmste Kennzeichen

der letzten Zeiten ist nicht offenbare Unsittlichkeit,

obwohl die Sitten heutzutage tief verderbt sind, sondern

in erster Linie falsche Lehren. In dem zweiten Briefe

an Timotheus wird uns besonders im Blick auf solche

Lehren ans Herz gelegt, von der Ungerechtigkeit abzustehen

und uns von den Gefäßen zur Unehre zu reinigen. Aber

auch das genügt noch nicht. Die Prophetin fügt hier

hinzu: „Mein Herz gehört den Führern Israels, denen

die sich freiwillig stellten im Volke." (B. 9.) Das ist

wieder ein neuer Grundsatz. Die Seele erblickt das Gute

da, wo der Geist Gottes es hervorruft, und schließt sich

demselben an. Tas Herz Deboras ist mit den Treuen

in Israel. Offen nimmt sie Stellung mit denen, welche

einen guten Willen gezeigt hatten, und indem sie anerkennt,

was Gott inmitten des Verfalls gethan hat, ruft sie aus:

„Preiset Jehova!" Sie ist glücklich darüber, hienieden

dieses geringe Zeugnis unter den Führern wahrzunehmen.

Möchten auch alle unsre Herzen es schätzen und imstande

sein, mit ihr in den Ruf einzustimmen: „Preiset Jehova!"

Debora wendet sich nunmehr (V. 10 u. 11) an

diejenigen, welche in Frieden die wiedererlangten Segnungen

genießen, und sagt ihnen: „Ihr, die ihr reitet auf weißen

Eselinnen". Es war dies ein Zeichen von Reichtum

286

und Wohlhabenheit. Auf Eseln zu reiten war das Vorrecht

der Angehörigen edler Familien und der Richtersöhne.

(Vergl. Kap. 10, 4; 12, 14.) Die Worte Deboras sind

wie ein Aufruf an solche, welche ohne Kampf sich der

Frucht des Sieges erfreuten. „Ihr, die ihr auf Teppichen

sitzet" — die sich einer wohlthuenden Ruhe überließen;

„ihr, die ihr wandelt auf dem Wege" — die in Frieden

die wiedererlangte Sicherheit genossen. An alle diese

wendet sich Debora und fordert sie auf zu „singen" (oder

nach anderer Übersetzung: zu „sinnen"). Sie alle hatten

nichts mehr mit dem Siege zu thun, als daß sie die Früchte

desselben genossen; denn nur einige hatten gekämpft, deren

Stimmen von den Schöpfrinnen herüberschallten. Wir

dürfen nicht vergessen, daß diese Zeit, so gesegnet sie auch

sein mochte, nicht die Wiederherstellung Israels darstellte,

ebenso wenig wie die Erweckungen in unsern Tagen eine

Wiederaufrichtung der Kirche genannt werden können. Wenn

auch die Sieger die gerechten Thaten Jehovas in Israel

erzählen konnten, und wenn auch das Volk zu den Thoren

hinabgezogen war, um dem Feinde die Stirn zu bieten, so

war es nichtsdestoweniger eine Zeit des Verfalls und nur

eine teilweise Wiederherstellung. Ach! es geziemt sich wohl

für das Volk Gottes unsrer Tage, das nicht zu vergessen.

Es giebt hier indes noch höhere Segnungen für uns.

Der Ton des Liedes steigert sich; die Worte entquillen

in stets wachsender Fülle und Kraft dem Munde Deboras.

„Wache auf, wache auf, Debora! Wache auf, wache

auf, sprich ein Lied! Mache dich auf, Barak, und führe

gefangen deine Gefangenen, Sohn Abinoams!" (V. 12.)

Der 68. Psalm, dieser ergreifende Lobgesang Davids, in

welchem so viele Stellen an Deboras Lied erinnern (vergl.

287

V. 8. 9. 13 u. 18), feiert die durch die Erhöhung des

Herrn bewirkte, völlige, tausendjährige Wiederherstellung

Israels. Jehova wird, wie es dort heißt, inmitten Seines

Volkes wohnen. „Jehova wird daselbst wohnen immerdar

........... Der Herr ist unter ihnen." Woher mag diese

Segnung kommen? Der Psalmist antwortet: „Du bist aufgefahren

in die Höhe, du hast die Gefangenschaft gefangen geführt

; du hast Gaben empfangen im Menschen, und selbst für

Widerspenstige, damit Jehova, Gott, eine Wohnung habe."

Und die Worte dieses Liedes, welches die Fülle

zukünftiger Segnungen Preist, vernehmen wir hier aus

dem Munde eines schwachen Weibes, in einer Zeit des

Verfalls, in welcher Jehova auf die Stirn Israels das

Zeichen verloren gegangener Segnungen gedrückt hatte!

„Mache dich auf, Barak, und führe gefangen die Gefangenschaft,

Sohn Abinoams!" Welch eine Ermunterung für

uns! Wahrlich, erhabene Wahrheiten waren das besondere

Teil des Glaubens in den niedrigen Zeiten der Richter,

wie sie es heute sind in den bösen Tagen, die wir durchschreiten.

Nach dem Durchzuge durch das Rote Meer

feierte Mose in seinem, von der Freude des erlösten Volkes

überströmenden Liede "die Befreiung durch den Tod,

um das Volk zur Wohnung Gottes und später zu dem

von Seinen Händen bereiteten Heiligtum zu führen. Ein

wunderbares Lied, ein Lobgesang der Seele beim Beginn

ihres Weges, wenn sie den Sieg betrachtet, dessen Gegenbild

wir am Kreuze erblicken; ein Lobgesang, in welchem

das Herz das Lied der Befreiung, gleich einem duftenden

Wohlgeruch, ausströmen läßt; und doch nach allem ein

Gesang, welcher diese Befreiung nicht voll und ganz auszudrücken

vermag!

288

Ein Weib also stimmt in einer finstern Zeit des

Verfalls einen über den Tod hinaus sich erhebenden Lobgesang

an, das Lied der Befreiung durch die

Auferstehung. Denn um wen handelt es sich hier,

wenn es heißt: „Mache dich auf, Barak!"? Handelt es

sich nur um den Sohn Abinoams? Was uns betrifft, so

tragen wir kein Bedenken, in Barak ein geheimnisvolles

Vorbild von Christo zu erblicken, der zur Rechten Gottes

hinaufgestiegen ist und die Gefangenschaft gefangen geführt

hat. (Bergl. Eph^ 4, 8.)

Wie sehr sich auch die Zeiten seit jenem feierlichen

Augenblick, da das Lied Moses erschallte, verfinstert haben

mochten, hebt uns doch das prophetische Verständnis eines

Weibes hoch über alles empor und läßt uns das Vorbild

eines auferstandenen Christus schauen. Debora wacht auf,

und ihre Augen sind geöffnet für eine herrliche Scene, in

welcher Barak sich aufmacht, um die besiegte Gefangenschaft

gefangen zu führen, — ein schwaches Bild von der Freiheit,

in welche der Sieger, Christus, uns einführt, damit wir

uns derselben ewig mit Ihm erfreuen mögen. Unter den

im Anfang unsers Kapitels aufgezählten Dingen, welche

die Erweckung der gegenwärtigen Zeit so treffend kennzeichnen,

giebt es einen Zug, der vor allen übrigen

charakteristisch ist, nämlich die Kenntnis eines verherrlichten,

zur Rechten Gottes aufgefahrenen Menschen, eines Menschen,

den unsre Augen und Herzen in jener himmlischen Scene

suchen, in welche Er als Sieger eingetreten ist, nachdem

Er uns durch Seinen Tod und Seine Auferstehung vollkommen

befreit hat. — Also noch einmal, Geliebte, hinweg

mit aller Verzagtheit! denn wir haben alle Ursache, mit

Debora auszurusen: „Preiset Jehova!"

289

„Da zog hinab ein Überrest der Edlen seines Volkes;

Jehova zog zu mir herab unter den Helden." (V. 13.)

Wir dürfen selbst in einer Zeit der Erweckung nicht erwarten,

das ganze Volk in den Kampf hinabziehen zu

sehen. Es wird stets nur der Überrest der Edlen sein;

aber — und das ist ein außerordentlich großes Vorrecht

— Gott betrachtet diesen als „Sein Volk", und erblickt

in ihm den gesegneten Vertreter desselben. Welch eine

Freude für das Herz der Treuen, wenn sie sehen, daß sich

Zeugen, und selbst wenn es nur ein einziger wäre, für

Gott von der Herde trennen, welche, wie Ruben, „zwischen

den Hürden zurückgeblieben ist"! Wir mögen mehr

wünschen, dürfen aber nicht mehr erwarten; wir würden

nicht in einer Zeit des Verfalls leben, wenn es anders

wäre. Und doch, wie kostbar ist unser Teil! „Jehova

zog zu mir herab unter den Helden!" Meine lieben

Brüder, ist das nicht genug sür uns? Der, welcher hinausgestiegen

ist in die Höhe, ist derselbe, welcher mit uns

hinabzieht, um uns in neuen Kämpfen den Sieg zu verleihen.

In den Versen 14—18 verzeichnet Gott die Namen

derjenigen, welche für Ihn gewesen waren, sowie derer,

die sich aus dem einen oder anderen Grunde hatten zurückhalten

lassen. Ephraim, Benjamin, Sebulon und Jfsaschar

waren mit ungeteiltem Herzen auf dem Wege Jehovas

hinabgezogen. Ruben aber war unentschlossen geblieben und

hatte seine Grenzen nicht verlassen. Warum Wohl? „Warum

bliebest du zwischen den Hürden, das Flöten bei den Herden

zu hören?" Der Ton der Posaune, welche das Volk

zusammenries, war nicht bis in das Herz Rubens gedrungen.

Wohlhabend, wie er war, wollte er die erlangten Reich

290

tümer ungestört genießen; er pflegte der Ruhe zwischen

den Hürden und blieb an den Bächen, welche sein Gebiet

begrenzten. — Wohlan, ihr Christen der Jetztzeit! ist

das auch unsre Stellung? Sind wir den Edlen gefolgt,

welche uns den Weg gezeigt haben? Oder haben wir

es, wie Ruben, bei „großen Herzensberatungen" bewenden

lassen? Fehlt es uns auch au Entschiedenheit in dem

Zeugnisse für Christum?

„Gilead ruhte jenseits des Jordan." Die Tage,

in welchen Gilead wohlbewaffnet seine Brüder auf dem

Siegeszuge durch Kanaan begleitet hatte, waren vorüber.

Zufrieden mit seiner irdischen Stellung, — oder soll ich

sagen, seiner irdischen Religion? — außerhalb der eigentlichen

Grenzen des Landes, jenseits des Jordan wohnend,

hat es keine anderen Bedürfnisse mehr und bleibt, wo

es ist.

„Dan, warum weilte er auf Schiffen? Äser blieb

am Gestade des Meeres, und an seinen Buchten ruhte er."

Wo waren Dan und Äser zu finden, als es sich darum

handelte zu kämpfen? Ach, bei ihren Geschäften, bei

ihrem Handel! Sie hatten nicht das Geringste aufgeopfert,

um die Schlacht Jehovas zu schlagen. Doch Debora hält

sich nicht bei der Feststellung des Bösen auf. Voller

Freude verzeichnet sie jeden Zug der Ergebenheit für

Jehova. „Sebnlon ist ein Volk, das seine Seele dem

Tode preisgab, auch Naphthäli auf den Höhen des Gefildes."

(V. 18.)

In den Versen 19—22 enthüllt sich ein neuer

Charakterzug der Treuen. Sie verherrlichen sich nicht,

denken überhaupt nicht an sich selbst, sondern schreiben

Gott allein den Sieg zu, indem sie dem himmlischen

291

Charakter des Kampfes Ausdruck geben. „Vom Himmel

stritten, von ihren Bahnen stritten die Sterne mitSisera."

Dieser Teil des Liedes schließt mit einem rückhaltlosen

Fluche über Meros.

„Fluchet Meros, spricht der Engel Jehovas, verfluchet

seine Bewohner! denn sie sind nicht Jehova zu Hilfe

gekommen, Jehova zu Hilfe unter den Helden!" Diejenigen,

welche in solch bedrängten Zeiten nicht für Christum Partei

nehmen, welche, obwohl sie Seinen Namen und den des

Volkes Gottes für sich in Anspruch nehmen, doch nur

gleichgiltige Herzen für Ihn haben, seien verflucht! „Wenn

jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der

sei Anathema, Maranatha!" (1. Kor. 16, 22.)

Hierauf (V. 24—27) wird Jael geehrt; sie, die

wenig Kraft besitzt, wird gesegnet. „Wasser verlangte er,

Milch gab sie; in einer Schale der Edlen reichte sie geronnene

Milch." Dieses Weib erwies sich dem Feinde

des Volkes Gottes, als er zn ihr kam, gnädig. Sie holte,

um die hohe Stellung Siseras zu ehren, das Beste, was

in ihrem Zelte aufzutreiben war, und reichte dem Manne

Milch in einer Schale der Edlen. Ist das nicht das

Gegenteil von Verachtung? Sollten wir nicht ebenso gegen

die Feinde Gottes handeln und ihnen zur Befriedigung

ihres Hungers und Durstes mehr noch geben, als sie

verlangen? Die Zeugen Gottes verkehren stets in Gnade

mit den schlimmsten Feinden Christi. Jael wird gepriesen,

weil sie das gethan hat; dann aber heißt es weiter: „Ihre

Hand streckte sie aus nach dem Pflocke, und ihre Rechte

nach dem Hammer der Schmiede; und sie hämmerte auf

Sisera, zerschmetterte sein Haupt, und zerschlug und durchbohrte

seine Schläfe". Ja, das Herz Jaels schlug nichts-

292

destowemger ganz für den Gott Israels und für das

Israel Gottes. Sobald es sich um die Wahrheit Gottes

handelte und es darauf ankam, den Feind als solchen zu

behandeln, gebrauchte sie die größte Energie. Dieses

Weib war in jenem Augenblick in ihrer engen Behausung

der wahre Anführer der Heere Jehovas. Sie stand in

erster Reihe und wurde von Gott geehrt, den Sieg

davonzutragen, weil sie ein ungeteiltes Herz für Sein

Volk besaß.

Fluchet Meros, aber gesegnet sei Jael!

Eine andere Scene (B. 28—30) spielt sich in dem

Palaste der Mutter Siseras ab, deren Hochmut bis in

den Staub erniedrigt wird. *)

*) Ich möchte im Vorbeigehen noch darauf Hinweisen, daß

Debora, trotz der hervorragenden Stellung, welche Gott ihr gegeben

hatte, ihren Charakter als Weib in Israel bewahrte und ein besonderes

Verständnis zeigte für alles, was in den Bereich ihres Geschlechts

gehört, sowohl für das was Jael, das gläubige Weib, ehrte, als

auch für das was das Gericht über Siseras Mutter, das hochmütige

Weib, herbeiführte. Etwas Ähnliches finden wir später

bei einer anderen Frau, bei der Königin von Scheba. Als diese

Salomo besuchte, hielt sie keine Musterung über die Truppen des

Königs ab, sondern betrachtete „das Haus, das er gebaut hatte,

und die Speise seines Tisches, und das Sitzen seiner Knechte,

und das Aufwarten seiner Diener und ihre Kleidung und seine

Mundschenken, und seinen Aufgang, auf welchem er in das Haus

Jehovas hinaufging" (1. Kön. 10, 4. 5); und sie that dies mit

einem vollen Verständnis für alles, was sich auf diesem Gebiet

zutrug.

Deboras Lied schließt mit den Worten: „Also mögen

umkommen alle deine Feinde, Jehova! und die Ihn lieben

feien, wie die Sonne aufgeht in ihrer Kraft!" (V. 31.)

Nochmals eine wiedererlangte Segnung, welche für die

293

Zeit der Erweckung charakteristisch ist. Debora giebt ihrer

Hoffnung Ausdruck. Sie blickt vorwärts, zu dem herrlichen

Tage hin, an welchem, nachdem der Herr das Gericht

ausgeübt hat, die Heiligen Israels wie die Sonne selbst

leuchten werden, Dem ähnlich, dessen Angesicht in den

Augen des Propheten war, „wie die Sonne leuchtet in

ihrer Kraft". (Offbg. 1, 16.)

Inmitten der Nacht dieser Welt besitzen auch wir,

geliebte Brüder, diese Hoffnung, und zwar in weit höherem

Sinne und viel näher als Debora. Schon ist der Morgenstern

in unsern Herzen aufgegangen; schon durchdringen

die Augen des Glaubens den Schleier und erfreuen sich

der herrlichen Scene, welche sich noch hinter demselben

verbirgt, und die sich in dem einen unaussprechlich kostbaren

Worte zusammenfassen läßt: Für immer bei dem

Herrn!

In nächt'ger Stunde wachend steht die Braut,

Erwartet sehnend ihres Bräutigams Kommen.

„Ich komme bald!" das Wort hat sie vernommen;

„Ja komm, Herr Jesu, komm!" so ruft sie laut.

Die Nacht vergeht, und schon der Morgen graut;

Der Morgenröte Schein, erst sanft verschwommen,

Ist hell und licht am Himmelsrand erglommen.

Das Sehnen wächst; und siehe, plötzlich schaut

Sie ihren Herrn in hoher Himmelsferne;

lind mit den Heil'gen, die aus stiller Gruft

Erwacht, schwebt sie verwandelt in die Luft

Zu Ihm, dem langersehnten Morgensterne —

So wie zum Himmel sich erhebt der Tau,

Der sonnerwartend glänzte auf der Au.

294

Ein reichlicher Eingang.

„Darum, Brüder, befleißiget euch umsomehr, eure

Berufung und Erwählung fest zu machen; denn wenn

ihr diese Dinge thut, so werdet ihr niemals straucheln.

Denn also wird euch reichlich dargereicht werden der

Eingang in das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes

Jesu Christi. Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer

an diese Dinge zu erinnern." (2. Petr, l, 10—12.)

Der Apostel Petrus war ein treuer Diener der

Gläubigen, ein liebender und wachsamer Hirte der Schäflein

Christi. Er wünschte, daß ihnen allen der Eingang in

das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes reichlich

dargereicht werden möchte. Deshalb trug er Sorge, sie

zu erinnern und zu ermahnen, wiewohl er ihnen nichts

Neues verkündigte, sondern Dinge, welche ihnen längst

bekannt waren.

Wenn der Apostel nun von dem Eingang in das

ewige Reich unsers Herrn und Heilandes redet, so denkt

er ohne Zweifel an die Erscheinung Christi in Macht und

Herrlichkeit zur Aufrichtung Seines Reiches; an Sein

Kommen, bei welchem Er „einem jeden vergelten wird,

wie sein Werk sein wird". (Offbg. 22, 12.) Unsre Verantwortlichkeit

steht immer in Verbindung mit der Erscheinung

des Herrn, nicht aber mit Seinem Kommen

zur Aufnahme der Seinigen. So wird zum Beispiel zu

Timotheus gesagt: „Ich gebiete dir vor Gott . . ., daß

du das Gebot unbefleckt, unsträflich bewahrst bis zur E r-

fcheinung unsers Herrn Jesu Christi." (I.Tim. 6, 13. 14.)

Bei unsrer Aufnahme handelt es sich nicht um Vergeltung,

sondern um die Erfüllung des Ratschlusses, den Gott in

Seiner unumschränkten Gnade gegen uns in Christo Jesu

295

gefaßt, und nach welchem Er uns erlöst hat und in Herrlichkeit

darstellen wird. Wenn es sich um diesen Ratschluß

und diese Gnade handelt, kommt unser Wandel und die

Verwirklichung unsrer Stellung als Kinder Gottes und

Jünger Jesu nicht in Betracht. Gott hat uns geliebt

und Seinen Sohn für uns hingegeben, als wir nichts als

Sünder und Feinde waren. Er hat uns, noch ehe wir

geboren waren, ja schon vor Grundlegung der Welt, zuvorerkannt

und zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes

gleichförmig zu sein. (Röm. 5, 8—10; 8, 29. 30.)

Kommt Christus als der „glänzende Morgenstern", so

werden alle die Seinigen ohne Unterschied in Sein Bild

verwandelt werden, und zwar in einem Nu, in einem

Augenblick. (1. Kor. 15, 52.) Alle, die Schwachen wie

die Starken, die Unmündigen wie die Erwachsenen, die

Kindlein wie die Väter, werden dann in gleicher Herrlichkeit

gesehen werden, zum Preise Seiner unbegreiflichen, alles

Verständnis übersteigenden Gnade. Alle werden einen

gleich reichlichen Eingang haben, einen Eingang, wie nur

die göttliche Gnade ihn darzureichen vermag.

Aber Petrus spricht nicht von diesem Kommen des

Herrn, sondern vom Reiche, und darum kommt unsre

Verantwortlichkeit in Betracht; denn es handelt sich um

die Regierung Gottes — nicht um die Offenbarung der

Gnade gegen verlorene Sünder, sondern um die Offenbarung

der Macht Dessen, der in Gerechtigkeit herrschen wird.

„Und die Gerechtigkeit wird der Gurt Seiner Lenden sein,

und die Treue der Gurt Seiner Hüften." „Und ein

Scepter der Aufrichtigkeit ist das Scepter Seines Reiches."

(Jes. 11, 5; Hebr. 1, 8.) Unter Seiner Regierung wird

keine Vermischung des Guten und Bösen stattfinden, wie

296

in der gegenwärtigen Zeit, wo das Reich dem Menschen

anvertraut ist. „Der Sohn des Menschen wird Seine

Engel senden, und sie werden aus Seinem Reiche alle

Ärgernisse zusammenlesen und die das Gesetzlose thun."

(Matth. 13, 41.)

Wie unzertrennlich die Verantwortlichkeit mit dem

Eingang in das Reich verbunden ist, das geht aus vielen

Stellen der Schrift hervor. „Wahrlich, ich sage euch,

wer irgend das Reich Gottes nicht aufnehmen wird

wie ein Kindlein, wird nicht in dasselbe eingehen."

(Mark. 10, 15.) „Oder wisset ihr nicht, daß Ungerechte

das Reich Gottes nicht ererben werden? Irret euch nicht!

weder Hurer, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch

Weichlinge, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habsüchtige,

noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber

werden das Reich Gottes ererben." (1. Kor. 6, 9. 10.)

„Von denen ich euch Vorhersage, gleichwie ich euch vorhergesagt

habe, daß, die solches thun, das Reich Gottes nicht

ererben werden." (Gal. 5, 21.) „Denn dies wisset und

erkennet ihr, daß kein Hurer oder Unreiner oder Habsüchtiger

(welcher ein Götzendiener ist) ein Erbteil hat in

dem Reiche Christi und Gottes." (Eph. 5, 5.) So auch

wird in der unsrer Betrachtung zu Grunde liegenden Stelle

die Art und Weise unsers Eingangs in das Reich von

unserm Wandel abhängig gemacht: „Darum, Brüder,

befleißiget euch umsomehr, eure Berufung und Erwählung

fest zu machen; denn wenn ihr diese Dinge thut, so werdet

ihr niemals straucheln. Denn also wird euch reichlich

dargereicht werden der Eingang rc."

Wenn auch der Eingang an und für sich den wahren

Christen gesichert ist durch die Gnade, nach welcher es

297

dem Vater Wohlgefallen hat, ihnen das Reich zu geben

(Luk. 12, 32), so ist doch die Art und Weise ihres Eingangs

je nach ihrem Wandel verschieden — reichlich oder kärglich,

weit oder enge. Es giebt solche, die mit Paulus, wenn

auch in weit geringerem Maße, sagen können: „Fortan

liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der

Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben

wird an jenem Tage" (2. Tim. 4, 8); und es giebt solche,

die, gleich Lot, „mit Not" gerettet werden. (1. Petr. 4, 18.)

Wir dürfen nicht vergessen, daß das Reich die Offenbarung

der Macht Dessen ist, der in Gerechtigkeit herrschen wird,

und daß Seine Erscheinung der Tag der gerechten Vergeltung

ist. Alsdann „wird das Werk eines jeden offenbar

werden, denn der Tag wird's klar machen, weil er in

Feuer geoffenbart wird; und welcherlei das Werk eines

jeden ist, wird das Feuer bewähren. Wenn das Werk

jemandes bleiben wird, das er darauf (auf den Grund,

welcher ist Jesus Christus) gebaut hat, so wird er Lohn

empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird,

so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet

werden, doch so wie durchs Feuer." (1. Kor. 3, 11—15.)

Wir sehen hier den großen Unterschied, welchen jener Tag bezüglich

des Eingangs der Gläubigen in das Reich offenbaren

wird, und wie sehr ihr gegenwärtiges Verhalten Einfluß auf

denselben hat. Alle die Tage und Stunden, die wir hienieden

als Gläubige verlebt haben, alle unsre Worte nnd

Werke werden dort für oder gegen uns zeugen, jenachdem

sie in Übereinstimmung standen mit dem Charakter des

Reiches. Wie ernst und wichtig ist das, vornehmlich für

alle, die sich in irgend einer Weise mit dem Werke des

Herrn beschäftigen! Sicher wird der Herr jeden Dienst

298

für Ihn anerkennen, sei er noch so gering und unscheinbar

in den Augen der Menschen; aber ebenso sicher wird nichts

die Feuerprobe bestehen, was nicht durch Seinen Geist

gewirkt und nicht in Übereinstimmung mit Seinem Worte

war, mag es auch seitens der Menschen noch so hoch gepriesen

worden sein.

Möchten wir deshalb allezeit im Lichte jenes großen

Tages wandeln, „würdig des Gottes, der uns zu Seinem

eignen Reiche und Seiner eignen Herrlichkeit beruft"!

(1. Thess. 2, 12.) Dann werden auch unsre Berufung

und Erwählung stets lebendig und frisch vor unsern Seelen

stehen. Die Ursache des ungeistlichen und weltförmigen

Zustandes so mancher Christen liegt ohne Zweifel darin,

daß sie es versäumen, ihre Berufung und Erwählung fest

zu machen, daß sie ihre hohe Berufung aus dem Auge

verlieren und vernachlässigen. Darum fehlt ihnen die

nötige Energie zum Wandel in der Gemeinschaft mit Gott,

in der Gottseligkeit und in der Liebe; sie sind nicht fähig,

sich selbst zu verleugnen und in den Prüfungen auszuharren.

Der Apostel sagt von solchen, daß sie blind und kurzsichtig

seien und die Reinigung ihrer vorigen Sünden vergessen

haben. (V. 9. 10.) Solche sind blind über sich selbst;

sie täuschen sich über ihren wahren Zustand, indem sie

ihren Mangel an wirklicher Gemeinschaft mit Gott

nicht merken und genug an sich selbst haben. Sie sind

kurzsichtig; ihr Blick geht nicht über die zeitlichen Dinge

hinaus, dringt nicht in die Ferne zu den ewigen, unsichtbaren

Herrlichkeiten hin. Sie haben das Bewußtsein jener

fleckenlosen Reinheit verloren, in welcher der Gläubige

kraft des kostbaren Blutes Christi vor den Augen Gottes

steht, die sein Gewissen in Thätigkeit erhält und ihm ein

299

zartes Gefühl verleiht, so daß er die geringste, ihm zum

Bewußtsein kommende Befleckung des Fleisches und des

Geistes verurteilt und richtet. Kein Wunder daher, wenn

die Verunreinigung bei solchen immer größer wird, wenn

das geistliche Unterscheidungsvermögen immer mehr verschwindet,

wenn der Heilige Geist betrübt und Seine

mahnende und strafende Stimme kaum noch vernommen

wird. Kein Wunder ferner, wenn solche Seelen unaufhörlich

straucheln und tiefer und tiefer sinken. Kein Wunder

endlich, wenn nach einem solchen Wandel angesichts der

Ewigkeit sich die Anklagen eines bösen Gewissens erheben,

und das Herz, anstatt mit Frohlocken, mit Zweifeln und

Befürchtungen erfüllt ist.

„Darum, Brüder, befleißiget euch umsomehr,

eure Berufung und Erwählung fest zu machen!" Wenn

wir es nicht thun, so beweisen wir, daß unser Herz nicht

bei der Sache ist, und daß wir kein, oder doch nur ein

sehr geringes Interesse für das Reich unsers Herrn und

Heilandes Jesu Christi haben. Wie ganz anders aber ist es,

wenn unser Herz in der Erwartung dieses Reiches lebt!

Unser Wandel steht dann unter dem Einfluß der Grundsätze

desselben, und wir wandeln „wie am Tage" (Röm. 13,13);

unser Gewissen ist in Übereinstimmung mit dem Lichte

jenes Tages, und unser Eingang ist weit. Wir wandeln

in dem süßen Bewußtsein, daß das Blut Christi uns von

allen unsern Sünden gereinigt hat, und daß nichts mehr

zwischen uns und Gott steht, was uns verurteilen könnte.

Eingedenk unsrer Berufung, ist unser Blick in die Ferne

gerichtet auf das herrliche Ziel hin. Wir schauen über

die Gegenwart hinaus, über alles Sichtbare hinweg, was

unsern Lauf erschweren und aufhalten will. Unser Wandel

300

steht auf der Höhe unsrer Berufung, und je ernster der

Kampf, desto herrlicher ist der Preis; je größer unsre

Selbstverleugnung in den Mühen und Entbehrungen des

Weges, desto freier kann sich die Macht des Heiligen Geistes

in uns entfalten.

Ein durch schwere Kämpfe errungener Sieg ist ein

zwiefacher Sieg, indem unsre Energie dem Feinde Schrecken

einflößt und seinen Widerstand lähmt; wohingegen Zaghaftigkeit

auf unsrer Seite diesen Widerstand verschärft und

die Anstrengungen des Feindes verdoppelt. Daher die

Ermahnung des Apostels: „Eben deshalb reichet aber auch

dar, indem ihr allen Fleiß anwendet, in eurem Glauben

die Tugend" (oder die geistliche Energie, Entschiedenheit).

(V. 5.) Beachten wir die Worte „allen Fleiß" I Welchen

Fleiß wendet der Mensch oft an zur Erlangung vergänglicher

Dinge! Welche Anstrengungen werden gemacht,

welche Opfer gebracht für Dinge, die sich an jenem Tage

nur als ein Raub der Flammen erweisen werden! Man

setzt unbedenklich sein Leben aufs Spiel, um auf der Rennbahn

den ersten Preis zu erjagen, oder sich den Ruhm zu

erwerben, unbekannte Weltgegenden erforscht zu haben.

Mein lieber christlicher Leser! Welchen Fleiß wenden

wir an? Was thun wir, um eine unvergängliche Krone

zu erwerben? „Wisset ihr nicht, daß die, welche in der

Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber einer den Preis

empfängt? Laufet also, auf daß ihr ihn erlanget.

Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in allem; jene

freilich, auf daß sie eine vergängliche Krone empfangen,

wir aber eine unvergängliche. Ich laufe daher also, nicht

wie aufs Ungewisse; ich kämpfe also, nicht wie einer, der

die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und

301

führe ihn in Knechtschaft, auf daß ich nicht, nachdem ich

Andern gepredigt, selbst verwerflich werde." (1. Kor. 9,

24—27.) Der Ausgang des Weges ist durchaus nicht

zweifelhaft oder ungewiß für den, der treu und entschieden

das Ziel im Auge behält.

Aber vergessen wir nicht, daß nur dann diese Energie

bei uns vorhanden sein kann, wenn unsre Berufung und

Erwählung lebendig und frisch vor unsrer Seele stehen.

„Eines aber thue ich", sagt Paulus; „vergessend, was

dahinten ist, und mich ausstreckend nach dem, was vorne

ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem

Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo

Jesu." (Phil. 3, 14.) Denken wir daran, daß der Herr

gerecht ist, daß Er deshalb die geringste Treue gegen

Ihn anerkennen wird; aber auch aus demselben Grunde

die Untreue bei den Seinigen ebensowenig übersieht wie

bei der Welt. Die dem Apostel bereit liegende Krone,

welche er von dem gerechten Richter erwartete, war

die Krone der Gerechtigkeit. Das Wort: „Was

irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7),

ist ein ernster Grundsatz von allgemeiner Anwendung.

Für den Treuen kann dies nur ermutigend sein. Ihm

genügt die Anerkennung von feiten des Herrn, mögen auch

die Menschen ihm ihre Anerkennung versagen und seinen

Weg verurteilen. Lasset uns deshalb im Geringen wie

im Großen treu sein, damit der Herr auch uns an jenem

Tage die Worte zurnfen könne: „Wohl, du guter und

getreuer Knecht! über weniges warst du getreu, über vieles

werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude deines Herrn!"

(Matth. 25, 21. 23.)

302

Gehorsam und Liebe.

Gehorsam gegen Gott und Liebe zu den Heiligen

sind die beiden Charakterzüge des göttlichen Lebens in dem

Gläubigen. Vollkommener Gehorsam kennzeichnete

das Leben Christi hier auf Erden. Er war der stets

Abhängige und Gehorsame. „In der Rolle des Buches"

stand von Ihm geschrieben: „Siehe, ich komme, um deinen

Willen, o Gott, zu thun" ; und als Er hienieden wandelte,

konnte Er sagen: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern

den Willen Dessen, der mich gesandt hat", und an einer

andern Stelle: „Der mich gesandt hat, ist mit mir; Er

hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das Ihm

Wohlgefällige thue". (Joh. 5, 30; 8, 29.) Das war

vollkommener Gehorsam.

Aber dieser Pfad des Gehorsams dem Vater gegenüber

ließ zugleich die Liebe Gottes gegen den Menschen

klar ans Licht treten. Alle Worte, Wege und Handlungen

Christi redeten laut von der Liebe Gottes zu Seinen

schuldigen Geschöpfen. Das Kreuz war die volle Offenbarung

dieser Liebe, sowie der höchste Ausdruck jenes

unweigerlichen Gehorsams. In dem Leben Christi hienieden

waren vollkommener Gehorsam und vollkommene Liebe

miteinander verbunden; und das Leben, in welchem diese

beiden Dinge sich in Christo entfalteten, ist durch die Gnade

dem Gläubigen mitgeteilt.

In Christo gab es keinerlei Unvollkommenheit. Sein

Gehorsam war ebenso vollkommen wie Seine Liebe. In

uns giebt es vieles, was die Offenbarung dieses Lebens

zu hindern geeignet ist; doch das Leben in uns ist seiner

Natur und seinen charakteristischen Eigenschaften nach das

303

gleiche, es ist dasselbe Leben. Und ob in Ihm oder

in uns, es kennzeichnet sich durch Gehorsam. „Hieran

wissen wir, daß wir Ihn kennen, wenn wir Seine Gebote

halten." (1. Joh. 2, 3.) Wo dieser Gehorsam fehlt, da

fehlt alles, mag man auch ein noch so hohes Bekenntnis

im Munde führen. „Wer da sagt: Ich kenne Ihn, und

hält Seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem

ist die Wahrheit nicht." (V. 4.)

Der zweite Charakterzug des göttlichen Lebens ist

hiervon nicht getrennt. Wo Gehorsam ist, da wird auch

Liebe sein, weil beide demselben Leben, derselben Natur

angehören. „Wer irgend Sein Wort hält", — das ist

Gehorsam, — „in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes

vollendet. Hieran wissen wir, daß wir in Ihm sind."

(V. 5.) Sein Wort ist der Ausdruck dessen, was Er ist,

der Ausdruck Seiner Natur; und „Gott ist Liebe", so daß,

wenn wir Sein Wort halten, Seine Liebe in uns vollendet

ist.

Aber „Seine Gebote" sind nicht nur der Ausdruck

dessen, was Er ist, sondern auch Seiner Autorität. Wir

find berufen, zu gehorchen, und zwar zu gehorchen, wie

Christus gehorcht hat. Wir sind geheiligt „zum Gehorsam

Jesu Christi". (1. Petr, l, 2.) Und wenn wir sagen, daß wir

in Ihm bleiben, so find wir schuldig, auch so zu wandeln,

Wie Er gewandelt hat, d. h. im Gehorsam gegen Gott;

denn das war Sein Leben. Da war keine Regung in

Seiner Seele, keine thätliche Äußerung Seines Lebens,

die nicht Gehorsam gegen den Willen Seines Vaters

gewesen wäre. Wahrlich, es ist ein gesegnetes Vorrecht,

den Vollkommenen in Seinem Pfade des vollkommenen

Gehorsams betrachten zu dürfen! Und glücklich alle, welche

304

Seinen Fußstapfen nachfolgen, welche so wandeln, wie Er

gewandelt hat!

Das Gebot, zu gehorchen, wie Christus gehorcht, zu

wandeln, wie Er gewandelt hat, war nicht ein „neues

Gebot". Es war das Wort, welches sie von Anfang

gehört hatten, in Verbindung mit der Offenbarung des

göttlichen Lebens in Christo. Es war das Gebot des

Vaters an Christum, nach Seinen eignen Worten: „Denn

ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater,

der mich gesandt hat, Er hat mir ein Gebot gegeben, was

ich sagen und was ich reden soll; und ich weiß, daß Sein

Gebot ewiges Leben ist. Was ich nun rede, rede ich also,

wie mir der Vater gesagt hat." (Joh. 12, 49. SO.) So

nennt denn Johannes das Gebot „alt". Wiederum war

es ein „neues Gebot", weil es wahr ist in Ihm und

in uns. Das Gebot war der Ausdruck des ewigen

Lebens — „Sein Gebot ist ewiges Leben" — und wurde

zuerst in Christo gesehen. Jetzt aber ist es wahr auch in

uns, „weil die Finsternis vergeht und das wahrhaftige

Licht schon leuchtet". Das Licht des Lebens schien jetzt

uni so Heller, nachdem Christus „hingegangen" und verherrlicht

war, und Vertrieb die Finsternis. Dieses Leben,

sür den Menschen und in dem Menschen als Frucht des

vollbrachten Erlösungswerkes, das Leben in Christo, das

Leben im Geiste, war eine neue Sache. Es ist Christus

in uns, Christus als unser Leben. Wir haben teil an

Seiner Natur, und sind in Ihm und Er in uns. Das Gebot

ist „alt", weil der Gehorsam, welcher dieses Leben charakterisiert,

in Ihm von Anfang an gesehen worden war.

Es ist „neu", weil dieselbe Sache jetzt in den Gläubigen

gesehen wird — „was wahr ist in Ihm und in euch".

305

So lange die Erlösung nicht vollbracht war, blieb

Christus allein. Jetzt ist Er aber nicht mehr allein;

wir sind in Ihm, und Er ist in uns. Das ist eine

wunderbare Wahrheit, welche den Kindern Gottes einen

wunderbaren Charakter verleiht. Ter Heilige Geist in

uns ist die Kraft von diesem allen, gleichsam die göttliche

Antwort in uns hienieden auf alles das, was Christus

als Mensch in der Herrlichkeit droben ist. Es handelt

sich nicht länger um einen Christus, der als Mensch allein

in dieser Welt wandelte, sondern Christus ist in den

Gläubigen, und das „ewige Leben" ist in ihnen entfaltet.

In den Briefen des Johannes wird Christus als das

„ewige Leben" hier in dieser Welt betrachtet, zuerst allein,

und dann in den Heiligen — „was wahr ist in Ihm

und in euch". Und dieses Leben, sei es in Christo allein,

oder in Ihm und in uns, ist zunächst ein Leben des

Gehorsams und dann ein Leben der Liebe.

In 1. Joh. 2, 3—8 finden wir Gehorsam und

Ungehorsam, in Vers 9—11 Liebe und Haß. Gehorsam

und Liebe kennzeichnen diejenigen, welche im Lichte sind;

Ungehorsam und Haß diejenigen, welche in der Finsternis

sind. Jemand mag sagen, daß er in dem Lichte sei;

wenn er aber seinen Bruder haßt, so ist er noch in der

Finsternis und hat das Licht nie gesehen. „Er wandelt

in der Finsternis und weiß nicht, wohin er geht, weil die

Finsternis seine Augen verblendet hat." Er kennt nicht

das „Licht des Lebens". Wenn wir aber irgendwo die

göttliche Liebe gegen einen Bruder in Thätigkeit sehen, so

können wir sagen: Hier ist jemand, der in dem Lichte

bleibt. Ein solcher hat den Gott gefunden, welcher Licht

ist, und indem er das Licht gefunden hat, besitzt er auch

306

die Liebe, denn „Gott ist Licht" und „Gott ist Liebe".

Wir können nicht das eine ohne die andere haben, ebenso

wenig wie man die Sonne haben kann, ohne sowohl Licht

als Wärme zu besitzen. „Wer seinen Bruder liebt, bleibt

in dem Lichte, und kein Ärgernis ist in ihm."

Das Licht vertreibt die Finsternis, und dann ist kein

Anlaß zum Straucheln vorhanden. „Der Gott, der aus

der Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsre

Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der

Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi." (2. Kor. 4, 6.)

Und Er, der in unsre Herzen geleuchtet hat als Licht, ist

auch Liebe. Welch eine anbetungswürdige Gnade für solche,

die „einst Finsternis" waren, nun aber „Licht in dem

Herrn" sind!

Geliebter Leser! sind unsre Augen geöffnet worden,

um das Licht zu sehen? Haben unsre Herzen die Liebe

geschmeckt? O laß uns dann „in Liebe wandeln,

gleichwie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für

uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer,

Gott zu einem duftenden Wohlgeruch" : laß uns wandeln

„als Kinder des Lichts, (denn die Frucht des Lichts

besteht in aller Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit,)

indem wir prüfen, was dem Herrn wohlgefällig ist!"

(Eph. 5, 2. 8—10.) Ja, möchten wir wandeln in dem

Lichte und dem Sonnenschein der Gegenwart Dessen, welcher

sagen konnte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen,

o Gott, zu thun", der nie für einen Augenblick diesen

Pfad verließ und der, nachdem Er die Seinigen, die in

der Welt waren, geliebt hatte, sie liebt bis ans Ende!

307

„Lasset jedermann von mir hinausgehen!"

„Und Joseph konnte sich nicht bezwingen vor allen,

die um ihn standen, und er rief: Lasset jedermann von mir

hinausgehen! Und es stand niemand bei ihm, als Joseph

sich seinen Brüdern zu erkennen gab." (1. Mose 45, 1.)

Wahrhaft bewunderungswürdig ist die Weisheit, mit

welcher Joseph einst seine schuldigen Brüder behandelte.

Ein Größerer als er tritt unwillkürlich vor unsre Blicke,

wenn wir die Kapitel 42—45 des 1. Buches Mose lesen.

Wir dürfen Wohl sagen: Josephs Liebe war die Liebe

Christi, und er wurde geleitet durch den Geist Christi.

Er handelte mit seinen Brüdern, so wie Christus mit uns

handelt und wie Er einst handeln wird mit dem Überrest

Seines irdischen Volkes.

Wahre Liebe denkt nie an sich, sondern hat nur das

Wohl ihrer Gegenstände im Auge. Hätte Joseph an sich

gedacht, so würde er sich seinen Brüdern von vornherein

zu erkennen gegeben und sich an ihrer Verlegenheit und

Beschämung geweidet haben. Seine Träume, um derentwillen

sie ihn so grimmig gehaßt und so grausam behandelt

hatten, waren ja in herrlichster Weise in Erfüllung gegangen.

Er war Herr über ganz Ägyptenland, und seine Brüder

lagen auf ihren Angesichtern vor ihm. Aber nein, er dachte

nicht im Geringsten an sich, noch an eine Vergeltung des

schweren Unrechts und Leides, das sie ihm angethan hatten.

Das einzige Ziel, welches ihm vorschwebte, war die Erreichung

ihrer Herzen und Gewissen und die Wiederherstellung

ihrer Seelen.

Um dieses Ziel zu erreichen, behandelte er sie zunächst

anscheinend hart. Denn die Liebe ist treu, nicht nur

308

zärtlich. Sie kann das Böse nicht gut heißen, noch

es stillschweigend übergehen. Es muß erkannt und gerichtet

werden, und dann erst kann die Liebe es zudecken. Joseph

führt seine Brüder im Geiste nach Dothan zurück, wo sie

die Seelenangst ihres Bruders gesehen und nicht auf ihn

gehört hatten, als er zu ihnen flehte. Zuerst bindet er

Simeon vor ihren Augen, und dann fordert er

Benjamin von ihnen, um ihn als Sklaven bei sich zu

behalten. Er stellt sie auf die Probe, ob immer noch

dieselbe Bosheit und Gefühllosigkeit gegen ihren Bruder

und ihren alten Vater in ihren Herzen sei, wie einst zu

Dothan. Und ihre Gewissen werden getroffen. „Fürwahr,

wir sind schuldig wegen unsers Bruders", sagen sie, und:

„Was sollen wir reden und wie uns rechtfertigen? Gott

hat die Missethat deiner Knechte gefunden". Die Beschuldigung,

daß sie Kundschafter seien, war unbegründet, nnd

wegen des Bechers waren sie unschuldig; aber eine andere,

vor vielen Jahren geschehene Missethat lastete auf ihrem

Gewissen, und Juda giebt ihrer tiefen Reue darüber und

ihren völlig veränderten Gefühlen Ausdruck. Er bekennt

ihre gemeinsame Sünde.

Und nun kann sich Joseph nicht länger bezwingen.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wo die Liebe zärtlich

sein, wo das Herz zu seinem Rechte kommen konnte.

Die Güte Gottes hatte zur Buße geleitet. „Lasset jedermann

von mir hinausgehen!" sagt Joseph. Kein Ägypter

sollte Kunde von dem erhalten, was seine Brüder gethan

hatten; denn das hätte sie vor jenen bloßgestellt und beschämt,

und das durfte nicht sein. Es war eine Sache

zwischen Joseph und seinen Brüdern allein. Er weint

vor ihnen und giebt sich ihnen zu erkennen. Und als sie

erschrocken zurückweichen, da redet er freundliche, herzliche

Worte zu ihnen. Die Missethat ist geschehen, aber sie ist

auch vergeben und zugedeckt, und Gott hat selbst aus dem

Bösen Gutes hervorgehen lassen.

Das Nasiräat und ein Überrest. *)

*) Aus den Betrachtungen über das Buch der Richter von H. R.

XNIV IL

(Richter 13.)

Die Kapitel 13—16 des Buches der Richter bilden

eine Abteilung für sich. In den Kapiteln 3—12 zieht eine

Reihe von Befreiungen, welche durch göttlich berufene

Werkzeuge hervorgerufen wurden, an unsern Augen vorüber.

Es ist das die Periode der Erweckungen. Der uns

jetzt beschäftigende Abschnitt trägt einen besonderen Charakter.

Israel fällt von neuem: „Und die Kinder Israel thaten

wiederum, was böse war in den Augen Jehovas; und

Jehova gab sie in die Hand der Philister vierzig Jahre."

(Kap. 13, 1.) Worin dieser neue Abfall bestand, wird

uns nicht mitgeteilt; daß er aber in den Augen Gottes

schlimm war, ersehen wir aus der Schwere der Strafe,

welche Er dieserhalb über Sein Volk verhängte. Die

Züchtigung ging von den Philistern aus. Nichts kennzeichnet

den Zustand Israels schärfer, als diese Thatsache.

Bisher war die Unterjochung entweder von seiten äußerer

Feinde ausgegangen, oder von Jabin, dem Haupte der

früheren Besitzer des Landes, oder endlich von seiten der

aus Israel nach dem Fleische hervorgegangenen Völker,

welche es an seinen Grenzen bedrängten. Jetzt aber hat

sich der Feind innerhalb des Gebietes Israels festgesetzt

310

und verwüstet das Land. Der Philister herrscht über das

Volk und unterjocht es. Moralischerweise unterscheiden

sich unsere Tage kaum von jener Zeit. Die Untreue der

Kirche hat schon seit langem diese letzte Offenbarung des

Bösen ans Licht gebracht. Das was früher außerhalb des

Hauses Gottes war, herrscht jetzt innerhalb desselben: die

im ersten Kapitel des Römerbriefes beschriebenen Menschen

sind Bewohner des Hauses geworden und drücken dem Volke

Gottes den Stempel ihres Charakters auf. (Vergl. Röm. 1;

2. Tim. 3, 1—5.) Dieses Gemisch nennt man „Christenheit".

Welche Zuflucht bleibt nun in solcher Zeit dem Volke

des Herrn? Ein Wort beantwortet diese Frage; es

lautet: „Das Nasiräat". Das was uns heute kennzeichnen

muß, ist eine gänzliche und vollständige Absonderung, eine

wahre und allgemeine Weihe für Gott.

Unter dem Gesetz, so lange äußerlich noch alles in

Ordnung war, war das Nasiräat nur vorübergehend,

es dauerte nur eine gewisse Zeit. (Vergl. 4. Mose 6.)

In einer Zeit des Verfalls aber wird es imm e rwüh r e n d ,

wie wir es sofort aus dem Beispiele Simsons ersehen.

Simson ist ein Nasiräer von Mutterleibe an. Dieser

Charakter der ununterbrochenen Fortdauer des Nasiräats

findet sich in Samuel, dem Richter und Propheten, wieder

(1. Sam. 1, 11) und verschwindet mit David, dem Borbilde

der königlichen Gnade, und mit Salomo, dem Vorbilde

der königlichen Herrlichkeit Christi. Darauf folgt

dann der Verfall des Volkes unter dem verantwortlichen

Königtum des Menschen, wie er vorher zur Zeit der

Richter unter der mehr unmittelbaren Regierung Gottes

eingetreten war: und nachdem sich der Ruin des Volkes

und des Königtums vollzogen hat, wird Israel den Heiden

311

preisgegeben. Nur ein Überrest wird wiederhergestellt,

um den Messias zu erwarten.

Das Haus war jetzt ohne Zweifel gereinigt, aber

das Volk war ohne wahres Leben. Als der Verfall vollkommen

geoffenbart, obwohl noch nicht durch die Verwerfung

Christi zu seiner ganzen Reife gediehen war, und

das Gericht, zugleich aber auch der Erretter, vor der

Thüre stand, wurde Johannes der Täufer mit einem

immerwährenden Nafiräat (Luk. 1, 15) erweckt. Von Johannes

angekündigt, erschien Jesus, der wahre Joseph, der

Nasiräer unter seinen Brüdern, jedoch ohne die äußeren

Zeichen des irdischen Nasiräats, weil Er ja selbst die

Verwirklichung dieses Vorbildes war. Diese Eigenschaft

an und für sich verkündete laut den Verfall des Volkes.

Am Ende Seiner Laufbahn trat der Herr in einen zweiten,

den himmlischen Abschnitt Seines Nasiräats ein. Er

heiligte sich selbst für Seine Jünger, in dem Himmel,

als der wahre Nasiräer, abgesondert von den Sündern

und zur Rechten Gottes sitzend, indem Er die Seinigen

hienieden zurückließ, um hier Sein Nafiräat darzustellen.

Nachdem die Welt durch das Kreuz von der Sünde überführt

und gerichtet war, wurden die Jünger (später die

Kirche) himmlische, immerwährende Nasiräer inmitten

der Welt.

Bemerkenswert ist noch, daß das, was unter dem

Gesetz nur das Vorrecht Einzelner war, unter der Gnade

das Teil Aller geworden ist. Das Priestertum, welches,

im Gegensatz zu dem Stamme der Leviten, nur einer einzigen

Familie zustand, ist das allgemeine Vorrecht aller

Kinder Gottes geworden. (Bergl. 1. Petr. 2, 5—9.) Noch

weniger zahlreich als die Klasse der Priester war die

312

der Nasiräer in Israel; sie setzte sich aus einigen alleinstehenden

Männern oder Weibern zusammen — um nicht

von den Rekabitern zur Zeit der Propheten zu reden. (Jer.

35.) Aber auch der Charakter dieser Wenigen kennzeichnet

gegenwärtig alle Gläubigen. Wir haben die Ursache davon

bereits angedeutet: die Absonderung für Gott ist das

notwendige Merkmal der Zeugen Gottes bei ihrer Berührung

mit den verderbten Menschen und mit der am

Vorabend des Gerichts stehenden Welt. Diese Wahrheit

von dem allgemeinen und fortdauernden Nasiräat erfüllt

das ganze Neue Testament und strahlt für den, der Augen

hat zu sehen, aus jeder Seite des heiligen Buches hervor.

Sie ist von einer außerordentlichen praktischen Bedeutung.

Unter dem Gesetz sonderte sich ein Nasir, ob Mann

oder Weib, eine gewisse Zeit lang für den Dienst Gottes

ab. Diese Absonderung bestand in drei Dingen (4. Mose

6, 1—9), welche, in bildlichem Sinne betrachtet, die notwendigsten

und wichtigsten Elemente des menschlichen Lebens

berührten. Die Geselligkeit hängt mit der Natur und

selbst mit der Existenz des Menschen innig zusammen.

Der Nasiräer nun mußte sich des Weines und der starken

Getränke enthalten. Vom Wein wird in Kap. 9, 13 gesagt,

daß er „Götter und Menschen erfreue". Diese

Freude der Geselligkeit hätten die Menschen mit Gott

teilen können, wenn nicht durch den Menschen die Sünde

dazwischen getreten wäre und es Gott unmöglich gemacht

hätte, sich gemeinsam mit ihm zu freuen. Derjenige also,

welcher sich dem Dienste Gottes weihte, konnte seine Freude

nicht länger in der Gesellschaft von Seinesgleichen finden;

denn Gott hat nichts mit der Freude der Sünder gemein.

Ein Knecht des Herrn kann seine Freunde nicht in der

313

Welt suchen, noch kann er an ihren Gastmählern teilnehmen

und ihre Vergnügungen mitmachen, weil Gott

nicht da ist. Je offener sich der Verfall zeigt, desto

schärfer tritt diese Thatsache ans Licht.

In dieser Hinsicht fehlen die Christen viel. Sie

haben „weltliche Freunde" und suchen deren Gesellschaft,

nicht etwa um ihnen das Evangelium zu bringen, sondern

um die Annehmlichkeiten eines solchen Verkehrs zu genießen.

Ach! wie wenig gleichen wir oft dem Apostel

Paulus, welcher sagen konnte: „Ich kenne niemanden nach

dem Fleische" ! In dieser Beziehung, wie überhaupt in

allen anderen, war der Herr ein vollkommener Nasiräer,

entfremdet allen Freuden des geselligen Menschen. Er

sagt selbst zu Seinen Jüngern bei jenem letzten, von Ihm

so herzlich herbeigesehnten Zusammensein, als Er im

Angesicht des Todes einen Augenblick irdischer Freude mit

ihnen hätte kosten können: „Wahrlich, ich sage euch, daß

ich hinfort nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks

trinken werde, bis an jenem Tage, da ich cs neu trinken

werde in dem Reiche Gottes". (Mark. 14, 25.) Der

Tag wird kommen, an welchem der Wein, der Gott und

Menschen erfreut, neu getrunken werden wird in einer

von der Sünde gereinigten Scene; und dann wird sich

der wahre Diener dem rückhaltlos beigesellen können.

Das Wort Gottes legt ein besonderes Gewicht auf diese

Absonderung: „Essig von Wein und Essig von starkem Getränk

soll er nicht trinken, und keinerlei Traubensaft soll er

trinken, und Trauben, frische und trockene, soll er nicht

essen . . .; von allem, was vom Weinstock bereitet wird,

von den Kernen bis zur Hülse, soll er nicht essen."

(4. Mose 6, 3. 4.) — Beobachten wir diese Vorschrift,

314

geliebte Brüder? Ist uns wirklich alles das fremd, was

enge oder lose mit der Freude des natürlichen, menschlichen

Herzens zusammenhängt? Wie verwirklichen wir unser

Nasiräat? — Vielleicht wird der Leser einwenden: Ist es

denn überhaupt möglich, dasselbe in einer so unbedingten

Weise zu verwirklichen? Ja, cs ist möglich, und zwar

finden wir diese Möglichkeit in unserm himmlischen

Charakter. Wir haben ein himmlisches Nasiräat. Die

Absonderung unter dem Judentum war eine materielle;

unter dem Christentum wird sie zu einer geistlichen und

himmlischen. Der Herr, welchem wir angehören, ist „von

den Sündern abgesondert und höher als die Himmel geworden".

Er hat zwei Mittel, um uns mit Ihm und

gleich Ihm abzusondern: zunächst das Wort Gottes, welches

uns mit dem Vater im Himmel in Beziehung bringt;

dann Seine Person selbst, ein Christus, der für uns im

Himmel geheiligt ist, um zu bezeugen und festzustellen,

daß unsre Beziehungen, Bande und Neigungen von jetzt

ab himmlisch sind, inmitten einer gerichteten Welt, welche

Christum verworfen hat.

Die zweite Sache, welche den Nasiräer charakterisierte,

war folgende: „Alle die Tage des Gelübdes seiner Absonderung

soll kein Schermesser über sein Haupt gehen;

bis die Tage erfüllt sind, die er sich für Jehova absondert,

soll er heilig sein; er soll das Haar, das Haar seines

Hauptes, wachsen lassen". (4. Mose 6, 5.) Neben der

Geselligkeit giebt es einen Zug, der den Menschen in seinem

innersten Wesen berührt. Der Mensch ist ein Persönliches

Wesen niit einem unabhängigen Willen, und kaum könnte

es für Ihn etwas Wichtigeres geben, als das eigene „Ich",

seine Würde und alles, was damit zusammenhängt. Von

315

allem diesem trennte (im Bilde) das lange Haupthaar den

Nasiräer; denn das lange Haar war das sinnbildliche

Zeichen der Abhängigkeit nnd zugleich der Unehre.

(1. Kor. 11.) Dadurch daß der Nasiräer sein Haar nicht

scheren ließ, verkündete er offen, daß er auf seine Würde

nnd auf seine persönlichen Rechte als Mensch Verzicht

leistete, um sich dem Dienste Gottes zu weihen. Das

was für das Weib eine Ehre war, war für ihn eine

Schande; er entsagte gleichsam, unter dem Schleier des

langen Haares, seiner Persönlichkeit. Er, der zur Würde

geboren war, achtete derselben nicht; und er, der zum

Herrschen bestimmt war, unterwarf sich freiwillig dem

Herrn, wie ein Weib sich ihrem Manne unterwirft. Ohne

diese Abhängigkeit giebt es keinen Dienst für Gott, noch

auch irgendwelche Kraft in dem Dienste. Das was für

den Nasiräer ein Zeichen der Schwachheit war, wurde

die Quelle seiner Kraft. Außerdem wuchs seine Ergebenheit

für den Herrn in demselben Maße, wie er sich selbst vergaß,

nnd dieses Sichselbstvergessen befähigte ihn, seinen

Dienst völlig zn erfüllen.

Noch eine dritte Sache kennzeichnete den Nasiräer:

„Alle die Tage, die er sich für Jehova absondert, soll

er zu keiner Leiche kommen. Wegen seines Vaters und

wegen seiner Mutter, wegen seines Bruders und wegen

seiner Schwester, ihretwegen soll er sich nicht verunreinigen,

wenn sie sterben; denn die Weihe seines Gottes ist auf

seinem Haupte." (4. Mose 6, 6. 7.)

Der dritte Charakterzug, welcher dem Menschen seit

dem Sündenfall anhaftet und mit feinem Wesen unauflöslich

verbunden ist, ist die Sünde, welche durch ihre Folge, den

Tod, erwiesen ist. Eine Berührung damit mußte der

316

Nasiräer um jeden Preis vermeiden. Die stärksten Bande,

die der Familie, durften nicht in Betracht kommen, wenn

es sich darum handelte, sich für den Dienst Gottes zn

heiligen. Ach, wie wenig verstehen wir das! Wie zahlreich

sind die Christen, welche sagen: „Erlaube mir, zuvor

hinzugehen und meinen Vater zu begraben", oder:

„Ich kann nicht; meine Eltern wurden es mir verbieten".

Wer so spricht, ist kein wahrer Nasiräer. Ein Nasir

darf sich um Familienbande nicht kümmern, wenn es

sich um den Dienst handelt; er muß sie nach dem

Beispiel des vollkommenen Nasiräers verleugnen: „Was

habe ich mit dir zu schaffen, Weib? Meine Stunde ist

noch nicht gekommen." — „Wer ist meine Mutter, und

wer sind meine Brüder?" (Joh. 2, 4; Matth. 12, 48.)

Aber nicht allein das; der Nasir mußte sich auch von jeder

Sünde, jeder Verunreinigung fernhalten. Es wird dem

Leser bekannt sein, daß das Gesetz keinen Zufluchtsort für

die mit Willen geschehenen Sünden gewährte, während sich

die Gnade gerade mit solchen besonders beschäftigt. Eine

einzige Sünde mit Willen, das Verlassen des Christentums

nämlich, liegt außerhalb der Hilfsquellen der Gnade. (Hebr.

10, 26.) Das Gesetz bot in folgenden Fällen einen Zufluchtsort:

1) In dem täglichen Leben des Israeliten, für

die Sünde aus Versehen und für das Vergehen. (3. Mose

4 u. 5.) 2) Hinsichtlich seines Wandels, für die aus Mangel

au Wachsamkeit oder aus Unachtsamkeit geschehene Sünde.

(4. Mose 19.) 3) In seinem Dienst, für die Sünde

aus Nachlässigkeit und für die unvorhergesehene Sünde,

welche der Mensch scheinbar unmöglich vermeiden konnte.

„Und so jemand bei ihm stirbt unversehens, plötzlich, und

er das Haupt feiner Weihe verunreinigt ..." (4. Mose

317

6, 9.) Das war ein unfreiwilliger Fall, und doch war

es Sünde, umsomehr als es sich um einen besonders

wichtigen und ehrenvollen Dienst handelte. Diese Thatsache

redet zu unsern Gewissen. Unser Nasiräat begreift

die unbedingte Absonderung von den Verunreinigungen

dieser Welt in sich. An keiner Stelle dieses Kapitels setzt

Gott voraus, daß der Nasir vorsätzlich Wein trinken,

sein Haar scheren, oder einen Toten berühren könne.

Gerade so verhält es sich mit uns. Gott setzt nicht voraus,

daß wir sündigen müßten, und Er handelt mit uns

nach diesem Grundsatz.

Die drei Abzeichen des Nasiräats, welche wir soeben

besprochen haben, waren trotz ihrer Wichtigkeit — man

könnte das leicht vergessen — doch nur die äußeren

Merkmale jener Berufung. Diese Abzeichen waren die Folge

eines Gelübdes, einer Weihung für den Dienst Jehovas,

einer innerlichen Absonderung der Seele für Ihn.

„Wenn ein Mann oder ein Weib sich weiht, indem er

das Gelübde eines Nasirs gelobt, um sich für Jehova

abzusondern . . ." (4. Mose 6, 2.)

Ich möchte diesen wichtigen Punkt besonders betonen.

Ein Gelübde war ein bestimmter Entschluß, Gott

in einer gewissen Weise zu dienen; ein Entschluß ohne

irgendwelche Einschränkung. Man weihte sich auf diese

Weise dem Dienste Jehovas. Die nämliche Hingabe an

Gott und Christum liegt auch dem christlichen Nasiräat zu

Grunde. Fehlt dieselbe, so stehen wir in Gefahr, tief zu

fallen. Man kann in einer nahezu äußerlichen Weise ein

Nasiräer sein und selbst, wie Simson, die große Kraft besitzen,

welche das Nasiräat begleitet, und dennoch in seinem

Herzen die Absonderung nicht verwirklichen. Ohne Zweifel

318

ist diese Seite, die unter dem Gesetz rein äußerlich war,

unter dem Christentum das nicht mehr. Man kann heute

sehr Wohl Mitglied eines Mäßigkeitsvereins sein, ohne sich

deshalb einen Nasir nennen zu dürfen. Was jenen äußeren

Abzeichen für den Christen entspricht, ist das offene

Zeugnis, welches er der Welt gegenüber ablegt, indem

er sich von den Verunreinigungen sowohl, wie von den

Freuden derselben abgesondert hält und offen den Weg

der Abhängigkeit, welchem Gottes Wort zur Richtschnur

dient, wandelt. Könnten wir diese Dinge bekennen und

äußerlich auf dem Wege des Nasiräats wandeln, während

unsre Herzen geteilt und nicht geheiligt wären? Ach! ein

solcher Weg würde wohl, wie derjenige Simsons, mit

einer Niederlage enden; jedenfalls aber würden wir der

vielen Segnungen verlustig gehen, welche aus einer vollen

Hingebung an den Dienst des Herrn entspringen. Wie

wir aus dem 7. Kapitel des 3. Buches Mose ersehen,

dauerte das Fest des Friedensopfers zwei Tage für den,

der ein Gelübde gethan hatte, während es nur einen Tag

gefeiert werden durfte, wenn es sich einfach um eine

Dankeshandlnng für empfangene Segnungen handelte.

Der Einfluß, welchen die Verzichtleistnng auf alles, was

die Welt bieten konnte, ausübt, zeigt sich auch in dem

Gottesdienst Abrahams, im 12. und 13. Kapitel des ersten

Buches Mose. Abraham erbaut da drei Altäre: einen zn

Sichem, den Altar des Gehorsams gegen den Herrn,

der ihm erschienen war; einen zweiten zu Bethel, den

Altar des Pilgers, im Namen Jehovas; nnd einen

dritten zu Hebron, den Altar der Verzichtleistung, dem

Jehova selbst; und hier ist es, wo der Patriarch die göttlichen

Segnungen in ihrer ganzen Ausdehnung verwirklicht.

319

Doch kehren wir zur Betrachtung des Nasiräats zurück.

Es ist interessant, zn sehen, was der Nasir thun

mußte, wenn er „das Haupt seiner Weihe verunreinigt

hatte". (4. Mose 6, 9—11.) Die eine seiner Handlungen

entsprach dem Verluste seines äußerlichen Nasiräats, die

andere dem Verluste seines Gelübdes, seiner innerlichen

Weihe. Er mußte sich das Haupt scheren. Damit erkannte

er öffentlich an, daß er gefehlt, und zugleich, daß die

Kraft seines Nasiräats ihn verlassen hatte. Ein wirklich

bußfertiger Nasiräer war nicht wie Simson, welcher „nicht

wußte, daß Jehova von ihm gewichen war". Er erkannte

dies vielmehr an, indem er sozusagen laut verkündete, daß

er nicht länger für den Dienst geeignet war. Weiterhin

mußte er „zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben"

darbringen, das Opfer desjenigen, „der das zu einem

Stück Kleinvieh Hinreichende nicht aufbringen konnte".

Das hieß soviel als seine Unfähigkeit, fein Nichts in

feiner Stellung als Diener einzugestehen, und war zugleich

eine Anerkennung des Wertes des für seine Reinigung

dargebrachten Blutes. Wir thun wohl, uns alles dieses

tief einzuprägen. Laßt uns nicht äußerlich eine Haltung

geistlicher Kraft annehmen, während wir die Gemeinschaft

mit dem Herrn verloren haben; laßt uns vielmehr mit

Demut Gott unsre Sünden bekennen, sobald wir in der

Erfüllung der Pflichten unsers Dienstes gefehlt haben.

Ja, möchten wir in diesem Dienst ohne Ermüden

ausharren und uns durch nichts aufhalten lassen! Es

kam ein Tag, an welchem das Nasiräat aufhörte, und wo

dann der Nasiräer alle Opfer darbrachte. Auch uns

wird dieser Tag leuchten, wenn der Herr kommen wird,

und, als letzte nnd höchste Folge Seines Opfers, die

320

Sünde abgeschafft, der Tod hinweggethan und Satan auf

immerdar unter unsre Füße zertreten sein wird. Dann

werden wir das Haar des Hauptes unsrer Weihe scheren.

(4. Mose 6, 18.) Dann wird die Macht des Heiligen

Geistes nicht mehr dazu dienen, uns die Kraft zu verleihen,

welche uns in unserm Dienst von allem Bösen absondert.

Dann werden wir „das Haar des Hauptes

unsrer Weihe auf das Feuer legen, das unter dem Friedensopfer

ist"; denn unsre ganze Kraft wird dem freudigen

Genuß einer unvermischten Gemeinschaft gewidmet sein,

und der Schauplatz der neuen Welt wird, gleich uns selbst,

den Gedanken und dem Herzen Gottes voll und ganz

entsprechen.

Das wiederum untreu gewordene Volk ist also dem

Feinde im Innern, den inmitten der Grenzen Israels wohnenden

Philistern, unterworfen. Das ist der letzte Abschnitt in

der Geschichte des Verfalls. Die Kinder Israel schreien nicht

mehr zu Jehova. Sie ertragen die Herrschaft ihrer Feinde,

ohne auch nur den Wunsch nach Befreiung zu haben

(Kap. 15, 11); ja, sie suchen sogar, um in diesem Zustande

der Sklaverei ruhig fortleben zu können, sich von

ihrem Befreier loszumachen.

Inmitten dieses unheilbaren Verderbens sondert Gott

einen frommen Überrest ab und richtet an ihn Seine Mit­

teilungen. Manoah und sein Weib fürchten Jehova, hören

auf Seine Stimme und unterreden sich mit einander.

(Vergl. Mal. 3, 16.) Wir erkennen in diesen beiden

Personen ein treffendes Vorbild von dem Überrest jener

Gläubigen zur Zeit des Herrn, welche, wie Maria, Elisabeth,

Anna, Zacharias und Simeon, auf den wahren

321

Messias, den Retter Israels, warteten; sowie ein Vorbild

von dem zukünftigen treuen Überrest, der, durch die Zeit

der großen Drangsal gehend und die Ankunft seines

Königs erwartend, auf den Pfaden der Gerechtigkeit wandeln

wird.

Simson, der Befreier Israels, findet bei seiner Geburt

nicht ein ihm zujauchzendes Volk, sondern nur dieses fromme

Elternpaar, das an seine Mission glaubt. Der Herr,

welcher sogleich, nachdem Er auf den Schauplatz getreten

war, von Seinem Volke verworfen wurde, fand auch nur

wenige treue Seelen, denen Er sich zugesellen konnte, jene

Herrlichen auf der Erde, die in Psalm 16 erwähnt werden

und an denen Er Seine Lust fand.

Die Zeit des unheilbaren Verfalls ist also die Zeit

der Überreste. Das trifft auch für den gegenwärtigen

Zeitabschnitt der Kirche zu. Der Vornehmste der Propheten

kündigt diesen Zeitabschnitt Seinen Jüngern an, indem Er

von einer bis auf die Zahl von Zweien oder Dreien beschränkten

Versammlung spricht, welche sich während Seiner

Abwesenheit um den wahren Mittelpunkt, um den Namen

Christi, scharen würde. Diese Periode wird auch in der

Offenbarung erwähnt, wenn, angesichts des Götzendienstes

von Thyatira, des Todes von Sardes und der ekelerregenden

Lauheit von Laodicäa, der Heilige und Wahrhaftige

dem schwachen, abgesonderten Überrest von Phila­

delphia Seinen Beifall zu erkennen giebt.

Was den treuen Überrest zu allen Zeiten kennzeichnet,

ist das Nasiräat, die gänzliche „Absonderung

für Jehova". Der Engel Jehovas, welcher dem Weibe

Manoahs erscheint, sagt zu ihr: „Siehe doch, du bist

unfruchtbar nnd gebierst nicht; aber du wirst schwanger

322

werden und einen Sohn gebären. Und nun, hüte dich

doch und trinke keinen Wein, noch starkes Getränk, und iß

nichts Unreines." (V. 3. 4.) Dieses Weib mußte sich dem

Nasiräat unterwerfen, weil sie das von Gott auserwählte

Gefäß war, um dem Volke den verheißenen Erretter zu

schenken. „Denn siehe", sagt der Engel weiter, „du wirst

schwanger werden und einen Sohn gebären,' und kein

Schermesser soll auf sein Haupt kommen, denn ein Nasir

Gottes soll der Knabe sein von Mutterleibe an; und er

wird anfangen, Israel zu retten aus der Hand der

Philister." (B. 5.) Das Nasiräat Simsons begriff dasjenige

seiner Mutter mit ein. Um dem Retter Israels

Ehre zu machen, mußten seine Zeugen vor Aller Augen

die Zeichen seines Charakters an sich tragen. Diese

Wahrheit gilt für alle Zeiten. Wenn wir hienieden nicht

den Charakter Christi, den Charakter völliger Absonderung

für ' Gott tragen, so sind wir keine Zeugen unsers

Heilandes. Seit dem Erscheinen Christi muß das immerwährende

Nasiräat, so wie es den Herrn charakterisiert,

auch die Treuen kennzeichnen. Je mehr der Verfall zunimmt,

desto mehr tritt das in die Erscheinung. Der

zweite Brief an Timotheus, welcher uns die Zeiten des

Endes vorstellt, ist voll von Charakterzügen des Nasiräats.

In Kap. 2, 19 ist es der Nasir, welcher sich vor jeder

Berührung mit der Sünde hütet; in Kapitel 2, 21 finden

wir seine Reinigung für Gott: in Kap. 3, 10 u. 11 und

in Kap. 4, 5—7 wandelt der Diener Gottes im Vergessen

seiner selbst und in völliger Abhängigkeit vom Herrn.

Vernehmen wir die Sprache des Nasirs nicht auch in 2. Kor.

4, 7—12? Und ebenso werden uns in Kap. 6—7, 1

desselben Briefes die Hauptcharakterzüge des Nasiräats

323

vorgestellt: in Kap. 6, 4—10 die Schmach und das Sich-

selbstvergessen; in V. 14 nnd 15 die Trennung von jeder

Gemeinschaft mit der Welt; in Kap. 7, 1 die Reinigung

von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes. Es

wäre nicht schwer, noch viele ähnliche Stellen anzuführen.

Wichtig aber ist nur, sestzustellen, daß es für uns keinen

Wandel, kein Zeugnis, keinen Dienst giebt ohne das Nasiräat,

d. h. ohne die Widmung und Absonderung für Gott.

In Vers 6 erzählt das Weib Manoahs ihrem Manne

den Besuch des Engels: „Ein Mann Gottes ist zu mir

gekommen, und sein Ansehen war wie das Ansehen eines

Engels Gottes, sehr furchtbar, und ich habe ihn nicht gefragt,

woher er sei, und seinen Namen hat er mir nicht knnd-

gethan". Das arme Weib hatte wenig Verständnis; denn

sie wußte weder, woher der Engel kam, noch wer er war;

sie hatte ihn auch nicht gefragt, ein Beweis, wie wenig

vertraut sie mit Gott war. Die Gegenwart des Gottes

der Verheißungen hatte sie sogar erschreckt, anstatt ihr ein

Gefühl der Sicherheit zu geben; der Engel erschien ihr

„sehr furchtbar". Manoah selbst ist ein Mann von aufrichtiger

Frömmigkeit, hat aber gleichfalls wenig Verständnis

nnd wünscht mehr zu erfahren. Er will wissen, „was er

mit dem Knaben thun solle" (V. 8), und ferner, „was

die Weise des Knaben sein solle". (V. 12.) Der Engel Jehovas

aber sagt ihm, anstatt seine Fragen zu beantworten:

„Vor allem, was ich dem Weibe gesagt habe, soll sie

sich hüten: von allem, was vom Weinstock kommt, soll sie

nicht essen, und Wein und starkes Getränk soll sie nicht

trinken, und soll nichts Unreines essen; alles, was ich

ihr geboten habe, soll sie beobachten". (V. 13. 14.)

Warum das? Weil Gott nicht in erster Linie Verständnis

324

fordert. Weder dieses, noch selbst eine wahre Frömmigkeit,

wie diejenige Manoahs und seines Weibes, genügen, um

uns inmitten des Verfalls zu bewahren. Was dem

Verständnis vorausgehen mußte, war eine wahre,

persönliche Absonderung für Gott, eine Absonderung,

welche das Nasiräat desjenigen, der im Begriff

stand zu erscheinen, zum Muster und Maßstab hatte.

Noch andere Wahrheiten, die das Teil der Zeugen

Christi in einer Zeit des Verfalls find, werden uns hier

mitgeteilt. „Und Manoah sprach zu dem Engel Jehovas:

Wie ist dein Name? . . . Und der Engel Jehovas

sprach zu ihm: Warum fragst du denn nach meinem

Namen, da er wunderbar ist? Da nahm Manoah

das Ziegenböcklein und das Speisopfer und opferte es

Jehova auf dem Felsen. Und er handelte wunderbar,

und Manoah und sein Weib sahen zu." (V. 17—19.)

Wenn wir uns die Geschichte der verschiedenen Zeitabschnitte

in diesem Buche vergegenwärtigen, so finden wir,

daß bei jeder Erweckung gewisse, dieselbe charakterisierende

Grundsätze zusammentreffen. Die Zeiten Othniels, Ehuds,

Baraks, Gideons und Jephthas haben uns alle irgend

einen neuen Grundsatz vor Augen gestellt. Die kostbarsten

Wahrheiten aber, wunderbare und bis dahin verborgene

Wahrheiten, spart Gott für die letzten Zeiten des Verfalls

auf. Das ist eine Handlungsweise, die des Gottes der

Liebe würdig ist. Indem Er die Schwierigkeiten der

Seinen inmitten des wachsenden Unglaubens kennt und

ihr Herz dieser finstern Umgebung entreißen will, stellt Er

immer kostbarere Wahrheiten ans Licht und vertraut sie

Seinen Zeugen an.

Diese Wahrheiten haben das Opfer zum Aus

325

gangspunkt. Manoah, der mehr Verständnis, als Gideon

bei ähnlicher Gelegenheit, zeigt (vergl. Kap. 6, 19),

nimmt das Ziegenböcklein und das Speisopfer und opfert

es Jehova auf dem Felsen. Das Kreuz ist die Grundlage

all unsrer Erkenntnis als Kinder Gottes. Manoah

wünschte vieles zn wissen, was ihm der Engel aber vor

dem Opfern nicht offenbaren konnte. Sobald diese Grundlage

aber gelegt war, „handelte der Engel wunderbar",

oder: „er that ein Wunder", welches zwar für die

Augen dieses armen, einen Erretter erwartenden Überrestes

in einer noch dunklen und vorbildlichen Weise vor sich ging.

„Es geschah, als die Flamme von dem Altar aufstieg zum

Himmel, da fuhr der Engel Jehovas hinauf in der Flamme

des Altars. Und Manoah und sein Weib sahen zu."

(V. 20.) Sie entdeckten in dem Opferseuer einen neuen,

bis dahin nicht gebahnten Weg, den Weg des Stellvertreters

Jehovas, der zu Ihm wieder hinaufführte; und

ihre an dem Engel haftenden Blicke sahen eine verherrlichte

Person, deren Wohnung sie jetzt, nachdem sie vor ihren

Augen verschwunden war, kannten. Da erst „erkannte

Manoah, daß es der Engel Jehovas war". (V. 21.)

Das Herz und die Interessen dieses armen Überrestes

haben in diesem Augenblick die Welt verlassen und nehmen

den Weg des Engels, um mit ihm in den Himmel hinaufzusteigen.

Jene einfachen Gläubigen können jetzt von

einem Wege sprechen, der in den Himmel führt, und von

einer Person, welche sich dort befindet und der Gegenstand

ihres Herzens geworden ist, während sie noch hienieden

sind.

In dieser wunderbaren Scene wurde noch eine andere

Sache, nicht für Manoah, aber für uns geoffenbart.

326

nämlich der zukünftige Charakter jenes Nasiräats, von

welchem der Engel geredet hatte. Dasselbe ist jetzt, wie

wir bereits weiter oben bemerkt haben, himmlisch. Indem

sich der Engel von Manoah und seinem Weibe trennt,

sondert er sich ab in dem Himmel. Der Herr Jesus hat,

non der Welt verworfen, im Blick auf Seine Jünger

gesagt: „Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie

Geheiligte seien durch Wahrheit". (Joh. 17, 19.) Abgesondert

in den Himmeln, zieht Er uns zn sich und richtet

unsre Augen auf sich, damit wir hienieden den himmlischen

Charakter Dessen zum Ausdruck bringen, den die Welt verworfen

hat. Gegenüber dieser Offenbarung, deren Sinn

von Manoah und seinem Weibe kaum geahnt wurde, welche

uns aber zur Belehrung dient, „fielen sie auf ihr Angesicht

zur Erde". (V. 20.) Und da sollten wir, inmitten der

zunehmenden Finsternis um uns her, nicht noch mehr den

Gott anbeten, welcher uns einen himmlischen und verherrlichten

Christus und unsern Platz in Ihm geoffenbart

und Ihn uns zum Gegenstand gegeben hat, damit wir Ihn

in dieser Welt darstellen können? Solche Segnungen sind

dazu geschaffen, um unsre Herzen mit Freude und Dankbarkeit

zu erfüllen. Wie viele Christen, die ihren Platz bei

der Welt suchen, wandeln gebeugten Hauptes, indem sie auf

den Zustand ihrer Umgebung blicken und täglich ihre Seele

quälen, wie einst der gerechte Lot! Wir find aber nicht

zur Rolle Lots berufen; unser Teil ist mit Abraham, dem

Freunde Gottes. Der Verfall drückte seine Seele nicht

nieder. Wie ein Nasir stand er auf seinem hohen Berge;

nicht auf Sodom waren seine Augen gerichtet, sondern

auf die Stadt, welche Grundlagen hat. Jesus hat von

ihm gesagt: „Abraham frohlockte, daß er meinen Tag sehen

327

sollte, und er sah ihn und freute sich". (Joh. 8, 56.)

Darum, anstatt entmutigt zu sein, laßt uns vielmehr Gott

preisen nnd Ihm für den himmlischen Schatz danken, den

Er nns gegeben hat!

Gleich so vielen christlichen Herzen in unsern Tagen„

war auch Manoah von Furcht erfüllt, als er sich vor Gott

befand. „Er sprach zu seinem Weibe: Wir werden gewißlich

sterben, denn wir haben Gott gesehen." (V. 22.) Doch

sein Weib ist ihm eine wirkliche Gehilfin. Haben wir

Grund, uns zu fürchten, sagt sie, nachdem Gott unser Opfer

angenommen hat? Die Liebe Gottes, welche sich am

Kreuze für uns enthüllt hat, ist uns eine sichere Bürgschaft

für alles Übrige. „Er, der doch Seines eigenen Sohnes

nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat:

wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?"

(Röm. 8, 32.)

„Wenn jemand am Tage wandelt, stößt

er nicht an."

(Joh. N, 0.)

„Und Gott schied zwischen dem Licht und der

Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und

die Finsternis nannte Er Nacht." (1. Mose t, 4. 5.)

Gerade so bestimmt wie in der Schöpfung Licht und

Finsternis von einander geschieden sind, gerade s»

bestimmt sind sie es auch in geistlicher Beziehung, und

wir haben diese Scheidung aufrecht zu erhalten. Wie der

Mensch nicht scheiden soll, was Gott zusammengefügt:

hat (Matth. 19, 6), so soll er auch nicht zusammenfügen,

was Gott geschieden hat. Tag und Nacht sind

328

deutlich und bestimmt von einander getrennt, und so sind

es auch Wahrheit und Irrtum, Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit.

„Denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit

und Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft Licht mit

Finsternis?" (2. Kor. 6, 14.) Gar keine; jede Gemein­

schaft ist ausgeschlossen!

Ein Blinder kann den Unterschied zwischen Tag und

Nacht allerdings nicht sehen; er tappt am Hellen Mittag

in Dunkel und Unsicherheit umher. Er hat keine Augen

sür das Licht. Ob die Sonne hoch am Himmel steht,

oder ob tiefe Dunkelheit die Erde einhüllt, ist für ihn

gleich. Trotzdem aber ist die Sonne da und leuchtet;

und die, welche Augen haben, erfreuen sich ihres herrlichen

Glanzes. Sie wandeln in ihrem Lichte und entgehen

mittelst desselben tausenderlei Anstößen. „Wenn jemand

am Tage wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht

dieser Welt sieht."

Hell und klar wie die Sonne, leuchtet auch das „wahrhaftige

Licht". (1. Joh. 2, 8.) Die wichtige Frage ist

nur: Sehen wir es? Haben wir Augen dafür? Gott

hat uns Seinen Willen und Seine Gnadenratschlüsse, die Er

in Christo Jesu vor Grundlegung der Welt gefaßt hat,

deutlich geoffenbart. Werfen wir z. B. einen Blick auf

die Kirche. Gott hat uns gezeigt, was sie ist, als mit

Christo lebendig gemacht, mitauferweckt und mitsitzend in

den himmlischen Örtern in Christo Jesu, gebildet von

Gläubigen aus Juden und Nationen, getauft in einem

Geiste zu einem Leibe. (Eph. 2, 5. 6. 14—16; 1. Kor.

12, 13.) „Da ist ein Leib und ein Geist, wie ihr auch

berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.

Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater

329

aller, der da ist über allen und durch alle und in uns

allen." (Eph. 4, 4—6.) Das ist in kurzen Worten die

Kirche nach den Gedanken Gottes. So bestand sie in

Seinen, Ratschlüsse vor Grundlegung der Welt; so hat

Er sie gegenwärtig dargestellt in Christo und sie berufen,

„die Einheit des Geistes (d. h. die Einheit, welche der

Geist gemacht hat) hienieden zu bewahren in dem Bande

des Friedens".

Gott hat uns also Seine Gedanken und Seinen

Willen bezüglich der Kirche deutlich genug kundgethan.

Das Licht leuchtet klar und hell. Trotzdem aber sind die

Gläubigen von einander getrennt und in viele Parteien

zersplittert. Während sie doch alle in einem Geiste zu

einem Leibe getauft sind, befinden sich die meisten in

Sonderstellungen und verfolgen Parteiinteressen, oder sind

doch gleichgültig in Bezug auf die Darstellung der von

Gott geschaffenen Einheit. Woher kommt das? Die Ursache

ist einfach folgende: Viele, sehr viele Gläubige wandeln

betreffs dieser Sache nicht „am Tage", das heißt nicht in

Übereinstimmung mit dem klar geoffenbarten Willen

Gottes. Dieser Wille ist nicht der ausschließliche Beweggrund

ihres Handelns und ihres Verhaltens. Sie handeln

nach ihren eignen Gedanken; ihr eignerWille ist in

Thätigkeit, und sie bedenken nicht, daß dieser immer böse

und in seinen Wirkungen verderblich ist.

Der Wille Gottes ist allein maßgebend bei der Beurteilung

unsers Thuns, und indem wir unsern Wandel

und unsre Wege nach diesem Willen einrichten, wandeln

wir „am Tage". Gott kann nur das anerkennen, was in

Übereinstimmung mit Seinem wohlgefälligen Willen ist, und

niemals kann Er diesen Seinen Willen unsern Meinungen

330

anpassen oder gar unterordnen. Er kann Wohl Nachsicht

mit unsrer Unwissenheit und Schwachheit haben; aber Er

kann nicht zugeben, daß wir auf Grund derselben unsern

eignen Willen thun in irgend einer Sache, vor allem nicht,

wenn es sich um die heiligen Dinge Gottes handelt. Die

Söhne Aarons mußten sterben, weil sie „fremdes Feuer

darbrachten vor Jehova, das Er ihnen nicht geboten

hatte". (3. Mose 10, 1.) Und gerade weil die Sache so

ernst ist, hat Gott uns Seinen Willen so klar und bestimmt

kundgethan, daß jeder Gläubige, wenn er anders will,

ihn zu erkennen vermag. Ist jemand trotzdem in Ungewißheit

über denselben, so liegt dies nur daran, daß sein

Auge nicht einfältig und sein Herz nicht bereit ist, sich

dem Willen Gottes unbedingt zu unterwerfen. Er wandelt

nicht am Tage; das Licht ist nicht in ihm. „Wenn

aber jemand in der Nacht wandelt, stößt er an, weil

das Licht nicht in ihm ist." Anstatt seinen Weg

klar nnd bestimmt vor sich zu gehen, tappt er im Dunkeln

umher. Es fehlt ihm die durch den Heiligen Geist

gewirkte innere Überzeugung, daß sein Weg nach

dem Willen Gottes ist.

Wie unsicher und unbeständig ist der Gang eines

solchen Gläubigen! Welch ein Schwanken zeigt sich! Welch

ein Hin- und Herirren! Indem er dem einen Irrtum

zu entgehen sucht, fallt er in einen andern, womöglich

noch schlimmeren. Vielleicht hat er eingesehen, daß die

Gemeinschaft, der er bis dahin angehörte, nicht in allen

Punkten mit der Heiligen Schrift im Einklänge ist; aber

anstatt mm unter Gebet und unter der Leitung des

Heiligen Geistes im Worte Gottes zu forschen, was

die Gemeinschaft der Gläubigen nach dem Willen Gottes

331

ist, schließt er sich einer anderen Gemeinschaft an, die seiner

Meinung oder seinem Geschmack mehr entspricht. Ist es

die richtige? Er weiß es nicht. Er hat nicht die göttlich

gewirkte Überzeugung, daß er sich nunmehr an

dem Platze befindet, wo Gott ihn haben will, und darum

ist er immer noch nicht wirklich zur Ruhe gekommen. Er

wandelt nicht in dem vollen Lichte des Tages, und wird

darum über kurz oder lang wieder einen Anstoß finden.

Ein Zweiter schließt sich irgend einer Gemeinschaft an,

weil er da mehr Liebe oder mehr Erbauung zu finden

hofft, während er in anderen allerlei Mängel und

Gebrechen entdeckt. Aber indem er sich in seiner Wahl

nicht ausschließlich durch den Willen Gottes leiten

läßt, wandelt er wiederum nicht am Tage. Sicher wollen

wir die in einer Gemeinschaft sich kundgebenden Mängel

nicht rechtfertigen, aber sie dürfen auch nicht unser Urteil

über die Stellung derselben beeinflussen, da diese trotzdem

nach dem Willen Gottes sein kann. Denn wo giebt es

auf dieser Erde keine Mängel und keine Unvollkommenheiten?

In der Gemeinde zu Korinth mußte der Apostel

zum Beispiel viele traurige Dinge rügen; dessen ungeachtet

bezeichnet er sie als die „Versammlung Gottes". (1. Kor.

1, 2.) Sobald aber eine Gemeinschaft das Böse in ihrer

Mitte duldet und sich nicht davon reinigen will, hört sie

selbst ihrer Stellung nach auf, im Einklänge mit

dem Willen Gottes zu fein, nnd kann dann nicht mehr

als eine „Versammlung Gottes" bezeichnet werden.

Noch andere Gläubige sind der Ansicht, daß, weil alle

Gläubige zu dem einen Leibe gehören, man auch mit

allen Gemeinschaft Pflegen müsse. Ohne Zweifel müssen

wir alle mit gleicher Liebe lieben, weil sie Kinder Gottes

332

sind; denn jeder, „der Den liebt, welcher geboren hat, liebt

auch den, der aus Ihm geboren ist." (1. Joh. 5, 1.) Aber

wenn Gläubige dem Willen Gottes zuwider ihre eignen

Wege gehen, so wird eine Pflege der Gemeinschaft mit ihnen

nichts anderes als Ungehorsam gegen Gott. Wir rechtfertigen

dann ihre verkehrten Wege. Unsre vermeintliche Liebe ist

nicht göttliche, sondern ungöttliche Liebe, eine Liebe auf

Kosten der Liebe zu Gott. „Hieran wissen wir, daß

wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben

und Seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe

Gottes, daß wir Seine Gebote halten." ll. Joh. 5, 2. 3.)

Alle Gläubigen nun, welche den Willen Gottes zu

ihrer Richtschnur, zum Licht auf ihrem Wege haben, wandeln

am Tage und haben wahre Gemeinschaft miteinander, nicht

auf Kosten von, sondern in Übereinstimmung mit der

Wahrheit. „Wenn wir aber in dem Lichte wandeln, wie

Er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft mit

einander." (l. Joh. l, 7.j Gott kann sich nicht verleugnen.

Er hat von Anfang an Licht und Finsternis

geschieden, und diese Scheidung muß ausrecht erhalten

werden, wenn wir anders in Gemeinschaft mit Ihm und

ohne Anstoß wandeln wollen. Die Absicht des Feindes

ging von jeher dahin, die Wahrheit mit Irrtum zu vermengen

und die Gläubigen durch allerlei falsche Vorspiegelungen

zn verblenden. „Man muß die Grenzen nicht

zu enge ziehen", flüstert er ihnen zu, „sonst verschließt

man sich die Thür zu weiteren Kreisen,- mau muß sich

beteiligen an den Bestrebungen aller derer, welche sich die

Ausbreitung des Evangeliums zur Aufgabe gemacht haben,

gleichviel ob ihre Ansichten in vielen Punkten nicht schrift-

gemäß sind. Wird doch das Evangelium verkündigt, und

333

das ist die Hauptsache! Zudem muß man ein weites Herz

für alle Gläubigen haben, und dieses von Zeit zu Zeit

kundthun durch eigens zu diesem Zweck berufene Zusammenkünfte

der Christen aller Bekenntnisse, der Welt zum

Zeugnis, daß wir im Grunde genommen doch alle eins sind."

Alles das sind Vorspiegelungen des Feindes, um

die Gläubigen irre zu führen und von der Erkenntnis

und Darstellung der Wahrheit fern zu halten. Aber wenn

jemand am Tage wandelt, so stößt er nicht an, weil er

das Licht sieht; der Wille Gottes ist ihm klar, und

er weiß die Wahrheit von dem Irrtum, das Göttliche

von dem Menschlichen, das Reine von dem Unreinen zu

unterscheiden. Er erkennt, daß alle solche Verbindungen,

trotz ihrem Schein der Weitherzigkeit und des Eifers für

die Ausbreitung des Evangeliums, eine Verleugnung der

Einheit des Geistes sind, der Einheit, die Gott gemacht

hat. Der wohlgefällige Wille Gottes gilt ihm mehr als

alle Meinungen und alle Anerkennung der Menschen.

Aber, wird man vielleicht einwenden, ist es nicht gut,

daß das Evangelium gepredigt wird? und werden von den

in Rede stehenden Vereinigungen nicht oft große Opfer

an Zeit und Geld für die Ausbreitung des Evangeliums

gebracht? Ist es deshalb nicht unrecht, sie zu verurteilen?

— Es bedarf gar keiner Frage, daß die Predigt der guten

Botschaft gut und von Gott gewollt ist; ja, der Herr gebe,

daß sich immer mehr eifrige, treue Prediger finden möchten,

um Seelen für Ihn zu sammeln! Die ernste Frage, um

welche es sich hier handelt, ist nicht die: „Soll das Werk

des Evangeliums überhaupt getrieben werden?" sondern:

„Wie wird es getrieben? Steht die Art und Weise der

Thätigkeit im Einklang mit dem Willen Gottes?" Ver

334

gessen wir nicht, daß geschrieben steht: „Hat Jehova Lust

an Brandopfern und Schlachtopfern, wie daran, daß

man der Stimme Jehovas gehorcht? Siehe,

Gehorchen ist besser als Opfer, Aufmerken besser als das

Fett der Widder. Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist

Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und

Götzendienst." (1. Sam. 15, 22. 23.)

Ein Wandel im Lichte bewahrt uns indes nicht nur

vor Irrtümern und Irrwegen, sondern giebt uns auch die

bestimmte Überzeugung, daß wir dem Herrn Wohlgefallen

(Hebr. 11, 5), und daß das Ende unsers Weges zur

Verherrlichung Gottes ausschlagen wird; und dieses Bewußtsein

erfüllt uns mit Ruhe, Zuversicht und Vertrauen,

selbst inmitten mancher schmerzlichen Erfahrung und trüben

Aussicht in die Zukunft. Der Herr hat uns hierin, wie

in allem anderen, ein herrliches Vorbild gegeben. Wie

vollkommen ruhig blieb Er z. B. bei der Nachricht, daß

Lazarus, den Er liebte, krank sei; anstatt sofort an

dessen Krankenlager zu eilen, blieb Er sogar noch zwei

Tage an dem Orte, wo Er war. Der Wille des Vaters

Ivar Sein einziger Leitstern. So innig auch Seine Gefühle

für die Familie des Lazarus waren, (denn Er liebte die

Martha und ihre Schwester und den Lazarus,) so beherrschte

doch der Wille des Vaters alle Seine Gefühle. Um diesen

zu thun, war Er vom Himmel herniedergekommen; das

war der Zweck Seines Lebens, Seine Speise, Seine Lust.

(Joh. 4, 34; 6, 38; Psalm 40, 8.) Er wußte, daß die

Krankheit des Lazarus nicht zum Tode, sondern um der

Herrlichkeit Gottes willen war, auf daß der Sohn Gottes

durch sie verherrlicht werde. (V. 4.) Und damit dieser

Zweck vollständig erfüllt würde, ging Er nicht früher und

335

nicht später nach Bethanien, als bis Er den Auftrag dazu

vom Vater erhalten hatte; dann aber ging Er auch in

der vollen Gewißheit des herrlichen Ausganges, den Sein

Weg haben würde. Sein Warten und Sein Gehen geschah

in vollkommener Abhängigkeit vom Vater, in einer

Abhängigkeit, die Er selbst mit den Worten ausdrückte:

„Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast". (V. 41.)

Er konnte danken, noch bevor Lazarus auferstanden und

die Herrlichkeit Gottes geoffenbart war. Er war erhaben

über den Umständen, denn Er wandelte am Tage.

Glücklich derjenige, der in der Abhängigkeit von Gott

bleibt! In der Gewißheit des Glaubens verfolgt er ruhigen

und festen Schrittes seinen Weg, in dem Bewußtsein,

daß Gott alles lenkt und leitet zu unserm Wohle und zum

Preise Seines Namens. „Geliebte, wenn unser Herz uns

nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und

was irgend wir bitten, empfangen wir von Ihm, weil

wir Seine Gebote halten und das vor Ihm

Wohlgefällige thun." (1. Joh. 3, 21. 22.)

Den Jüngern fehlte dieser freie, klare Blick des

Glaubens; ihre Herzen waren mit Zweifeln und Befürchtungen

erfüllt. Verwundert über die Aufforderung

des Herrn, wieder nach Judäa zu gehen, sagen sie: „Rabbi,

eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum

gehst du dahin?" (V. 8.) Während der Herr nur die

Herrlichkeit Gottes im Auge hatte, die sich auf diesem

Wege offenbaren sollte, dachten sie an sich und sahen den

sicheren Tod vor sich. „Laßt auch uns gehen, auf daß

wir mit Ihm sterben!" sagt Thomas. Aber wie

lautet die Antwort des Herrn auf den Einwurf Seiner

Jünger? „Wenn jemand am Tage wandelt, stößt er nicht

336

an, weil er das Licht dieser Welt sieht." (B. 9.) Wie

könnten wir Sorgen, Befürchtungen und trübseligen Gedanken

Raum geben, wenn wir uns auf dem Wege und

unter dem Schutze und der Pflege unsers Gottes und

Vaters wissen, ohne den kein Sperling auf die Erde fällt,

und der selbst die Haare unsers Hauptes alle gezählt hat?

(Matth. 10, 29. 30.) Wenn Er uns folgen heißt, so

können wir getrost folgen, mag auch der Jordan voll sein

über alle seine Ufer, und mögen Ketten, Wächter und verschlossene

Thüren den Weg zu versperren scheinen. (Jos. 3,15;

Apstgsch. 12, 4—10.) Alles hängt davon ab, ob unser

Weg nach Seinem wohlgefälligen Willen ist. In dieser

Beziehung müssen wir stets eine klare, sichere und feste

Überzeugung haben; anders ist das Licht nicht in uns,

und wir tappen in Dunkel und Ungewißheit umher.

Allerdings ist dazu viel Wachsamkeit und Gebet nötig,

verbunden mit ernster Selbstprüfung und ruhiger Besonnenheit.

Denn wir sind sehr leicht geneigt, etwas darum für

den Willen Gottes zu halten, weil es unsern Wünschen und

Plänen entspricht, umsomehr wenn die Umstände oder

gewisse Bedingungen, die man sich gestellt hat, dafür zu

sprechen scheinen. Hüten wir uns vor solcher Selbsttäuschung,

und seien wir vor allen Dingen wahr und aufrichtig gegen

uns selbst! Eins ist gewiß: wenn wir ehrlich und aufrichtig,

ohne Nebenabsichten, den Willen Gottes zu erfahren

wünschen, so werden wir mit ernstem und anhaltendem

Gebet nnd Flehen aus Ihn harren. Wir dürfen dann

aber auch versichert sein, daß Er uns nicht im Unklaren

lassen wird; denn Er kann und will uns Seinen Willen

in jeder Beziehung deutlich offenbaren.

Möge Gott uns vor allen Dingen davor bewahren,

daß wir nicht das „Tag" nennen, was Er „Nacht" nennt!