Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt und Der Hut, Pastor Wilhelm Busch

05/30/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, wird mein Herz fröhlich. Wir hatten die besten Eltern) die je gelebt haben. Und gerade darum tut es mir heute noch weh, wenn mir eine böse Geschichte in den Sinn kommt Andererseits habe ich gerade damals meinen Vater erst richtig lieben gelernt.

Aber nun will ich ordentlich der Reihe nach erzählen: Damals war ich ein Junge von zwölf Jahren. Außerdem war ich Quartaner in einer höheren Schule. Aber nur sehr ungern! Ich glaube, ich war ganz einfach - faul. Jungen haben manchmal so Zeiten) in denen ihnen der «Ernst des Lebens« höchst zuwider ist.
Ich weiß gar nicht recht, wie es kam - auf einmal war ich in ein richtiges Lügennetz verstrickt.
Es fing wohl so an, daß ich eine schlechte Arbeit geschrieben hatte. Bekümmert sah ich Unheil auf mich zukommen. Nun würde man diese schlechte Note zum Anlaß nehmen, meine Schularbeiten zu kontrollieren; ich würde Fehlendes nachholen und schrecklich arbeiten müssen. Dazu hatte ich einfach keine Lust. Und so verschwieg ich die schlechte Note. Die nächste Arbeit wurde noch schlimmer. Wieder beichtete ich zu Hause das Unglück nicht. Sondern vielmehr, als eines Tages mein Vater nach den Arbeiten fragte, log ich ihm mit klopfendem Herzen etwas vor. Er wollte das Heft sehen. Da habe ich mich des Nachts hingesetzt und habe neue Hefte angefertigt. Dann mußte ich mir Geld verschaffen, um rote Tinte zu kaufen, mit der ich die Unterschrift des Lehrers fälschte. Mein Vater bekam ein Heft mit den herrlichsten Zensuren zu sehen. Damals habe ich gelernt, daß aus jeder Lüge wenigstens zehn neue herauswachsen. Schließlich war mein ganzes


Jungenleben nur noch ausgefüllt damit, zu vertuschen und zu schwindeln. Das Lügennetz wurde immer verworrener. Mich hatte eine Art Panik gepackt. Ich hätte es jetzt viel bequemer gehabt, wenn ich nur meine Schulaufgaben hätte machen müssen. Nun aber saß ich nachts und schrieb doppelte Hefte oder fälschte Entschuldigungen.
Und dabei ging es auf Weihnachten zu. Meine Eltern zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie uns erfreuen könnten. Und ich ...! Wenn meine Geschwister fröhlich spielten, dann packte mich der ganze Jammer eines verpfuschten Daseins. - Wie sollte ich je herauskommen?!
Aber eines Tages brach die drohende Katastrophe herein. Deutlich - als wäre es erst gestern gewesen - sehe ich im Geist die Szene vor mir. Meine Schwestern spielten im Flur mit dem Ball. Und ich saß finster brütend auf der Treppe.
Dann schellte es -r der Briefträger gab die Post ab ... Wenige Minuten später ging die Tür des Studierzimmers auf, mein Vater erschien, und ruhig forderte er mich auf: »Komm doch mal herein!«
Mir klopfte das Herz bis zum Halse. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen eben geöffneten Brief. Ich erkannte sofort die Schrift meines Klassenlehrers.
Was enthielt der Brief?! Ich bemühte mich vergeblich, ihn zu entziffern. Da reichte mein Vater mir ihn schon. Und während ich zitternd las, setzte er sich in den Sessel.
Es waren nur zwei Zeilen, in denen der Lehrer meinen Vater um eine Aussprache bat.
»Komm, setz dich«, sagte mein Vater, »und erzähl mir, was denn da los ist!«
Nun mußte ich bekennen, und aus meinem Herzen brach es heraus: all dies ganze Geknäule von Schwindel und Betrug und Lüge und Faulheit und Schmutz. Ich war selber entsetzt, als ich es nun alles so ausgebreitet vor mir sah.
Oh, ich hätte mich anspeien mögen! Da saß nun mein lieber Vater, der uns täglich seine Liebe bewies, und es war,
als wenn ein dunkler Schleier von abgründiger Traurigkeit sich über ihn legte.
Endlich war ich fertig. Mein Vater war gaitz in sich zusammengesunken. Eine schreckliche und tiefe Stille lag zwischen uns. Nur von draußen hörte man das fröhliche Lachen meiner Schwestern.
Dann richtete mein Vater sich auf und sagte aus tiefster Seele: »Du wirst ein Nagel an meinem Sarge werden! Nun geh!«
Und ich ging. Die Tränen flossen mir über das Gesicht, als ich die dunkle Treppe hinaufstieg zu meinem Zimmerchen. Erschrocken sahen die Schwestern mir nach.
Mechanisch zog ich mich aus und legte mich ins Bett. Keiner rief mich zum Abendessen. Ich hatte auch kein Verlangen danach. Später hörte ich, wie meine Mutter mit den Geschwistern Weihnachtslieder sang. Da heulte ich los. Ich begriff dunkel, daß Sünde ausschließt und einsam macht.
Ich war maßlos verzweifelt - über mich selbst! Kein Hund würde mehr ein Stück Brot von mir annehmen können! Mein Vaterwürde nie mehr fröhlich lachen können! Kein Mensch würde mich jemals mehr lieb haben!
Es war tief in der Nacht. Alle außer meinem Vater waren schon zu Bett gegangen. Ich hatte die gewohnten Geräusche gehört. Einsam saß der Vater wohl noch über der Arbeit in seinem Studierzimmer.
Jetzt hörte ich seine Tür gehen. jetzt stieg er zu seinem Schlafzimmer im ersten Stock hinauf ... Da! Mir stockte der Herzschlag - ich hörte deutlich, wie er auf der Treppe weiterstieg - herauf zu mir in den zweiten Stock! Ganz langsam - Stufe für Stufe! Als wenn er eine schwere Last trüge!
Meine erschrockenen Gedanken jagten sich: Ich konnte mich nicht erinnern, daß mein Vater je in meine kleine Bude gekommen wäre. Was wollte er jetzt! Kam jetzt die große Abrechnung? Wies er mich aus dem Hause?
Schon war er vor meiner Tür angelangt. Ich merkte, wie er einen Augenblick stockte ... dann ging die Tür auf ... er trat in das dunkle Zimmer ... Ich hielt den Atem an. Er stand ganz still. Dann fragte er leise: »Schläfst du schon?« Mir stieg ein unbändiges Schluchzen hoch. Sagen konnte ich nichts. Da kam er auf mein Bett zu ... unendlich zart legte er mir die Hand auf den Kopf und sagte: »Nun bist du froh, daß alles im Licht ist, mein lieber Sohn!« Ich spürte, wie er sich herabbeugte und mir einen Kuß gab. Dann ging er.
Ich lag wie gelähmt. Und doch - am liebsten wäre ich herausgesprungen ... ich hätte ihm um den Hals fallen mögen: »Mein lieber Vater!« Aber ehe ich dazu die Kraft fand, hörte ich seine Tür gehen.
Ich lag allein im Dunkel. Selten habe ich eine solche unendliche Seligkeit gefühlt. Vergebung!! Vergebung!! Ja, nun würde alles, alles neu werden!
Am nächsten Tag ging mein Vater zum Lehrer. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Mit gewaltigem Eifer setzte ich mich auf die Hosen und brachte Ostern ein gutes Zeugnis nach Hause.
Niemals aber hat mein Vater wieder diese Geschichte erwähnt. Sie war ganz und gar abgetan. Die Schuld war vergeben - »in des Meeres Tiefe geworfen«, wie die Bibel sagt...
Viele Jahre später lernte ich die Vergebung der Schuld kennen, die der lebendige Gott uns im Herrn Jesus, dem Gekreuzigten, schenkt. Da fiel mir wieder die alte Geschichte aus meiner Jugendzeit ein: Das ist die Vergebung, daß unsere Schuld gar nie mehr zur Sprache kommt und wirklich und wahrhaftig abgetan ist.
Und hier - in der Vergebung - liegt alle Kraft zu einem neuen Leben. Wer sie erfährt und glaubt, dem quillt das Herz über vor Liebe zum Vater.

Der Hut
In meiner Heimatstadt Frankfurt am Main war eine große jüdische Gemeinde. Die zog uns als Jungen merkwürdig an. Es lag etwas Geheimnisvolles über dieser fremden Welt. Einmal durften wir sogar einen alten Rabbiner besuchen, der in einem der verwinkelten, sehr schmalen Häuschen der Frankfurter Altstadt wohnte. Da zeigte er uns ein genaues Modell des Salomonischen Tempels, das er in jahrelanger Arbeit angefertigt hatte. Während er uns alles erklärte, spürten wir Jungen etwas von der Sehnsucht dieses zerstreuten Volkes nach dem Heiligtum Gottes.
So ist es nicht verwunderlich, daß wir eines Tages am Sabbat in die Altstadt zogen, um an einem der geheimnisvollen Gottesdienste teilzunehmen.
Aber leider ergab sich nun eine Schwierigkeit. Die Juden halten es umgekehrt wie wir: Wir nehmen in der Kirche den Hut ab; in der Synagoge dagegen darf kein Mann erscheinen, ohne daß er einen Hut auf dem Kopfe hat.
Wir Jungen aber trugen keine Hüte. Es war für uns damals geradezu Ehrensache, ohne eine Kopfbedeckung herumzulaufen.
Da standen wir nun vor der Synagoge. Und ein kleiner, alter, ernster Mann erklärte uns, ohne Hut könnten wir auf keinen Fall die Synagoge betreten.
Hier war guter Rat teuer. Umkehren mochten wir nicht. Schließlich hatten wir diese Expedition doch lange besprochen und geplant. Sollte sie nun so kläglich scheitern?
Der kleine, alte, bärtige Mann sah, daß es uns Ernst war mit dem Besuch der Synagoge und daß es sich nicht nur um einen spaßigen Einfall handelte. So trat er noch einmal zu uns und erklärte, er könne uns für die Dauer des Gottesdienstes Hüte vermieten, wenn wir ihm für jeden Hut einen Groschen Miete bezahlen wollten.

Da wurde große Kassenrevision gehalten. Und als sich herausstellte, daß genug Geld vorhanden war, gingen wir auf den Handel ein.
Der Mann brachte die Hüte. Ich denke, es waren abgelegte Kopfbedeckungen der vielen, vielen Rabbis, die hier gewirkt hatten: große, breitrandige, schwarze Deckel. Es war gut, daß wir Ohren am Kopf hatten, sonst wären uns die Hüte über das Gesicht gerutscht.
Aber mit den schwarzen Hüten kam eine feierliche Stimmung über uns. So betraten wir die Synagoge. Andächtig machten wir den Gottesdienst mit. Und beim Ausgang gaben wir die Gottesdienst-Hüte wieder ab. -
Seitdem habe ich oft an diese Hüte denken müssen. Wenn ich unsere lieben Christenleute im Gottesdienst sehe, machen sie alle einen so frommen und gottgefälligen Eindruck. Und sie singen die Glaubenslieder, in denen sie versichern, daß nichts sie vom Herrn Jesus trennen könne, auch wenn die Welt unterginge. Sie haben gleichsam feierliche Glaubenshüte auf.
Aber wenn der Gottesdienst zu Ende ist, geben sie den Glaubenshut schnell ab. Dann sind sie wie alle anderen Leute: Sie zanken und streiten, sie dienen dem Mammon, sie folgen ihren Lüsten und sie vergessen ganz den Heiland, der für sie starb. Sie leben ihren Alltag ohne den Erlöser. Das ist schlimm.
Wir sollten unseren »Glaubenshut« auch außerhalb des Gottesdienstes tragen.

Quelle

ISBN:    9783791810218
Format:    19,5 x 12,5 cm
Seiten:    160
Gewicht:    248 g
Verlag:    Quell Verlag
Erschienen:    1972
Einband:    Hardcover/gebunden

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