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Auf der Flucht nach dem Krieg hat Gisela ihre Eltern aus den Augen verloren, aber Peter sorgt für sie. Als er Gisela in Leipzig nicht mehr findet, stiftet er eine böse Sache an. Das geht schief, und die Polizei sucht ihn.
Mühsam schlägt sich Peter nach Düsseldorf zu Giselas Eltern durch. Er ahnt nicht, wo Gisela inzwischen gewesen ist und wie sie nach ihm gesucht hat - nach dem Jungen, der Peter heißt, ganz einfach Peter!
Leseprobe: 1. Ratt - ta - tatt, - ratt - ta - tatt, - ratt - ta - tatt, machten die Räder. Der Zug rollte aus der Stadt hinaus ins weite Land. Gisela saß eingepreßt zwischen einem alten Mann mit eisgrauem, langem Bart und einer dicken Frau, die eine große, unförmige Tasche krampfhaft auf dem Schoß hielt. Das Kind fühlte sich elend und unglücklich. Immer wieder schluckte es an den Tränen, es saß ihr wie ein dicker Kloß im Halse. Warum war Peter nicht zum Bahnhof gekommen?
Er hatte sie gerufen, sie hatte ihn ganz deutlich an der Stimme erkannt. Sie wäre gern umgekehrt, ihn zu suchen, seinem Ruf zu folgen. Aber die Frau, die sie zum Bahnhof brachte, hielt sie so fest an der Hand, daß es unmöglich war, ihr zu entkommen. Der Zug war so gedrängt voll, daß Gisela kaum atmen konnte.
Sie mußte daran denken, wie sie vor vielen Wochen, damals im Winter war es, die Mutter verloren hatte. Da hatte man sie genauso wie heute in das Abteil gedrängt. Sie hatte sich nach niemand mehr umsehen können, damals nicht und heute auch nicht. Und nun konnte sie Peter nicht mehr erreichen, so wie sie damals die Mutter nicht erreichen konnte. »Wir sagen deinem Peter schon, daß du zu deiner Mutter gefahren bist«, hatte die Schwester beim Abschied gesagt, als Gisela nicht mit zum Bahnhof gehen wollte, ohne Peter Bescheid zu sagen. »Ich weiß ja keine richtige Adresse, er wohnt doch nur irgendwo zwischen den Trümmern, und ich kann ihm nicht mal schreiben«, hatte sie gejammert. »Schreib deine Adresse nur an uns, Gisela, dann kann dein Peter nachkommen, er sagte doch, er habe Geld.« So hatte man sie überredet. Nun ja, es war ganz gut, daß sie im Zug fahren konnte.
Es kostete nicht mal etwas. Die Mutter würde staunen und sich freuen, wenn sie, Gisela, plötzlich heimkam. Der Gedanke tröstete etwas. Die Leute im Abteil unterhielten sich laut und aufgeregt. Sie sprachen von Kartoffeln und solchen Dingen, aus denen das Kind nicht ganz klug wurde. Wenn der Zug hielt - und er hielt sehr oft - wurde das Abteil noch voller. Jedesmal dachte Gisela, jetzt ginge bestimmt kein Mensch mehr herein, aber an der nächsten Station kamen wieder Leute, meist sogar mit Koffern oder Kartons, und sagten, wenn man nur ein bißchen zusammenrücken würde, dann ginge es schon. Vor Gisela standen zwei kleinere und drei größere Mädchen. Sie gehörten auch mit zu dem Transport, der zusammengestellt worden war, um Kinder zu ihren Eltern zu bringen. Das hatte ihr die Frau erklärt, die mit ihr zum Bahnhof gegangen, war. Die größeren Mädchen sprachen fortwährend miteinander und lachten ab und zu. Gisela liiittc sie gern gefragt, wohin sie fahren, aber es war so laut und lebhaft im Abteil, daß man nichts verstehen konnte. Es war schrecklich heiß. Gisela, die erst froh gewesen war über den Mantel, den ihr die Schwester noch angezogen hatte, als sie aus dem Krankenhaus ging, hätte ihn jetzt gern ausgezogen. Aber das war unmöglich.
Sie konnte sich nicht rühren. Einmal hielt der Zug sehr lange, niemand stieg ein oder aus; es hieß, der Zug habe keine Einfahrt. Als er sich endlich langsam wieder in Bewegung setzte, war es nur für kurze Zeit, dann hielt er auf einer großen Station. Die Leute stießen sich gegenseitig beim Aussteigen, aber die Kinder, die mit im Abteil waren, blieben im Zug und setzten sich auf die freiwerdenden Plätze. »Hach - das war schrecklich. Endlich kann man einmal sitzen. Ich stehe nicht wieder auf, wenn es jetzt noch einmal so voll wird.« Das große Mädchen, das so sprach, ließ sich mit diesen Worten neben Gisela auf die harte Bank plumpsen. Jetzt konnte Gisela endlich ihre Frage anbringen. »Wohin fährst du denn?« »Wohin? Wenn wir das nur schon wüßten, wohin wir alle fahren. Irgendwo in ein Lager.« »In ein Lager? Wir sollen :doch nach Hause gebracht werden.
« »Haha, wie denkst du dir das denn? Oder wo bist du her, daß du nach Hause fahren kannst?«
»Ich bin aus Düsseldorf.« »Und du denkst, jetzt fahren wir dorthin?« »Wenn ich doch da wohne?« »Sag mal, wenn du dort wohnst, wie kommst du dann überhaupt hierher und zu diesem Transport? Wir wissen doch alle nicht, wo unsere Eltern sind, und sollen einstweilen irgendwo untergebracht werden, bis man vielleicht unsere Eltern ausfindig macht.
« In diesem Augenblick wurde das Abteil regelrecht von neuen Fahrgästen gestürmt. Eine ältere Schwester bemühte sich, zu den Kindern vorzudringen, aber wer einmal im Abteil war, machte nicht wieder Platz. Die Schwester rief etwas zum Abteil herein, was Gisela nicht verstand, aber die großen Mädchen wußten anscheinend Bescheid, sie riefen nur immer: »Ja, Schwester, ja, machen wir, ja, ja.«
ISBN:341723218X
Format:11 x 18 cm
Seiten:142
Verlag:R. Brockhaus
Erschienen:1993
Einband:Taschenbuch
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