Ein Lächeln auf dem Gesicht Gottes Das ungewöhnliche Leben des Philip Ilott, Adrian Plass

04/22/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. Kapitel Kriegsfolgen - ein missbrauchtes Kind (1936-1945)BV30107.jpg?1682158876942

Klein-Philip hasste Adolf Hitler. Nicht, weil er einer anderen politischen Ideologie angehangen hätte; noch nicht einmal deshalb weil der wahnsinnige Diktator drohte, einen Großteil der freien westlichen Welt zu besetzen und zu unterdrücken. Nichts so Triviales war der Grund für den tiefen Zorn, den der Sechsjährige für den Führer Nazideutschlands empfand. Philip Ilott hasste Hitler, weil Papa seinetwegen nicht mehr die ganze Zeit zu Hause sein konnte. Papa war als Soldat im Krieg. Aber Philip brauchte ihn gerade jetzt, weil merkwürdige und schreckliche Sachen passierten. Sie geschahen nachts und sie machten ihm Angst.

Es gab nur zwei Dinge, die sie aufhalten konnten.
Das eine waren Adolf Hitlers Flugzeuge, die kamen, um Newcastle zu bombardieren. Wenn das geschah, heulte eine Sirene, und jeder musste schnell nach unten in die Luftschutzräume, um dort die Nacht zu verbringen. Philip hatte keine Angst vor den Bomben. Lieber wäre er in die Luft gejagt worden, als die Nacht in seinem eigenen Haus verbringen zu müssen - viel lieber. Manchmal, wenn das Licht des Tages langsam verblasste, saß er ordentlich in seinem ordentlichen Schlafzimmer und bat Gott, dass Herr Hitler doch seine Bomber zum Angriff auf Newcastle schicken möge. Es wäre ihm auch egal gewesen, wenn eine Bombe auf sein Haus gefallen wäre, während er drin war. Dann wäre alles zu Ende, das wäre gut!
Die andere Sache, die die Furcht einflößenden Nächte abwenden konnte, war, dass Papa nach Hause kam. Das war aufregend.

Philip kriegte so ein lustiges, ungewöhnlich warmes Gefühl im Bauch, wenn er sah, wie ein „Ich hab dich lieb - ich bin so froh, dich zu sehen" aus Papas Augen kam. Aber das hielt nicht lange an, weil als Nächstes die Streitereien wieder losgingen und - wenn sie einmal angefangen hatten - Papa nicht mehr richtig mit Philip zusammen sein durfte. Er durfte ihn dann nur noch anlächeln und ihn fragen, ob es ihm gut ginge. Aber diese Zeiten, wenn Papa nach Hause kam, waren wunderbar, besonders, wenn er ihn ganz fest in den Arm nahm und sagte: „Hallo, mein Käfer!" Das war Papas Name nur für ihn. 

Niemand sonst nannte ihn Käfer - niemand. Aber das Beste an Papas Rückkehr, das, was die Sorge, die ihn sonst den ganzen Tag begleitet hatte, und die furchtbare Angst nachts wegnahm, war, dass, solange Papa Heimaturlaub hatte, Philip in seinem eigenen Bett und in seinem eigenen Schlafzimmer schlafen konnte - und nicht bei Mama
Er hatte es einfach nicht verstehen können. Am Anfang, als Papa in den Krieg zog, war er froh, dass Mama ihn zu sich in ihr großes Bett holte, auf die Seite, wo Papa normalerweise lag. Er war froh, weil er dachte, dass das vielleicht bedeutete, dass Mama ihn doch lieb hatte.
Er gab sich große Mühe, Mama zu gefallen, ganz große Mühe. Im Haus ging er nur äußerst vorsichtig umher, passte auf, dass er keinen der wertvollen Gegenstände kaputt machte, und gab sein Bestes, so sauber und gepflegt zu sein wie sie. Mama war eine sehr gepflegte Lady mit glänzendem Haar, die tote Füchse trug und Schuhe mit großen, langen Absätzen. Sie rauchte vornehme Zigaretten an einem langen, dünnen, schwarzen Röhrchen, und ihre Fingernägel waren leuchtend rot, als ob sie sie in eine Schüssel voller Blut getaucht hätte.

Er wusste, wie wichtig es für Mama war, dass alles gut aussah, und er versuchte ihr immer dabei zu helfen. Aber wie leicht machte er etwas falsch! Dann schrie sie ihn an oder sagte etwas, sodass er sich klein und dumm vorkam, oder sie schloss ihn in sein Zimmer ein oder in den Schrank unter der Treppe ohne Licht, bis er seine Lektion gelernt hatte. Das war das Schlimmste; wie eine Statue in der Dunkelheit zu stehen mit weit aufgerissenen Augen,
unfähig, etwas zu sehen - und zu ängstlich, sich zu bewegen, weil er dann etwas umstoßen könnte und sie wieder wütend wurde, wenn sie zurückkam.
Er hasste das.
Manchmal dachte er, dass er einmal vor langer Zeit seiner Mama etwas so Schlimmes, etwas so furchtbar Unrechtes getan haben musste, dass sie ihn für immer bestrafen würde, indem sie ihn nicht wichtig sein ließ; indem sie ihn immer im Weg oder eine Plage sein ließ. Er fragte sich, was das wohl gewesen sein mochte.
Vielleicht das, was er damals im Kinderwagen gesagt hatte. Er wurde innerlich immer ganz blass, wenn er an diesen schrecklichen Tag zurückdachte - das Erste, woran er sich überhaupt erinnern konnte.
Er war ein ganz kleiner Junge gewesen, der in seinem Kinderwagen in der Sonne vor dem Haus gesessen hatte. Eine Dame kam auf dem Bürgersteig entlangspaziert. Er beobachtete sie, während sie immer näher kam. Sie hatte eine große Hakennase und ein hervorstehendes Kinn, so wie die Hexen in seinen Bilderbüchern. Er mochte sie nicht. Als sie auf der Höhe seines Hauses war, blieb sie stehen und beugte sich über den Kinderwagen. Sie sagte: „Hallo, mein Schatz, du bist aber ein süßes kleines Baby, was?"
Philip wollte, dass die Frau wieder ginge, und so sagte er das Erste, was ihm einfiel: „Zieh Leine!"
Die Gesichtszüge der Hexe verhärteten sich. Sie klopfte an die Haustüre und Mama kam raus. Sie entschuldigte sich und versuchte einen kleinen unechten Lacher, als die Hexe ihr erzählte, was passiert war. Danach, drinnen, war Mama sehr böse gewesen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was sie gesagt hatte. Er fragte sich, woher er dieses schlimme Wort kannte. Er war doch immer nur bei Mama gewesen.
Vielleicht war das ja das furchtbare Unrecht, das Mama ihm nie vergeben hatte. Aber er glaubte es eigentlich nicht.
Es gab noch etwas anderes, etwas, das sogar noch früher passiert war. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, aber manchmal, wenn er in den Spiegel sah, um zu kontrollieren, ob er für Mama in Ordnung war, fühlte er mit seinen Fingerspitzen eine komische kleine Beule an der Wange, und dann war es so, als ob er sich wieder daran erinnerte. Aber nur fast.

Vielleicht hatte es ja damit etwas zu tun. Vielleicht ... Vielleicht auch nicht. Und es gab da noch etwas, noch tiefer und weiter zurück, etwas, das er nicht mit seinen Augen oder seinem Gedächtnis sehen konnte. Nach einem wirklich schlimmen Tag konnte er es nachts fühlen, wenn er in der Dunkelheit wach lag - eine tiefere Dunkelheit in ihm, angefüllt mit einem verlorenen, hoffnungslosen Schluchzen, das niemals an die Oberfläche kam und niemals richtig Mut fasste. Es hatte was mit Zugehörigkeit zu tun, oder, besser gesagt, mit Nichtzugehörigkeit. Etwas ganz am Anfang...
Wenn er neben Mama schlief, schien es, als ob schließlich doch alles wieder in Ordnung kommen würde. Vielleicht könnte er ja hier wieder glücklich werden. Vielleicht würde Mama ihn wieder beachten und sich erneut mit ihm beschäftigen. Es würde so sein, wie es sein sollte zwischen einer Mama und ihrem kleinen Jungen. Aber nach einer Zeit schienen die Dinge, die passierten - die Sachen, die Mama machte -‚ falsch und schlimm zu sein. Seine Stirn legte sich in sorgenvolle Falten, wenn er daran dachte. Er wollte nicht Mamas Teddybär sein.
Warum musste es am Ende eines jeden Tages eine Nacht geben? Warum konnte der Krieg nicht zu Ende sein und Papa für immer nach Hause kommen?

Später, als er anfing, in die Schule zu gehen, und Mama einen Job bekam, zu dem sie jeden Tag ging, gab es etwas Neues, an das er sich gewöhnen musste: den Schuppen.
Mamas Haus war mit Sicherheit das Wichtigste überhaupt in der Welt. Sie putzte es und wischte Staub und stellte alles genau so, wie sie es haben wollte. Manchmal schob sie einen Gegenstand mit der Spitze eines ihrer roten Fingernägel ein ganz, ganz kleines Stückchen weiter auf dem Kaminsims, bis er sich genau an der richtigen Stelle befand.

Es schien sie nicht besonders glücklich zu machen, alles so sauber und ordentlich zu haben, aber wenn irgendetwas bewegt oder dreckig gemacht wurde, dann war das schlimmer als alles, was Mister Hitler tun konnte- Sie sagte Philip oft, wie schwierig und lästig es wäre, einen kleinen Jungen zu haben, der immer darauf bestünde, die Stühle zu zerknittern, indem er sich draufsetzte, oder der Wände oder die Tischplatte oder Türgriffe mit Fingern anfassen wollte, die möglicherweise nicht so sauber waren, wie sie eigentlich sein konnten. Manchmal dachte er, dass sie ihn am liebsten morgens in der Mitte des Wohnzimmerteppichs abstellen und ihn dann bis zur Schlafenszeit dort stehen lassen würde, wo sie schließlich eine Verwendung für ihn hatte.

Nun, da sie zur Arbeit ging, sagte Mama Philip, dass sie ihn nach der Schule unmöglich ins Haus lassen könne. Er müsse in die Gartenlaube gehen und dort warten, bis sie abends nach Hause käme. Auf diese Weise könne dem Haus kein Schaden zugefügt oder es in ihrer Abwesenheit in Unordnung gebracht werden. Er solle sich selbst Zugang zu dem Schuppen verschaffen mit einem Schlüssel, den sie ihm geben wolle, sich dann mitten auf den Boden an den kleinen Tisch Setzen und ein paar Brote mit Marmelade schmieren, die sie ihm bereitstellen würde. 

Und wenn Papa zum nächsten Heimaturlaub aus: dem Krieg zurückkommen würde, dürfe Philip ihm nichts davon sagen, dass er jeden Tag in den Schuppen ginge; und er dürfe ihm nicht sagen, was mit Mami und ihm nachts passierte; und er dürfe ihm nicht sagen, dass Mami die Haustüre immer zuschließt, sodass Philip nicht auf dem weißen Klavier mit seinen möglicherweise nicht ganz sauberen Fingern üben könnte; und er dürfe ihm nicht sagen, dass seine Spielsachen - besonders das Fort und das Marionettentheater, das Papa extra für ihn gemacht hatte - weggeräumt wurden, sobald Papa wieder in den Krieg zog; und ganz besonders dürfe er ihm nicht erzählen, wie traurig und einsam er sich fühlte, weil das etwas von Papas Freundlichkeit aufbrauchen würde, denn Papas ganze Freundlichkeit gehörte Mama und sonst niemandem.
Am Anfang war es schlimm im Schuppen. Es war Winter und deshalb schon ziemlich dunkel, wenn Philip nach der Schule nach Hause kam. Nachdem er die Schuppentür aufgeschlossen hatte, schlich er immer ängstlich in die Dunkelheit und suchte mit seinem Fuß nach dem Tisch.

 Darm tastete er mit seiner Hand auf der flachen Tischplatte nach der Streichholzschachtel, die sich immer dort befand. Es war eine riesige Erleichterung, wenn er sie gefunden hatte, sie in die Hand nahm und die Streichhölzer rascheln hörte. Dann gab es immer eine kleine blendende Explosion, wenn er den Streichholzkopf an der rauen gelben Fläche an der Seite der Schachtel entlanggerieben hatte. Es zischte ein bisschen, wenn er die Flamme an den Docht seines Kerzenstummels hielt. Er wedelte das Streichholz aus und legte es vorsichtig auf den Boden des Kerzenständers.
Dann war es Zeit für das Brot und die Marmelade. Das Schneiden, das Bestreichen und das Essen - alles musste sehr vorsichtig geschehen.
Während er in dem kleinen Lichtkegel saß, den die Kerze warf, langsam sein Brot mampfte und das Hüpfen und Tanzen der Schatten an den Wänden beobachtete, war Philip sich bewusst, dass Mama später den Boden nach Krümeln absuchen würde. (Der Schuppen war innen fast genauso penibel sauber wie das Innere des Hauses.) Wenn er seinen Mund vorsichtig abgeputzt hatte, während er sich über den Teller beugte, stand er auf, nahm den Kerzenständer in die Hand und kontrollierte jeden Quadratzentimeter unter und um den Tisch, damit Mama bloß keinen Grund hätte, sich zu beschweren.
Schließlich setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, nahm Sebby in seine Arme und wartete darauf, dass Mama nach Hause kommen würde. Sebby war ein Panda, der ihn liebte und der nie etwas sagte. Eigentlich hieß er Sebastian. Philip hatte einmal eine Geschichte über ein Pferd namens Sebastian gelesen. Der Name hatte ihm gefallen.
Erst nachdem Philip eine ganze Zeit regelmäßig den Schuppen aufgesucht hatte, bemerkte er, dass er nicht nur traurig war, sondern langsam auch wütend wurde. Das Gefühl war zunächst ganz klein, wie ein Kitzeln im Hals, bevor man husten muss, aber dann wurde es immer größer, bis es schließlich irgendwie rausmusste.
Er war wütend auf Papa, weil er sich Mama gegenüber nie behauptete, wenn sie ihre Launen hatte. Als Papa das letzte Mal zu Hause gewesen war, war er in Philips Schlafzimmer gekommen.

Weil er dachte, dass Philip schlafen würde, kniete er sich an sein Bett und weinte und weinte, wie ein kleines Baby. Warum hatte er das getan? Warum konnte er nicht stark und souverän sein, so wie Papas das sein sollten?
Philip war auch auf sich selbst wütend, weil er sich gegenüber Mama ebenfalls nicht behaupten konnte. Er wurde immer zu Wackelpudding, wenn er vor seiner Mutter stand und versuchte, das zu sagen oder zu tun oder zu sein, was er wollte. Sie war stark und groß, wie ein Riese. Er war klein und dumm und zählte eigentlich gar nicht.
Am meisten war er wütend auf Mama - wütend, weil sie ihn nicht lieb hatte, nicht merkte, wie sehr er sich Mühe gab, ihn immer nur so sein ließ, wie sie ihn haben wollte, und auch Papa daran hinderte, ihn richtig lieb zu haben; weil er sich immer innerlich verkrampfte, wenn er an die Nächte dachte, wo sie ihn wie eine Puppe benutzte, ohne etwas zu fühlen
Er beschloss, sie zu feuern.
Manchmal, samstagabends, saßen er und Mama vor dem Radio und hörten sich das Saturday Night Theatre an. Philip verstand nicht immer, worum es ging, aber das war auch nicht so wichtig. Es war eines der ganz wenigen Male, wo er das Gefühl hatte, dass er und Mama tatsächlich etwas zusammen taten, selbst wenn sie dabei noch nicht einmal redeten. Eines der Stücke handelte von jemandem, der seinen Job verloren hatte und jemandem erzählte, dass sein furchtbarer Chef ihn „gefeuert" hatte.
Philip wurde zum furchtbaren Chef des Schuppens. Jeden Abend, wenn er das Marmeladenbrot aufgegessen und den Boden nach Krümeln abgesucht hatte, saß er kerzengerade auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch und stellte Mama zur Rede. Mama kroch durch die Tür, ganz blass und zitternd, kniete vor seinem Schreibtisch und flehte, doch bleiben zu dürfen.
„Nein!", schrie der furchtbare Chef. „Sie sind gefeuert! Ich feuere Sie, weil Sie nicht gut waren! Verstanden? Sie sind gefeuert! Gefeuert! Gefeuert! Raus hier!"
Das Gefühl, Mama zu feuern, war wunderbar. Es kam tief aus seinem Bauch und schoss aus seinem Mund wie das Öl, das auf

Vorwort
1. Kriegsfolgen - ein missbrauchtes Kind (1936-1945)
2. Kirche, Kaufhaus und „Nellie aus der Mietwohnung" (1945-1954)
3. Durchbruch in Deutschland - Die Bekehrung des Gefreiten ilott (1954-1956)
4. London - eine andere Armee (1956-1958)
5. Margaret ziert sich
6. Cornwall - Persönlichkeiten (1958-1959)
7. Ashford - Ein Fahrrad, eine Braut und ein Baby (1959-1962)
8. Leavesden - Ein Ruf, ein dunkles Geheimnis und eine Gabe Gottes (1962-1971)
9. Isle of Wight - Härten und Heilung (1971-1978)
10. Isle of Wight —Wunder
11. Isle of Wight - Erinnerungen
12. Die „Filymead-Erfahrung" (1978-1981)
13. Bexhill - Durch die Tür des Leids (1981-1989)
14. Ein unerwartetes Nachwort

ISBN 3-87067-853-5
C 2001 by Brendow Verlag, D 47443 Moers
Originalausgabe: "A smile on the face of God"
Copyright © 2000 by Adrian Plass