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Der grauenhafte 2. Weltkrieg ist zu Ende. Siegermächte haben Deutschland in Zonen aufgeteilt. Aber wen interessiert nun das Schicksal eines achtzehnjährigen Mädchens, welches ganz allein im Wirrwarr der Nachkriegszeit geblieben ist? Ihr Glaube an den Erlöser wird gestärkt durch das Bibellesen. Aber ihr Onkel, ein DDR-Funktionär, hält das nicht für gut - er vernichtet einfach die Bibel, das Letzte, was Irene noch von ihrer Mutter geblieben ist. Ihren Glauben will sie nicht aufgeben, ihre Kraft ist jedoch nur klein. Was soll sie nur tun? Und gerade in dieser Zeit erreicht sie ein Brief von drüben, den sie eigentlich nicht bekommen sollte...
Leseprobe:
Der Brief
Als Irene eilig aus dem Haus läuft, um Einkäufe zu machen, stößt sie an der Haustür fast mit der Postbotin zusammen.
Die junge Frau ist zum ersten Male in diesem Bezirk und sucht an den Klingelschildern nach den Namen.
„Müller -", sagt sie und schaut auf die Adresse des Briefes, den sie in der Hand hält, „wohnt hier eine Irene Müller?"
„Das bin ich selbst", nickt Irene. Sie hat plötzlich ein weiches Gefühl in den Knien. Die Botin gibt ihr den Brief.
Sie merkt nicht, wie des Mädchens Hand zittert. Einen Augenblick steht Irene noch wie angewurzelt an der Haustür. Dann blickt sie ins Haus zurück - nein, hier kann sie den Brief nicht öffnen, nicht lesen.
Sie schiebt ihn in die Manteltasche und atmet tief. Ist es möglich, jetzt, heute muß dieser Brief kommen? Gerade jetzt, wo sie so verzweifelt, so ratlos, so ganz ohne Hoffnung und Aussicht auf Hilfe ist? Ein Brief von Tante Martha, von Mutters einziger Schwester - wie lange hat sie keinen Brief mehr von ihr bekommen! Und heute, gerade heute - ist das nicht wie ein Wunder, ist das nicht wie eine Antwort auf ihr Gebet?
Irene ist ein Stück die Straße hinuntergegangen. Ehe sie zu dem verkehrsreichen und lebhaften Markt einbiegt, tritt sie durch eine Toreinfahrt in einen Hof. Hinter einem Wagen stehend reißt sie den Umschlag auf und liest:
„Meine liebe Irene! Auf alle meine Briefe und Päckchen hast du mir nicht geantwortet. Das macht mich ganz betrübt. Noch einmal möchte ich Dich herz
lich einladen, zu mir zu kommen. Ich möchte Dich doch einmal wiedersehen. Und wir haben auch gewiß viel zu erzählen, was man in Briefen nicht so schreiben kann. Ich habe jetzt eine nette kleine Wohnung, ein Zimmer mit einer Kochnische und einem hübschen Balkon. Es wäre Platz genug für uns zwei, wenn es Dir bei mir gefiele, könntest Du ganz hier bleiben.
Wie wäre es, wenn Du mir Weihnachten die Freude machtest, mich wenigstens für ein paar Wochen zu besuchen? Ich würde mich sehr darüber freuen..."
Irene wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Tante Martha hat ihr geschrieben, hat Päckchen geschickt? Sie hat nichts bekommen. Oder sollte die Schokolade, die ihr Tante Lisbeth manchmal schenkte, von solchen Päckchen stammen?
„Onkel Max kann bei seiner einflußreichen Stellung doch sicher einen Paß für Dich besorgen-"
„Was machen Sie denn da?" - schreckt sie eine rauhe Stimme auf. Irene steckt den Brief in die Tasche. Sie fühlt ihr Herz rasch und heftig schlagen. Die Gedanken flattern wie aufgescheuchte Vögel in ihrem Kopf durcheinander.
Nein, Onkel Max würde ihr keinen Paß besorgen. Onkel Max hatte ihr bestimmt die Briefe von Tante Martha vorenthalten. Die Post wurde ja immer unten
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