Ein Maientag in Görz, der südlichen Stadt am brausenden Isonzo. In seinem Arbeitszimmer steht ein hagerer, hochgewachsener Mann zwischen 30 und 40 Jahren. Sein Gesichtsausdruck ist gespannt, so als ringe er mit einem Entschluss. Durch die geöffneten Fenster fluten die Frühlingslüfte, und in der Ferne hört man das Rauschen und Wogen des Gebirgsstromes. Auch in dem Herzen des Mannes wogt es auf und ab. Er streicht mit der Hand über das glatt zurückgekämmte Haar über der hohen Stirn. In seinen Augen steht es wie ein Fragen und Antwortsuchen. Er tritt an den Schreibtisch und nimmt einen Brief, der dort liegt. Der Brief ist von einer ungelenken Hand geschrieben, die wohl mehr die Axt oder den Pflug als die Feder führt. Aber die Worte, die da stehen, sind schwer und stark und von großer Gewissheit. Immer und immer wieder hat der Empfänger sie innerlich durcharbeiten müssen. Nun lässt er sie aufs neue auf sich wirken, als er unter der Ortsangabe Gallneukirchen-Weikersdorf liest:
"Wir wenden uns in unserem Elend und Jammer wieder an Sie, lieber Herr Pfarrer, Sie möchten sich doch über uns erbarmen, indem es immer und immer wieder in unserem Herzen ertönt: Diesen Mann Gottes hat der Herr für uns armes Häuflein aus freier, unverdienter Gnade bestimmt.' Darum müssen jetzt alle Zweifel von innen und außen verstummen. - Es wird uns immer gewisser, und wir glauben zuversichtlich, daß der Herr die Gebete der Gläubigen für uns von nah und fern erhSamen der vielen Gebete und Tränen des lieben Vaters Boos aufs neue wieder zu beleben. Und wir freuen uns auf Ihr Kommen als auf einen freudigen Hochzeitstag."
Wie mit einem Meißel graben sich diese Worte in die Seele des Mannes ein. Kann da noch ein Zweifel sein, dass dies ein Ruf ist, aus dem die Stimme des lebendigen Gottes spricht? Die Spannung löst sich. Ein Zug der Entschlossenheit malt sich in seinem Gesicht. Er setzt sich an den Schreibtisch, greift zur Feder und schreibt:
„Einem solchen einmütigen Bitten kann ich nicht widerstehen. Ich höre in Ihren Worten den Ruf unseres Hirten, der mich hinsenden kann, wo es Ihm gefällt. - Ich schließe mit der demütigen Bitte, dass Er uns aus aller Dunkelheit zu Seinem hellen Licht herausführen möge. Pfarrer Schwarz"
Die Entscheidung, die an jenem 22. Mai des Jahres 1871 in Görz gefällt worden war, hatte eine Bedeutung, die weit über den Kreis der dabei unmittelbar beteiligten Personen hinausging. Als Pfarrer Ludwig Schwarz den Entschluss fasste, dem Ruf des Gemeindleins unter dem Kreuz in Gallneukirchen-Weikersdorf zu folgen, war das der Quellpunkt, aus dem sich ein tiefer und breiter Strom des Segens über die ganze evangelische Kirche Österreichs ergießen sollte.
1. DIE AUSSAAT
Der Reisende auf dem Donaufloß
72 Jahre sind es vor jenem Maientag, an dem die folgenschwere Entscheidung in der stillen Amtsstube des Görzer Pfarrers getroffen wurde. Da schwimmt auf der Donau stromabwärts ein Floß. Neben den Flößern sitzt ein Mann im schwarzen Priestergewand. Er läßt die Augen über die Landschaft an den Ufern gleiten. Es ist April, und die Natur prangt im lieblichen Frühlingsschmuck des verheißungsvollen Blütensegens.
„Erntehoffnung", murmelt der Mann. „Ob's mir je beschieden sein wird, eine Ernte einzusammeln?"
Die 36 Jahre seines bisherigen Lebens ziehen an seiner Seele vorüber. „Mich hat in meinem Leben manch harter Sturm erschreckt." Wer hätte so sagen können, wenn nicht er, der Priester Martin Boos aus dem Allgäu, der in der Christnacht des Jahres 1762 als Sohn eines reichen Bauern zur Welt gekommen war? Vier Jahre nur hatte Elternliebe über ihm gewacht. Dann waren Vater und Mutter von einer Seuche hingerafft worden, und der vierjährige Martin war in das Haus seines Oheims, des geistlichen Rates Kögel in Augsburg, gekommen. Ohne Mutterliebe war er aufgewachsen. Ein Suchen, ein Kämpfen, ein Ringen war seine Jugend gewesen.
Die tiefste Frage des Menschenlebens, die Frage nach dem gnädigen Gott, die einen größeren als ihn, den Augustinermönch in Erfurt und Wittenberg, einst bis an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, sie war der Grundton auch seines Lebens gewesen. Und ob er auch gesucht und geforscht und über dem Studieren die Nacht zum Tage gemacht, und ob er mit Fasten und Geißeln seinem Leib harten Zwang angetan, und ob er auch keine Vorschrift der Kirche unbeachtet gelassen
Format: 12,5 x 19 cm
Seiten: 158
Verlag: Johannis Druckerei
Erschienen: 1959
Einband: Taschenbuch