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NIE WIEDER
Ein goldgelb leuchtendes Birkenblatt gesellte sich taumelnd, hin und her wiegend, zu anderem Herbstlaub.
Zierlich-dünne Zweige malten filigrane Muster gegen den nun kräftig blauen Himmel. Die morgendlichen Nebel hatten sich wider Erwarten doch noch den kargen Sonnenstrahlen gebeugt - in dieser Jahreszeit blieb der Sonne meist das Nachsehen. Nur noch gut zwei Stunden blieb dem Licht dieses 3. Novembers 1959, dann würde die Nacht es wieder ersticken und ihre Regentschaft antreten.
Etliche Meter entfernt, stumm, die Hände in den Manteltaschen vergraben, starrte Carmen unbeweglich vor sich hin. So hatte sie sich ihren 16. Geburtstag nicht vorgestellt! Wie eine Zentnerlast lag der Kummer auf ihr, drückte sie nieder und schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich entwurzelt, aus allem Vertrauten herausgerissen. Ihr Lebensnerv schien brutal zerschnitten zu sein. Nie wieder würde es so sein wie früher.
Zwei weitere goldgelbe Birkenblätter lösten sich aus ihrer luftigen Höhe, tanzten Reigen miteinander, drehten sich um die eigene Achse und landeten schließlich dicht neben dem Weg, auf dem das einsame Mädchen regungslos verharrte. Langsam rollte jetzt ein Güterzug über die Gleise des erhöhten Bahndamms. Mit seinem nicht enden wollenden Geratter störte er die Ruhe des neuen Eschersheimer Friedhofs, der im vergangenen Jahrhundert an Stelle des alten südlich der Bahnlinie angelegt worden war.
Schweigend, in düsterem Sinnen, blickte Carmen auf das Familiengrab, in dem seit etwa vier Jahren die Großeltern Sanders ruhten. Und nun war auch ihre geliebte Mutter vor drei Wochen hier in die Erde gesenkt worden. Am 8. Oktober hatte Frau Margarethe Sanders ihre Augen in dieser Welt für immer geschlossen.
Erinnerungen durchfluteten Carmen. Wie geduldig und verständnisvoll hatte die Mutter sie stets getröstet, wenn irgend et-
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