Fortsetzung von WALDSTILLE UND WELTLEID
Wir begegnen Varrnbek wieder, Maria und Agnes, der inzwischen erwachsen gewordenen Tochter Reggfields. Wir erleben, was die Gnade Gottes aus Menschen in schwierigen Situationen macht und wie sie die Menschen überwindet. Wer den ersten Band gelesen hat, wird auch auf diese ebenso spannend wie einfühlsam erzählte Geschichte nicht verzichten wollen.
»Ja, die Jahre eilen. Überall neue Häuser und fremde Gesichter. Sogar Vater Krügers gemütliche Weinstube ist verschwunden und hat einem Warenhaus Platz machen müssen. Könnte man doch wenigstens hier wandeln ohne die Begleitung der alten Dame Erinnerung! So aber - der wahrhaftige Ekkehard, der aus dem Venusberg zurückkehrt. Doch nein, was sind das wieder für Gedanken. Ich habe mich in meinem Leben nicht viel um die Frau Venus gekümmert, und auch geschlafen habe ich nicht. Ja - aber - ein seltsames Gefühl bleibt eben zurück.«
Es war ein Mann ausgangs der Vierzig, der dieses Selbstgespräch führte, während er langsam durch die Straßen der Provinzhauptstadt wanderte. Seine gut gearbeitete Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten und die ganze Haltung verrieten dem Kenner auf den ersten Blick, wen er vor sich hatte. Auch sah man an den klugen Augen und dem beredten Minenspiel des hübschen Gesichtes, daß waches Träumen im allgemeinen nicht sein Fall war. Aber heute hatte ihm die alte Dame Erinnerung mit ihren in Duft zerfließenden Schleppgewändern unsichtbare Fesseln angelegt.
Die Dämmerung eines milden Herbstabends legte sich schmeichelnd über die regsame Stadt. Würze und Frische waren ihre Begleiterinnen, die manche Menschenbrust sich weiten ließen in wohligem Behagen. Es duftete nach edlem Obst und späten Blumen, die die sonnenmüde Erde sich ins Haar flocht, ehe sie sich zum Winterschlaf bereitete. Was machte es, ob diese Dinge nun in Kellern eingelagert oder in Läden ausgestellt waren, es blieb der Eindruck des Geschmücktwerdens und des Geborgenseins vor kommender dürftiger Zeit.
»So, hier herum«, fuhr der Traumwandler in seinem Selbstgespräch fort. »Richtig, da stehen sie noch ausgerichtet, die vier Reihen Bäume, ganz wie einst, nur etwas zerzauster und staubiger. Jetzt interessiert mich nur noch, was aus dem Haus geworden sein mag.« Er stand vor einem stattlichen Gebäude und ließ den Blick über die Fensterreihen des ersten Stocks schweifen. Jetzt schüttelte er den Kopf. »Ja, daß ein neuer Mieter Besitz von der Wohnung ergriffen hat, das sieht man allerdings. Es ist alles viel modischer und vielleicht - damenhafter. Ich frage den Kuckuck nach solchem Firlefanz. Trotzdem, ich wäre nur zu gern hier eingezogen, gerade hier. Man sagte mir doch, die Wohnung wäre noch frei! Wer mag mir wohl hier den Rang abgelaufen haben? Irgendeine >vornehme Dame<, wahrscheinlich eine alte Schachtel, die aus wer weiß welch vornehmen Gründen gerade diese Wohnung haben wollte.« Dabei suchte er vergebens nach den blanken Schildern, die sonst die Namen der Bewohner anzuzeigen pflegten.
Da hörte er hinter sich ein paar Worte sprechen, die ihn sofort in die Gegenwart zurückriefen. »Neuer Chef - schon angekommen -.« Zwei junge Referendare kamen daher, angetan mit dem ganzen Nimbus, der jenen Berliner Jungen zu dem bekannten Gruß hinriss: »Na, Sie Endeken von preu'sche Referendar?!« Die jungen Herren gingen gewichtig nebeneinander vorbei und drehten lässig an dem kaum sichtbaren Schnurrbart. »Ja«, war die Antwort, »ich bin genau informiert. Heute nachmittag ist er angekommen und zunächst im >Savoy< abgestiegen. 's scheint mit der Wohnung nicht recht zu klappen. Unter uns gesagt, ich fürchte - wird 'n bisschen ungemütlich jetzt werden.« »Wieso denn?«
Der Fremde, der vor dem Hause gestanden hatte, wandte sich um und folgte den beiden langsam nach. »Na«, war die Antwort, »er soll kolossal schneidig sein, hörte es von einem Vetter, der unter ihm gearbeitet hat.« »Eh -«, sagte das andere >Endeken< mit der Würde eines Großmoguls, »Schneidigkeit ist kein Fehler, mein Bester.« »Hm, ja, aber so'n schneidiger Betrieb - ich weiß nicht recht, er soll nicht viel Federlesens mit seinen Beamten machen, und besonders den jungen Referendaren, denen soll er mächtig auf die Finger gucken.« »Was Sie nicht sagen!« »Und was das Spielen angeht«, fuhr der erste unbeirrt fort, »da soll er keinen Spaß verstehen.«
»Das stimmt, mein Söhnchen«, murmelte der Fremde. »Erst nimmt er sich solch armen Sünder unter vier Augen vor, einmal, auch zweimal, und wenn das nichts hilft, schreibt er an den betreffenden alten Herrn.« »Na, hören Sie!« fuhr der andere auf, dem es anscheinend schon ungemütlich wurde. »Aufs Wort, so wurde es mir erzählt. Und einmal soll es sogar vorgekommen sein - aber das klingt fast unglaublich.« »Was denn?« Ein ihnen entgegenkommender Bekannter vereitelte die Antwort. Es erfolgte eine kurze Begrüßung. »'n Abend, meine Herren, 'n Abend!« »'n Abend!« »Gehen Sie auch heute abend ins Konzert?«
Diesen Augenblick benutzte der Fremde, um an der Gruppe vorbeizukommen. Im Vorübergehen musterte er die beiden Referendare ziemlich genau, und dabei zuckte es ihm verräterisch um den Mund. »Wer war denn das?« Der Neuangekommene klemmte das Monokel ein und blinzelte dem Fremden nach. Dann neigte er sich herüber und flüsterte etwas hinter der vorgehaltenen Hand, und das hatte zur Wirkung, dass die beiden Freunde wie elektrisiert zum Hut griffen. Sie waren beide etwas blass geworden.
Der Davonschreitende sah das nicht mehr. Er ging jetzt mit raschen Schritten die Promenade entlang, bog um eine Ecke und erreichte kurz darauf das »Savoy«. Hier wurden schon die ersten Glühlampen angezündet, und das bereits für gewöhnlich etwas unruhige Leben, das in gut besuchten Hotels zu herrschen pflegt, schien heute noch um einige Grade bewegter. In der glänzenden Vorhalle stand der Besitzer in höchsteigener Person und erteilte nach rechts und links seine Befehle. Als jetzt der Fremde eintrat, verneigte er sich zu einem stummen Gruß.
»Sagen Sie mal«, fragte der eben Angekommene, »was ist denn heute bei Ihnen los? Dieses dauernde Hin und Her - es liegt etwas Besonderes in der Luft. Sie wollen mir doch nicht etwa einen nachträglichen Empfang bereiten?« »Das nicht, Herr Oberpräsident«, war die lächelnde Antwort. »Etwas Festliches allerdings. Ein Konzert einer bekannten Künstlerin. Herr Oberpräsident müssen nämlich wissen, ich habe den schönsten Saal in der Stadt.« »Ist mir bekannt. Also ein Konzert. Sehr angenehm für meine Nachtruhe. «
Der Hotelier räusperte sich. »Vielleicht wäre es vorzuziehen, das Konzert zu besuchen. Es findet zum Besten der Opfer der kürzlichen Überschwemmungskatastrophe statt, und alles, was Rang und Namen hat, wird wahrscheinlich erscheinen.« »Schön, schön, aber an mich sind solche Genüsse verschwendet. Ich bin ein schauderhaft unmusikalischer Mensch. Das einzige, was ich allenfalls verstehe, ist eine kräftige Tschingderassabum. So mit Pauken und Trompeten.«