White John, u darfst zu ihm kommen

09/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Hiob - Der Mann, der sich den Mund zuhielt

Hiob 38,1-7; 40,1-5; 42,1-6
Zuerst sah ich wenig Sinn darin etwas über Hiobs Gebete zu schreiben. Die Gebete, die wir bisher betrachtet haben, stehen in einer Beziehung zu unserem eigenen Leben. Einige Gebete in der Schrift, wie die des Hiob, scheinen das nicht zutun. Sie sind Beispiele einer direkten Begegnung mit Gott, die den Menschen, der sie erfährt, überwältigt.
Ich sollte vielleicht erklären, was ich unter einer direkten Begegnung mit Gott verstehe. Wir haben bereits gesehen, daß es Gott gefällt, sich Menschen nicht nur auf verschiedene Weise, sondern auch in verschiedenem Maße zu offenbaren. Wir stehen immer in der Gegenwart Gottes, und als solche, die ihrem Glauben leben, sind wir für diese Tatsache froh und dankbar. Doch unser Bewußtsein von seiner Gegenwart kann aus verschiedenen Gründen Schwankungen unterworfen sein. Der wichtigste von ihnen ist das Maß, in dem es Gott gefällt, sich uns zu offenbaren. Wenn ich vor Gottes Gnadenthron knie, mag ich zwar objektiv wissen, daß ich mich in der Gegenwart Gottes befinde, subjektiv mag ich jedoch vielleicht nicht mehr erfahren als stille Freude.

Gelegentlich aber gefällt es Gott, den Schleier, der seine Herrlichkeit vor den Menschen verbirgt, beiseite zu schieben. Christus tat dies vor dreien seiner Jünger auf dem Berg der Verklärung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Petrus, Jakobus und Johannes Tag für Tag in der Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit gelebt. Sie hatten von ihm gelernt, sie hatten ihn geliebt. Mit ihm zusammen zu sein, hatte sie oftmals ermutigt, aber dann auch wieder ihnen ihre Fehler und Sünden bewußt gemacht. Die ganze Zeit über war ihnen seine Herrlichkeit verborgen geblieben, obwohl sie ihn zu kennen glaubten. 

Ihre Reaktion auf diese Offenbarung seiner Herrlichkeit auf dem Berge war tiefgreifend. Vereinfacht gesagt: In diesem Augenblick wurde er ihnen noch gegenwärtiger, als er es je zuvor gewesen war, und sie waren dvon überwältigt.
Wir bekommen eine Vorstellung von der Wirkung einer solcher Erfahrung, wenn wir uns einen Wüstenbewohner vorstellen, dem es den Atem verschlägt, wenn er zum ersten Mal das Meer sieht, oder einen Stadtbewohner, der sich plötzlich auf die Spitze des Matterhorns versetzt sieht. Gott zu begegnen, mag sogar noch mehr Verwunderung, Ekstase, Schrecken oder Scham hervorrufen, als sich erstmalig und unerwartet seiner materiellen Schöpfung gegenüberzusehen, wie neu oder dramatisch sie auch für uns sein mag. Johannes fiel wie tot zu Füßen des verherrlichten Christus nieder (Offenbarung 1,17), Daniel verließen unter ähnlichen Umständen seine Kräfte (Daniel 10,8). Jesaja rief aus: „Weh mir, ich bin verloren" (Jesaja 6,5). Keiner, der Gott auf diese Weise begegnet ist, kann je vergessen, was ihm widerfahren ist. Es ist wie eine farbig bebilderte Seite unter all den schwarz-weißen Seiten seiner Biografie.
Diejenigen, die über das Gebet schreiben, machen sich meist eine von zwei Einstellungen zu direkten Begegnungen mit Gott zu eigen. Entweder ignorieren sie sie völlig oder sie betrachten sie als wahre Perlen, nach denen wir über den Alltagsschmuck des üblichen Gebets hinaus suchen sollten. Autoren, die den Mystikern Bewunderung entgegenbringen, stehen zuweilen in der Gefahr, den letzteren Kurs zu verfolgen.

Ich hätte mich gern für die erste Alternative entschieden, nämlich das Ganze einfach zu ignorieren. Es stimmt nicht, daß wir uns um mystische Erfahrungen bemühen sollten. Johannes trachtet nicht nach einer Vision seines verherrlichten Herrn. Jesaja war, so weit wir sehen können, vollkommen überrascht von seiner Begegnung im Tempel. Ich weiß von keinem in der Schrift, der eine derartige Begegnung mit Gott suchte, außer bei Mose, und seine Begegnung hatte bereits begonnen, als er darumbat, Gottes Herrlichkeit sehen zu dürfen. Gott ist es, von dem die Initiative bei der Kommunikation zwischen ihm selbst und seinen Geschöpfen ausgeht.
Da ich praktisch veranlagt bin, sehe ich wenig Sinn in langatmigen Diskussionen über Erfahrungen, die die meisten von uns niemals haben werden. Dennoch bin ich der Meinung, daß Hiobs Gebet aus einem ganz bestimmten Grund in der Schrift überliefert wird. Es gibt etwas in dieser Erfahrung, das für einen jeden von uns ebenso wie für Hiob von Wichtigkeit ist. Aber was ist das?

Vorgetäuschte Intirnität
Eines Tages werden wir Christen verwandelt werden. Obwohl wir dann auch in Ekstase versetzt werden mögen, wenn wir die Nähe Gottes erleben, wird uns das nicht in der gleichen Weise überwältigen, wie sie es jetzt tut. In der gegenwärtigen Zeit können wir sie nur bis zu einem gewissen Grade ertragen. Als einer, der in geringem Maße etwas von solchen Begegnungen erfahren hat, würde ich davor zurückschrecken, das zu erbitten, was Mose erbeten hat. Ich weiß, daß mein Körper und mein Verstand nicht zu viel zu ertragen vermögen, wie herrlich auch immer sich eine solche Offenbarung erweisen mag
Warum sollte uns die Bibel dann überhaupt etwas über solche Dinge sagen? In welcher Beziehung sind derartige Erfahrungen von geistlichem Nutzen für uns? Was geschieht mit demjenigen, der därüber liest? Was widerfährt dem, der sie hat? Das Endresultat in meinem eigenen Leben war nicht eine Art höherer geistlicher Gnadenstand, sondern eine Ehrfurcht und heilige Furcht, wie ich sie zuvor noch nicht kannte. Und ich meine, daß uns die biblischen Berichte einen kurzen Blick auf die besonderen geistlichen Erlebnisse anderer zu werfen gestatten und uns dadurch eine solche Ehrfurcht lehren. 

Ich habe die Hoffnung, daß etwas von dem, was Hiob durchgemacht hat, bei uns haften bleibt und unsere eigene Haltung Gott gegenüber beeinflussen möge. Obwohl uns einerseits niemals die Freiheit abhanden gehen sollte, während unseres Erdenlebens gläubig und freudig in Gottes Gegenwart zu treten, müssen wir andererseits in unserer Beziehung zu ihm lernen, Gott richtig zu ehren.
Selbst in unseren menschlichen Beziehungen wissen wir wenig über die Ehrfurcht. Manche unserer Versuche zu enger Vertraulichkeit hat nur Zwist hervorgerufen zwischen uns und denen, zu denen wir ein enges Verhältnis gesucht haben. Wenn wir uns um ein vertrautes Verhältnis zu anderen bemühen, tun wir es oft auf falsche Weise. Wir verwechseln Vertrautheit mit dem, was wir fälschlicherweise dafür halten: einen ungezwungenen familiären Umgang. Wir suchen eine vertrauensvolle Beziehung, aber familiäre Ungezwungenheit ist alles, was wir erreichen. Eine vertrauensvolle, enge Beziehung ist gefährlich, bedeutet sie doch ein gründliches gegenseitiges Kennen und ein tiefes Vertrautsein miteinander. Beiläufige Vertraulichkeit mag uns die Illusion von Intimität vermitteln und ist auch viel ungefährlicher, weil sie nur ein sehr oberflächliches gegenseitiges Kennenlernen erfordert. -

Den Galiläern war Jesus wohl bekannt. Sie kannten ihn aber nicht wirklich, sie glaubten ihn nur zu kennen, sie kannten seine Eltern. Sie hatten ihn heranwachsen sehen und miterlebt, wie sich seine Fertigkeiten als Zimmermann entwickelten. Aber ihr familiärer Umgang mit ihm hatte sie für alles blind gemacht, was & wirklich war. Völlig unbekümmert hatten sie ihn eingeordnet und mit dem entsprechenden Etikett versehen. Vielleicht hatten sie ganz unbefangen mit ihm gescherzt oder ihn gehänselt - ihre Späße und Neckereien wurden von„ dem Bild bestimmt, das sie sich von ihm gemacht hatten. Ihre Vertraulichkeit ging davon aus, was sie in ihm sehen wollten und was sie zu sehen meinten.
„Na klar, ich kenne Jesus", könnte einer von ihnen gesagt haben. „Ich kenne ihn, seit er ein Kind war. Er ist doch Josefs Sohn. Ein guter Zimmermann, ein netter Kerl, ein bißchen still manchmal. Ob ich ihn kenne? - Ich hab' praktisch jeden Tag mit ihm gesprochen." Sie kannten ihn so gut, daß er keine Wundertaten unter ihnen wirken konnte ihres Unglaubens wegen.
Es gibt keine Vertrautheit ohne gegenseitigen Respekt. Und Respekt muß auf der Tatsache begründet sein, daß wir in demjenigen, zu dem wir eine vertrauensvolle Beziehung suchen, ein einzigartiges Wesen sehen, das in Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Wir müssen mehr als bloß die äußere Erscheinung sehen, mehr als nur den Ton einer Stimme oder allein den Sinn gesprochener Worte hören. Wir müssen das lebendige Wunder eines Wesens sehen, in dem die schöpferische Kraft Gottes weiter wirkt - ein Meisterwerk seiner Schöpfung, unendlich kostbar, weil Gott es in seinem Ebenbild schuf und es durch seinen Tod erlöste.

Aus diesem Grunde erweisen sich unechte Versuche um Vertrautheit, indem man sich duzt und mit dem Vornamen anredet, oder Umarmungen bei einer .Cocktailparty als unbefriedigend und langweilig Wir mögen es zu ungezwungenem familiären Umgang bringen, während wir unsere Masken tragen und wir von dem Wunder des Wesens eines anderen Menschen unberührt bleiben. Und da wir nur sehen, was wir sehen wollen, und nichts anderes als das Bild von uns darbieten, das wir anderen vermitteln wollen (sei es das der Aufgeblasenheit oder das des Selbstmitleids), schließen wir ein Bündnis gegenseitiger Geringschätzung.
Vertrautheit beinhaltet hingegen ein wirkliches gegenseitiges Keimen. Ungezwungener familiärer Umgang miteinander ist die Illusion, einander zu kennen, wobei ich aber nur sehe, was ich auch sehen will, und zwar nur den Teil einer Person, mit dem ich fertig werden kann.
Der Mann, der darauf aus ist, Frauen zu erobern, kennt keine der Frauen wirklich, mit denen er zu tun hat. 

Er kennt vielleicht einige ihrer Reaktionen, und er weiß genau, wie er bei ihnen das erreichen kann, was er von ihnen will. Aber diese Kenntnis hat nichts mit Vertrautheit zu tun. Er kümmert sich wenig um ihre Hoffnungen, ihre inneren Ängste, ihre Sehnsüchte und Freuden. Wenn sie ihm davon zu erzählen versuchen, sagt er bloß: „Ja, ja, Schätzchen, ich fühle mich auch oft ganz genauso", oder „Ach, laß das, so bist du in Wirklichkeit doch gar nicht." Er sucht gar keine echte Beziehung der Vertrautheit, sondern nur eine rein körperliche Beziehung, die aus sich heraus Verachtung füreinander entstehen läßt. Wenn er eine seiner Frauen verläßt, sagt er sich vielleicht: „Sei's drum -. das war reine Zeitverschwendung. Ich will doch nicht auch noch ihr Psychiater sein!"

Manch ein Ehemann oder eine Ehefrau mögen dieselbe Einstellung haben. Das, was als Brücke zu einer engen vertrauensvollen Beziehung bestimmt war, führt dann zur Gleichgültigkeit, Langeweile oder sogar zur Verachtung.
Eltern mögen eine ungezwungene familiäre Beziehung zu ihren Kindern haben und ebenso die Kinder zu ihren Eltern, ohne daß sie jemals einander wirklich kennen. Denn Intimität schließt respektvolles Zuhören und aufeinander Horchen mit ein. Es bedeutet auch, demütig genug zu sein, die Geheimnisse deines Herzens miteinander zu teilen, vorausgesetzt, du weißt, daß dies demjenigen, mit dem du sie teilst, hilft und ihn nicht belastet.
Leider leben wir in einer Zeit, da Psychologen und Soziologen sich unseres Verlangens nach wirklicher Vertrautheit bewußt geworden sind. Therapeutische Gruppen, Begegnungsgruppen, zum Teil auch unter Christen, in denen man sich einander „mitteilt", sind Versuche, die enge Beziehung zu anderen, nach der wir uns so sehr sehnen, zu verwirklichen. Doch das mißlingt uns, weil wir das Schöpfungswerk Gottes in dem Menschen, mit dem wir in ein enges Vertrauensverhältnis kommen möchten, nicht respektieren und ihm keine Achtung entgegenbringen. Wir lernen es zwar, ungezwungen, leger und familiär miteinander umzugehen, aber niemals, wirklich eng vertraut miteinander zu sein.

Der himmlische Kumpel
Oft findet sich die Tendenz, zu locker, ja zu plump vertraulich miteinander zu sein, auch in unserer heutigen Auffassung vom Gebet. Einst war Gott für viele eine Art gütiger Großvater, heute ist er zu einer Art himmlischem Kumpel geworden. Wir mögen uns um Ehrlichkeit, Offenheit und um Abwendung vom Ritualen und Stereotypen bemühen, und das ist gut so. Das Gebet als Gespräch mit Gott kann für manche einen Durchbruch bedeuten. Aber als Menschen bleiben wir von Ehrfurcht unberührt.
Kürzlich leitete ich eine VersamThlung von führenden Brüdern aus mehreren Gemeinden. Nach der Schriftlesung und einigen einleitenden Worten machte ich den Vorschlag: „Laßt uns jetzt in unseren gemeinsamen Gebeten Gott anbeten und preisen, damit unsere Bitten in ein richtiges Verhältnis gerückt werden, dadurch daß wir uns der Majestät Gottes erinnern." Die Teilnehmer stimmten dem begeistert zu, doch ihre Gebete machten deutlich, daß keiner richtig verstanden hatte, worum es eigentlich ging.
„Hab Dank, Herz, für unser Vorrecht, im Gebet zu dir kommen zu können", hieß es in einem der Gebete. „Wir danken für deinen reichen Segen. Bitte hilf uns, Herr, dir gehorsam zu sein. Segne die Arbeit der Gemeinden und gib, daß... " Oder ein anderer betete: „Hab Dank, Herr, daß wir daran erinnert werden, daß wir dich mehr preisen sollten. Vergib uns, daß wir das nicht genug getan haben. Vergib uns auch, daß wir nicht liebevoller miteinander umgehen. Hilf uns, daß wir in unserer Treue zu dir wachsen und mit unserem Mund und in unserem Leben Zeugnis für dich ablegen. Segne die Missionare..
Dank enthielten die Gebete, auch Lobpreis für ganz praktische Dinge und auch für unsere geistlichen Segnungen. Aber mein Herz sank, als ich merkte, daß alle, die da beteten, blind waren für die Majestät und Herrlichkeit Gottes.
An diesen Gebeten war nichts auszusetzen. Nur war es ganz offensichtlich ‚ daß sich die Gebete dieser Gemeindeleiter mehr mit Gott selbst befassen würden, wenn diese Männer eine Vorstellung von dem verherrlichten Herrn gehabt hätten. Dann hätten die Gebete vielleicht so gelautet: „Herr, da wir dich so sehen, wie du in Wirklichkeit bist, sind wir erstaunt darüber, daß du dich überhaupt mit uns abgibst. Wir sind überwältigt von deiner Herrlichkeit. Alles, was uns zu sagen bleibt, ist: ‚Würdig bist du, o Herr, Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft zu empfangen.' Wir fallen nieder vor dir und sind dir dankbar, daß wir Geschöpfe aus deiner Hand sind, Sklaven, die du befreit hast. Deine Liebe ist unvergleichlich, und es mangelt uns an Worten, dich gebührend zu preisen."
Wenden wir uns jetzt Hiobs Gebet zu, damit wir durch den Heiligen Geist daran erinnert werden, daß wir lernen müssen, in Ehrfurcht vor ihm zu erzittern, aber auch, ihm nahe zu sein.
Todesverlangen
Niemand weiß ganz genau, wie alt das Buch hob ist, es gehört jedenfalls zu den ältesten Büchern der Heiligen Schrift. Einige Gelehrte meinen, daß es ursprünglich nur aus den ersten zwei Kapiteln und dem letzten Teil des 42. Kapitels bestand, die dazwischenliegenden aber erst später von einem anderen Verfasser hinzugefügt wurden. Dieser mittlere Teil, der Hauptteil des Buches Hiob, ist in einer großartigen poetischen Sprache geschrieben, mit der die leidenschaftliche Diskussion über den Sinn der Tragik im Leben Hiobs dargestellt wird. Wie auch immer, es ist ein vom Geist Gottes inspiriertes Buch.
Hiob war ein guter Mann, der Gott verehrte und von Gott reichen Lohn empfing. Doch auf Satans zynische Worte hin, läßt Gott es zu, daß dieser dem Hiob jedes Leid antun kann, solange er dabei nur sein Leben schont. Als Folge davon kommt eine Katastrophe nach der anderen über Hiob. Er verliert all seinen Besitz, seine Kinder, seine Gesundheit und sogar den Respekt und die Anerkennung seiner Frau.

Elend, voller Schmerzen und zutiefst niedergeschlagen, weigert er sich dennoch, zu verzweifeln oder Gott zu fluchen und zu sterben. Seine Freunde gemahnen ihn daran anzuerkennen, daß seine Schwierigkeiten die Folge seiner Sünden sind. Gott trifft niemals die Schuld, sagen sie. Deshalb muß die Schuld bei hob liegen.
Diese mittleren Kapitel sind für die meisten von uns schwer zu verstehen, und das waren sie auch für mich. Pflichtgemäß hatte ich das Buch Hiob vor Jahren mehrmals gelesen, und ich bin sicher, daß ich etwas daraus gelernt habe. Aber meine Erinnerung daran ist nur noch schwach. Als ich es jetzt in einer zeitgemäßen Übersetzung wieder gelesen habe, konnte ich das Buch einfach nicht weglegen. Ich wurde gefesselt von der Erhabenheit und Schönheit seiner Sprache, wie es nach und nach den Charakter der drei Freunde des Wob offenbart, von ihrer bitteren Unnachgiebigkeit und von Hiobs standhafter Weigerung, ihr Urteil zu akzeptieren.

Es hieße, es sich zu einfach machen, das Buch damit abzutun, daß man sägt, es behandle das Problem des Leidens. Es ist ein herzerfrischender Bericht über einen Mann in tiefster Verzweiflung, der nicht glauben kann, daß Gott ihn bestraft; oder wenn Gott das doch tun sollte, ist er überzeugt davon, daß Gott damit aufhören würde, wenn er seine Seite der Sache hören könnte. Angesichts der platten und gar feindseligen Anklagen seiner sogenannten Freunde und ihrer pedantischen Wiederholungen weiß Hiob schon in seinem Leid, seinem Schmerz und seiner Verlassenheit, daß er sich zur Bejahung seiner Situation durchzuringen vermag, weil es am Ende im Universum Gerechtigkeit und damit auch seine persönliche Rechtfertigung vor Gott und der Welt geben wird.
Aber in seiner Beharrlichkeit ist er der Behauptung gefährlich nahe, er sei im Recht, und wenn es ihm möglich ist, würde er Gott dazu bringen, das zuzugestehen. Können wir ihm das aber zum Vorwurf machen? Wer unter uns könnte die Schicksalsschläge aushalten, die hob ertrug? Für Hiob gab es nur zwei Wege: den der Bitterkeit und Verzweiflung (auf dem er zu gehen begonnen hatte, als seine Freunde zu ihm kamen) oder den Weg zorniger Selbstrechtfertigung.
So haben dir deine Freunde, Hiob, in Wirklichkeit einen Dienst erwiesen. Indem sie dich zu gerechter Empörung und Sarkasmus trieben, brachten sie dich ab von deinem Todesverlagen und statt dessen zum Zorn und an einem Punkt sogar zu höchster Freude. Im Verlaufe der Geschichte wächst du zu einem Helden von epischer Größe heran. In gewisser Hinsicht kommt Gott fastweniger gut weg. (Denn wer war es, der dich ohne deine Zustimmung so ganz beiläufig in die arglistigen Hände des Satans hat fallen lassen, nur um etwas zu beweisen?) Hat er nicht von Anfang an zugegeben, daß du in der Tat ein ungewöhnlich gerechter Mann bist?

Doch als deine Chance kam, Fragen zu stellen, was sagte er da zu dir? „Zunächst habe ich dich einiges zu fragen, Hiob. Eigentlich weißt du gar nicht genug, um mein Richter zu sein. Ich muß dich daran erinnern, wer wir beide sind" (siehe Hiob 38,1-3; 40,1-2). Und aus deiner Antwort wird deutlich, daß du ihn sowohl gesehen als auch gehört hast. Du wurdest gedemütigt - wie sehr bist du doch gedemütigt worden - aber du hattest deinen Frieden wiedergefunden und warst wieder bei Vernunft.

Gering ist gesund
Wie reagierte hob darauf?
„Ich lege meine Hand auf meinen Mund." Plötzlich scheint der vorherige Wortschwall ganz sinnlos und bedeutungslos. All die vielen Worte waren überflüssig und fehl am Platze. Sie konnten dem nichts hinzufügen, was er nun erkannte. Worte waren so überflüssig wie der auf einen Zettel gekritzelte Kommentar darüber, was Kunst sei, den man der Pietä oder der Mona Lisa angeheftet hat. Hiob wußte so gut wie nie zuvor, daß derjenige, der Gott begegnet, nichts mehr zu sagen hat. Wie könnte jemand der Allwissenheit noch etwas hinzufügen oder eine Kritik an dem verzehrenden Feuer der Heiligkeit Gottes formulieren wollen?
„Siehe, ich hinzu gering." Es ist tröstlich, auf das rechte Maß zurückgeführt zu werden. Man kann nicht zur gleichen Zeit aufgeblasen und aufer-baut sein.
Für Hiob war es so, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Er erfuhr sein Geringsein in der Gegenwart der Majestät Gottes in jeder Beziehung: moralisch, intellektuell und physisch. Es war schmerzlich für ihn, weil er durch seine lächerliche Torheit erschüttert wurde. Doch wir fühlen uns niemals wohl, wenn wir vor Wichtigkeit platzen. Wir meinen vielleicht, wir seien in Hochstimmung, doch selbst wenn das so ist, ist es ein Hochgefühl, das nicht frei von Bürden und Spannungen ist. Es mag schmerzlich für uns sein, wenn wir das erste Mal unsere wirkliche Größe erkennen, doch wenn wir uns so sehen, werden wir von der Last befreit, unser künstlich aufgeblasenes Image aufrechterhalten zu müssen. Groß erscheinen zu wollen, war für hob so unnötig wie reden geworden.
Es ist etwas zutiefst Gesundes und Heiliges daran, gering zu sein und zum Schweigen gebracht worden zu sein. Heutzutage messen wir der rechten Selbstdarstellung große Bedeutung bei. Wir erkennen ganz richtig, daß Minderwertigkeitsgefühle uns in unserer Lebensführung behindern können. Das Gefühl zu nichts nutze zu sein, gibt uns die Einstellung eines Galgenvogels und Bitterkeit. Deswegen suchen wir diese Situation dadurch zu ändern, daß wir uns um ein besseres „Selbstverständnis" bemühen, worunter wir meist eine höhere und bessere Meinung von uns selbst verstehen. Angeblich .brauchen wir nur in den Spiegel zu schauen, um von dem, was wir da zu sehen bekommen, beeindruckt zu sein.

Aber ist es das, was Gott will? Mir scheint, daß das wirkliche Problem bei einem ungenügenden Selbstgefühl (oder, etwas altmodischer ausgedrückt, bei einem „Minderwertigkeitskomplex") in unserer Unzufriedenheit mit uns selbst zu suchen ist. Es kommt nicht darauf an, wie geringwir sind, sondern inwieweit wir mit uns selbst in Frieden leben, und der hat Frieden mit sich selbst, der sich im großen Lauf der Welt richtig eingeordnet weiß. Das Problem liegt nicht darin, daß wir unbedeutend sind, sondern daß wir miteinander im Konkurrenzkampf stehen und daher Entwurzelte sind in der unsinnigen Jagd nach einem Platz im Leben. Als Folge davon verhalten wir uns anderen, ja selbst Gott gegenüber, ablehnend. Wir bewegen uns in den Fußstapfen des Teufels. Wir sind wie Kinder, die feststellen wollen,, wer von ihnen der Größte ist, aber wir legen dabei einen falschen und veränderlichen Maßstab an;
Zu wissen, daß wir klein sind und doch angenommen und geliebt werden, daß wir genau für den Platz in unserem Leben passen, den ein liebevoller Gott für uns bereitet hat, ist die gesündeste Erkenntnis, von derich überhaupt weiß. Das verbietet uns aber nicht, mutig oder selbstbewußt zu sein, wenn es not tut, doch es befreit uns von einer lächerlichen aggressiven Selbstdarstellung und lautem Herumschreien. Wenn wir unseren wirklichen Platz im Leben kennen, brauchen wir uns niemals bedroht zu fühlen. Vor allem gibt uns das die Freiheit, über die Herrlichkeit und Majestät Gottes zu staunen, Ströme lebendigen Wassers zu trinken und Gewißheit darüber zu haben, wozu wir erschaffen worden sind.
Laute des Schweigens
Klein und sprachlos.
Hiob muß einfach reden. Wären seine Worte aufgenommen worden, bezweifle ich, daß sie sehr angenehm und geschliffen gewesen wären, eher unzusammenhängend hervorgestoßen mit erstickter Stimme.,, Ich hab' erkannt, daß du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt" (hob 42,2). Er mußte das einfach sagen, und er wollte es sagen. Plötzlich solche Worte zu äußern, war das feinsinnigste Geschenk, das das Leben ihm zu bieten vermochte. Er sah Gott nicht nur, er begriff auch die Herrlichkeit, ihn preisen zu dürfen. Und wenn er auch weinte, ihm die Stimme versagte oder er seinen Bart mit Schleim beschmutzte, er mußte die Worte einfach loswerden. Was hätte er anderes tun können im Auge-sichte solchen Glanzes?

„Wer ist es, ‚der ohne Einsicht den Rat verdunkelt?" (hob 42,3). (Er zitiert die Frage, die Gott ihm am Anfang gestellt hat aus Hiob 38,2.) „So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind" (Hiob 42,3). Unter Tränen lacht er über sich' selbst. Es ist gut, in der Gegenwart Gottes über unsere Dummheit zu lachen. Tränen und Lachen vermischen sich miteinander, denn nichts ist mehr von Bedeutung, wenn man sich in Gottes' Gegenwart befindet und voller Erstaunen feststellt, daß man noch atmen kann.
„Hör doch, ich will nun reden, ich will dich fragen, du belehre mich!" (Hiob 42,4). Noch einmal wiederholt er, spottend über sich selbst, Gottes eigene Worte (Hiob 40,7). „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut" (Hiob 42,5). Man beachte den Unterschied. Bis dahin hatte er Gott nicht gehört. Er hatte nur von ihm gehört., Nun aber ist alles ganz anders geworden. Jetzt hört und sieht er ihn selbst.

Und was sah er? Ich glaube, es wäre ihm schwergefallen, das genau zu erklären. Er hätte vielleicht gesagt: „Es war, als wenn..., es war so wie..." und hätte dann hilflos den Kopf geschüttelt. Ein ähnliches Gefühl hat man vielleicht, wenn man bei Hesekiel oder in der Offenbarung des Johannes liest, wie sie darum ringen, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Die Beschreibung als solche ist eigentlich nebensächlich. Niob kannte die Unmittelbarkeit, von der wir zuvor schon gesprochen haben. Er sah einen Wirbelsturm, aber es war kein Wirbelsturm, wie man ihn je erlebt hat, und er machte ihn so überaus glücklich, daß er sagen konnte: „Darum widerrufe ich und atme auf in Staub Und Asche" (Hiob 42,6).
Widerrufen? Er hatte sich vollkommen geändert. Der Mann, der drei selbstgerechte Schwätzer mundtot gemacht hatte und von seiner Rechtfertigung schlußendlich überzeugt gewesen war, widerruft nun. 

Er weiß, daß er Unrecht hatte. Er begreift es sehr intensiv und gibt es offen zu. Er scheint fast zu weit zu gehen. Staub und Asche - ist das vielleicht nur eine Metapher? Oder sollte Hieb wirklich Staub und Asche auf sein Haupt gestreut haben als Zeichen seiner Erniedrigung? Klingt Hieb so, als ob er sich erniedrigt?
Verachtest du Menschen, die sich erniedrigen? Vielleicht verstehst du nicht ganz, worum es geht. Was du nicht magst, ist Unterwürfigkeit. Wenn ein Mensch vor Gott in den Staub sinkt, buhlt er nicht um seine Gunst. Das war das letzte, was Hieb im Sinn hatte. Seine Buße war Anbetung Gottes. Sicherlich waren auch Schrecken und Abscheu vor sich selbst mit dabei. Aber der Wirbelsturm würde kurzen Prozeß damit machen. Man kann nicht in Gegenwart der Herrlichkeit in Abscheu vor sich selbst verharren, denn die Herrlichkeit macht sie völlig zunichte.

Ein größerer Reichtum als Besitz
Verehrung Gottes.
Wenn du auch nur einen ganz kurzen Blick von Hiobs Ehrfurcht vor dem Herrn erhaschen kannst, wirst du vielleicht doch ihre Bedeutung zu begreifen beginnen. Sie kann mit Vorbedacht Gott entgegengebracht werden, wenn du betest: „Geheiligt werde dein Name", so wie Jesus uns zu beten gelehrt hat. Es tut nichts zur Sache, ob du jemals gegen einen Wirbelwind ankämpfen mußt. Und ich habe schon davor gewarnt, daß es nicht das Klügste ist, sich unbedingt einem aussetzen zu wollen. Worauf es ankommt, ist doch, daß Gott von dir eine solche Anbetung empfängt, die er verdient. Sie kommt ihm einfach zu. Du bist sie ihm schuldig. Sei in seiner Gegenwart voll Ruhe. Erkenne ihn im Gebet als den Herrn aller, Herren an, sei ihm dankbar dafür, daß du jeden Atemzug ihm verdankst, preise ihn dafür, daß niemand sonst würdig ist, das Weltall zu regieren. Sag ihm, daß du weißt, daß er heilig ist und ihm niemand gleicht. Sag ihm, daß du ihm deine Treue, deinen Körper und deine Zeit schuldig bist. Sag ihm, daß du erkannt hast, daß seinflarmherzigkeit mit dir weit größer ist, als du es jemals verdient hast. Der Heilige Geist wird dich lehren, wie du weiter fortfahren sollst.

Hiobs Geschichte nimmt ein glückliches Ende. ,Gott reagierte auf Hiob nicht aus Stolz heraus, noch waren die Worte, die ei aus dem Wirbelsturm heraus an ihn richtete, voll hochmütiger Herablassung. Gottes Zurecht weisung hatte den Zweck, Hiobs Perspektive wieder zurechtzurücken, ja, sie zu verbessern. Und es wird ganz deutlich, daß Gott ihm sein Wohlwollen bewahrte (hob 42,7).
Am Ende des Buches sehen wir, daß sein Verhältnis zu seinen Freunden nun genau umgekehrt ist. Jetzt ist er es, der Gott für sie um Vergebung bittet. Nicht durch seine eigene Gerechtigkeit ist hob gerechtfertigt, sondern durch Gottes Gnade, während seine Freunde verurteilt werden.
Die Tatsache, daß er am Ende doppelt so viel besitzt und zweimal so viele Kinder hat wie zuvor, mag für uns wenig bedeuten. Wir sind geneigt, Geschichten gering zu schätzen, die mit der Floskel enden: ..und sie lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende." Doch in einer Zeit, da Reichtum und Kinder als sichtbares Zeichen göttlichen Segens angesehen wurden, sollte dadurch deutlich werden, daß Leid nicht notwendigerweise Strafe zu bedeuten hat. Diejenigen, die Gott liebt, mögen Prüfungen unterworfen werden, was aber durchaus nicht auf Sünde oder göttliche Vergeltung hinzuweisen braucht.
Das Problem des Leidens ist im Buche Hiob nicht vollständig gelöst, doch für hob existierte es nicht länger mehr. Nicht nur, daß er seinen Besitz wiedererhielt; ein weit größerer Reichtum wurde ihm zuteil und hat sein Leben erfüllt, der Reichtum, der dem Menschen daraus entspringt, daß er die Majestät und Herrlichkeit Gottes schätzen gelernt hat. Ein solcher Reichtum bringt tiefe Befriedigung mit sich, und Hiob starb schließlich „hochbetagt und satt an Lebenstagen" (Hiob 42,17).

ISBN 3 88224 284 1
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Daring to draw near
© 1977 by lnter-Varsity Christian Fellowship of the United Stabs of America
© der deutschsprachigen Ausgabe
1983 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
3550 Marburg an der Lahn