Leseprobe: Auf der Landstraße bei Schloß Tanningen
„Prrr", machte ein Mann mit grober Stimme, während er die Zügel anzog, um Jumbo, sein Pferd, anzuhalten. Der alte abgemagerte Gaul blieb stehen, wandte den Kopf und sah die Menschen, die neben dem Gefährt einhergingen, fremd an. Es war ein Blick voll Kummer und stummen Leids; wenigstens schien es Gimmi so, als er Jumbos Augen sah. Gimmi riß vom Grabenrand eine Handvoll saftigen Grases aus und hielt es Jumbo hin, wobei er seinen Kopf an den des Pferdes lehnte. Stumm standen beide da; es war ein von Liebe und gegenseitigem Verstehen erfülltes Schweigen. Plötzlich bekam Gimmi einen Stoß; hätte ihm Jumbo nicht als Stütze gedient, so wäre er kopfüber in den Graben gerollt.
„So ein Biest", sagte Gimmi und wandte sich mit sonnigem Lächeln einem großen schwarzen Pudel zu, der, auf den Hinterbeinen stehend, ihn mit den Vorderpfoten eifrig bearbeitete. „Bist wohl eifersüchtig, wie? Aber du weißt doch, daß du der Allerbeste auf der ganzen Welt bist!"
Nun war der Hund an der Reihe, gehätschelt und gestreichelt zu werden. Sie setzten sich an den Straßenrand, der Hund und der Junge. Beide wußten, daß es das beste für sie war, ihre Kräfte zu sparen und nicht unnötig umherzuspringen. Vielleicht stand ihnen heute noch eine anstrengende Wanderung bevor. Wie sie so nebeneinander saßen und sich in der Hundesprache unterhielten, stand Jumbo mit gesenktem Kopf da und machte sich wunderliche Gedanken über das Leben. Hin und wieder trat Gimmi zu ihm hin und reichte ihm einen frischen Grasbüschel. Das schmeckte zwar prächtig, aber die Stange war hinderlich beim Kauen, und außerdem begannen Jumbos Zähne schlecht zu werden. Währenddessen stand der Mann, der den Wagen gelenkt hatte, ein Stück weiter weg neben seiner Frau. Sie zankten miteinander, aber das kam häufig vor. Gimmi hörte, wie die Frau schalt, weil sie schon jetzt Rast gemacht hatten, anstatt damit zu warten, bis sie an Schloß Tanningen vorüber wären.
Gimmi fand den Namen schön. Er sah sofort ein Schloß aus lauter Tannenzapfen vor sich. Wie gut mußte das riechen und wie wunderbar mußte es dort sein. Ganz sicher wohnte eine Märchenprinzessin darin. „Dort wohnt eine Märchenprinzessin, nicht wahr, Murre?" Der Hund wedelte mit dem Schwanz und zeigte ganz deutlich, daß auch er glaubte, mit dem Tannenschloß müsse es etwas Besonderes auf sich haben.
„Murre" war der Kosename, den Gimmi dem Pudel Chap nie laut zu geben wagte, sondern dem Freund nur leise ins Ohr flüsterte. „Siehst du nicht, daß auf dem Schloß die Fahne aufgezogen ist?" Der Mann sprach jetzt eifrig auf die Frau ein. „Da wird ein Fest, vielleicht eine Hochzeit gefeiert. Viel Leute, offene Türen, Gerenne, Perlen und Juwelen ... Da kann es allerhand Arbeit` geben..." Der Mann senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. Gimmi verstand, daß von irgendeinem größeren „Fang" die Rede war und daß es sich diesmal nicht nur darum handelte, Hühner oder aufgehängte Wäsche zu stibitzen. Warum durfte er nicht hören, was sie sprachen? Es war immer, als zweifelten sie an seiner Fähigkeit, wenn es wirklich etwas galt. Und doch zankten und schlugen sie ihn, weil er, wie sie sagten, ein Nichtsnutz sei und zu keiner pfiffigen Arbeit tauge.
Nach einer Weile kamen Mann und Frau zum Wagen zurück. Ihre Augen funkelten, sie schienen so rasch wie möglich aufbrechen zu wollen.
„Du nimmst Chap mit, Gimmi, und gehst den Weg, der am See entlang bis zur Kirche führt. Dann gehst du durch das Dorf und auf der großen Landstraße weiter. Beim Meilenstein biegst du links ab, und wenn du im Wald bist, bleibst du stehen und pfeifst. Antworten wir nicht, dann machst du ein Feuer und wartest, bis wir kommen. Verstanden?" Gimmi hörte am Ton, daß weder Fragen noch die Bitte, mit ihnen gehen zu dürfen, etwas helfen würden. Trotzdem wagte er zu sagen: „Scheint ein weiter Weg zu sein - da bin ich noch nie gegangen." „Hast etwa Angst, junge? Soll die Peitsche nachhelfen, he? Antworte, oder. .." Der Vater stieß einen Fluch aus. „Man wird doch wohl noch fragen können!"