„Du musst loslassen!“, sagt ihre Oma.
Aber sie klammert sich verbissen fest. Der eiserne Rand schneidet ihr in die Finger, ihre Füße suchen verzweifelt nach Halt. Doch der Drache schwankt gefährlich hin und her. Ihre Beine strampeln unter ihr in der Luft.
„Gretel, lass los!“ Die Stimme ihrer Oma übertönt schrill das Schnauben des Drachen.
„Wir sind gleich oben, du musst jetzt loslassen!“
Sie sieht hinunter. Der Boden ist weit weg. Überall liegen Schottersteine, der Abhang geht in eine tiefe Schlucht über.
Durch den Schmerz verkrampfen sich ihre Arme, ihre Hände haben kaum noch die Kraft, sich festzuhalten. In diesem Augenblick macht ihre Oma ihre Finger los.
Sie schlägt so hart auf den Boden, dass ihr der Schock durch den ausgemergelten Körper fährt.
Zuerst fällt sie, dann rutscht sie und schließlich rollt sie den Abhang hinunter. Der Schotter zerkratzt ihr das Gesicht und die Beine. Sie beißt die Zähne zusammen, um bloß nicht zu schreien.
Am Fuß des Grabens kommt sie jäh zum Stillstand. Einen Augenblick lang liegt sie totenstill da. Ihr Atem keucht, ihr Herzschlag dröhnt ihr so laut in den Ohren, dass sie Angst hat, die Wachen könnten ihn hören.
„Roll dich sofort zu einem Bündel zusammen. Zieh den Kopf ein und bleib totenstill liegen“, hat ihre Oma ihr eingeschärft. „Und bleib an Ort und Stelle, bis Elsa zu dir kommt.“
Also rollt sie sich zu einem Bündel zusammen. Der Boden unter ihr bebt, sie spürt, wie sich der Schotter und der Sand unter ihr und um sie herum bewegen. Sie zieht den Kopf noch weiter ein, denn über ihr stöhnt und schnaubt der lange Drache weiter den Hügel hinauf. Er spuckt Rauch und bläst Dampf, sie weiß es, weil sie seinen sauren Atem riechen kann. Aber sie wagt es nicht hinzuschauen.
Jetzt ist er anscheinend oben angekommen, denn sie hört, wie sein Keuchen hastiger und das Rattern der auf den Schienen rollenden Eisenräder wieder schneller wird.
Um sie herum wird es totenstill. Sie hat schrecklichen Durst.
Langsam wagt sie es, die Augen zu öffnen. Finsternis umgibt sie, die Nacht ist so dunkel, dass nicht einmal ein Stern zu sehen ist.
„Und wenn wir Angst haben?“, hat Elsa gefragt.
„Dann denkt ihr an etwas anderes“, hat Oma geantwortet.
Mutti hat nichts gesagt, sondern nur noch geweint, aber ohne Tränen, denn ihr Körper ist völlig ausgetrocknet gewesen.
Ich habe nie Angst, niemals, denkt Gretel, und ich bin dem Drachen entkommen. Erst Elsa, dann ich. Ich bin tapfer und Elsa auch.
Vorsichtig dreht sie sich auf den Rücken. Das tut weh. Sie streckt die Beine durch. Offensichtlich kann sie sie noch bewegen, nur ein Knie brennt.
Wenn wieder eine Steigung kommt, werden Mutti und Oma auch abhauen. Dann gehen wir alle zusammen zurück zu Omas Haus am Waldrand. Aber nie mehr zurück ins Getto, auf gar keinen Fall.
Sie merkt, dass ihr Mund voller Erde ist, aber sie hat keine Spucke mehr, nicht einmal einen Tropfen. Wenn sie jetzt nur einen Schluck Wasser trinken könnte!
Vorsichtig betastet sie ihr brennendes Knie. Es fühlt sich klebrig an und ein wenig feucht.
Schon lange vor Sonnenaufgang ist das Wasser ausgegangen. Die großen Leute haben dann ihre Arme durch die Gitterstäbe gestreckt und bei jedem Bahnhof um Wasser gebettelt. Aber die Wachen mit ihren Gewehren haben darauf geachtet, dass ihnen niemand etwas gibt. Neben ihnen haben die Hunde ihre Zähne gefletscht und die ganze Zeit gebellt. Aber die konnten wenigstens aus großen Becken modriges Wasser trinken.
Und die Lokomotive hat auch ihren Bauch mit klarem Wasser gefüllt.
„Schau lieber nicht hin, denk an etwas anderes“, hat ihr ihre Oma gestern schon geraten. Ihr Gesicht hat seltsam ausgesehen, denn die Sonne hatte Blasen hineingebrannt, weil sie ihren Hut verloren hatte.
Auch ihre Stimme war seltsam gewesen, so furchtbar trocken.
Und Mutti hatte schließlich aufgehört zu weinen und nur noch vor sich hin gestarrt.
Es ist schwer, an etwas anderes zu denken.
Eigentlich hat sie ja keine Angst vor der Dunkelheit. „Die Dunkelheit ist euer größter Freund“, hat Oma schließlich gesagt. „Ihr müsst so weit wie möglich von der Bahnlinie wegkommen, solange es noch Nacht ist. Tagsüber müsst ihr euch verstecken.“
Aber jetzt ist kein Stern zu sehen und der Mond gibt auch nur ab und zu ein bisschen Licht, weil der Himmel bewölkt ist. Hier und da zuckt ein Blitz.
Sie hat keine Angst vor Blitzen, denn sie bringen Regen. Und wenn es endlich regnet, dann kann sie sich einfach auf den Rücken legen und muss nur den Mund aufmachen. Und dann kann sie sich voll Wasser laufen lassen, bis sie überfließt.
Sie muss unbedingt an etwas anderes denken.
Oma hat ein Haus am Waldrand. Es sieht aus wie das Haus von Hänsel und Gretel, aber ohne die Hexe. Gemeinsam pflücken sie Beeren im Wald. Der Wald ist friedlich, sie weiß, dass es dort keinen Wolf gibt, aber zur Sicherheit bleibt sie doch lieber bei Mama oder Elsa, denn man kann ja nie wissen.
Vielleicht sollte sie sich besser aufsetzen und leise nach Elsa rufen. Denn jetzt hört sie das Tschuck-tschuck und das Geratter des Zuges schon eine ganze Weile nicht mehr. Und in dieser Finsternis findet Elsa sie nie.
Sie setzt sich also auf. Ihr Kopf tut ein bisschen weh. Sie schaut sich um, sieht aber überall nur eine dunkle Nebelgardine. Egal wie sehr sich ihre Augen anstrengen, sie sehen nur Finsternis.
„Elsa?“ In der dicken Schwärze um sie herum klingt ihre Stimme dünn.
Sie holt tief Luft. „Elsa!“ Das hört sich besser an. „Elsa! El-saa-a!“
Sie bekommt keine Antwort.
Jakób Kowalski schiebt seinen bleischweren Sack auf die andere Schulter und blickt in die Finsternis vor sich, in der er kaum etwas erkennen kann. Gelegentlich zucken Blitze durch die dicken Wolken, mehr Licht gibt es nicht. Zum Glück ist die Gegend hier einigermaßen eben, doch ihm ist klar, dass sie mehr Licht brauchen werden, sobald sie zum Fluss hinuntersteigen, denn sonst können sie nicht sehen, wohin sie gehen. Mit den Fingern fährt er sich durch sein schwarzes Haar und kneift die schwarzen Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können.
„Warum muss es denn ausgerechnet heute Nacht sein?“, mault Zygmund dicht hinter ihm. Seine Stimme überschlägt sich gelegentlich, schließlich ist er gerade einmal fünfzehn Jahre alt. „Man kann ja kaum die Hand vor Augen sehen!“
„Und wenn’s gleich regnet, werden wir klatschnass“, brummt Andrzej. „Die Wolken da sehen ziemlich bedrohlich aus.“
„In der verschlüsselten Nachricht hat es geheißen, dass der Zug mit den deutschen Truppen hier kurz vor Tagesanbruch durchkommen wird, auf dem Weg zurück nach Deutschland“, antwortet Jakób so ruhig wie möglich, obwohl er merkt, dass sein Geduldsfaden langsam zu reißen beginnt. „Bis dahin müssen wir die Bombe unter der Brücke in Stellung gebracht haben.“
„Mir geht das alles viel zu schnell“, erwidert Andrzej nervös. „Wieso sprengt nicht die Gruppe weiter hinten an der Bahnlinie den Zug in die Luft?“
„Weil es dafür dann schon zu hell sein wird.“ Jakób kann seine Ungeduld kaum noch beherrschen. Die Heimatarmee hat ihm zwei unerfahrene Kinder mitgegeben, die ihm bei dieser gefährlichen Aktion helfen sollen. Andere Leute gab es nicht.
„Und du bist dir sicher, dass da keine Wache auf der Brücke steht?“, will Andrzej wissen.
„Ich weiß gar nichts sicher“, erwidert Jakób kurz angebunden, „außer, dass wir die Bombe noch heute Nacht unter dieser Brücke befestigen müssen. Nehmt also einfach an, es gäbe da einen Wachtposten, und bewegt euch so leise wie möglich.“
„Und wie sollen wir dann sehen, was wir tun?“, fragt Zygmund und stellt den schweren, wasserdichten Sack für einen Augenblick neben sich auf dem Boden ab.
„Unter der Brücke müssen wir vielleicht Licht machen“, gibt Jakób zu. Er selbst ist auch besorgt darüber, dass ihr Auftrag praktisch undurchführbar sein könnte. Denn wenn dort an der Brücke tatsächlich ein deutscher Wachtposten sein sollte, dann wird die Aktion unmöglich. Aber Deutschland kann schließlich nicht jede einzelne Brücke in ganz Polen bewachen oder patrouillieren lassen.
„Wenn es regnet, wird sich die Wache sicher unter der Brücke unterstellen“, wirft Andrzej schwermütig ein. Er keucht beim Sprechen, sein runder Körper krümmt sich unter der Last.
„Das ist eine Stahlbrücke, da kann man sich nicht wirklich unterstellen“, entgegnet Jakób. „Außerdem ist der Abhang dort viel zu steil, die Wache kommt da gar nicht hinunter, ohne sich den Hals zu brechen.“
Ohne ein Wort zu sagen, stolpern sie unaufhaltsam weiter durch das hohe Gras und die Sträucher. Als der Mond für einen Augenblick sein schwaches Licht durch die Wolkenmassen wirft, sagt Jakób: „Wir müssen hier den Hang hinunter. Bei der Brücke ist die Böschung beinahe senkrecht.“
„Müssen wir etwa den Fluss hinunterschwimmen?“, fragt Andrzej entsetzt. „Oder bis zur Brücke über irgendwelche Felsen klettern?“
„Das wird mit den Säcken sicher ein Heidenspaß“, schmollt Zygmund.
Jetzt kann sich Jakób nicht länger im Zaum halten und seine Ungeduld muss sich Luft machen: „Seid ihr nun dabei oder nicht?“, herrscht er sie böse an. „Wenn ja, dann haltet endlich die Klappe und führt mit mir den Auftrag aus.“
Sie stolpern den steilen Abhang hinunter, schlittern und rutschen ein Stück, suchen blindlings nach Halt und klammern verbissen ihre gefährliche Fracht fest. Die Wolkendecke scheint mittlerweile etwas aufzureißen, jedenfalls ist der Mond ab und zu ein bisschen zu sehen. Beim Gehen treten sie Steine los, die den Hang hinunterrollen und klatschend ins Wasser fallen. „Gut, dass wir nicht in der Nähe der Brücke hinuntergestiegen sind“, keucht Andrzej. „Wenn es dort eine deutsche Wache gibt, dann kann sie uns kilometerweit hören.“
„In diesem Fall kann sie uns auch jetzt hören“, entgegnet Jakób. „Bis zur Brücke sind es keine hundertundfünfzig Schritte mehr.“
Schließlich stehen sie am Flussufer. Das Wasser rauscht leise an ihnen vorbei, hier und da scheint das schwache Licht des Mondes. „Kommt, lasst uns unseren Plan noch einmal durchgehen“, fordert Jakób sie auf. „Wir nehmen den zweiten Pfeiler von links. Der Zug wird von rechts kommen. Das bedeutet, dass die Lokomotive und mindestens drei Waggons schon auf der Brücke sind, wenn sie in die Luft fliegt. Das wiederum bedeutet, dass damit auch der Rest des Zuges in den Abgrund gerissen wird. Ist so weit alles klar?“
„Alles klar“, antworten seine beiden Helfer.
„Der Fuß des Pfeilers steht genau am Flussufer, aber noch auf trockenem Boden. Zygmund, du kletterst als Erster den Pfeiler hinauf. Ganz oben machst du die beiden Seile fest und wirfst die Enden hinunter. Ist so weit alles klar?“
„Kein Problem.“
„Und mach das Seil, an dem ich hinaufklettern muss, ja ordentlich fest!“, schärft ihm Jakób ein. „Ich habe keine Lust, mir meinen Hintern hier auf den Steinen aufzuschlagen.“
Zygmund nickt ernst.
„Andrzej, wir beide hieven zuerst die Artilleriegeschosse und dann die Landmine in dem Sack nach oben zu Zyg. Du, Zyg, klemmst dann die Geschosse zwischen den Streben und den Schienen ein. Aber achte darauf, dass sie schön festsitzen. Und lass sie im Sack. Verstanden?“
„Verstanden, Jakób!“ Zygmunds junge Stimme überschlägt sich vor Anspannung, obwohl er nur flüstert.
„Dann hieven wir die Bombe zu dir hinauf. Wenn sie bei dir ist, wartest du einen Moment. In dieser Zeit klettere ich hoch und helfe dir.“
„Ja, das Ding ist furchtbar schwer“, brummt Andrzej und schiebt den Sack auf sein anderes Schulterblatt.
„Wir machen die Bombe fest und platzieren die Landmine dann so, dass sie die Bombe und die Geschosse zur Explosion bringt, wenn der Zug auf sie fährt. Ist so weit alles klar?“
„Alles klar!“
„Und passt ja auf, dass ihr die ganze Zeit über sehr vorsichtig ans Werk geht. Diese Bombe ist ein altes Teil und völlig unberechenbar. Eine falsche Bewegung und wir jagen uns selbst in die Luft“, warnt Jakób. „Männer, lasst uns nun an die Arbeit gehen!“
„Die Nazis werden auf direktem Weg zur Hölle fahren!“, verkündet Zygmund tapfer.
„Für Polen!“, keucht Andrzej.
„Für ein unabhängiges Polen!“, rufen alle drei gleichzeitig mit gedämpfter Stimme und schwingen dabei ihre Fäuste in die Luft.
Danach sprechen sie kein Wort mehr.
Für die letzten hundert Meter bis zur Brücke brauchen sie mehr als eine halbe Stunde. Sie versuchen, am Ufer entlangzulaufen, aber die Steine sind rund und glatt und der Abhang ist steil. Der schwere Sack mit seiner explosiven Ladung schlägt gefährlich gegen ihre Schultern. Die Dunkelheit bietet zwar einen guten Schutz, macht aber auch ihre Schritte schwieriger. Es ist, als ob sie auf Eiern liefen. Alle paar Meter bleibt Jakób stehen. Er horcht sich um und versucht herauszufinden, wo sie sich genau befinden. Von oben ist das Donnern des Gewitters zu hören, aber weiter hinten werden die Wolken etwas heller. Plötzlich sieht er die Brücke keine zehn Meter vor sich.
Er gestikuliert, um den anderen klarzumachen, dass sie da sind.
Wir sehen es auch, zeigen die anderen beiden mit ihren erhobenen Daumen an.
Jakób nimmt Zygmund den Sack ab und stellt ihn vorsichtig an den zweiten Pfeiler auf den Boden. Zygmund zieht zuerst seine Stiefel aus, dann seine Jacke. Jakób bindet ihm die beiden Seile um den Bauch. Ich steige hinauf, deutet Zygmund schweigend an, und dann klettert er los.
Es dauert elend lange. Alle paar Meter finden seine Füße Halt auf den Querstreben des Stahlpfeilers, aber dazwischen muss er über weite Strecken mit seinem sehnigen Körper an dem glatten Eisen hinaufklettern. Zum Glück scheint die Wolkendecke immer weiter aufzureißen. Jakób starrt nach oben, vor Anspannung ist sein Rücken bis in die Schulterblätter hinauf stocksteif. Doch sosehr er sich auch anstrengt, abgesehen von gelegentlichen Bewegungen erkennt er nichts. Es bleibt totenstill. Wenn es also einen deutschen Wachposten geben sollte, ist er vermutlich eingeschlafen.
Schließlich spürt Jakób ein Rucken im Seil. Sofort fängt er an es abzurollen, während Andrzej bereitsteht, um das Ende aufzufangen. Nach einer halben Ewigkeit sehen sie endlich ein Seilende vor sich baumeln, dann fällt auch das andere Ende von oben herunter und schwingt in der Nähe des Pfeilers hin und her. Sie binden den ersten Sack gut daran fest. Jakób ruckt an dem anderen Seil, damit Zygmund weiß, dass sie die Geschosse jetzt nach oben hieven werden, und damit er dafür sorgt, dass sich das Seil nicht vom Pfeiler löst.
Sie arbeiten langsam, Stückchen für Stückchen, ganz vorsichtig, damit der Sack ja nicht ins Schwingen kommt. Dann spürt Jakób einen festen Ruck in dem losen Seil, das er sich um die Schulter gewickelt hat – der Sack mit dem explosiven Inhalt ist also sicher oben angekommen. Auf dieselbe Weise hieven sie auch ihre zweite Ladung nach oben. Es ist eine Landmine, die ihnen jemand vor zwei Monaten in der Umgebung der Karpaten beschafft hat, indem er ein russisches Bataillon mit selbst gebranntem Wodka gut versorgt und auf diese Weise eine ganze Ladung leichter Waffen in seinen Besitz gebracht hat. Das war der größte Fang, den die Heimatarmee in der letzten Zeit gemacht hatte.
Die dritte Fracht wird etwas schwieriger zu transportieren sein. Es ist eine Hundert-Kilo-Bombe, die nicht explodiert ist, als die Nazis sie 1940 in der Gegend abgeworfen haben – schon die kleinste Erschütterung könnte sie zur Explosion bringen. Es kostet Jakób und Andrzej ihre ganze Kraft, diesen Sack hinaufzuhieven.
Dann ruckt Zygmund am Seil. „Halt fest, ich binde das Seil an den Brückenpfeiler“, sagt Jakób leise.
„Ja, aber mach schnell“, antwortet Andrzej keuchend.
Als das Seil festgebunden ist, zieht Jakób seine Stiefel aus und ruckt kurz an dem Kletterseil, bevor er sich auf den Weg nach oben macht. Mit Leichtigkeit zieht er seinen geschmeidigen Körper an dem rauen Seil hinauf. Er ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Durch die Arbeit dort hat er Muskeln wie Stahl, während seine Hände in den vergangenen drei Jahren durch die harte Arbeit in der Stahlfabrik Schwielen bekommen haben. So ist er innerhalb von nur einer Minute auf der Querstrebe neben Zygmund.
Dieser hält den Sack mit der Bombe mit aller Kraft fest. Zusammen befestigen die beiden den Sprengkörper mitsamt dem Segeltuchsack und allem anderen an einem Platz unter der Eisenbahnschiene. Es ist ein Jammer, dass sie den guten Sack opfern müssen, aber es wäre zu gefährlich, die schwere Bombe herauszuholen. Sie legen die Landmine an ihren Platz, prüfen noch einmal, ob alles in Ordnung ist, und klettern dann vorsichtig wieder hinunter.
Als sie ihre Schuhe wieder angezogen haben, bedeutet ihnen Jakób mit Handzeichen, dass sie sich beeilen müssen. Je mehr Abstand sie zwischen sich und die Eisenbahnbrücke bringen können, desto sicherer ist es.
Der Rückweg ist sehr viel einfacher – sie sind ihre schwere Last los und gleichzeitig werden die Wolken vor dem Mond dünner. Die beiden Jungen haben es furchtbar eilig, so als ahnten sie langsam, dass das kein Abenteuer, sondern die Wirklichkeit ist.
Jakób sieht zum Himmel hinauf. Er schätzt, dass sie nicht einmal mehr eine Stunde haben, bis der Mond untergegangen sein wird. Ab diesem Zeitpunkt sind es nur noch drei Stunden bis zum Tagesanbruch. Diese drei Stunden brauchen sie zum Schlafen, überlegt er, während er die Uferböschung inspiziert, um einen guten Weg nach oben zu finden. Sie haben die Ruhe nötig, bis nach Hause ist es schließlich noch eine ganze Tagesreise oder sogar noch länger.
„Ich höre einen Zug“, bemerkt Zygmund auf einmal.
„Das ist unmöglich“, erwidert Jakób. „Der Zug kommt erst bei Tagesanbruch hier vorbei. Und bis dahin sind es vermutlich noch drei, vier Stunden.“
„Das ist mit Sicherheit ein Zug“, entgegnet Zygmund.
Alle drei drehen sich um und schauen flussabwärts in Richtung Brücke, die keine zweihundert Meter hinter ihnen ist.
In diesem Augenblick hört Jakób es auch. Unglaube, eine plötzlich aufsteigende Wut, die Erkenntnis, für die Sicherheit der Jungen verantwortlich zu sein, all das bricht gleichzeitig über ihn herein. „In Deckung!“, schreit er. „Hinter die Felsen dort! Schnell!“
Sie kriechen über die losen Steine und rutschen und schlittern hinter einen niedrigen, abgeflachten Felsen. „Ist das genug Deckung?“, fragt Zygmund mit zaghafter Stimme.
„Wir haben nichts anderes“, antwortet Jakób. „Zieht die Köpfe ein!“
Dann sieht er das Licht, das einen Tunnel in die Finsternis bohrt, spürt, wie ihm der Schrecken in die Glieder fährt. „Der Zug kommt aus der falschen Richtung!“, ruft er entsetzt. „Das kann nicht der ...“
In diesem Augenblick erhellt ein greller Blitz die Dunkelheit. Der Horizont explodiert mit einem unglaublichen Knall und ein gleißendes Licht schießt nach oben, so als ob sich alle Unwetter Polens mit einem Schlag auf die Brücke gestürzt hätten.
„Heilige Mutter Gottes!“, ruft Zygmund aus und bekreuzigt sich.
„Gnade!“, schreit Andrzej und schlägt beide Hände vors Gesicht. Und wieder: „Gnade!“
Sie hören, wie Stahl zerreißt.
Wie Menschen furchtbar schreien.
Jetzt stürzt die Lokomotive in die Tiefe, ahnt Jakób. Und zieht die Waggons mit in den Abgrund. Oder sie reißen sich los und …
Eine zweite Explosion folgt, noch schlimmer als die erste. Zygmund zieht den Kopf noch weiter ein, den Körper fest zusammengekrümmt. „Mutter Maria!“, weint er beinahe.
Andrzej entfährt ein heftiges Schimpfwort und er schlägt zwei Kreuze vor seiner breiten Brust.
„Das war der Dampfkessel. Er ist explodiert“, erklärt Jakób.
Aber woher war jetzt dieser Zug gekommen? Aus der falschen Richtung? Auf dem Weg nach …
Mit einem Mal fällt es ihm ein. Er spürt, wie eine gallenbittere Abscheu in ihm aufsteigt. „Kommt“, zischt er gehetzt. „Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.“
Sie stolpern die Böschung hinauf, versuchen die plötzliche Stille hinter sich zu lassen. Sie laufen so schnell es ihnen im Halbdunkeln möglich ist von dem Schauplatz des Gemetzels weg. Kein Wort sprechen sie miteinander.
Gretel zuckt vor Schreck zusammen. Sie weiß, dass das Bomben gewesen sein müssen. Ein Flugzeug hat sie zwar nicht bemerkt, aber sie weiß, wie sich Bomben anhören. Und sie weiß auch, dass sie in Deckung gehen muss. Sie sieht, wie die Wolken weit hinten am Horizont, auf der anderen Seite des Hügels, rot glühen.
Das ist zwar weit weg, aber sie können schnell auch hierherkommen.
Im Halbdunkel kriecht sie den Abhang hinauf und richtet sich auf. Als sie sich umschaut, kann sie gerade einmal die Bäume und Büsche entlang der Bahnlinie erkennen.
Am Waldrand bleibt sie zögernd stehen. Angst hat sie zwar keine, aber in so einem Wald gibt es immer einen Wolf oder eine Hexe. Oder eine böse Stiefmutter, so viel weiß sie. Deshalb kriecht sie lieber nur tief ins Unterholz am Waldrand und bleibt dort totenstill liegen. Hier riecht es nach nassen Blättern und die Kälte kriecht zusammen mit ihr ins Gebüsch.
Kein Flugzeug.
Keine weiteren Bomben.
Nur Totenstille. Und der Durst.
Schließlich schläft sie ein.
Als sie wach wird, steht die Sonne schon eine Weile am Himmel. Sie weiß nicht, was sie geweckt hat, aber plötzlich ist sie hellwach.
Und ihr ganzer Körper ist nur noch Durst.
Sie muss nach Elsa rufen, sie müssen im Dunkeln von den Eisenbahnschienen wegkommen. Das hat Oma jedenfalls so gesagt.
Sie kriecht aus ihrem Versteck und schaut sich vorsichtig um. Dann hört sie es, dieses Pfeifen. Mit diesem Pfiff hat ihre Mutter sie immer im Wald bei Omas Haus gerufen. Mutti ist also hier!
Sie versucht zurückzupfeifen – doch ihr Mund ist zu trocken. Deshalb läuft sie einfach in die Richtung, aus der sie das Pfeifen gehört hat.
„Gretel!“, ruft Elsa von links. „Gott sei Dank, dir ist nichts passiert!“
„Elsa? Habe ich nicht Mutti pfeifen gehört?“
„Ich habe gepfiffen.“ Elsas Stimme klingt seltsam. Das kommt sicher daher, dass sie zu wenig getrunken hat.
„Hast du Wasser?“, fragt sie Elsa.
„Nein, das müssen wir jetzt suchen.“
„Sollten wir nicht lieber auf Mutti und Oma warten?“
„Nein.“ Elsa marschiert los, geradewegs in den Wald hinein. Gretel läuft direkt neben ihr.
„Elsa? Hast du die Bomben gehört?“
Elsa wirft ihr einen kurzen Blick zu. Ihre Augen sehen seltsam aus. „Das waren keine Bomben“, entgegnet sie. „Das war nur ein Gewitter.“ Dann starrt sie wieder stur vor sich hin und beschleunigt ihren Schritt.
Gretel weiß genau, dass das Bomben gewesen sind. Bestimmt hat Elsa Angst vor den Bomben, deshalb denkt sie sich das mit dem Gewitter nur aus, vermutet sie. Elsa hat immer Angst, obwohl sie schon vierzehn Jahre alt ist. Aber sie, Gretel, hat nie Angst, obwohl sie erst sechseinhalb ist.
Im Wald gibt es hohe Bäume, die über ihren Köpfen ein Dach bilden. Sie stapfen durch dichten Farn, schieben schlaffe Zweige zur Seite, klettern über umgefallene Baumstämme. „Wann sind wir beim Wasser?“, fragt Gretel.
„Ich weiß es nicht.“
„Elsa, weinst du?“
„Nein.“
Elsa weint aus Angst, vermutet sie. „Du musst keine Angst haben, wir sind bald wieder aus dem Wald heraus.“
Elsa sagt nichts, sie geht einfach weiter.
„Und dann finden wir bald Mutti und Oma“, versucht sie sie erneut zu trösten.
Doch Elsa läuft weiter.
Irgendwann ist Gretel sehr müde, die Beine tun ihr weh. Und so furchtbar durstig, dass sich ihr Magen schon zusammenkrampft. Ihre Kehle ist so trocken, dass sie nicht einmal mehr schlucken kann. „Ich muss jetzt unbedingt etwas trinken“, stöhnt sie.
„Da unten muss irgendwo Wasser sein“, erwidert Elsa. Ihr Gesicht ist knallrot, die dunklen Haare kleben ihr am Kopf. „Dort muss irgendwo ein Fluss sein.“
Gretel hört das Wasser, bevor sie es sieht. Sie vergisst den Wolf und die Hexe und rennt einfach los. Am Bach angekommen, lässt sie sich auf den Bauch fallen und trinkt mit langen Schlucken.
Elsa wäscht ihr rotes Gesicht im Wasser. „Trink nicht zu viel, sonst wird dir schlecht“, ermahnt sie ihre Schwester.
Gretel rollt sich im feuchten Gras auf den Rücken und betrachtet die Blätter über sich. Die Sonne hinterlässt dort golden glänzende Flecken. Jetzt, wo ihr Durst gestillt ist, meldet sich der Hunger. „Elsa, hast du etwas zu essen?“
„Nein.“
Sie setzt sich auf. „Wo treffen wir uns denn nun mit Mutti und Oma?“
„Ich weiß es nicht. Komm, wir müssen weiter.“
Träge steht sie auf. „Ich bin noch müde“, jammert sie. „Wo gehen wir jetzt hin?“
„Wir gehen in die Schweiz, zu Onkel Hans“, sagt Elsa.
„Und wer ist Onkel Hans?“
„Omas Bruder.“
„Ist das weit?“
„Ja, ziemlich.“
„Elsa, wie sollen wir denn da hinkommen?“
Plötzlich beginnt Elsa zu weinen. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!“, klagt sie laut. „Und jetzt höre endlich mit deinem Gejammer und Gefrage auf, mein Kopf dröhnt furchtbar.“
Gretel schweigt. Doch nach einer ziemlich langen Pause sagt sie: „Ist schon gut, Elsa, Oma wird das alles wissen. Wir müssen sie nur finden.“
Aber da weint Elsa nur noch mehr. „Hör auf von Mutti und Oma zu reden“, sagt sie zwischen zwei Schluchzern.
„Gut.“ Sie muss nur an etwas anderes denken, dann geht der Hunger weg.
Die Schweiz ist das Land, in dem Heidi und Peter wohnen, dort in den Bergen, mit einer Menge Ziegen. „Glaubst du, dass Onkel Hans auch so ein Grießgram wie der Alm-Öhi ist?“, will Gretel wissen und vergisst dabei, dass sie eigentlich keine Fragen mehr stellen soll.
Elsa sieht sie mit großen Augen an. „Gretel, wovon sprichst du überhaupt?“
„Na, von der Schweiz.“
„Ach so.“ Die Frage beantwortet Elsa ihr allerdings nicht.
Am Waldrand steht ein Bauernhof. Um ihn herum ist ein Zaun und hinter dem Zaun sehen sie Obstbäume. „Warte hier“, fordert Elsa sie auf.
Gretel wartet elend lange. Sie betrachtet ihre Schuhe, die jetzt ziemlich schmutzig sind. Und ihre Socken auch.
Schließlich kommt Elsa zurück, in ihren Pullover hat sie Äpfel eingewickelt. „Iss nicht zu viele davon, sonst bekommst du Bauchschmerzen“, warnt sie ihre Schwester.
Der Apfel knackt, als Gretel hineinbeißt. Es ist ein großer, saurer Apfel. „Wie kommt es, dass du keinen Apfel isst?“, fragt sie Elsa.
„Ich esse später welche. Gib mir deinen Pullover, dann wickele ich für uns beide noch zwei Äpfel hinein, das wird dann unser Abendessen.“
„Und wenn mir kalt wird?“, fragt Gretel.
„Dann essen wir die Äpfel. Komm, hier in der Nähe muss ein Weg sein. Und da können wir schauen, ob irgendwo ein Ortsname angeschrieben ist, damit wir wissen, wo wir sind.“
Gretel will gerade wieder nach Mutti und Oma fragen, doch sie hat Angst, dass Elsa dann wieder weint.
Als sie in die Nähe des Weges kommen, verkündet Elsa: „Hör mir gut zu, Gretel, wir sind jetzt in Polen und da mögen sie die Deutschen nicht.“
„Sind wir denn nicht mehr in Deutschland?“, fragt Gretel. Denn sie weiß, dass Omas Waldhaus in Deutschland ist. Und das Getto auch, erinnert sie sich.
„Nein, in Polen. Hier darfst du auf keinen Fall Deutsch sprechen.“
„Was soll ich denn sonst sprechen?“
„Wir müssen Polnisch reden. Erinnerst du dich, die Sprache von Oma, das, was sie manchmal mit uns gesprochen hat. Und mit Mutti.“
Gretel nickt. „Das ist schwierig“, wirft sie ein.
„Ja, aber zum Glück bist du nicht dumm.“
Gretel nickt wieder. Sie ist schlau, das weiß sie. „Mögen die Leute hier die Juden auch nicht?“, fragt sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Elsa. „Ich glaube, sie mögen die Deutschen noch weniger als die Juden, aber niemand mag die Juden. Ich glaube, du solltest auch nichts von den Juden erzählen.“
„Oma ist Jüdin, das weiß ich“, sagt Gretel.
„Vergiss es einfach.“ Es sieht so aus, als würde Elsa gleich wieder zu weinen anfangen. „Vergiss die Juden und die Deutschen und alles. Du und ich, wir sind zwei polnische Kinder aus dem Norden von Polen, verstehst du?“
Gretel versteht es nicht, aber sie wird ernst. „Papa war ein deutscher Soldat“, sagt sie.
„Gretel, hör auf!“, zischt Elsa ziemlich böse.
Dann hört Gretel auf.
Sie marschieren den ganzen Tag. Gretels Füße sind bald ganz schön heiß, weil ihre Schuhe drücken, und ihre Beine werden ganz lahm. Doch Elsa sagt, dass sie so weit wie möglich laufen müssen. Nicht auf dem Weg, sondern im Wald neben dem Weg, damit sie sich verstecken können, wenn sie jemanden sehen sollten. Manchmal machen sie Rast. Elsas Kopf tut sehr weh. Das kommt vom vielen Weinen, denkt Gretel.
Irgendwann wird es schließlich dunkel. „Wo sollen wir schlafen?“, fragt Gretel.
„Unter freiem Himmel. Gretel, bis wir bei Onkel Hans sind, werden wir unter freiem Himmel schlafen und nur hin und wieder etwas zu essen bekommen. Verstehst du das?“
Sie nickt.
„Aber wenn wir erst einmal in der Schweiz sind, wird es uns besser gehen.“
Sie muss es einfach fragen. „Elsa, wo treffen wir nun Mutti und Oma?“
„Sie kommen nicht mit uns“, entgegnet Elsa kurz angebunden.
In der Nacht wird es Elsa furchtbar kalt. Sie rollt sich zu einem Bündel zusammen und zittert wie Espenlaub. Gretel legt sich auf sie, in der Hoffnung, dass es ihr dadurch vielleicht wärmer wird. Doch Elsas Körper ist ziemlich heiß und nass geschwitzt, aber sie zittert trotzdem weiter. Und dabei bettelt sie die ganze Zeit um Wasser. Als es beinahe Morgen ist, fängt sie an mit Mutti zu reden.
Gretel ist auch kalt. Aber sie spürt die Kälte mehr von innen. Das kommt davon, dass der Boden so feucht riecht, denkt sie. Jedenfalls zittert sie nicht so wie Elsa.
Als die Sonne aufgeht, steht Elsa auf. „Wir müssen weiter“, kommandiert sie.
„Ich glaube, du bist krank“, erwidert Gretel.
„Ja“, gibt Elsa zu. „Wir müssen Wasser finden.“
In Polen gibt es ziemlich viel Wasser. Sie trinken aus Bächen und essen beide noch einen Apfel.
Doch schließlich kann Elsa nicht mehr laufen. Sie legt sich in den Schatten eines Baumes, rollt sich zu einem Bündel zusammen und schläft ein.
Gretel liegt da und betrachtet die Blätter. Sie hat Sehnsucht nach Mutti. Und nach Oma, vor allem nach Oma. Warum kommen sie nicht mit?
Um sie herum sind Zweige und Blätter, so wie rund um Dornröschens Schloss. Sie ist ziemlich müde, vielleicht könnte sie auch hundert Jahre lang schlafen. Aber das will sie lieber nicht – sie möchte lieber weiterlaufen, um zu Mutti und Oma zu kommen. Mutti und Oma werden auch bei Onkel Hans sein, so viel weiß sie. Dann werden sie Brotstückchen in Käsesoße tauchen und essen. Genau wie Heidi.
Jetzt darf sie nicht an Brotstückchen und Käsesoße denken.
Sie setzt sich aufrecht hin und sieht sich um. Schließlich steht sie auf und geht vorsichtig ein Stückchen weg.
Wenn sie hier sitzt, kann sie den Weg sehen. Es ist ein ruhiger Weg, nur ab und zu kommt ein Pferdegespann vorbei. Meistens sind es sogar nur einsame Wanderer. Ein Lastwagen ist allerdings auch vorbeigerumpelt, auf seiner Ladefläche waren aber nur Schweine, keine Soldaten.
Da entdeckt sie einen komischen Kerl, der aus der Ferne den Weg entlangkommt. Bei jedem seiner Schritte scheppert es. Auf dem Rücken hat er einen großen Rucksack und um seinen Bauch einen Strick, an dem Becher und ein Kessel hängen und scheppern. In der einen Hand hat er einen weiteren Sack, in der anderen einen Stock.
Er läuft weiter, bis er ein paar Schritte vor ihr stehen bleibt und sich am Wegesrand ins Gras setzt. Dort nimmt er den Rucksack vom Rücken. Der ist offensichtlich ziemlich voll, aber Gretel kann nicht sehen, was drinnen ist. In diesem Moment macht der Mann den anderen Sack auf.
Und holt ein Stück Brot heraus.
Gretel läuft das Wasser im Mund zusammen.
Mit seinem Klappmesser schneidet sich der Mann eine dicke Scheibe von dem Brot ab. Dann zerteilt er den Käse.
Gretel beugt sich nach vorn, um besser sehen zu können.
Mit einem Mal schaut der Mann auf. Gretel ahnt, dass er sie gesehen haben muss. Sie ist totenstill.
Der Mann kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. „Dziewczynko, czy nie chcialabyś troche chleba?“, fragt er.
Wenn sie richtig verstanden hat, fragt er sie, ob sie etwas Brot haben möchte.
Mutti hat ihr beigebracht, niemals mit fremden Menschen zu sprechen. Aber sie hat noch nie so einen Hunger gehabt wie jetzt. Deshalb nickt sie trotzdem langsam.
Dann komm her, bedeutet er ihr. Doch Gretel bleibt lieber in ihrem Versteck. Also drückt er seinen Stock fest auf den Boden und steht langsam auf. Einer seiner Schuhe ist vorn aufgerissen, eine Zehe in einer Socke lugt heraus. Er geht zu ihr hin, bückt sich herunter und gibt ihr ein Stück Brot mit Käse. Seine Hände sind schmutzig, seine Nägel eingerissen.
Gretel beißt fest zu. Das Brot ist hart und so zäh, dass sie sich anstrengen muss, um überhaupt ein Stück abzureißen. Auch der Käse ist hart und trocken. Dennoch ist es das leckerste Brot und der leckerste Käse, den sie jemals gegessen hat.
„Gdzie jest twoja mama?“, fragt sie der Mann. Gretel meint zu verstehen, was er sagt – er will wissen, wo ihre Mama ist. Sie sollte nicht sagen, dass ihre Mama nicht hier ist, deshalb zeigt sie mit ihrem Arm hinter sich, dorthin, wo Elsa ist.
„Will sie nicht auch ein Stück Brot?“, fragt er. Sie versteht ihn gut, aber sie spricht kein Wort. Deshalb nickt sie nur.
Der Mann richtet sich auf und späht zwischen den Bäumen hindurch. Gretel bleibt sitzen, sie weiß nicht, ob sie ihm von Elsa erzählen soll oder besser nicht. Doch er geht von selbst in die Richtung, wo Elsa liegt. Sie steht langsam auf und läuft ihm hinterher. Er sieht auf Elsa hinunter. Dann bückt er sich und befühlt ihren Kopf.
„Sie ist ziemlich krank“, stellt der Mann fest.
Gretel nickt.
„Sie kann hier nicht bleiben. Ich werde sie zu einem Haus mitnehmen, wo sie jemand versorgen kann“, sagt er. Dann sieht er auf und runzelt die Stirn. „Wohin seid ihr unterwegs?“
„In die Schweiz.“ Gretel hat ganz vergessen, dass sie kein Deutsch sprechen darf.
„Die Schweiz? Das Land mit den Bergen?“, fragt er erstaunt. Dann schüttelt er den Kopf. „Die Schweiz?“
„Ja, die Schweiz.“
Der Mann geht seine beiden Säcke holen und versteckt sie im Unterholz, dort, wo Elsa liegt. Dann bückt er sich und hebt Elsa auf. Sie stöhnt, als er sie aufnimmt, und ihre Augen flackern für einen Moment auf, aber wach wird sie nicht. Der Mann scheint nicht besonders stark zu sein, denn er ist ziemlich mager. Elsa allerdings auch, deshalb ist sie sicher nicht allzu schwer.
„Komm“, fordert der Mann Gretel auf und beginnt, den Weg entlangzugehen.
Gretel weiß nicht genau, was sie jetzt tun soll. Also geht sie mit ihm mit.
„Habe ich das richtig gehört, ihr habt den falschen Zug in die Luft gejagt?“, fragt sein Bruder Stanislaw, als Jakób zwei Tage später wieder zu Hause ankommt.
Jakób sieht sich hastig um.
„Hier ist niemand im Haus, Brüderchen“, beruhigt ihn Stanislaw ein wenig spöttisch. „Entspann dich also.“
„Wir haben keinen Zug in die Luft gejagt, Stan“, entgegnet Jakób in gemessenem Ton. Er fährt sich mit den Fingern durch seine dunklen Haare. Das Letzte, wozu er sich im Augenblick imstande fühlt, ist ein Streit mit seinem Bruder. „Wir haben eine Brücke in die Luft gejagt – und zwar die richtige Brücke zum richtigen Zeitpunkt. Aber die Aufklärung hat offensichtlich nicht so funktioniert, wie sie sollte.“
Er stapft in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Die Kaffeekanne ist allerdings schon ausgewaschen, der Kaffeefilter hängt am Haken und der Herd ist kalt. „Wo ist Mutter?“
Stan zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, vermutlich zur Mittagsmesse in der Kathedrale. Ich bin gerade erst aufgestanden, ich arbeite doch in der Nachtschicht.“ Er geht zum Schrank und nimmt das große, selbst gebackene Brot heraus. „Hungrig?“, fragt er.
Jakób nickt. Jetzt, wo er daran denkt, ist er schrecklich hungrig.
„Hol du den Käse aus dem Kühlschrank“, fordert Stan ihn auf, während er dicke Scheiben Brot abschneidet.
Jakób geht zu dem kühlen Verschlag vor dem Haus, um den Ziegenkäse zu holen. Er nimmt auch etwas von dem Schinken mit, der mit einem feuchten Tuch abgedeckt ist. Dann geht er wieder hinein, schöpft sich einen großen Becher kühles Wasser aus dem Krug in der Küche und setzt sich schließlich auf den Holzstuhl an den rauen Küchentisch.
Sie essen schweigend. Nach dem Essen wäscht Stan seinen Teller im Becken ab und geht zur Hintertür. Kurz bevor er hinausgeht, dreht er sich noch einmal um und sagt über die Schulter hinweg: „Besprechung morgen Abend, am selben Ort.“ Dann schließt er die Tür hinter sich.
Jakób lehnt sich zurück. Er ist froh, wieder zu Hause zu sein, er ist vor allem froh darüber, allein zu Hause zu sein. In diesem Haus wohnen zu viele Menschen, denkt er sich. Vor allem seit Turek, sein ältester Bruder, geheiratet hat und mit Monicka ins zweite Schlafzimmer gezogen ist. Denn das bedeutete, dass er und Stan einen Teil der Veranda mit Brettern abtrennen mussten, um dort zu schlafen.
Er sieht sich in der Küche um. Sie ist der Mittelpunkt des Hauses, vor allem in den kalten Wintermonaten. An der einen Seite befindet sich die Tür zum Elternschlafzimmer, an der anderen die zum Schlafzimmer von Turek und Monicka. Davor ist die Veranda, auf der sie im Sommer sitzen, wenn es in der Küche zu warm ist – und wo er und Stan jetzt schlafen.
Die Küche selbst ist nur spärlich möbliert. Der Ofen ist blitzend schwarz poliert, auf dem Regalbrett über dem Ofen glänzen die Töpfe, neben dem Ofen steht eine flache Kiste für das Feuerholz. In der Mitte von der Küche stehen ein grober Holztisch und sechs Holzstühle. An einer Wand befindet sich der bemalte Küchenschrank für das Geschirr und die Gewürze, daneben die Vorratsdosen für Mehl und Zucker – jetzt, während des Krieges, sind sie meistens leer –, an der anderen Wand eine gerade Holzbank. Von der Hintertür sind es nur noch ein paar Meter bis zum Stall.
Als durch die Hintertür die schweren Schritte seines Vaters zu hören sind, geht Jakób hastig zur Vordertür hinaus auf die Veranda – er ist zu müde, um noch alle möglichen lästigen Fragen zu beantworten.
Vor ihm erstreckt sich die grüne Wiese den Hügel hinab, sie reicht bis an die Grenze des Ortes. Tschenstochau ist ein schöner Ort, einer der geschichtsträchtigsten Orte Polens. Von der Veranda aus kann Jakób die Najświętszej Marii Panny sehen, die breite Straße, die durch Tschenstochau bis an den Fuß des Jasna Góra führt. Hoch auf diesem Berg befindet sich das Kloster von Jasna Góra. Von hier unten aus kann Jakób gerade einmal die dicken Klostermauern erkennen und den oberen Teil der Türme, die aus der Mauer herausragen. Weiter links liegt das Industriegebiet mit der Stahlfabrik, wo er und Stan arbeiten.
Jakób fährt sich müde durchs Gesicht. Er spürt die kratzigen Bartstoppeln unter seinen Fingern. Vielleicht fühlt er sich besser, wenn er sich erst einmal gewaschen und rasiert hat. Heute Abend muss er wieder zum Unterricht zu Professor Sobieski gehen und darauf hat er sich überhaupt noch nicht vorbereitet.
Als die Nazis vor zwei Jahren die Universität von Krakau geschlossen und einen Großteil der Professoren interniert haben, waren Professor Sobieski und seine Frau nur um Haaresbreite entkommen. Ein ehemaliger Student, der jetzt als Metallingenieur in der Stahlfabrik arbeitet, hatte ihnen Unterschlupf gewährt.
Dorthin gehen Jakób und zwei andere Studenten, um ihre Studien im Verborgenen fortzusetzen. Wenn der Krieg vorbei ist, so hofft Jakób, wird er sein letztes Jahr in Krakau studieren und dort sein Examen ablegen. Doch bis dahin muss er sich als Hilfsarbeiter in der Stahlfabrik ein paar Zloty verdienen, während er zu studieren versucht und sich am Freiheitskampf der polnischen Widerstandsbewegung, der Heimatarmee, beteiligt.
Es ist nur ein kleiner Haufen, der sich am darauffolgenden Abend in einer verlassenen Bauernscheune versammelt. Die Laterne flackert, Pfeifenrauch hängt unter der Decke, sie sitzen auf Strohballen. Einer nach dem anderen berichten sie über die Angelegenheiten, mit denen sie beschäftigt waren.
„Wir haben einen Nazi-Konvoi in einen Hinterhalt gelockt, konnten allerdings nichts gegen sie ausrichten“, erzählt Jerzy Tatar, ein Bauer um die dreißig. „Sie waren auf der Hut, wir kamen nicht nahe genug heran.“
„Das nächste Mal habt ihr sicher mehr Erfolg“, ermutigt ihn Francikzek Rzepecki. Er hat einen lockigen, grauen Bart und kneift die Augen zusammen – seine Brille ist letztes Jahr zerbrochen.
Francik bleibt optimistisch, denkt Jakób, er versucht immer, die jüngeren Männer aufzumuntern und zu motivieren. Und das ist alles andere als einfach, denn Polen bekommt schon seit mehr als vier Jahren das deutsche Joch zu spüren, sodass es längst in die Knie gegangen ist.
„Wir versuchen, auf der Basis des Steinschlossgewehrs ein leichtes Maschinengewehr zusammenzubauen, denn dafür kann man leicht Munition bekommen“, erläutert Stan.
„Das ist gut“, sagt Francik. „Wir brauchen aber auch größere Kaliber und Artillerie, vor allem dann, wenn die Operation Sturm richtig angelaufen ist.“
„Ich weiß“, verteidigt sich Stan. „Aber es wird immer schwerer, nachts Waffen zusammenzubauen – es ist, als ob der Vorarbeiter Wind von der Sache bekommen hätte. Er behält uns jedenfalls gut im Auge.“
„Wir müssen uns dringend Waffen besorgen“, sagt Francik nachdenklich.
„Und unsere Kommunikation verbessern“, wirft Jakób ein. Er spürt wieder diese ohnmächtige Wut tief in sich aufsteigen. „Eine lückenhafte Aufklärung ist nämlich keine Hilfe.“
„Wir geben unser Bestes“, entgegnet Francik und streicht sich durch seine grauen Haare.
„Nein, Francik, dann ist unser Bestes nicht gut genug“, braust Jakób auf. „Wie viele jüdische Flüchtlinge haben wir denn schon vor den Nazis gerettet? Und jetzt ziehen wir los und jagen einen ganzen Zug voller …“
„Ich weiß“, fällt ihm Francik ins Wort. „Das war ein unglücklicher Zufall. Aber dieser Zug ist in den Fahrplänen einfach nicht aufgetaucht. Und der Auftrag aus London lautete, aktiv an den Gefechten gegen die sich zurückziehenden deutschen Truppen teilzunehmen – das habt ihr getan, indem ihr die Brücke gesprengt habt. Wir müssen ihre Kommunikation unterbrechen und strategische Punkte einnehmen.“ Er betrachtet die Gesichter in der Runde, bevor er fortfährt: „London hat uns gebeten, so viel wie möglich mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Wir müssen der Roten Armee demnächst helfen, die Städte in den Ölfeldern zurückzuerobern, zum Beispiel Wilno, Lublin und Lwow.“
„Mit der Roten Armee werde ich niemals zusammenarbeiten“, sagt Jakób bestimmt. „Ich traue den Kommunisten nicht, sie versuchen hier nur einen Fuß in die Tür zu bekommen.“
„Moskau hat versprochen, sich nie in die inneren Angelegenheiten Polens einzumischen“, beruhigt ihn Francik.
„Und das glaubst du?“, fragt Jakób frustriert. „Selbst nachdem sie gefordert haben – wohlgemerkt, gefordert haben –, dass die Untersuchung des Massenmordes von Katyn sofort gestoppt wird?“
„Ach, Jakób“, fällt ihm Stan ins Wort, „jetzt hör doch endlich auf mit dem Gejammer über die verschwundenen polnischen Offiziere. Sie sind tot und begraben, lass sie nun in Frieden ruhen. Wir sollten uns auf die Nazis konzentrieren.“
„Fünftausend polnische Offiziere in einem Massengrab, verscharrt von der Roten Armee, und du sagst, ich solle sie in Frieden ruhen lassen?“, explodiert Jakób. Er springt auf, eine ohnmächtige Wut und Frustration bahnen sich einen Weg an die Oberfläche. „Ja“, ruft er, „lass uns die Nazis bekämpfen, aber nicht zusammen mit der Roten Armee.“
„Setz dich wieder hin, Jakób“, sagt Francik bestimmt.
Doch er setzt sich nicht wieder hin. „Ich kann nicht glauben, dass die Exilregierung in London jetzt mit Moskau zusammenarbeiten will“, fährt er fort. „Die Rote Armee braucht uns als Kundschafter, ja, aber nur, weil wir unser eigenes Land kennen. Doch sobald wir unsere Rolle gespielt haben, wird sie uns entwaffnen und gefangen nehmen. Oder uns zwingen, uns der polnischen Armee in der Sowjetunion anzuschließen. Ihr wisst es doch!“, sagt er herausfordernd.
Im schummrigen Laternenlicht sieht er die Zweifel auf den Gesichtern der Männer, die sich nun Francik zuwenden.
Der denkt einen Augenblick nach. „Mir fällt es auch nicht leicht, mit der Roten Armee zusammenzuarbeiten“, gibt er schließlich zu.
„Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, kommen wir wenigstens an Waffen“, erklärt Stan und steht ebenfalls auf.
„Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, werden wir sie nie wieder aus unserem Land herausbekommen“, warnt Jakób mit tiefer, eindrücklicher Stimme.
Als sie später durch das stille, dunkle Feld nach Hause gehen, sagt Stan: „Ich denke, wir machen einen Fehler, Jakób. Ohne die Hilfe der Roten Armee haben wir gegen die Nazis nicht die geringste Chance. Darauf kannst du Gift nehmen.“
Gretel entdeckt zuerst die beiden Jungen, die im Gras spielen. Dann sieht sie die drei kauenden Ziegen, wie die Ziegen von Peter. „Mamo! Mamo!“, schreit einer der Jungen und rennt schnell in Richtung Haus. „Idzie Mejcio! Hier kommt Mejcio!“
Als sie um die Ecke biegen, bemerken sie ein flaches Gebäude, das aussieht wie ein Stall. Es hat keine richtige Tür und das Dach ist schief. Eine Frau kommt heraus, sie trägt ein Baby auf dem Arm. Hinter ihr lugt ein kleines Mädchen hervor.
Der Mann und die Frau reden zu schnell, Gretel kann nicht verstehen, was sie sagen. Dann gehen sie ins Haus. Sie geht hinterher. Das Haus riecht nicht gut, viel zu sauer.
Drinnen ist es dunkel. Der Mann legt Elsa auf das einzige Bett. Die Frau befühlt Elsas Stirn. „Sie ist ziemlich krank“, stellt sie fest.
„Ja“, bestätigt der Mann. Er sagt noch mehr, aber Gretel versteht nicht alles.
Die Frau nickt, schüttelt den Kopf, redet dann hastig und nickt wieder. „Ja, sie scheint Jüdin zu sein“, sagt die Frau. „Aber die Kleine“, dabei zeigt sie abfällig auf Gretel, „ist mit Sicherheit eine Deutsche.“
Gretel legt sich die Worte zunächst in ihrem Kopf zurecht. „To jest moja siostra. Das ist meine Schwester“, sagt sie.
Schließlich dreht sich die Frau zu ihr um und redet so schnell auf sie ein, dass sie nichts versteht. Dann geht die Frau weg und kommt mit einem feuchten Tuch wieder, das sie Gretel in die Hand drückt. Gretel versteht, dass sie Elsa damit über das Gesicht wischen soll.
„Ich gehe jetzt“, sagt der Mann später. „Du bleibst hier, bis deine Schwester gesund ist.“
„Gut“, antwortet sie.
Die Frau – wenn Gretel richtig gehört hat, heißt sie Regina – erzählt irgendetwas über Sträucher und bedeutet Gretel, dass sie auf die beiden Kleinen aufpassen soll. Sie drückt Gretel das Baby in den Arm und geht hinaus. Hinter sich schiebt sie die Tür zu.
Gretel betrachtet das Baby. Es ist ein ziemlich hässliches, rosa Baby. Und es riecht auch nicht gut, ebenfalls zu sauer. Weil sie kein Bett entdecken kann, in das man das Baby legen könnte, legt sie es einfach auf den Boden. Doch da macht das Baby den Mund auf und schreit ganz furchtbar. Schnell hebt Gretel es wieder auf. Unter dem Tisch sitzt ein kleines Mädchen und beobachtet sie mit seinen großen, braunen Augen.
„Mutti?“, murmelt Elsa vom Bett aus.
Gretel wiegt das Baby hin und her, während sie redet. „Nein, ich bin es, Gretel“, erwidert sie. „Geht es dir schon besser?“
Langsam öffnet Elsa die Augen. Sie sind ziemlich rot. „Warum schaukelst du denn das Baby so herum?“, fragt sie mit rauer Stimme.
„Sonst bleibt das Ding nicht ruhig“, antwortet Gretel.
„Ach so.“ Elsa schließt wieder die Augen. „Hast du etwas Wasser?“, fragt sie schwach.
Gretel sieht sich um. In einer Ecke entdeckt sie einen Krug mit Wasser, auf dem Tisch steht eine Blechtasse. Sie hat allerdings ein Problem – sie kann nicht gleichzeitig das Baby schaukeln und Wasser schöpfen. Deshalb legt sie das Kind wieder auf den Boden.
Sofort beginnt es zu schreien. Gretel nimmt dennoch die Tasse und schöpft Wasser. Nun fängt auch das Mädchen unter dem Tisch an zu schreien. Gretel lässt sich nicht beirren, sondern hebt Elsas Kopf ein bisschen an und flößt ihr das Wasser ein. Dabei verschüttet sie etwas, aber Elsa bekommt zu trinken. „Mein Kopf tut furchtbar weh“, wimmert Elsa. „Sorg dafür, dass die Kinder nicht so schreien.“
Gretel hebt also das Baby wieder auf und fängt erneut an, es zu schaukeln. Das hilft. Aber das Mädchen schreit immer noch. Da sieht Gretel ein Schälchen Honig auf dem Schrank stehen. Sie taucht den Finger in den Honig und steckt ihn dem Mädchen in den Mund. Da ist das Mädchen augenblicklich still.
„Wo sind wir?“, fragt Elsa. Sie flüstert, ihre Augen sind immer noch geschlossen.
„In einem Haus“, antwortet Gretel. „Aber wo Mutti und Oma sind, das weiß ich nicht.“
Es bleibt eine Weile still. Das Mädchen kriecht unter dem Tisch hervor und bedeutet mit seinem Finger, dass es noch etwas Honig haben möchte. Gretel fällt es schwer, ihr gleichzeitig den Honig zu geben und das Baby zu schaukeln.
Als Elsa wieder spricht, ist es so leise, dass Gretel sie kaum verstehen kann. „Mutti und Oma konnten nicht aus dem Zug entkommen“, stellt sie fest. „Die Öffnung war zu klein.“
„Aber sie haben doch gesagt, dass sie es tun würden!“, ruft Gretel entsetzt.
Elsas Augen sind geschlossen. „Nur um uns zu trösten“, flüstert sie.
„Und wo sind sie hingefahren?“, fragt Gretel ängstlich.
Doch Elsa antwortet ihr nicht, sie ist zu müde, um zu reden. Ihr Atem geht flach und stoßweise, ihre Wangen sind blutrot, ihre schwarzen Haare sind klatschnass und kleben an ihr. Ich muss ihr das Gesicht mit dem Tuch abwischen, denkt Gretel. Aber das geht nicht, sie kann nicht gleichzeitig das Baby schaukeln, dem Mädchen Honig geben und Elsa das Gesicht abwischen. Also lässt sie es.
Später kommt Regina zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen zurück, die einen furchtbaren Radau machen. Das Baby fängt an zu schreien und das Mädchen auch. Regina schaukelt das Baby und befiehlt den beiden Jungen und dem Mädchen, draußen zu spielen. Dann schiebt sie ein Stück Holz in die Ofenkammer, stellt einen Kessel mit ein wenig Wasser darauf, wirft eine Handvoll Blätter hinein und bedeutet Gretel, dass sie Elsas Gesicht abwischen soll. Hoffentlich ist Regina keine Hexe, denkt Gretel.
Sie wischt Elsa mehrmals über das Gesicht. Regina lässt die Blätter abkühlen und versucht Elsa das Blätterwasser einzuflößen. Doch Elsa will einfach nicht wach werden und verschluckt sich.
Als es dunkel wird, geht Gretel nach draußen. Sie setzt sich an die Seitenwand des Hauses. Vor ihr sind die drei Ziegen, die auf etwas herumkauen, und ein paar Enten, die zum Haus watscheln.
Elsa ist ziemlich krank, das ist Gretel klar. Mutti und Oma sind weg, sie weiß nicht, wohin. Aber sie weiß, dass das auch nicht gut ist.
Sie versucht an etwas anderes zu denken. An Oma und ihr Hänsel-und-Gretel-Häuschen im Wald, doch dadurch bekommt sie noch mehr Sehnsucht nach Oma und Mutti. Sie denkt an die Schweiz und an Peter und Heidi, aber jetzt, wo Elsa krank ist, weiß sie nicht, wie sie in die Schweiz kommen sollen. Sie versucht an das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein zu denken und an das vom hässlichen Entlein, das ein Schwan geworden ist, aber es funktioniert nicht.
Eigentlich hat sie nie Angst, jetzt aber doch. Nicht vor der Dunkelheit oder den Bomben, die jeden Moment fallen könnten, oder vor Regina, die vielleicht eine Hexe ist.
Sie hat Angst, weil sie noch nie so allein gewesen ist.
Dann muss sie zum ersten Mal weinen.
Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie studierte Geschichte an der Universität von Pretoria und war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin an einem Gymnasium. Nach ihrer Pensionierung begann sie mit dem Schreiben. Die Historikerin liebt es, gründlich zu recherchieren und ihre Romane mit detailreichen Fakten zu untermauern. In ihrer Heimat und den Niederlanden haben sich ihre historischen Romane zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
Francke Verlag
Originaltitel: Tussen Stasies
480 Seiten, Buch, Paperback
Format: 13,5 x 20,5 cm
Bestellnummer: 332086
ISBN: 978-3-96362-086-7