April 1880
Zum achten Mal an diesem Tag fuhr Anna liebevoll über die goldgeprägten Buchstaben auf dem Ledereinband: SERGEI VIKTOROWITSCH FEDORTSCHENKO Immer wieder las sie die Worte, die er erst vor wenigen Stunden für sie auf die erste Seite seines Buchs geschrieben hatte. Endlich war sie nach den nicht enden wollenden Empfängen am Nachmittag allein in ihrem Zimmer. Sie starrte auf den Titel des Romans, den Namen des Autors und die Widmung, die auf der ersten Seite stand. Jedesmal, wenn sie versuchte, das kostbare Buch zu lesen, verschwamm die Geschichte des fiktiven Bagraew vor der erregenden Wirklichkeit der auf der ersten Seite geschriebenen Worte. Für meine Anna Jewnowna, stand da in der vertrauten Handschrift, in tiefer Liebe und Zuneigung und mit der festen Hoffung auf eine gemeinsame Zukunft. „Meine Anna", flüsterte sie. „Meine Anna!" Langsam schloss sie das Buch und drückte es an ihre Brust. Zärtlich strich sie über das weiche Leder des Einbandes. Dieses Buch würde zu ihren kostbarsten Besitztümern gehören, zusammen mit der Bibel und dem goldenen Kreuz ihres Vaters. Niemals würde sie sich davon trennen. Selbst in vierzig Jahren sollte es noch immer ihr kostbarster Besitz sein, auch wenn es bis dahin alt und zerlesen war! Sie würde es ihren Kindern zeigen und ihnen erzählen, daß dies das erste der vielen Bücher ihres Vaters war, und zwar ein ganz besonderes. Obwohl sein Name nun in ganz Rußland, ja in ganz Europa bekannt sei, sei dieses Buch, das nun alt und zerlesen im Schrank stünde, das erste, das von ihm in St. Petersburg erschienen war. Und er hatte es ihr - Anna Jewnowna, einer einfachen Zofe - geschenkt! Wieder öffnete Anna das Buch, und wieder begann sie, die Geschichte zu lesen, die aus Sergeis Feder geflossen war.
Aus dem Adel kam ein junger, russischer Mann, voll von jugendlichem Optimismus. In seiner Brust schlug ein Herz voll Liebe zu seinem Vaterland und voller Engagement für alle Überzeugungen, für die er einstand. Als er fortging, war er fast noch ein Junge mit hohen Idealen. Bei seiner Rückkehr würde er ein Mann sein, der alle seine Hoffrnmg verloren hatte. Er hieß Bagraew. Dies ist seine Lebensgeschichte. Er verließ sein geliebtes St. Petersburg im... Anna konnte nicht weiterlesen. Wieder blätterte sie zur ersten Seite zurück und blickte auf die Worte. Sie würde Sergeis Buch lesen. Sie würde es sogar zweimal lesen ... dreimal! Aber heute abend war sie zu müde, und sie wollte sich nur an ihrem Namen auf der ersten Seite erfreuen. Für meine Anna Jernowna. Die zweite Hälfte des Jahres 1880 brachte Rußland einige willkommene Monate des Friedens. Die Kampfgebiete im Ausland waren, wenn auch nicht ruhig, so doch wenigstens nicht so unruhig, daß das Kampfgeschrei bis in den hohen Norden nach St. Petersburg drang. An den Grenzen des riesigen Weltreiches gab es vereinzelt immer wieder Kämpfe, besonders in den Gebieten südöstlich des Schwarzen Meeres. Doch nach dem Ende des Balkankrieges schenkten die meisten Bürger diesen vereinzelten Kämpfen nur wenig Beachtung.
In St. Petersburg hatte das Bombenattentat auf den Winterpalast im Februar eine Regierungskrise ausgelöst; so war letztendlich doch Gutes daraus entstanden. Dieser Anschlag auf sein Leben, der beinahe gelungen wäre, brachte Alexander, den Zaren von Rußland, endlich dazu, auf die Stimmen zu hören, die Mäßigung und Veränderung forderten. Der Zar hatte General Michael Loris-Melikow in die Hauptstadt beordert, ihm eine umfassende Vollmacht erteilt und ihn zum Leiter der neugegründeten Obersten Exekutiv- Kommission gemacht. Darin hatte er eine gründliche Überprüfung auch der ausgefallensCenVorschläge Melikows-nach denen dem russischen Volk eine Verfassung gegeben und die Regierung in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt werden sollte - angeordnet.
Nicht alle Ratgeber Alexanders waren erfreut über diese Wende, obwohl die vorsichtigen und gemäßigten am Hofe im allgemeinen optimistisch waren, Melikow als einen vernünftigen Mann akzeptierten und seine Pläne für durchführbar hielten. In den Augen der Monarchisten und Konservativen jedoch, und besonders nach Meinung des Zarcwitsch, war Melikows Politik zum Scheitern verurteilt. Man konnte nicht leugnen, daß Melikow die Aufmerksamkeit und Sympathie des Zaren besaß - zumindest für den Augenblick. Doch Alexander änderte zu leicht seine Meinung, und das war eine der Hauptursachen für die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Landes. Seine Ratgeber mußten für sich abwägen, wem ihre persönliche Unterstützung galt.
Es konnte auch nicht geleugnet werden, daß unter der Führung Melikows die aufständischen Aktivitäten im ganzen Land fürs erste zum Stillstand gekommen waren. Seine Erfolge bei der Festnahme und Bestrafung derTerroristen hatte die Bewegung in den Untergrund getrieben, so daß die Straßen in St. Petersburg wieder sicher waren. Wie lange dieser Friede allerdings dauern würde ... man konnte nur hoffen. In diesem Land war es unklug, irgendwelche Prognosen zu wagen. Und es war weise, keine politischen Ratschläge von sich zu geben.
Ob der Zar auch weiterhin eine grundlegende Reform des politischen Systems befürworten würde, war fraglich. In der Zwischenzeit sahen alle Aristokraten und Adeligen, alle kaiserlichen Minister und Ratgeber mit bangem Herzen in die Zukunft. Rußland bewegte sich auf eine Veränderung zu, soviel stand fest. Welcher Art dieseVeränderung sein würde, war ungewiß.
Band 1 Anna und Katrina
Band 2 Unruhe der Herzen
Band 3 Triumph der Hoffnung
Band 4 Katrinas Vermächtnis
Band 5 Traum der Freiheit
Band 6 Morgenrot über Sankt Petersburg
Band 7 Das Licht des neuen Tages