Julia - Eine Frau gibt nicht auf, Janette Oke

...Julia sah auf die Wanduhr. Zwanzig Minuten vor acht. Was konnte nur geschehen sein? Sie ließ den Stoff auf die Couch gleiten und wollte aufstehen. Bevor sie sich aber richtig erhoben hatte, stand ihr Mann schon im Zimmer.

Julia sah ihn an. Auf einmal verspürte sie Angst.

„John! Du bist doch nicht krank, oder?"

Er starrte sie so ausdruckslos an, daß sie nicht sicher war, ob er ihre Frage überhaupt verstanden hatte. Dann schüttelte er langsam den Kopf und lehnte sich müde an einen Stuhl.

Julia sah sein aschfahles Gesicht an. Sie wollte auf ihn zu

gehen, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht.

Er schüttelte noch immer den Kopf.

„Nein, nein. Ich bin nicht krank", sagte er, doch der

Klang seiner Stimme war alles andere als beruhigend. „Warum bist du dann nach Hause gekommen - noch so

früh am Morgen?" fragte Julia.

„Man hat uns fortgeschickt. Alle. Heute morgen wurden wir zu einer Sonderversammlung gerufen. Die Betriebsleitung hat eine Ankündigung verlesen. Dann sind wir allesamt nach Hause geschickt worden."

Julia begriff kein Wort. Sie langte nach dem Leinenstoff. Vielleicht würde das kühle, glatte Gewebe sie wieder in die Wirklichkeit zurückversetzen. John fuhr sich mit der Hand durch das dunkelbraune Haar. „Er sieht müde aus", dachte Julia plötzlich und fragte sich, warum ihr das nur nicht eher aufgefallen war. „Er braucht Urlaub. Er hat ja viel zu hart gearbeitet!" Und noch bevor sie ihm ihre Gedanken mitteilen konnte,  hob John den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. In seinem Blick stand die Bitte um Verständnis, als er ihr die Hiobsbotschaft überbrachte: „Das Sägewerk soll stillgelegt werden."

 

„Ach Feli! Rede doch nicht so albern daher!" ermahnte Jennifer ihre Schwester sanft und sah sie aus ihren tiefblauen Augen fast flehend an.

„Du bist die einzige, die es albern findet, über Jungen zu reden", entgegnete Felicitas mit einem schelmischen Kichern. „Alle Mädchen in der Schule..."

„Die Mädchen in der Schule sind genauso albern!" fiel ihr Jennifer ins Wort. Sie errötete leicht. „Du weißt genau, daß Mama es nicht ausstehen kann, wenn wir..."

Felicitas strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht.

„Unsinn! So weltfremd ist Mama doch gar nicht! Bestimmt hat sie als Schulmädchen auch über Jungen ..."

„Hör auf damit!" rief Jennifer, und ihre Wangen röteten sich noch heftiger. „Mama war von Anfang an eine feine Dame, und..."

„Aber feine Damen reden auch über Jungen - oder Männer, besser gesagt. Du bildest dir nur ein, daß so etwas verboten ist", beharrte Felicitas ungeduldig.

„Ich habe nie behauptet, daß es verboten ist", verteidigte Jennifer sich.

„Du tust aber so, als wär's das! Immer wenn jemand von einem Jungen spricht, schimpfst du entweder los, oder du wechselst das Thema. Die anderen Mädchen meinen alle ..."

„Was meinen die anderen Mädchen?" fragte Jennifer. Sie war entschlossen, auch den Rest des angefangenen Satzes herauszufinden. Die Augen des hübsch gekleideten Mädchens verengten sich. Die Wende, die die Unterhaltung genommen hatte, gefiel ihr nicht