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Sadagopan wurde in Südindiens heiliger Tempelstadt Katschipuran geboren, von der man in alten Zeiten sagte: »Glücklich bist du, wenn du in Katschipuran geboren bist, auch wenn du ein Esel wärest.«
Aber Sadagopan war nicht glücklich; denn er lebte hier sechs Jahre lang als Ausgestoßener, gemieden von der Gesellschaft, von seinen Freunden, ja sogar von den eigenen Verwandten.
Er stammte aus einer geachteten, gebildeten und künstlerisch begabten Familie. Sein Vater war Redakteur bei einer der führenden Tamil-Zeitungen. Seine Mutter, seine Tanten und zwei ältere Schwestern waren Musiker. Als sein Vater in Nordindien arbeitete, wohnte Sadagopan bei seiner Großmutter. Vorher hatte er eine Zeitlang im Hause eines Onkels gelebt, wo er sich wahrscheinlich den Aussatz zuzog.
Er war acht Jahre alt, als der Fleck auf seinem Rücken bemerkt wurde; zu jung noch, um zu wissen, was das bedeutete. Man schickte ihn zur Behandlung ins Regierungskrankenhaus. Er ging aber weiter in die Schule und verlebte eine normale, glückliche Kindheit. Die Krankheit machte ihm bis ungefähr zu seinem vierzehnten Lebensjahr wenig Beschwerden. Dann begannen seine Hände wie Klauen zu werden. Infolge fortschreitender Lähmung der Armmuskulatur konnte er die Finger nicht mehr normal beugen und strecken, und es wurde ihm immer schwerer, etwas festzuhalten. Zu seinem Schrecken merkte er auch eines Tages, daß er kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Und bald darauf entdeckte er eine blutende Wunde an seinem Fuß, die von einem scharfen Stein herrührte, der, ohne daß er es gemerkt hatte, in seinen Schuh geraten war.
Als er die sechste Klasse der Grundschule beendet hatte und in eine höhere Schule eintreten wollte, begann das Unheil. Der neue Rektor begrüßte ihn stirnrunzelnd. »Du mußt mir ein ärztliches Zeugnis bringen«, sagte er kurz. Sadagopans Großmutter ging mit ihm zum Arzt, der ihn im Regierungskrankenhaus behandelt hatte. Er schien über ihre Bitte ärgerlich zu sein. »Und was könnte einem Aussätzigen eine Ausbildung nützen?« sagte er zu der Frau, drehte sich um und ließ sie stehen.
Sadagopan ging nach Hause. Aber das Haus wurde ihm zum Gefängnis, in dem all seine Hoffnungen und Träume eingesperrt waren. Keine Ausbildung? Kein Beruf? Keine Freunde? Wohin er jetzt auch ging, sah er kalte Blicke, abgewandte Augen. Alte Bekannte wichen vor ihm auf die andere Straßenseite aus, Fremde sahen entsetzt auf seine Hände. Er verließ das Haus fast nur noch, um ins Krankenhaus zu gehen. Aber auch dort bemerkte er, was er vorher nicht bemerkt hatte: daß er in einem besonderen Raum behandelt und immer so schnell wie möglich abgeschoben wurde.
Eines Tages ging er auf dem Rückweg vom Krankenhaus in ein Cafe und bestellte eine Tasse Kaffee. Der Ober, der seine Bestellung entgegennahm, kam nicht wieder. Zehn Minuten vergingen, fünfzehn Minuten. Empfindlich und nervös, wie er war, glaubte Sadagopan, jeder sähe ihn spöttisch an. Er wäre am liebsten fortgelaufen, nahm sich aber zusammen und fragte einen anderen Ober, warum er nicht bedient werde. »Du bekommst keinen Kaffee«, erwiderte dieser. Vernichtet stolperte Sadagopan aus dem Cafe.
Von da an verließ er sechs Jahre lang nur selten das Haus. Seine Mutter starb in Nordindien. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie aussah. Hätte er nicht seine ältere Schwester gehabt, die ebenfalls aussätzig war, eine Frau mit starker Willens- und Geisteskraft, dann hätte er das Leben unerträglich gefunden. Als sie - nicht an Aussatz, sondern an Tuberkulose - starb, war das ein neuer harter Schlag für ihn. Aber jetzt begann er schon abzustumpfen und gefühllos zu werden, wie seine Hände und Füße gefühllos geworden waren.
Sechs Jahre später, als seine Krankheit längst nicht mehr ansteckend war, - wenn sie das überhaupt jemals gewesen war -, zeigte sich ein Hoffnungsstrahl. Ein christlicher Arzt sorgte dafür, daß er eine Oberschule besuchen durfte. Mit äußerster Anstrengung schaffte er das Examen und hoffte nun sein Brot verdienen zu können. Aber er hätte es wissen sollen: Niemand wollte ihn anstellen.
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