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Was auf Schwarzeneck geschah: Der Vater hatte gesagt, das Haus sei verflucht.
Frank saß in den dürren Zweigen des Apfelbaumes und schaute hinüber. Jetzt war er ja schon älter und verstand, dass der Vater die Bewohner des Hauses und ihre Familie gemeint hatte, aber an diesem Nachmittag sah auch das Haus verwunschen aus. Der graue Granit der Mauern hob sich düster von dem helleren Grau des Himmels ab und der Wind peitschte die Zweige der Kiefern unbarmherzig gegen das Schieferdach.
Die Farbe, mit der der Urgroßvater die Fensterrahmen und die Haustür gestrichen hatte, blätterte ab, und überall waren die schweren Brokatvorhänge aus Urgroßmutters Zeiten vor die Fenster gezogen. Aus dem Garten, den sie noch gehegt und gepflegt hatte, war eine schreckliche Wildnis geworden. Wirklich, das Haus sah verflucht aus. Es schien Frank, als habe sein ganzes Leben lang der Schatten all des Unglücks auf ihm gelegen, das in diesem Bauernhaus geschehen war; und doch hatte er bis vor kurzem noch nicht einmal wissen dürfen, worin dieses Unglück bestanden hatte. Das war das Schlimmste an der ganzen Sache - niemand hatte ihm davon erzählen wollen. Wenn er fragte, vertrösteten sie ihn: Du wirst es erfahren, wenn du älter bist. Dadurch wurde in seiner Einbildung das Unglück immer größer und schließlich malte er sich so entsetzliche Dinge aus, dass er sich zum Schlafen die Decke über den Kopf ziehen musste.
Kapitel 1
Eigentlich habe ich alles erst vor ein paar Monaten herausgefunden, flüsterte er vor sich hin, aber es kommt mir vor, als seien es Jahre. Er rief sich jenen wichtigsten Tag seines Lebens ins Gedächtnis zurück. Wie es am Nachmittag geregnet hatte! Er war mit einer ellenlangen Einkaufsliste in Herrn Michels Laden gestürzt. Herr Michel besaß das einzige Geschäft in der Gegend, aber er verkaufte auch alles, was man sich vorstellen konnte - das behauptete er jedenfalls. Frank musste grinsen, als er an Herrn Michel dachte. Er war so dick, dass manche Leute meinten, er käme nur deshalb nie aus seinem Laden heraus, weil er
nicht durch die Tür passte.
Wenn man ihn in der richtigen Stimmung erwischte, dann konnte er Geschichten erzählen wie kein zweiter; der Haken dabei war nur, dass seine Geschichten gewöhnlich vom Unglück anderer Leute handelten und dass sie immer wahr waren. Wahrscheinlich mochten ihn deshalb die Erwachsenen nicht; doch bei den Kindern war er umso beliebter. An diesem Nachmittag hatte Frank ihn hinter dem Ladentisch entdeckt. Er saß dort und verzehrte einen Keks nach dem anderen. Das war ein sehr gutes Zeichen es bedeutete, dass er Zeit hatte und in Erzähllaune war. Meine Güte!, rief er, als Frank den Laden betrat. Wenn
man dich da im Halbdunkel stehen sieht, gleichst du deiner Mutter wirklich aufs Haar.
Während Herr Michel die Lebensmittel auf Franks Liste zusammensuchte und dabei immer noch fröhlich seine Kekse knabberte, schossen Frank wild die Gedanken durch den Kopf. Heute hatte ihm zum ersten Mal in seinem Leben jemand etwas über seine Mutter gesagt. Wenn ich ihn nur zum Sprechen bringen könnte, dachte er verzweifelt, dann könnte ich es herausbekommen ...
alles! Dass jetzt bloß niemand in den Laden kommt und uns stört! Sein Herz schlug heftig, als er so beiläufig wie möglich sagte:
Haben Sie denn meine Mutter gekannt, Herr Michel?
Ob ich sie gekannt habe?, antwortete er und drehte sich um. Sein Arm, mit dem er etwas aus dem Regal holen wollte,
hing noch in der Luft. Natürlich habe ich sie gekannt; ich habe sie alle da oben auf dem Hof gekannt.
Frank musste schlucken. Dann wissen Sie auch über all das Unglück Bescheid?
Ob ich darüber Bescheid weiß?, fragte Herr Michel noch einmal. Natürlich.
Aber ich noch nicht, sagte Frank ganz leise; meinen Sie nicht, ich wäre jetzt alt genug, es zu erfahren? Herr Michel nahm einen großen Schokoladenkeks und kaute still vor sich hin. Frank erinnerte sich jetzt daran, wie er in der Dunkelheit des kleinen Ladens der Antwort auf seine Frage entgegengefiebert hatte. Es war ihm vorgekommen, als äße Herr Michel den größten Keks der Welt; so lange Zeit brauchte er zum Kauen. Endlich hatte er in seiner breiten und umständlichen Aussprache gesagt: Vielleicht bist du alt genug, Jungchen, vielleicht; aber verrate nie deinem Vater, dass ich es dir erzählt habe! Ich erinnere mich gut an deine Urgroßmutter - eine feine alte Dame, mit einer richtigen Adlernase. Ich weiß, lachte Frank, im Wohnzimmer haben wir in einem großen schwarzen Rahmen eine alte, vergilbte Fotografie von ihr stehen. Darauf liest sie gerade in einem gewaltig großen Buch.
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