Zollfreies
Jedesmal begleiten uns hundert Wünsche für eine„ glückliche Reise", wenn wir in den Urlaub fahren. Sie erfüllen sich immer wieder in des Wortes tiefster Bedeutung. Auf Reisen sind wir frei und unbeschwert, haben den lieben langen Tag Zeit füreinander, Zeit aber auch, ein uns noch unbekanntes, lockendes Stück Gottes schöner Welt zu erkunden. Jeder Morgen verspricht neue Eindrücke, fröhliche Begegnungen, vielleicht auch Abenteuer, und am Abend überdenkt man beglückt und dankbar die kostbare Beute der Fülle von Begebenheiten - schon wieder gespannt auf den nächsten Tag.
Reich an vielen unvergeßlichen Erlebnissen kehren wir dann ins Heimatland zurück, diesmal aus Leningrad, der Stadt der Weißen Nächte.
Wir sind fünf Minuten nach halb zwölf mit einer IL-18 aufgestiegen und landen pünktlich fünf Minuten vor halb zwölf. Die Differenz zwischen der Moskauer und der Mitteleuropäischen Zeit verlängert uns den Rückreisetag um zwei Stunden.
Unsere Pässe werden eingesehen, die Wiedereinreise registriert - jetzt nur noch die Zollkontrolle. Unser Koffer läßt auf sich warten, ehe er auf dem Fließband angezokkelt kommt. So ist der Schwarm der Fluggäste inzwischen abgefertigt, und wir gehen als letzte durchs Ziel.
Ich habe gerade noch einmal den Bahnfahrplan studiert und nach einem Blick auf die Uhr festgestellt, daß wir den nächsten Zuganschlu5 nicht mehr erreichen. Hätte ich mir statt dessen lieber die Gesichter der Zöllner aufmerksam angesehen! Andr6 wird nämlich von einer Frau in der
5 blaugrauen Uniform herzlich begrüßt, und mir haut sie
nun ganz undienstlich die Hand auf die Schulter. Das ist Dörte, ehemals meine Nachbarin auf der Schulbank, und trotz ihrer vierzig Jahre noch so burschikos wie damals. „Mädchen, das habe ich mir gewünscht", lacht sie, „du solltest mir einmal in die Hände fallen, damit ich dich gründlich unter die Lupe nehmen könnte - wegen Schmuggel und anderer solcher Scherze! Wenn du diese Geheimnisse in deinen Büchern ausplauderst, darfst du nicht mehr erwarten, ungeschoren davonzukommen!"
„Sei nicht gar zu streng, Dörte!" tue ich zerknirscht: Andr spielt sofort mit: „Hätten wir gewußt, da du jetzt hier Dienst tust, wären wir anderswo eingereist."
„Ihr wißt also, da ihr keine Schonung zu erwarten habt. Heute werden wir das Unsichtbare in eurem Gepäck ausfindig machen! Heraus mit den ‚Souvenirs': Ich möchte hören, was ihr diesmal erlebt habt!"
So kommt es, daß wir in Dörtes Mittagspause im Flughafenrestaurant sitzen und ihr ein wenig von dem erzählen, was die vergangenen Tage für uns bereithatten. Die Erinnerungen werden wieder Gegenwart. -
Leningrad ist eine zauberhafte Stadt, eine der anziehendsten, die wir je kennenlernten. Ihre Schönheit, ihre reichen Kulturschätze sind oft genug geschildert worden, und ihre bewegte Geschichte ist jedermann bekannt. So markieren wir hier nur ihre Silhouette: mit einem dicken Goldtupfen die mächtige Kuppel der Isaakkathedrale, dazu mit ein paar schmalen die spitzen Türme der Peter Paul-Festung und der Admiralität. Etwas Türkis brauchen wir für die Andeutung der Ermitage und Dunkelbau, um die Newa mit ihren vielen Armen und Kanälen zu malen, in deren einem - gerade vor unserem Hotel - sich die weihe AURORA wiegt und spiegelt.
In diesem Venedig des Nordens wartet schon am zweiten Tage unseres Aufenthaltes eine ganz unvorhergesehene Programmbereicherung auf uns. Klingelt doch, als wir uns nach einer ausgedehnten Rundfahrt gerade wohlig in unseren Betten ausgestreckt haben, das Telefon. Andr kann den Hörer im Liegen mit einem Griff erreichen. Er nimmt ihn ab und nennt unsere Zimmernummer: neun - vier - fünf.
Am anderen Ende meldet sich eine wohlklingende Männerstimme in akzentuiertem Deutsch. „Hier spricht Jun. und Lena ist mit mir. Guten Tag, Freunde! Wir freuen sehr, ihr habt gekommen und wir euch finden. Wo treffen wir heute abend? Im Restaurant, Erdgeschoß, ja?"
Andr8 sieht fragend zu mir herüber. Ich habe alles mitgehört, doch deuten kann ich den Anruf auch nicht. So fragt mein Geführte seinen Gesprächspartner, w en er treffen möchte - er meine gewiß nicht uns, sondern jemand anderes.
„Oh, dort ist nicht Andr?M Juni ist hörbar enttäuscht. „Hotelauskunft sagt, Zimmer neun-vier-fünf wohnt Andr. Ist nicht richtig?"
Wir sind verblüfft. Was mag das für ein Juni sein, der uns mit Namen kennt? Wir sind auf unseren Reisen schon vielen netten Familien begegnet, mit denen wir dann und wann Grüße austauschten. Auf ein Ehepaar Juni und Lena kann ich mich jedoch nicht besinnen.
Was sollen wir tun? Am Telefon lassen sich die Zusammenhänge gewiß nicht klären. So bleibt uns vorerst nur, ja zu sagen - ja, wir sind in einer Viertelstunde im Restaurant.
Ein Erkennungszeichen möchten wir noch vereinbaren.
Welches am besten? Juni zögert einen Augenblick, er verständigt sich wohl erst mit seiner Frau. Dann sagt er fast
geheimnisvoll, als überreiche er schon das zarte Ange-