Wie geschieht Korrektive Gemeinde-Seelsorge? Detlev Fleishammel

05/04/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

WIE GESCHIEHT KORREKTIVE GEMEINDE-SEELSORGE? 

- was ist korrektive Gemeindeseelsorge - warum soll sie ausgeübt werden - was soll damit erreicht werden - wie soll sie praktiziert werden - wer muss aktiv werden - welche Maßnahmen in welchen Fällen - was gibt es zu beachten - was erleichtert die biblische Ausübung - was hält uns von kompromissloser Anwendung ab - die praktische Anwendung 

Was ist zu tun, wenn ein Gemeindeglied offensichtlich sündigt?  In unserer Zeit, die geprägt ist von einem übertriebenen Individualismus, einer zunehmenden Erosion ethischer Maßstäbe, einem übersteigerten Bedürfnis nach Harmonie und einer damit verbundenen Abneigung, Konflikte auszutragen, lässt auch unter evangelikalen Christen die Bereitschaft nach, in solchen Fällen überhaupt irgendetwas zu tun. Bewusst oder unbewusst scheinen Gemeindeälteste dies vor sich selbst manchmal mit einer Art Pseudodemut zu rechtfertigen (»Wer bin ich, dass ich einem anderen Christen Vorschriften machen könnte?«) bzw. mit der heute so überaus hochgeschätzten Toleranz (»Sie muss selbst wissen, was sie tut!«).  Konnte der Dogmatiker Louis Berkhof noch vor fünfzig Jahren die Ansicht äußern, die reformierten Gemeinden hätten insgesamt auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet so musste Daniel E. Wray, der einen ähnlichen konfessionellen Hintergrund zu haben scheint, weniger als vier Jahrzehnte später in seiner Broschüre »Biblical Church Discipline« folgende Feststellung machen: 

Es wäre schwierig, einen anderen Bereich des christlichen Lebens aufzuzeigen, der von der modernen evangelikalen Gemeinde häufiger ignoriert wird als die Gemeindezucht.

Ein Prediger aus der Gemeinschaftsbewegung wurde in einem pe}sönlichen Gespräch gefragt, wie in den Gemeinden seines Verbandes in solchen Fällen vorgegangen wird. Er antwortete, wenn es innergemeindliche Probleme gegeben habe, sei bisher meist einfach der Prediger versetzt worden.
Ein Ältester einer freikirchlichen Gemeinde sagte kürzlich öffentlich, das Problem, dass manchmal auch Gemeindeglieder unverheiratet zusammenleben, könne durch Gemeindezucht nicht gelöst werden. Ein Leitungsmitglied seiner -Denomination stimmte dem zu und meinte, wir müssten uns zunehmend auf solche Zusammenlebensformen einstellen. Diese Äußerungen sind sicher symptomatisch.
In dieser Abhandlung soll u.a. deutlich gemacht werden, dass man mit einem solchen scheinbar weisen und liebevollen Verhalten nicht nur gegen Gottes Wort handelt, sondern auch der Gemeinde und den Betroffenen schadet. Wie schon der Titel andeutet, geht es bei einer wirklich vom Neuen Testament ausgehenden korrektiven Gemeindeseelsorge nicht um eine Bestrafung oder Verurteilung von Menschen, die versagt haben (das tun wir ja alle immer wieder); eins der Ziele liegt viel mehr darin, einen Menschen, der zur Familie Gottes gehört, der sich aber auf einen gefährlichen und falschen Weg begeben hat, für den Herrn Jesus Christus zurückzugewinnen (Mt 18,15) und ihn wieder zurechtzubringen (Gal 6,1).

Ganz anders ist da schon immer die Lehre und Praxis der Römisch-Katholischen Kirche gewesen' Sie hat nie Hemmungen gehabt, Kirchenmitglieder aus verschiedensten Gründen zu exkommunizieren, d.h. sie zu disziplinieren und damit nach ihrem Verständnis auch vom Heil auszuschließen. Im neuen »Katechismus der Katholischen Kirche« wird dies so beschrieben und begründet:'
Bestimmte besonders schwere Sünden werden mit der Exkommunikation, der strengsten Kirchenstrafe, belegt. Sie untersagt den Empfang der Sakramente und die Ausübung bestimmter kirchlicher Handlungen. Die Lossprechung von ihr kann infolgedessen gemäß dem Kirchenrecht nur durch den Papst, den Ortsbischof oder durch einen von ihnen dazu ermächtigten Priester erteilt werden.
Im Mittelalter hat die »Heilige Inquisition« in päpstlichem Auftrag jahrhundertelang Menschen, deren Ansichten von den Lehren der Katholischen Kirche abwichen, zu Hunderttausenden brutal unterdrückt, gefoltert und getötet. Thomas von Aquin lehrte, Nichtkatholiken oder Ketzer könne man nach einer zweiten Warnung rechtmäßig töten'. Das erst kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Archiv der vatikanischen Glaubenskongregation (sozusagen die Nachfolgeorganisation der Inquisition) enthält Schriften, in denen über die Aktivitäten der Inquisitoren genauestens Buch geführt worden ist; sie umfasst 4.500 Bände'.
Aber auch die Protestanten haben in dieser Hinsicht keine weiße Weste. Johannes Calvin hat im 16. Jahrhundert in Genf ein Konsistorium mit der Kirchenzucht betraut, das die Aufgabe hatte, das gesamte sittliche Leben der Gemeinde zu überwachen. Versäumnis des Gottesdienstes, Kartenspiel, Tanz, Wirtshausbesuch und Fastnachtspiele wurden streng geahndet.

 Ein ausgedehntes Spioniersystem entstand; die Ältesten hatten das Recht auf ungehinderten Zutritt zu allen Häusern. Es wurde gefoltert und allein in einem Zeitraum von vier Jahren wurden 58 Personen hingerichtet (z.B. wegen Gotteslästerung oder Leugnung der Dreieinigkeit) und 76 verbannt. In lutherischen Kirchen wurde in der Reformationszeit die »Kirchenzucht« noch häufig praktiziert, z.B. in Form von Versagung kirchlicher Ehren an »gefallene« Brautpaare, Zurückweisung vom Abendmahl und sogar Geldstrafen.

Heute gibt es in den Landeskirchen so etwas praktisch nicht mehr.'° Helmuth Egelkraut schreibt dazu im »Evangelischen Gemeindelexikon«:
In der unüberschaubaren volkskirchlichen Situation, ohne verbindliche Mitgliedschaft, persönliche Seelsorge und Gemeinschaft, der Auflösung des Bekenntnisses und der Lehrautorität ... ist G. kaum durchführbar .""2
Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Landeskirchen sich nicht als Gemeinde der Gläubigen, sondern als Vollcskirchen verstehen.
Die Einführung der Staatskirche bedeutete das Ende der Gemeindezucht. Die Volkskirche hebt die Grenzen zwischen Gemeinde und Welt auf, die die Gemeindezucht wahren sollte .‚
Die Täuferbewegung hat dagegen - ihrem Gemeindeverständnis entsprechend - sich um eine konsequente Anwendung der biblischen Anweisungen zu diesem Thema be-
müht. Dies zeigt sich z.B. daran, dass die bekanntesten Glaubensbekenntnisse es sehr ausführlich behandeln.`
In heutigen freikirchlichen Gemeinden gibt es diese Praxis noch, aber mit insgesamt abnehmenderTendenz'5. Dazu ein paar Zahlen aus dem Bereich der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Deutschland; statistisch erfasst werden können natürlich nur die Ausschlüsse aus der Gemeindemitgliedschaft, die allerdings nur einen Teil der Maßnahmen darstellen, die das Neue Testament im Rahmen der korrektiven Gemeindeseelsorge kennt.
Anzahl der Ausschlüsse Anzahl der Streichungen
1952 435 1.620
1962 189 941
1912 50 445
1982 92 299
1989 55 384
1992 120 561
1991 15 583
Zum Vergleich: Im Bund Freier Evangelischer Gemeinden wurden kürzlich in einem Jahr 56 Personen ausgeschlos-sen'6. Da der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden sehr viel größer ist, bedeutet das, dass in diesem Zeitraum in den Freien Evangelischen Gemeinden vergleichsweise deutlich mehr Ausschlüsse vorgenommen wurden als in den Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden.
Im 19. Jahrhundert war die Zahl der Gemeindeausschlüsse in den Baptistengemeinden so hoch, dass man sich im Rahmen der jährlichen Bundeskonferenzen immer wieder mit der Frage beschäftigte, ob man die Gemeindezucht nicht zu streng und teilweise sogar ohne berechtigten Anlass praktizierte (andererseits war aber auch die Zahl der Wiederaufgenommexi sehr hoch)'. Schon 1957) wurde auf der Bundeskonferenz dagegen »die Situation in den Gemeinden beklagt, die kaum mehr den Mut oder die Vollmacht haben, den geistlichen Wächterdienst auszuführen, die Grenzen zur Welt zu bestimmen und der biblischen Weisung entsprechend den Bösen aus der Gemeinde hinauszutun«.'

Die Praxis der korrektiven Gemeindeseelsorge ist also häufig thematisiert worden, aber dennoch scheint sie kaum wirklich gründlich biblisch-theologisch reflektiert worden zu sein. Vor etwa einem halben Jahrhundert hat ein Theologe diesen Bereich als »einen geographischen Raum, von dem es noch keine genauen Karten gibt« bezeichnet.'9 Dieser Vergleich ist heute noch fast genauso treffend wie damals.
In Baptistengemeinden wird traditionell oft hauptsächlich das öffentliche Sündenbekenntnis und der organisato-
risch-intitutionelle Ausschluss praktiziert2° und die Brüdergemeinden kennen das »Bezeichnen« und das Verbot der Teilnahme am Mahl des Herrn (aber auch die Beendigung der Zugehörigkeit zur Ortsgemeinde). Inwieweit mi diesen Maßnahmen die diesbezüglichen Anweisungen des Neuen Testaments in die Praxis umgesetzt werden, wird sich in dieser Untersuchung zeigen.
Wie wenig über dieses Thema - zumindest im deutschsprachigen Raum - wirklich nachgedacht worden ist, zeigt sich in der evangelikalen Literatur. 

Das Buch, das als deutsches Standardwerk auf diesem Gebiet gelten kann, stammt bezeichnenderweise nicht von einem Evangelikalen". In Büchern über die Gemeinde nach dem Neuen Testament wird dieses Thema z.T. nur kurz am Rande erwähnt, wie z.B. in Alfred Kuens ziemlich gründlichem Werk »Gemeinde nach Gottes Bauplan«, das diesem Bereich nur 8 1/2 Zeilen von 288 Seiten widmet22. In seinem sonst mutigen Buch »Das normale Gemeindeleben« geht Watchnan Nee darauf überhaupt nicht ein».
Umso notwendiger ist es, dass, wir uns die Frage stellen, was die Bibel darüber sagt.