Haltungen dem Tod gegenüber
Der Tod ist das gewisseste und entscheidendste Ereignis im Dasein eines jeden Menschen. Er ist eine Urtatsache des Lebens. Darum fordert er uns alle, ob wir wollen oder nicht, zu einer Stellungnahme heraus.
Im wesentlichen können sich die Menschen auf viererlei Weise dem Tod gegenüber verhalten.
1. Von dem französischen Sonnenkönig, Ludwig XIV., weiß man, daß er in den letzten Jahren seines Lebens dem Hofstaat verboten hat, in seiner Gegenwart auch nur ein einziges Wort vom Sterben und Tod zu sagen. Er baute sich das prächtige Schloß Versailles auch aus dem Grunde, weil er in seinem Pariser Wohnsitz zu nahe beim Friedhof und den Gräbern seiner Ahnen war.
Auch von dem Dichterfürsten Goethe wird uns berichtet, daß er es als eine empfindliche Störung seiner gesunden Lebensfreude empfand, wenn man in seiner Gegenwart vom Sterben und Tod zu sprechen wagte.
Wir müssen uns fragen lassen, ob bei uns modernen Menschen nicht insgeheim ähnliche Gedanken mitschwingen, wenn wir das Sterben der Angehörigen möglichst aus unseren Wohnungen verbannen und in die Krankenhäuser verlegen. Gemeint ist natürlich nicht die Absicht echter Hilfe, sondern die Flucht in eine entprivatisierte, hygienisch einwandfreie, weiß gekachelte Atmosphäre, Flucht in die Traumwolke des Morphiums, die uns über die letzten Angstgefühle hinweghilft. Flucht vor der Wirklichkeit des Todes ist aber Feigheit.
2. Der Mensch kann sich auch bemühen, die Haltung der Resignation dem Tod gegenüber einzunehmen. Dies tat z. B. die philosophische Richtung der Stoa. Durch eine bewußte Lässigkeit versuchte sie, die Furcht vor dem Tode zu beseitigen. So sagte z. B. ihr Vertreter Epiktet: „Der Tod ist für uns ein Nichts; denn solange wir leben, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr." Stimmt es wirklich, wenn David Friedrich Strauß im Blick auf den Todestag nichts anderes zu sagen weiß als:
„Heute heißt's verglimmen, wie ein Licht verglimmt,
in der Luft verschwimmen, wie ein Ton verschwimmt." Sartre, der französische Vertreter der modernen Existenzphilosophie, geht schon fast über das sich selbst beruhigende, wenn nicht sogar dumpfe Resignieren hinaus, wenn er in pessimistischem Schmerz klagt: „Es ist widersinnig, daß wir geboren sind; es ist widersinnig, daß wir sterben." Wirklich?,
3. Als einer weiteren Verhaltensweise begegnen wir der Verharmlosung des Todes. Sie kann sehr verschiedene Formen annehmen.
Versuchen wir nicht, den Tod zu verharmlosen, wenn man neuerdings in Amerika schon so weit ist, den Leichnam zu schminken? So wird der Verstorbene selbst auf dem prächtig ausgeschmückten Paradebett noch zu einer erlogenen Schönheit herausgeputzt. Eine lächelnde Lüge des Lebens auf dem Totenbett!
Verharmlosung des Todes begegnete uns auch besonders im sogenannten Dritten Reich, als man vom Tod als dem „Freund Hein" sprach, als man unseren Soldaten den „süßen Heldentod" einzureden sich bemühte, als man vom „lachenden Sterben" dichtete und man rein theoretisch und rhetorisch in Walhall einzog, in Wirklichkeit aber das Los eines krepierten und verscharrten Hundes teilen mußte, für den es auch kein Leben nach dem Tode gibt.
Die Verharmlosung kann sich selbst bis zur prometlheischen (aufrührerischen) Rebellion steigern, bei der man „dem Schicksal in den Rachen greift" und mit geballter Faust dem Sensenmann droht.
4. Irgendwie empfinden wir, daß sie alle - die flüchtende, die resignierende, die verharmlosende und rebellierende Haltungdem Tod in seiner Macht und Souveränität nicht gerecht werden. Hier steht der Selbstbetrug Pate.
Es müßte noch eine andere Verhaltensweise geben können. Gibt es sie? Ja! Es ist die aus der Lebensverbindung mit dem Todesüberwinder Jesus Christus kommende christlich-realistische Haltung.
Hier macht man sich nichts vor - sei es mit geschwollenen oder müden, herbstlichen Worten. Hier verhält man sich dem Sterben gegenüber nüchtern. Der Tod wird als ein Feind des Lebens und des Menschen angesehen. Aber dieser Feind ist entmachtet durch den Einen, der stärker ist als er, und der die Nacht des Grabes gesprengt hat: Jesus Christus. Aus der Lebensverbindung mit ihm können solche Menschen dem Knochenmann ganz anders gegenübertreten.
So vermag z. B. Martin Luther im Jahre 1531 an seine Mutter zu schreiben, als sie ihrem letzten Stündlein entgegenging: „Deshalb können wir nun mit aller Freudigkeit uns freuen und, wo uns will etwa ein Gedanke vom Tod erschrecken, wir dagegen unser Herz erheben und sagen: Lieber Tod, wie schreckest du mich? ... Die Zähne kannst du blecken; aber fressen kannst du nicht. Denn Gott hat uns den Sieg wider dich gegeben, durch Jesum Christum, unseren Herrn'."
Helmuth James Graf von Moltke war an den Vorgängen des 20. Juli 1944 beteiligt. Im Januar 1945 wurde er deswegen hingerichtet. In seinem Abschiedsbrief an seine Frau schrieb er im Blick auf die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung die triumphierenden Worte: „Gott hat die unaussprechliche Gnade, zu mir zu kommen." Kamen nicht die Henkersknechte eines grausamen und blutigen Diktators? Nein, es kam der ihn heimholende Gott. Wer möchte bestreiten, daß hier nicht der Tod besiegt war? Aber nicht durch Opiumdünste des Selbstbetrugs, sondern durch eine klare Lebensverbindung mit dem, der das Leben ist: Jesus Christus.
Unsere heutige Situation
Im Blick auf Lebensstil und Lebenseinstellung ungezählter Menschen unserer Tage kann man nur im höchsten Maße darüber erschrecken, mit welch einer Nonchalance (Nachlässigkeit) sie dem Tode begegnen.
Welch ein Gegensatz ist es doch:
Nun hat seine kalte Majestät „Tod" in solch fürchterlicher Weise in zwei Weltkriegen sein grausames Zepter geführt, nun ist so unendlich viel Hoffnung in den wehmütig weiten Steppen Rußlands und im Wüstensand unter der Glutsonne Afrikas jämmerlich umgekommen, - und doch wird heute weithin in den Tag hineingelebt, wie wenn gar nichts passiert wäre. Hat Deutschland trotz Volkstrauertag seine Toten über aller Jagd nach der D-Mark bereits vergessen? Wehe unserem Volk, wenn ihm die Goldbarren wichtiger sind als das Opfer seiner erschlagenen Väter und Söhne, seiner in schrecklichen Bombennächten elendig verkohlten und verschütteten Frauen, Kinder und Greise. Wehe, wenn wir uns durch die rund drei Millionen Brüder und Schwestern nicht bis in die letzten Wurzeln unserer Existenz erschüttern lassen, die in jenen Monaten der Flucht am Straßenrand in Eis und Schneewehen erstarrten oder in den kalten Todesfluten der Ostsee ertranken. Wehe, wenn wir über allem materialistischen Denken die Fenster nach jener anderen, höheren Welt zuschlagen. Und das tun wir weithin.
Es hat mich schier erschüttert, als ich lesen mußte, daß von Männern zwischen 20 und 30 Jahren 43°/o erklärten: mit dem Tode ist alles aus. Selbst 26'/o der gleichaltrigen Frauen und Mädchen meinten, daß es kein Leben nach dem Tode gebe. Arme Menschen! Da gibt es nur eine Erklärung: sie sind in dem schäbigen Staub der Diesseitigkeit und Materie bereits so untergegangen, daß darüber der Ewigkeitsglanz in ihren Augen erloschen ist.
Ein Gesetz
Denn das ist ein Gesetz:
In dem Maße, wie die Menschen dem Diesseits verfallen, in dem gleichen Maße fallen sie in den Fehler, den Horizont zum Jenseits abzublenden.
Wie kommt das eigentlich?
Der letzte Grund ist dieser:
Die Menschen spüren in den geheimen Winkeln ihres Herzens: wir haben ja leere Hände, mit denen wir vor den letzten Richter hintreten müßten. Bei unserer Jagd nach Fernsehapparaten und gesteigertem Lebensstandard haben wir dennoch nicht das eigentliche Ziel erreicht. Uns fehlt das Bleibende. Weil der Mensch ein Ahnen von seiner Minusbilanz trotz äußerlich vorgetäuschter Sicherheit und geschwollener Muskelpakete hat, darf es kein Leben nach dem Tode und keine letzte Verantwortung geben. Stumpfe Seelen!
Deutungsversuche des Todes
Darum versuchen diese Menschen den Sinngehalt des Todes auf ihre Weise zu deuten. Denn sie begegnen dem lauten Aufschrei der vielen Sterbenden gerade unter unserem Geschlecht so herausfordernd, daß es ihnen nichts hilft, sich die Ohren zu verstopfen.
Die Deutung des Todes entspringt zugleich einer Deutung des Lebens.
So sind es neben den bereits erwähnten Verhaltensweisen dem Tod gegenüber im wesentlichen drei Deutungen, die sie in ihrer letzten Unsicherheit dem Todesgeschehen geben.
1. Zunächst versuchen sich viele Menschen einzureden: der Tod ist ein Stück Natur. Er gehört mit zum Rhythmus des Kommens und Gehens, in das wir Menschen eingebettet sind. Wer mit dieser Botschaft zu den Eltern hingeht, deren Sohn aus dem Vollbesitz seiner jugendlichen Kraft und der Rennbahn seines vorwärtsstrebenden Lebens jäh herausgerissen wurde, um mit seinem hellroten Blut irgendwo im fremden Land während des Zweiten Weltkrieges die Erde zu tränken, der wird insgeheim das hohle Pathos und die Brüchigkeit
seiner Theorie empfinden. Diese Botschaft gibt weder einem selbst noch den Eltern in ihrem schweren Leid echten Trost. Denn diese Eltern oder Witwen oder Waisen wissen es besser: der Tod ist Unnatur.
Vielleicht stehen viele von uns selbst am Hügel eines Grabes, das einen lieben Menschen birgt. Vielleicht schauen wir auf ein trauerumflortes Bild, das bei uns in der Wohnung hängt oder steht. Seien wir ehrlich: verlangt da unser Herz nicht nach einer anderen Antwort als der, der Tod sei bloß ein Stück Natur?
Auch poetische Verklärungen helfen uns nicht im letzten. Poetisch verklärt und damit verweichlicht wird der erbarmungslose Knochenmann, wenn ihn der Dichter Rainer Maria Rilke naiv als den „traulichen Einfall der Erde" deutet.
Nein, das ist er nicht. Wenn der rücksichtslose Gebieter nur ein Stück Natur und der „trauliche Einfall der Erde" wäre, warum dann die Angst vor den knochigen Armen des kalten Todes nicht nur beim Menschen, sondern auch bei den Tieren? Wer es nicht glaubt, möge einmal in den Schlachthof einer Stadt hineingehen und zusehen.
Wer antwortet: die gesamte Kreatur hängt eben am Leben, darum die Todesangst - fordert ja geradezu die Frage heraus: aber warum hängen wir denn am Leben? Doch darum, weil wir im Tiefsten spüren: Tod ist Unnatur. Ich will Ewigkeit, „tiefe Ewigkeit" (Nietzsche). Darum das Aufbäumen und die Angst. Gewiß, der Tod ist „Natur" und doch zugleich Widerspruch zu unserem Wesen, das nach Vollendung verlangt.
2. Man kann sich auch die Antwort geben: Einmal kommen wir alle an die Reihe.
Das stimmt zwar. Aber das Kollektiv „wir alle" ändert nichts an der Tatsache, daß ich selbst höchstpersönlich einmal durch die enge Sperre muß. Sie und ich ganz allein werden ins dunkle Grab gelegt. Auf ihren und meinen Sarg fallen dann die Erdwürfe, deren dumpfer Ton uns so merkmürdig durchs Herz geht. Alle anderen gehen vom Friedhof nach Hause. Sie und ich bleiben allein zurück. Nein, das Leben ist nicht übertragbar. Jeder stirbt ganz allein. Was dann?
3. Nun: mit dem Tod ist alles aus.
Wirklich? Ich bin fest davon überzeugt: das glauben die, die es sagen, selber nicht. In guten, sorglosen Tagen mag man sich das vielleicht einreden, aber lassen wir uns von einem Medizinprofessor belehren, der an sehr vielen Sterbebetten stand: „Ich habe noch keinen sterben sehen, selbst keinen