Überraschung im Morgengrauen
Patricia St.John
Taschenbuch, 112 Seiten
Artikel-Nr.: 255560
ISBN / EAN: 978-3-89397-560-0
Dieses Buch enthält drei Geschichten von Patricia St. John, deren Bücher auf der ganzen Welt bekannt geworden sind. Die Geschichten spielen in Marokko, dem Land, in dem die Autorin 27 Jahre als Missionarin und Krankenschwester lebte, und dessen Menschen sie kennen und lieben lernte. Überraschung im Morgengrauen: Yacoots, eine alte, einsame Frau, kann sich nur noch mühsam selbst versorgen.
Die ganze Woche freut sie sich auf Freitag,wenn ihre Enkelin sie besucht und ihr aus der Bibel
vorliest. Aber noch jemand überrascht sie früh am ...
Patricia St. John Überraschung im Morgengrauen und andere Geschichten Christliche Literatur-Verbreitung Bielefeld Verlag Bibellesebund Marienheide / Winterthur 8. Aufl age 2008
Titel der englischen Originalausgabe: »The Four Candles«
erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London
© 1956 by Patricia St. John
Deutsch von lngeburg Bedke (»Überraschung im Morgengrauen« und »Der Umhang«) und Elisabeth I. Aebi (»Die vier Kerzen«) Illustrationen von Justo G. Pulido,
© der deutschsprachigen Ausgabe: 1978 by Verlag Bibellesebund, Marienheide
Umschlag: Georg Design, Münster Satz: CLV
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-87982-023-8 (BLB)
ISBN 978-3-89397-560-0 (CLV)
Inhalt
Überraschung im Morgengrauen 7
Der Umhang 35
Die vier Kerzen 75
Überraschung im Morgengrauen
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Der Besuch
R uckartig erwachte die alte Frau aus ihrem Schlaf. Schon schien die Frühlingssonne durch die Risse in der Wand. Die Hühner draußen machten einen fürchterlichen Spektakel. Es war bereits heller Tag und sie hatt e verschlafen. Dies war besonders schade, weil heute Freitag war, Yacoots’ allwöchentlicher großer Tag, und es gab noch viele Vorbereitungen zu treff en. Sie erhob sich so schnell, wie ihr Rheuma es erlaubte. In den nächsten paar Stunden wartete noch eine Menge Arbeit auf sie: Brot kneten, Wasser von der Quelle holen, Feuer machen und das Zimmer fegen. Aber bei dem Lärm der Hühner konnte man ja nicht einmal nachdenken. Irgendetwas musste mit ihnen los sein. Sie humpelte zur Tür. Als sie sie öff nete, schlug ihr ein kalter Luft zug entgegen, sodass sie einen Moment lang die Augen schloss, während ihr die Hühner gackernd entgegenrannten. Als sie die Augen wieder aufmachte, war es schon zu spät. Eine kleine, zerlumpte Gestalt eilte barfuß den Hügel hinauf, und ein Blick ins Hühnerhaus verriet ihr, dass die Nester leer waren.
Das war ihr nun schon zum zweiten Mal passiert. Ihre Hilfl osigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, wer der kleine Dieb war; aber es musste etwas geschehen, und zwar bald, denn vom Verkauf der Eier lebte sie. Sie schafft e es damit gerade noch bis zum Markt, obgleich ihr der Rückweg bergauf einige Mühe bereitete. 10
Manchmal fragte sie sich, wie lange das wohl noch so weiterging. Sie brauchte dringend Hilfe, aber niemand kümmerte sich um sie. Ihre einzige Tochter war mit einem wohlhabenden Geschäft sinhaber verheiratet, der sich seiner schäbigen alten Schwiegermutt er zutiefst schämte. Dennoch gab er ihr hin und wieder etwas Geld.
Verdrießlich vor sich hin schimpfend schwang sie ihren Wasserträger über die Schulter. Auf dem Weg zur Quelle wurde es jetzt langsam wärmer. Sie wandte ihr zerfurchtes altes Gesicht der Sonne zu und fühlte augenblicklich allen Ärger von sich abfallen.
Die ersten Mandelblüten hoben sich wie rosa Wolken von dem silbernen Laub der Olivenbäume und den grauweißen Zweigen der Feigenbäume ab. Der Bach sprudelte und glänzte, und in einem Büschel Gras am Rand der Quelle öff neten sich die ersten Narzissen. Yacoots nahm ihren Duft schon wahr, bevor sie sie sah: Das war der Frühling. Sie hatt e sich immer an allem Schönen erfreuen können, und obgleich sie alt war, wurde ihr dadurch leicht ums Herz. Sie vergaß den Dieb und dachte nur noch daran, dass in zwei Stunden Nadia kommen würde, und dann würde sie die Worte des Buches hören, das Wort Gott es.
Die Eimer waren schwer und sie war müde, als sie zurückkam. Aber sie konnte sich jetzt nicht ausruhen, denn alles musste rechtzeitig fertig werden. Sie setzte den Kessel auf das Holzkohlebecken und trug es nach draußen, damit der leichte Frühlingswind die Glut anfachte.
Währenddessen knetete sie den Brott eig. Dann putzte sie den Fußboden, schütt elte die Binsenmatt e aus, fütt erte die Hühner und polierte ihr kostbares Bronzetablett . Sie wollte nicht eher essen oder trinken, bis Nadia kam, denn zweimal zu frühstücken konnte sie sich nicht leisten. Aber die Freude gab ihr Kraft und sie arbeitete schnell, denn die Arbeit am Freitag war keine gewöhnliche Arbeit. An anderen Tagen war sie eine einfache alte Frau, die sich mit ihrer Hausarbeit abmühte. Aber freitags war sie eine Gastgeberin, die ein Festmahl vorbereitete.
Das Wasser begann zu kochen und der Teig in der schweren Bratpfanne war sorgsam gewendet worden. Das Zimmer war erfüllt von dem Duft nach Mais und warmem Brot. Sie schob ihren niedrigen runden Tisch ins 12
Sonnenlicht am Eingang und stellte Kaff eetopf und Gläser darauf. Dann zog sie die Kiste unter ihrem Bett hervor und nahm das Buch heraus. Ihre Finger berührten es ehrfurchtsvoll und mit Zitt ern. Es war ein schäbiges, abgegriff enes kleines Buch mit einem ausgebleichten Pappdeckel; sie besaß es schon seit fünfzehn Jahren.
Sie stammte nicht aus den Bergen, sondern war am Mitt elmeer aufgewachsen. Dort hatt e sie auch als verheiratete Frau gelebt und eine Tochter mit Namen Anisa zur Welt gebracht. Aber ihr Mann hatt e sie verlassen, als das Kind noch klein war. Deshalb hatt e sie für eine Spanierin ge arbeitet, von der sie sehr gut behandelt wurde. Keine hatt e die Sprache der anderen verstanden, abgesehen von einigen Alltagsbegriff en, und sie konnten sich kaum unterhalten. Aber die Freundlichkeit und Güte der Señora waren beispiellos gewesen. Sie schienen ihren Ursprung in Gott zu haben und kamen aus dem schwarzen Buch, aus dem die Frau ihren Kindern jeden Abend vor dem Zubett gehen vorlas. Manchmal versuchte sie, Yacoots davon zu erzählen, aber diese verstand nie sehr viel. Sie wusste nur, dass es eine Quelle der Liebe war, und wenn sie im Zimmer Staub wischte und niemand zusah, wagte sie ihre Hand auf das schwarze Buch zu legen und es zu küssen.
Dank des Mannes der Señora konnte Anisa die Schule besuchen. Mit fünfzehn Jahren hatt e sie dann einen Kaufmann geheiratet, war in die Berge gezogen und hatte mehrere Söhne zur Welt gebracht. Yacoots war in der Stadt geblieben, bis ihre geliebte Señora ihr eines Tages mitgeteilt hatt e, dass sie nach Spanien zurückkehren würden und Yacoots sich nach einer anderen Arbeitsstelle umsehen müsse.
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Das war einer der traurigsten Augenblicke ihres nicht leichten Lebens gewesen. Sie liebte die Kinder der Señora wie ihre eigenen, und als sie Abschied nehmen musste, war sie vor Traurigkeit wie benommen, sodass sie die herrlichen Geschenke kaum wahrnahm, die sie bekam. Kurz vor ihrer Abreise nahm ihre Herrin sie beiseite und gab ihr ein kleines Buch, nicht in Spanisch, sondern in Yacoots’ eigener Sprache. »In diesem Teil des Buches lesen wir jeden Tag«, hatt e sie erklärt. »Er spricht von Jesus und dem Weg zu Gott . Bewahre es sorgfältig auf, und wenn deine Enkelkinder größer geworden sind, bitt e sie, dir daraus vorzulesen. Es ist Gott es Wort.«
Noch am gleichen Nachmitt ag war die Familie abgereist. Sie hatt e sie zum Hafen begleitet und ihnen zum Abschied gewinkt, während die Tränen über ihr Gesicht liefen. Dann war sie nach Hause gegangen, hatt e ihre Kiste gepackt, das Buch – in ein Taschentuch gewickelt – ganz nach unten gelegt und war zu ihrer Tochter in die Berge gezogen.
Aber das Haus war eng, die Jungen rau und laut, und ihr Schwiegersohn wollte sie nicht haben. Bald war es klar, dass für sie kein Platz war. Da ihr die Señora etwas Geld geschenkt hatt e, kauft e sie die kleine Hütt e und das Stück Land. Hier wohnte sie nun seit fünfzehn Jahren mit ihren Hühnern und pfl anzte Gemüse an. Das große Ereignis ihres Lebens war vor zwölf Jahren Nadias Geburt gewesen.
Bis vor Kurzem hatt e sie niemandem ihr Buch gezeigt. Sie selbst konnte natürlich kein Wort lesen. Ihr Schwiegersohn war ein strenggläubiger Moslem und hätt e sie der Gott eslästerung beschuldigt, und Anisa und die Jun-
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gen hätt en, obschon sie sie gernhatt en, über die Idee einer alten Frau, ihr etwas vorzulesen, gelacht. Aber seit jenem großen Tag, als ihr Schwiegersohn mit der Nachricht durch den Olivenhain gerannt kam: »Komm schnell, Anisa hat ein Mädchen geboren«, wusste sie, dass es anders werden würde. Und als sie sich über die Wiege beugte und tief in die klugen dunklen Augen des kleinen Mädchens sah, bekam sie in ihrem Herzen die Gewissheit, dass sie und ihre Enkelin eines Tages das Buch zusammen lesen würden; dann würde sie die Stimme Gott es hören können.
Sie hatt e geduldig gewartet, nie gedrängt, und das Kind hatt e sie von Anfang an gerngehabt. Wenn Nadia krank oder traurig war, hatt e sie nach ihrer Großmutter gerufen. Und ihre Mutt er, die im Haus und mit ihren Söhnen beschäft igt war, rief die Großmutt er und war froh, jemanden zu haben, der ihrer recht zarten kleinen Tochter seine ganze Aufmerksamkeit schenken konnte.
In den ersten sechs Jahren war Yacoots die Kinderfrau des kleinen Mädchens und hatt e deswegen sogar ihre Hühner verkauft . Dann kam Nadia in die Schule. Yacoots kehrte heim und nahm ihr altes Leben wieder auf, nur mit einem Unterschied: Am Sonntag ging sie jeweils zu ihrer Tochter, und freitags kam Nadia sie immer besuchen.
Nadia brachte jede Woche ihre Schulbücher mit zur Großmutt er, um ihr ihre Fortschritt e vorzuführen. Mit zwölf Jahren konnte sie zwei Sprachen fl ießend lesen. Und eines Tages, vor etwa fünf Monaten, hatt e Yacoots mit klopfendem Herzen und zitt ernden Händen das Buch hervorgeholt und dem Mädchen von der Señora und ihrem Geschenk erzählt.
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»Es handelt von Gott und von Liebe«, hatt e sie recht allgemein erklärt. »Fünfzehn Jahre habe ich es in meiner Kiste versteckt, weil ich nicht lesen kann.«
Und Nadia, die außer ihren Schulbüchern keine anderen besaß, war begeistert. Sie setzte sich augenblicklich auf den Boden, um es durchzublätt ern. Zuerst musste sie lachen, weil sie auf eine ganze Liste mit Namen stieß, aber dann wurde sie plötzlich von einer Geschichte gepackt. Und Yacoots, die ihre Enkelin aufmerksam beobachtete, konnte das Bild nie wieder vergessen. Nadia saß im Eingang, umspielt von der matt en Wintersonne, während die Pappeln an der Quelle den goldenen Hintergrund zu ihrem ernsten jungen Gesicht bildeten. Schließlich blickte sie auf, und ihre dunklen Augen leuchteten.
»Es ist ein gutes Buch, Großmutt er«, sagte sie. »Ich werde dir jede Woche ein Kapitel daraus vorlesen.« Geduldig hatt e sie sich durch die Namensliste gearbeitet und erleichtert mit den eindrücklichen Worten der Erzählung begonnen. Und nachdem sie ihre Großmutt er geküsst hatt e und fortgegangen war, hatt e Yacoots lange dagesessen und in die untergehende Sonne und in den Nebel geblickt. Sie wiederholte die Worte, die fest in ihrer Erinnerung haft en geblieben waren: »Er soll Jesus heißen, denn er wird sein Volk rett en von seinen Sünden.« Und von dem Tag an war Jesus eine Person geworden, ein Freund, der ihre einsame kleine Hütt e mit ihr teilte. Sie wusste nicht, wer er war, auch nicht, dass er gestorben und auferstanden war. Aber etwas sagte ihr, dass er eine lebendige, gegenwärtige Tatsache war, der Leitstern ihres Lebens. Und jeden Freitag sprach er wieder zu ihr