Auflage: 5. Auflage
Was ist ein Tag wert, an dem ich nicht gesungen habe? Und wieviele solche Tage gibt es? Was hindert mich an Lebensfreude und Dankbarkeit? Es sind die großen Katastrophen und Ängste. Aber viel häufiger noch die kleinen Hindernisse, die sich in den Weg stellen. Sie kommen von innen und außen und heißen:
Aber manchmal gibt es in alldem, wie ein Wunder, die Erfahrung, dass Gott Sackgassen und Umwege als seinen Weg benutzt, um neu mit mir zu reden, so dass mein Herz erschrickt und sich freut: "Herr, wer ist wie du!"
Wenn mein Leben anders wäre
Das Flugzeug aus Köln hat eine halbe Stunde Verspätung. Also setze ich mich auf die breite Treppe gegenüber der Ankunftstafel und warte, bis das »Gelandet« in roten Buchstaben erscheint.
Wie oft habe ich schon so auf meinen Mann gewartet! Einganzes Heervon Frauen wartet mit mir. Jetzt, zwischen 19 und 20 Uhr, landen die Flugzeuge fast alle zehn Minuten, freitags jedenfalls. Wie unterschiedlich die Frauen warten: Sie laufen nervös auf und ab oder stehen gegen Säulen gelehnt, auch frei im Raum. Manche sitzen gelassen in den schwarzen Kunstledersesseln. Andere haben sich ganz nah an die getönte Glaswand gestellt, die Zollabfertigung und Wartende trennt. Dort sieht man die Fluggäste schon, wenn sie aus dem Zubringerbus steigen. Die Frauen haben neue Kostüme und neue Frisuren, Blumen in Cellophan. Auch die Schuhe sind neu. Ich bin froh, wenn ich noch rechtzeitig aus dem Haus komme, wenn vor dem Tunnel kein Stau ist und ich sogar einen Parkplatz finde.
Das nächste Flugzeug (aus Frankfurt) ist gelandet. Die Männer kommen durch die Sperre mit sicherem Schritt, etwas weltmännischer als vorher - die Frauen etwas schüchterner. Sie kommen von Konferenzen und Tagungen, Geschäftsreisen oder Tourneen. Ihre Beiträge und ihr Einfluß waren wichtig, die Entscheidungen richtig oder auch falsch, aber man war dabei. Es gab neue Ideen und Anregungen - all das ist noch auf ihren Gesichtern. Es macht ihre Schritte größer und ihren Blick unternehmend.
Und ich denke: Wenn es umgekehrt wäre? Wenn all diese Frauen soviel Neues erlebt hätten: Erfolge und Niederlagen, Fremdes und Bekanntes und dann zurückkommen könnten dahin, wo alles vorbereitet ist und man sich auf sie freut, wo man gewartet und gehofft hat-wäre das nicht schön?
Aber könnte ich es denn? Könnte ich mich denn innerlich von den Kindern lösen und ganz auf eine Sache konzentriert sein? Ich käme mir vor wie ein Verräter. Bei den Männern ist es anders. Sie tun ihre Arbeit und ernähren damit die Familie. Es muß so sein, es ist ihr Beruf. Und wenn sie ganz zu Hause wären? Ganz bei den Kindern? Wenn ihr Leben sich zwischen Waschmaschine und Supermarkt, Küche und Garten abspielte, zwischen den Launen der Kinder und der Tagesschau, was dann? Ich glaube, sie würden wahnsinnig.
Darum stehen die Frauen da und freuen sich auf den Mann, der kommt: für ein Wochenende oder fünf Tage vielleicht. Auf ihren Gesichtern liegen Erwartung und Hoffnung, Vorfreude auf gute Stunden. Auch die Angst: Liebt er mich noch? Wird es wieder gut? Ob ihm das neue Kleid gefällt? Ob er es überhaupt bemerkt?
Das Flugzeug aus Köln ist immer noch nicht gelandet. All die Wartezeit! Wenn ich die Minuten und Stunden zusammenzählte ... Es ist doch alles meine kostbare Zeit, die nicht wiederkommt. Und wenn ich sie plötzlich geschenkt bekäme, all diese Zeit? Was täte ich damit?
Ich stünde schon ein Flugzeug eher da - hinter der getönten Scheibe, wo man die Passagiere zuerst sieht. Ich stünde auf Zehenspitzen mit leichtem Herzklopfen und wartete auf meinen Mann, weil ich ihn liebe.
Was wäre unsere Ehe ohne die vielen Abschiede und das Wiedersehen? Eine langweilige Selbstverständlichkeit. Ich würde ihn weniger lieben und seltener bitten: »Herr, behüte ihn!« Und ich hätte nicht soviel Zeit, um mit Isabelle in Ruhe Tee zu trinken (»Willst du Tropenfeuer oder Maracuja?« fragt sie mich) und ihr beim rechten Rand des Puzzles zu helfen. Ich hätte weniger Zeit, am Schreibtisch zu sitzen mit Büchern, Schere und Papier. Ich bin froh, daß es nicht anders ist, mein Leben. Und manchmal verreise ja auch ich.