Tanja Riegel L, Schwert der Hoffnung

08/21/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Leseprobe

Kapitel 1

„Bist du dir sicher, dass das hier nicht gefährlich ist?“
Edward ignorierte Annas ängstliche Stimme, die dumpf durch die Luke über seinem Kopf drang.
Langsam ließ er sich am Seil in die Dunkelheit gleiten. Beim Räumen des alten Schuppens hatten sie die Öffnung im Boden unter einem Schrank entdeckt – kaum groß genug für einen Mann.
„Und wenn das ein Grab ist?“
Sie versuchte ihn offensichtlich aufzuhalten. Aber das würde sie nicht können. Nicht ihn.
Außerdem spielte es keine Rolle, ob er tot oder lebendig war. Wen kümmerte das schon? Er war so unbedeutend wie Millionen Menschen vor ihm.
Seine Turnschuhe berührten harten Lehmboden und moderiger, feuchter Geruch schlug ihm entgegen.

Er ließ das raue Seil los und kramte sein Handy aus der Tasche seiner Lieblingsjeans.
„Edward, hörst du mich?“
Annas furchtsame Stimme war extrem nervig.
„Das ist bestimmt kein Grab, bloß ein weiterer Stauraum oder ein alter Bunker“, erwiderte er etwas unwirsch.
Er ließ das Licht seines Samsungs durch das Gewölbe gleiten. Dicke Bollersteine ragten aus den Wänden, doch das spärliche Licht konnte den Raum nicht ganz ausleuchten.
Eine Maus huschte erschreckt von der plötzlichen Helligkeit hinter einen Stein.
„Was siehst du?“
„Nicht viel, einen leeren Raum“, gab er zurück und bewegte sich tiefer in die Höhle hinein, weg von dem lästigen Mädchen, der Tochter des Gärtners, die nichts mit einem der zierlichen französischen Supermodels gemein hatte, die er aus englischen Zeitschriften kannte – nicht, dass sie hässlich war. Sie war einfach gewöhnlich. Nichts als gewöhnlich.
Er hatte bestimmt nicht darum gebeten, mit ihr zusammen den Schuppen seiner Großeltern zu entrümpeln. Überhaupt wäre er jetzt nicht in diesem gottverlassenen Kaff namens Onet-le-Château, wenn alles richtig gelaufen wäre.
Ein unförmiger Gegenstand tauchte an der hinteren Wand im Lichtkegel auf. Edward trat näher.
Es war eine hölzerne Kiste mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen, wie man sie aus Piratenfilmen kannte.
„Sieht aus, als hätte der Alte hier einen Schatz versteckt“, rief er über die Schulter. Seine Stimme wurde von der Erde beinahe verschluckt, aber Anna schien ihn trotzdem gehört zu haben.
„Grandpère? Du machst Witze.“
Edward verdrehte die Augen. Die Kleine hatte einen Narren an dem Alten gefressen, als ob es ihr eigener Großvater wäre. Dabei war er nur der Arbeitgeber ihres Vaters.
Er legte das Handy auf den Boden und versuchte, den Deckel anzuheben. Aber er saß fest.
„Mist!“


„Brauchst du Hilfe?“
Hilfe? Nein danke. Schon gar nicht von der grauen Maus. Er hatte es schon mit ganz anderen Sachen aufgenommen, wie jeder aus seiner Londoner Gang hätte bestätigen können. Nicht dass sie davon wusste.
Mit ganzer Kraft stemmte er sich gegen den Deckel. Umsonst.
Plötzlich landete Anna mit einem dumpfen Geräusch hinter ihm auf dem Höhlenboden. Offenbar konnte sie es nicht unterlassen, ihn weiter zu belästigen. Erstaunlich, dass der Hasenfuß es gewagt hatte, ihm in die „gefährliche Mission“ zu folgen.
Edward wischte sich mit dem Unterarm über die nasse Stirn. Hier drinnen war es wenigstens angenehm kühl, im Gegensatz zur brütenden Sommerhitze draußen.
„Gibst du mir mal Licht? Ich will nicht hinfallen.“
Ohne sich umzudrehen, leuchtete er über die Schulter nach hinten.
Kurz darauf kniete sie neben ihm und fuhr andächtig mit der Hand über das Holz.
„Die muss unglaublich alt sein. Und sie ist nicht einmal verschlossen.“
„Du kriegst sie trotzdem nicht auf.“
Die Jahre hatten ihr Werk vollbracht. Wie bei seinen Gefühlen.
Sicher verwahrt. Unerreichbar.
„Das glaube ich nicht. Zusammen schaffen wir es.“
So einfach würde das bestimmt nicht klappen. Aber er hatte auch keine Lust mehr, weitere Schränke und Berge von kaputten Stühlen in den Entrümpelungscontainer vor dem Schuppen zu werfen. Ein Versuch konnte daher nicht schaden.
Er legte das Handy auf einen der Steine, die aus der Wand herausragten, und stemmte sich gemeinsam mit Anna gegen den Deckel.
Schweiß mischte sich mit dem erdigen Geruch, aber Edward nahm es kaum wahr, da sich der Deckel tatsächlich mit einem Stöhnen und Ächzen hob. Allerdings ganz langsam, als sei er sich nicht sicher, ob er sein Geheimnis preisgeben wollte.
Etwas Goldenes blitzte auf. Ein überreich mit Edelsteinen besetzter Dolch! Er lag zusammen mit einem Gegenstand, der mit Leder umwickelt war, und einem halb verrosteten Schwert auf einem Haufen vergilbter Klamotten.
Keine Truhe voller Gold, aber immerhin ein wertvoller Gegenstand.
Edward griff nach dem Messer, aber Annas Hand hielt ihn zurück.
„Ich denke nicht, dass wir diese Dinge anfassen sollten.“
Er verengte seine Augen und schüttelte ihre Hand ab.
„Ich habe die Kiste gefunden, somit gehört der Inhalt mir – oder doch zumindest meinem Alten.“
„Trotzdem …“
Oh Mann, war das unscheinbare Ding immer so ein Feigling und so überkorrekt? Genau deshalb wollte er die Dinge allein machen – damit ihm niemand dreinreden konnte.
Er ging nicht weiter auf sie ein, sondern nahm den Dolch in die Hand, der sich erstaunlich schwer anfühlte, und zog ihn aus der mit roten und grünen Edelsteinen besetzten Scheide. Die Klinge war ebenfalls aus Gold und nicht wirklich scharf. Ein symbolisches Messer? Er steckte es zurück in die Scheide und schob diese in seinen Gürtel. Auch wenn es als Waffe nicht viel taugte, war es zweifellos ein Hingucker, der eines Gangleaders würdig war. Aber es würde auch jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aufmerksamkeit, die er sich nicht leisten konnte. Was, wenn er dadurch wieder ins Visier der „Grauen Hoodies“ geriet?
Es war vielleicht besser, das Teil für eine hübsche Summe zu verkaufen.
Er legte es zurück in die Kiste.
„Persönliche Notizen Malta 1563.“
Er schielte zu Anna hinüber, die es nun auch gewagt hatte, sich zu bedienen, und aus dem Leder ein Buch ausgewickelt hatte.
Ihre wirren, braunen Haare verdeckten einen Teil ihres Gesichtes, als sie sich über das Fundstück beugte. Das uralte Pergament raschelte, als sie darin herumblätterte.
„Das neue Schwert, ein Rapier, ist von vorzüglicher Qualität. Ein Meisterstück von Raniero. Das war die 50 Scudos wert.“
Sie blickte auf und er konnte ihre Augen leuchten sehen. Sie spielte mit den Lederbändeln.
„Ein Tagebuch, das vor mehr als 450 Jahren geschrieben wurde! Ich habe noch nie ein derart altes Dokument in den Händen gehalten.“
Edward verzog spöttisch den Mund. Mit Büchern hatte er nichts am Hut.
„Ich ziehe das Schwert vor.“
„Das könnte einer deiner Vorfahren geschrieben haben!“ Anna schaute ihn vorwurfsvoll an.
„Und wer soll das bitte schön gewesen sein?“
Er hakte seine Daumen in den Schlaufen seiner Jeans ein und zog spöttisch eine Augenbraue nach oben.
Aber sie schien es nicht zu bemerken, sondern entzifferte weiter die Worte auf den vergilbten Seiten.
„Hier steht eine Widmung: Für meinen geliebten Bruder J. P. V. Vergiss mich nicht, G.“
„Ein geheimnisvoller Unbekannter, aber offensichtlich keiner aus der Linie der de la Martignières.“
„Ach komm schon, streng deine grauen Hirnzellen mal ein bisschen an. Es muss ja auch noch Menschen mit anderen Namen gegeben haben, die mit euch verwandt waren.“
„Ja bestimmt. Wie dieser Ritter ,Jean Was-auch-Immer‘, von dem Grandpère uns heute Abend mehr erzählen will.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dieser berühmte Mann sollte angeblich zu seinen Vorfahren zählen.
„Warum nicht? Das J würde jedenfalls schon mal stimmen. Ich wäre stolz, wenn ich eine so bekannte Persönlichkeit in meinem Stammbaum hätte.“
Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr.
„Tja, da sind wir eben verschieden. Ich lebe im Jetzt. Es kümmert mich nicht, ob irgendwann ein Ritter auf einer kleinen Insel gelebt hat. Solange er mir kein echtes Erbe hinterlassen hat, ist mir das egal.“
„Aber er war nicht nur ein Ritter, er war der Großmeister des Ritterordens der Johanniter!“
„Ganz toll, dieser Mönchsorden. Keuschheit, Armut und Gehorsam. Nein danke. Das mag ja gut für dich sein, aber ich kann mit dem religiösen Gequatsche nichts anfangen.“
Anna senkte verletzt den Blick. Aber das ließ ihn kalt. Warum sollten ihn ihre Emotionen kümmern? Schließlich nahm auch niemand auf seine Gefühle Rücksicht. Oder wie sollte er sich sonst den Umstand erklären, dass er einen Sommer lang bei den fast unbekannten Großeltern mitten im Nirgendwo für nichts schuften musste?
Anna wickelte sorgfältig das Leder wieder um das Buch.
„Ich werde es jedenfalls lesen, wenn Grandpère es mir erlaubt.“
„Verkriech du dich nur in Büchern. Echte Männer brauchen echte Schwerter!“
Edward nahm die Waffe in die Hand. Die Eisenringe um den Griff waren so gemacht, dass sie die Finger schützten. Sie war überraschend leicht. Die Klinge war schmaler als die der Schwerter, die er in Museen gesehen hatte. Nicht dass er da regelmäßiger Besucher gewesen wäre. Im Gegenteil.
„Und du meinst, du bist ein echter Mann?“, konterte sie.
Er fixierte sie mit diesem „Leg-dich-ja-nicht-mit-mir-an“-Blick, mit dem es ihm gewöhnlich gelang, jeden einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.
Doch diesmal überraschte ihn die graue Maus.
Ihre Augen blitzten und hielten seinem Blick furchtlos stand. Steckte in ihr etwa doch mehr, als er vermutet hatte?
„Ich bin jedenfalls zwanzig, was man von dir sicherlich nicht behaupten kann. Und schon allein dieser Umstand macht mich zu einem Mann.“
Er machte einen Ausfallschritt und richtete sein Schwert demonstrativ auf ihre Brust. Anna hob die Arme und wich zurück.
„Schon gut, krieg dich ein. Du bist ein paar Monate älter als ich. Aber ob dich das zu einem echten Mann macht, sei dahingestellt.“
Er grinste siegessicher, als er plötzlich eine brennende Hitze in seiner Handfläche spürte. Es fühlte sich an, als würde seine Hand von einem Blitz durchbohrt.
Instinktiv öffnete er die Finger und konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Scheppernd fiel das Schwert zu Boden.
„Was ist los?“
Was war das eben gewesen? Hatte er halluziniert? Ein Schwert, das seit Hunderten von Jahren in dieser kalten Höhle vor sich hinrostete, konnte nicht heiß sein. Edwards Blick glitt auf seine schmerzende Hand. Augenblicklich lief ihm ein kalter Schauer vom Nacken bis zu den Füßen, der aber nicht im Geringsten dazu beitrug, seine Handfläche zu kühlen. Er ballte sie zu einer Faust und atmete tief ein, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.
„Meine Hand … das Schwert … etwas war plötzlich total heiß“, brachte er schließlich hervor. Seine Stimme klang merkwürdig hohl.
Anna runzelte die Stirn. Sie hatte ihre Arme verschränkt und starrte ihn an.
„Ich hab doch gesagt, wir sollten nichts anfassen. Aber warm kann das Schwert unmöglich sein. Schließlich kann die Sonne es nicht aufgeheizt haben.“
Er ignorierte sein Unbehagen und setzte wieder sein cooles Gesicht auf. Schließlich war er ein Meister darin, seine Emotionen zu verbergen. Nicht umsonst hatte John ihn zum Anführer der Gang bestimmt. So schnell konnte ihn ein komischer Gegenstand nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht vor dem Angsthasen.
„So viel weiß ich auch, Kleine. Aber was sagst du dazu?“
Er nahm das Handy in seine linke Hand und öffnete die Rechte, sodass sie im Schein der Lampe die roten Stellen deutlich sehen konnte, die sich schon zu Blasen ausbildeten.
Ihr Blick huschte unsicher von seinen Händen zum Schwert.
„Probier es doch selbst aus, wenn du mir nicht glaubst.“
Anna zögerte einen Moment, doch dann griff sie nach dem Rapier, nur um ihn augenblicklich wieder fallen zu lassen. Sie rieb sich die Hand.
Trotz des dämmerigen Lichtes sah er, dass die Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.
Er verzog triumphierend den Mund.
„Es kann unmöglich warm sein, nicht wahr?“, äffte er sie nach.
Sie starrte ihn wortlos an, so etwas wie Schock in ihren Augen.
„Was machen wir denn jetzt?“ Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Piepsen. Definitiv eine Maus, die sich nun zitternd in ihre Höhle verkroch. Edward grinste bei dieser Vorstellung. Zum Glück war er längst nicht so leicht einzuschüchtern.
„Easy. Ich wickle mein T-Shirt um das Schwert und lege es wieder in die Kiste zurück.“
Während er sein Lieblings-T-Shirt auszog, das dunkelblaue mit dem verwaschenen Gang-Emblem, bemerkte er, wie Anna sich peinlich berührt umdrehte und zum Schwert niederkniete.
„Noch nie einen nackten Männeroberkörper gesehen?“
„Das geht dich nichts an.“
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das leichte Schwanken in ihrer Stimme ließ ihn ungläubig die Augenbrauen heben. Die war doch beinahe so alt wie er? Hatte sie irgendwelche veralteten Moralvorstellungen oder was?
Edward verdrehte die Augen. Das konnte ja ein heiterer Sommer werden.
„Auf dem Schwert stehen die gleichen Initialen wie im Buch“, sagte Anna.
Unterhalb des Knubbels konnte er tatsächlich den feinen Schriftzug „Jean P. V.“ erkennen.
Er hatte das T-Shirt ein paarmal gefaltet, sodass es nun wie ein Ofenhandschuh in seiner Hand lag. So geschützt griff er nach dem Schwert.
Die Hitze drang augenblicklich durch den Stoff hindurch und schien seine Hand auf das Rapier zu schmelzen, sodass er es nicht mehr loslassen konnte. Der Schmerz jagte seinen Arm hoch und raubte ihm beinahe den Atem. Ein Blitz erhellte die dunkle Höhle, als hätte jemand ein überdimensionales Streichholz angezündet, das nun immer heller leuchtete. Zugleich erfüllte ein Rauschen wie das eines Wasserfalls den Raum und ein Lufthauch wirbelte seine halblangen Haare durcheinander. Der Lärm war so groß, dass er Annas Schrei nur schwach wahrnahm. Sie hatte sich hinter seinen Rücken geflüchtet und klammerte sich an seine Schulter.
„Lass es los!“, hörte er ihre Stimme nahe an seinem Ohr.
„Es geht nicht!“
Das Licht war nun so hell, dass es selbst durch die geschlossenen Augen schmerzte.
„Bitte, versuch es!“
Was glaubte die denn, was er machte? Aber er war schlichtweg unfähig, seine Hand zu öffnen. Es war, als wäre sie mit dem Stahl verschmolzen. Mit aller Kraft schüttelte er seinen ganzen Arm.
Und dann war es plötzlich wieder dunkel und still. Benommen öffnete er die Augen und starrte auf seine Hand. Sie war leer.




Anna versuchte, ruhig ein- und auszuatmen. Warum nur war sie nicht oben in der Sicherheit des Schuppens geblieben? Die Enge in ihrem Hals nahm wieder zu. Nur ruhig. Einatmen. Ausatmen.
Sie zwang sich, den Blick von Edwards muskulösen Schultern abzuwenden. Sie hatte sich doch tatsächlich an ihn geklammert wie ein dreijähriges Kind an den Rockzipfel seiner Mutter, nur dass sie sich an seine – nackte! – Schulter gehängt hatte. Doch mehr als ihre unüberlegte Panikreaktion hatten ihr die vergangenen Minuten den Atem verschlagen.
Sie machte einen Schritt zur Seite und blickte Edward an, der wie versteinert auf seine Hände starrte.
Komisch, das Licht in der Höhle war nun heller. Was war passiert?
„Alles klar?“ Ihre Stimme klang kläglich.
„Hu, ähm, ja …“, erwiderte Edward, scheinbar unfähig, eine sinnvolle Antwort zu geben. Sie folgte seinem Blick auf die Hand, die immer noch vom T-Shirt umwickelt war. Ein leichter Brandgeruch stieg ihr in die Nase und ein schwarzes Loch zeugte von der großen Hitze.
„Bist du verletzt?“
Er hob die Schulter und wickelte den Stoff vorsichtig ab. Als ihr Blick von seiner Hand zu seinem Waschbrettbauch huschte, schoss ihr die Hitze in die Wangen. Warum nur fühlten sich ihre Beine plötzlich wie Wackelpudding an?
„Nein. Nur der Stoff ist verbrannt. Aber wo ist das Schwert?“
Er hob die Augen und sog scharf die Luft ein. Sie folgte seinem Blick, drehte sich um und keuchte auf. Hinter ihr war die Wand durchbrochen und Tageslicht stahl sich in die Höhle. Eine Höhle, die nun eine Nische war. Oder eine Muschel. Leicht geöffnet, um sie mit Haut und Haaren zu verschlingen. Nur nicht bewegen. Vielleicht würden sie dann nicht bemerkt.
„Wo sind wir?“
Edwards dunkle, etwas rauchige Stimme riss sie aus ihrer Starre. Die Muschel schnappte nicht zu. Logisch. Es war eine Höhle und sie verhielt sich einmal mehr einfach nur kindisch. Übervorsichtig, wie Dr. Mallet es genannt hatte.
Anna schielte in Edwards gut aussehendes breites Gesicht mit den markanten Wangenknochen. Gut aussehend war die Untertreibung des Jahrhunderts. Die dunkelblonden Haare hatte er an der Seite kurz geschnitten und das längere Deckhaar unterstrich seinen wilden Charme.
Nicht, dass so einer sie je beachtet hätte. Und eigentlich war ihr das auch ziemlich egal. Erste Priorität hatte das Medizinstudium, das sie demnächst beginnen würde, und eine Beziehung wäre dann ohnehin nur hinderlich. Außerdem wollte sie einen Mann, der Gott liebte, und das war bei ihm offensichtlich nicht der Fall. Und tanzen musste er können. Schwer vorstellbar bei Edward, der nur auf Machogehabe und Muskeln zu setzen schien anstatt auf Intelligenz und Freundlichkeit. Anna schüttelte diese Gedanken ab und folgte Edward zögernd zum Ausgang.
Der Vorplatz war klein und wurde von Felsen begrenzt, die steil in eine Bucht hinabfielen.
Auf der anderen Landseite erhob sich eine mächtige Burg, in deren Schatten sich unzählige flache Häuser bargen. Farbige Fischerboote tanzten auf dem graublauen Wasser am Ufer.
Anna schluckte und biss sich auf ihre Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Das war nicht das wunderschöne Landgut, auf dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
Warum nur hatte sie Edward geholfen, diese Kiste zu öffnen? Sie hätte auf ihr Sicherheitsgefühl hören sollen, auf den Knoten in ihrem Magen, als er in der Luke verschwunden war, die sie unter einem uralten, schweren Schrank entdeckt hatten.
Ihr Blick wanderte nach rechts. Hier ragte eine Landzunge quer zu ihrer Bucht ins Meer, an deren Ende wiederum eine Festung stand. Die Sonne tauchte das Wasser und die hellen Felsen in flüssiges Gold.
Ihr Hals fühlte sich ganz trocken und eng an, ihre Beine schwach.
„Ich kenne diese Gegend nicht.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie Edward endlich eine Antwort gab.
„Offensichtlich ein Geheimgang zum Meer. Willst du baden gehen oder weiter Schränke schleppen?“ Sein Grinsen erreichte seine Augen nicht und seine linke Hand hielt die rechte so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Gehen wir lieber zurück. Grandmère wollte uns doch noch Kuchen bringen.“ Als Anna sich umwandte, um zurück zur Luke zu gehen, beschlich sie jedoch eine dunkle Vorahnung.
Über ihnen wölbte sich die Decke ohne einen einzigen Hinweis auf eine Öffnung.
Sie fröstelte. Ihr blaues T-Shirt mit den Spitzensäumen, das sie früher so geliebt hatte, das nun aber zwecks unzähliger kleiner Löcher zum Arbeits-T-Shirt avanciert war, gab ihr kaum Wärme. Warum war es so kalt? Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper.
Edward zog sich sein halb verbranntes T-Shirt über den Kopf und suchte die Wände nach der verschwundenen Öffnung ab.
Annas Kopf war leer. Auch wenn die „Muschel“ eine Höhlennische war, hatte sie ihr dennoch alle klaren Gedanken geraubt. Sie ließ sich an der Höhlenwand nieder. Wie Tentakel kroch die kalte Feuchte durch die Kleider an ihren Rücken. Und vom Rücken zum Herzen, um es mit eiserner Hand zu umklammern.
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Atmen. Ein. Aus. Wie sie es gelernt hatte.
Langsam lockerte sich der Griff um ihr Herz und die Gedanken kamen zurück.
Vielleicht war sie einfach in einen jener realistischen Träume hineingetappt, in denen man nicht weiß, dass man schläft, aber irgendwann aufwacht. Bestimmt würden sie gleich aus der Höhle klettern, aus dem Schuppen ins gleißende Sonnenlicht treten und zum herrschaftlichen Anwesen der Martignières hinüberblicken. Zu dem weißen Haus mit den dunkelgrünen Sprossenfenstern, der hellen Kiesauffahrt und den unzähligen üppigen Blumenbeeten, die ihr Vater mit viel Liebe hegte und pflegte. Und rechts zum kleinen Häuschen, das sich im Schatten einer Trauerweide an eine Mauer schmiegte und das sie zusammen mit ihren Eltern bewohnte.
Einfach atmen. Ein. Aus.
Sie verfolgte, wie Edward die Wände abklopfte, bevor er sich schließlich resigniert der ominösen Kiste zuwandte.
Ihre Mutter würde am Fenster stehen und ihr zulächeln …
„Vielleicht gibt es noch etwas in der Truhe.“ Edwards Stimme ließ das Bild verschwinden.
Einfach atmen. Gleich war es vorbei. Ein. Aus.
Er kramte eine Weile darin herum. „Komisch, der Dolch und das Buch sind auch weg. Nur die Kleider und ein kleiner Beutel mit Münzen sind hier.“
„Vielleicht ist das alles nur ein Traum …“
Ein spöttisches Grinsen überzog sein Gesicht. „Dann kneif mich mal. Es wäre schön, daraus zu erwachen.“
Doch sie war unfähig aufzustehen. Die Tentakel der Angst umklammerten ihr Herz wieder fester und wanderten hinauf zu ihrer Kehle.
Einfach atmen. Ein, aus, ein, aus, ein, aus.
Ihr Atem kam stoßweise, sie fürchtete zu ersticken. Die Welt begann, sich zu drehen. Sie hatte den Kampf gegen die Ohnmacht verloren. Sie schloss die Augen.
Zwei starke Arme packten sie an der Schulter und schüttelten sie.
„Anna! Hörst du mich?“
Sie war nicht fähig zu reagieren.
Ein Schlag ins Gesicht brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie atmete tief ein. Ihre Wange brannte. Entsetzt starrte sie den Engländer an, der vor ihr in die Hocke gegangen war. Er hatte sie geschlagen?!
Ein überlegenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Zumindest wissen wir nun, dass es kein Traum ist.“
Ihr Blick wanderte zur Höhlendecke hinauf, deren Steine und Erde immer noch keine einzige Öffnung freigaben.
Das Blut hatte ihr Hirn wieder erreicht.
„Du hast mich geschlagen!“
Warum nur erinnerten seine grau-grünen Augen sie an Bergseen? Das war nicht fair.
„Sorry, Kleine. Dachte, du kippst gleich weg.“
„Nenn mich nicht immer Kleine.“ Sie verengte die Augen. Seine blöden Ausdrücke konnte er sich für seine Groupies in London aufsparen.
„Lass uns herausfinden, wo wir sind und wie wir wieder zurückkommen.“
Anna rappelte sich auf und putzte ihre Hände an ihren heiß geliebten Jeans ab. Sie waren ebenfalls so zerschlissen, dass sie sie nur noch als Arbeitshosen trug. Wie heute. Sie stolperte hinter Edward den schmalen Pfad entlang, der vom Vorplatz wegführte, ihre Beine immer noch wackelig. Aber wenigstens hatte die Angst ihre Tentakel in der Höhle gelassen. Hoffte sie jedenfalls.
Der Weg schlängelte sich einige Meter über dem Wasser an der Küste entlang, bis die zwei Landzungen zu einer Fläche aus Gras und Felsen verschmolzen.
Ein Felsbrocken versperrte ihnen den weiteren Weg.
Edward blieb so abrupt stehen, dass sie gegen ihn stieß.
„Pscht“, machte er und drängte sie zurück.
Anna runzelte die Stirn und schaute ihn fragend an. Sein Finger lag auf seinem Mund. Er stand so dicht bei ihr, dass sie seinen Duft riechen konnte. Thymian, etwas Maskulines und … Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie Stimmen. Sie sprachen kein normales Französisch, sondern so, als würden sie ein altes Theaterstück aus einem anderen Jahrhundert aufführen.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Edwards Schultern einen Blick auf die Gestalten zu erhaschen. Der schmale Pfad, auf dem sie sich befanden, mündete in einen breiteren Weg, der links über die Höhen zur Landspitze führte und rechts zum Wasser in Richtung Dorf. Zwei Männer befanden sich auf dem Abstieg.
„England hat fürwahr keine Stellung bezogen?“
Sie trugen komische schwarze Kutten, auf denen vorne ein weißes, viereckiges, gezacktes Kreuz prangte. Darunter trugen sie eine Art Pluderhose und Stiefel. Schwerter, ähnlich demjenigen, das Edward in der Hand gehabt hatte, baumelten an ihren Hüften.
„Nein, mein Freund. Wie es auch Eurer Kenntnis entspricht, hat sich Königin Elisabeth dem Protestantismus zugewandt. Sie wird uns keinen Beistand entsenden.“
Der Mann, der geantwortet hatte, war um einiges älter. Er hatte grau melierte Haare, die über die Wangen in Locken zu einem spitzen Bart ausliefen, was seine gerade, prominente Nase betonte. Die etwas eingefallenen Wangen ließen darauf schließen, dass er bestimmt schon sechzig Jahre alt war.
„Warum setzen sich unsere Länder nicht mit uns für die gerechte Sache Gottes ein?“
Der junge Mann war von schlanker Statur, hatte glattes, dunkelblondes Haar und ebenfalls einen leichten Bart, der sein schmales Gesicht voller wirken ließ. Obwohl er einwandfrei Französisch sprach, hatte er einen ähnlichen englischen Akzent, wie Ed ihn hatte.
„Euer Land hat sich der neuen Lehre angeschlossen und mein Land sieht in uns nur noch ein Relikt aus alter Zeit. Aber Don García de Toledo hat versprochen, noch vor dem Winter hier zu sein.“
„Ihr glaubt, die Osmanen wagen es, vor den Herbststürmen anzugreifen?“
Die zwei Männer gingen an ihnen vorüber, die Stiefel knirschten auf den Steinen. Anna duckte sich hinter Edwards Schulter.
„Mitnichten, das bezweifle ich. Sie mögen das Meer und die Schiffe nicht.“
Sie musste sich nun anstrengen, um die Männer weiter zu verstehen.
„Die Ladungslisten verraten nur, dass sie sich fieberhaft vorbereiten. Wir sollten uns auf eine längere Belagerung einstellen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, um …“
Die Stimmen wurden vom Wind davongetragen.
Edward drehte sich um und deutete mit einer Nickbewegung zur Höhle zurück. Leise und geduckt schlichen sie zurück.
Anna setzte sich auf einen Stein im Eingang der Höhle und starrte auf das Wasser. Was war das eben gewesen?
Wo um alles in der Welt befanden sie sich?
Sie blickte zu Edward hinüber, der lässig an der Wand lehnte, sich aber wieder an die rechte Hand fasste, so als hätte er noch Schmerzen.
„Irgendeine Erklärung?“
Wortlos schüttelte sie den Kopf.
„Eben doch ein Geheimgang zum Meer.“
Sie hob die Augenbrauen.
„Klar, das Meer ist bei uns ja auch grad mal um die Ecke. Zwei, drei Schritte und du fällst hinein.“
Anscheinend hatte Mister Ich-weiß-alles-besser keine Ahnung von französischer Geografie.
Er zuckte nur lässig mit den Schultern.
„Zu deiner Information: Das Landgut deiner Großeltern liegt zwar im Süden von Frankreich, genauer gesagt im Département Aveyron, aber das ist immer noch knappe 200 Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Und noch weiter vom Atlantik. Außerdem, wie erklärst du dir diese Männer in ihrer Aufmachung und mit ihrer Sprache?“
Ein Windstoß zerzauste ihre halblangen Haare. Sie stand auf, strich sie sich hinter die Ohren und trat in die Sonne, in der Hoffnung, dort etwas Wärme zu finden. Tief unter ihr sah sie die weißen Schaumkronen unzähliger kleiner Wellen.
„Vielleicht drehen die grad einen Film, Frau Lehrerin.“
Edwards Augen blitzten gefährlich.
Frau Lehrerin? Nur weil sie es gewagt hatte, seine Theorie infrage zu stellen? Spiegelte sich sein attraktives Äußeres denn nicht einmal ansatzweise in seinem Inneren wider? Konnte er nicht wenigstens ein kleines bisschen nett sein?
Anna trat von einem Fuß auf den anderen. Vom Meer her näherten sich dunkle Wolken. Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf und sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper, in der Hoffnung, etwas Wärme zu speichern.
„Wir waren in der Höhle, die auf dem Grundstück von Grandpère liegt, du hast das – heiße – Schwert angefasst, weil du es wieder in die Kiste legen wolltest, und wir sind dann durch Licht und Wind hier an diese Küste katapultiert worden, direkt auf ein Filmset? Ist es das, was du glaubst?“
Edward hatte sich von der Wand gelöst, sein Blick auf das aufgeschäumte Meer gerichtet, die Daumen in den Taschen seiner Jeans eingehängt.
„Hast du eine bessere Erklärung?“
Ein Vogel erhob sich mit einem heiseren Schrei von einem Felsen in der Nähe, schwang sich in die Lüfte und flog davon.
„Nein, aber ich frage mich, wo sie die ganzen Kameras versteckt haben.“
Sie schaute dem schwarzen Vogel nach, der immer kleiner wurde, bis er mit dem Schwarz-grau des Himmels verschmolz.
„Noch nie was von Drehpausen gehört?“
Sein versengtes T-Shirt unterstrich das verwegene, etwas gefährliche Charisma, das von ihm ausging. Seine Bergseenaugen blitzten angriffslustig unter dem zerzausten Haar hervor.
„Das erklärt aber diesen Ort hier nicht.“
Ihre Gegend kannte sie wie ihre eigene Hosentasche. Dort war sie aufgewachsen, hatte die Wälder durchstreift und die Landschaft mit dem Fahrrad in unzähligen Ferienwochen mit ihrer Freundin Melanie durchfahren. Es gab keine Küste und kein Meer.
„Eine täuschend echte Kulisse.“
Sie schüttelte nur den Kopf und starrte auf die mächtige Burg. Das Meer rauschte zu ihren Füßen und ein salziger Windstoß wirbelte ihre Haare erneut hinter den Ohren hervor. Eine Kulisse mit Wind und Wasser? Nie im Leben. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an wie ein kleines Boot gegen einen Orkan. Sie durfte nicht wieder in die Fänge der Angst geraten.
„Vielleicht finden wir in der Kiste einen Hinweis, wo wir sind“, riss Edward sie aus ihrem inneren Kampf.
Sie folgte ihm zögerlich mit immer noch verschränkten Armen zurück in die Höhle und wagte einen Blick in die Truhe.
Etwas war anders. Aber was?
Das Buch, der Dolch und das Schwert waren weg, wie Edward schon bemerkt hatte. Dafür lag ein Beutel auf den Kleidern. Sie ließ den Blick über das Holz gleiten.
Der Rost. Er war weg! Die Scharniere der Truhe glänzten, als wären sie neu. Und auch die Kleider hatten kräftige Farben; waren nicht so vergilbt, wie sie sie in Erinnerung hatte.
Was war geschehen? War das Ding nicht uralt?
Edward nahm das olivgrüne Kleid hoch. Ein einfaches Gewand, aber mit ziemlich viel Stoff. Er legte es auf den Boden und hob ein weißes Kleid heraus, das einem Nachthemd ähnelte mit Rüschen und weitem Ausschnitt.
Seine Augenbrauen glitten spöttisch nach oben. „Mittelalterliche Reizwäsche?“
Sie schüttelte ihren Kopf. War der immer ein solcher Macho?
„Eher ein Unterkleid“, mutmaßte sie.
Strümpfe und eine dunkelgrüne Pluderhose folgten einem weißen langen Hemd mit überdimensional breiten Ärmeln.
Als Anna sich über die Truhe beugte, erspähte sie nur noch zwei Paar flache Lederschuhe, die einen mit reichen Stickereien verziert und einem spitzen Ende versehen, die anderen einfach gehalten.
Sie blickte zu Edward, der sein Handy vom Vorsprung genommen hatte und wie gebannt daraufstarrte.
Langsam sah er auf. „Kein Empfang, kein Datum und keine Uhrzeit.“
Anna schluckte. Die Angst schnürte ihr die Kehle einmal mehr zu.
„Wir müssen das Schwert finden“, sagte Edward schließlich und steckte sein Samsung in die Hosentasche. „Das alles ist erst geschehen, als ich das Schwert angefasst habe. Vielleicht liegt es in der näheren Umgebung der Höhle.“
Anna stand auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Komisch, die Erde war viel lockerer.
Sie suchten eine ganze Weile schweigend die Umgebung ab, aber das Schwert blieb unauffindbar.
Die dunklen Wolken waren nun bedrohlich nahe und der Wind hatte aufgefrischt.
„Tragen wir mal zusammen, was wir wissen“, fing Edward an, als sie wieder im Höhleneingang standen.
Anna setzte sich wieder auf den Stein vor der Höhle.
„Das Schwert war unnatürlich heiß und hat uns wahrscheinlich hierher gebracht“, fuhr Edward fort.
Sie kratzte mit ihrem Finger an der fadenscheinigen Stelle über dem Knie.
„Oder es hat die Umgebung verändert, denn das Schwert ist unauffindbar, das Buch und der Dolch sind weg und alles sieht anders aus. Auch die Menschen“, ergänzte sie, während sie weiter ihre Hose bearbeitete und es vermied, in sein Gesicht zu blicken.
„Dann hat uns das Schwert auf irgendeine Art und Weise an einen anderen Ort gebeamt.“
Anna blickte auf. „Gebeamt?“
Edwards schiefes Grinsen erreichte seine Augen nicht und er zog etwas hilflos die Schultern hoch.
„Irgend so ein Zauberschwert?“
„Zauberschwert?“
Sie kam sich selbst albern vor, seine Worte zu wiederholen. Aber hatte er den Verstand verloren? Das gab es doch nur in irgendwelchen Märchen!
Doch zum ersten Mal war der überlegene Gesichtsausdruck aus seinem Gesicht gewichen und eine ungewohnte Ernsthaftigkeit lag in seinem Blick.
„Entweder es ist so etwas oder doch ein Filmset.“
Sie hätte so gerne an das Filmset geglaubt, aber das Meer machte diese Theorie zunichte.
Ihre Gedanken rasten. Ein anderer Ort. Auch eine andere Zeit?
Die Jeans zerriss mit einem leisen Ratsch. Entsetzt starrte Anna auf das fünf Zentimeter große Loch, das sie unbewusst in ihre Hose gemacht hatte.
„Kennst du diese Gegend?“, fragte sie, während sie geistesabwesend an den Fäden weiterzupfte.
Edward schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß auch nicht, wer sich so kleiden würde und so redet. Es sei denn, wir sind nicht nur im Ort, sondern auch in der Zeit verrutscht.“
Annas Hals wurde eng. Konnte er etwa Gedanken lesen?
„Die Männer haben was von Osmanen gesagt“, fügte Edward nachdenklich hinzu.
„Hast du mitgekriegt, was die geredet haben?“ Obwohl Edwards Mutter Französin war und auch er die Sprache recht gut beherrschte, war sie sich nicht sicher, ob er diese alten Worte verstanden hatte.
„Stell dir vor, Frau Lehrerin, das habe ich.“
Sein Gesicht hatte wieder den überheblichen Ausdruck, der sie zu bissigen Bemerkungen anstachelte.
„Kennst du die Osmanen?“
„Nicht persönlich.“
Er grinste schief und sie rollte mit den Augen, während ihre Finger sich in dem Loch verkrallten. Das war nun wirklich keine Situation, um Witze zu reißen.
„Die Osmanen lebten vor sehr langer Zeit und die gibt’s heute nicht mehr, also können sie nicht mehr angreifen.“
„Legt die Theorie nahe, dass wir in der Vergangenheit an einem fremden Ort gelandet sind. Wo es Osmanen und diese Männer in den komischen Kostümen noch gab. Wo es Burgen gab“, er zeigte auf die Burg und die wehenden Fahnen auf der anderen Landseite, „Ritter und Schwerter.“
Annas Fingernägel schnitten ihr in den Oberschenkel, so sehr klammerten sich ihre Finger an den Rand des Risses.
„Mittelalter?“, brachte sie beinahe flüsternd hervor.
Oh Herr, bitte nicht. Das war eine so dunkle Zeit …
Sie blickte Edward entsetzt an, der sich nun mit den Fingern durch die Haare fuhr. Ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen Wolken brach, ließ sie golden schimmern.
„Wenn das Schwert, das Buch und der Dolch weg sind, könnte es sein, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht existieren oder in Gebrauch sind. Das würde auch die veränderten Farben der Kleider erklären.“
Er hatte doch mehr Verstand, als sie gedacht hätte.
„Der erste Eintrag im Buch war 1563 …“, sie brach ab, als sie sich erinnerte.
„… und der Ort Malta, wenn ich mich nicht irre“, fügte Edward hinzu.
Einen Moment sahen sie sich schweigend an. Sein Blick ging ihr durch Mark und Bein und löste wieder dieses Magenkribbeln aus. Plötzlich drehte er sich um und verschwand in der Höhle, um gleich darauf mit dem Beutel zurückzukommen.
„Vielleicht finden wir hier noch einen Hinweis auf die Zeit.“
Er schüttete den Inhalt vor ihr auf den Boden. Es waren Münzen. Anna nahm eines der unförmigen, silbernen Geldstücke in die Hand.
„E-CLAUD-DE-LA-SENGLE-M-HOSP-H“, las sie laut und drehte die Münze dann um. Die andere Seite zeigte einen Mann mit einem Stab, der wie ein Kreuz aussah, und ein nicht ganz definierbares Tier zu seinen Füßen.
„PARATE UI AM DOMINI“, las sie die Prägung vor. „Auf der einen Seite wahrscheinlich ein Name eines Königs oder Herrschers, auf der anderen Seite was mit ‚fertig‘ und ‚Herr‘?“, kramte sie ihre Lateinkenntnisse hervor.
„Auf meiner Münze steht etwas anderes. F-IOANNES-DE-VALLETTA-M-HOSP-H und hinten IUSTITIA SANCT REDEMPTIO.“
„Gib mal her.“
Auf der einen Seite der Münze war ein Lamm zu sehen, das eine Fahne trug, auf der anderen Seite ein Wappen mit Kreuzen, Adlern und Löwen.
Ihr Herz klopfte, als sie den Namen um das Wappen noch einmal betrachtete.
„Wenn das ein Name ist, dann hieße dieser hier F. Johannes de Valletta. Wie hieß noch mal dein Vorfahre, der Großmeister, von dem dein Grandpère uns erzählen wollte?“
Edward runzelte die Stirn. „Jean Irgendwas. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
„Kann es sein, dass er Valletta hieß?“
Er schürzte die Lippen. „Kann sein, so ähnlich jedenfalls.“
„Diese Münze ist mit seinem Namen geprägt, wenn man die Aussprache des Namens Jean oder Johannes nicht so genau nimmt. Im Buch standen zumindest zwei seiner Initialen, das J und das V, und in das Schwert war der Name Jean P. V. eingraviert.“
„Du glaubst, dass das Buch und das Schwert einem Mann gehörten, der Jean Valletta hieß, und dass dieser der Großmeister ist, den mein Großvater erwähnt hat?“, fasste Edward zusammen und zog dabei zweifelnd die Augenbrauen zusammen.
„Möglich wär’s.“
Sie ließ die Münze wieder in den schwarzen Lederbeutel gleiten.
Mit einem klingenden Geräusch warf Edward das restliche Geld ebenfalls zurück in den Beutel und zog ihn zusammen. „Angenommen, das Schwert gehörte tatsächlich diesem Großmeister und wir sind hier in seiner Zeit gelandet, dann müssen wir ihn nur ausfindig machen, ihn bitten, uns das Schwert zu leihen, und schon sind wir wieder zu Hause.“ Er grinste sie an.
War es so einfach? Anna blickte auf den langen Riss in ihrer Lieblingsjeans. Die könnte sie nun wieder tragen, denn das war doch modern … zumindest im Jahr 2017.
„Vielleicht ist es besser, wenn wir uns ebenfalls verkleiden. Keine Ahnung, was die damals mit komischen Leuten gemacht haben“, brachte Edward ihre abschweifenden Gedanken wieder zurück.
Sie schluckte. Ihr Hals war staubtrocken. Obwohl ihr Verstand der Argumentation von Edward recht geben musste, konnte es unmöglich wahr sein.
„1563 ist wahrscheinlich nicht mehr Mittelalter, aber alles, was fremd war, verbrannte man früher auf dem Scheiterhaufen. Als Hexen und so.“ Sie schauderte, als sie an das Referat dachte, das sie mit Melanie zu dem Thema gehalten hatte.
Edward war schon in der Höhle und warf ihr nun das weiße Unterkleid und den grünen Rock zu.
„Dann hoffen wir mal, dass dieses Zeug in diese Zeit passt.“
„Du willst diese Kleider einfach klauen?“
„Willst du lieber verbrannt werden?“
„Und wenn wir uns doch noch im Jahr 2017 befinden und das alles ein Filmset ist?“
„Dann sind wir auf dem Weg zu den Statisten.“
Sie seufzte. Wusste der immer auf alles eine Antwort?
Edward hob die Pluderhose hoch und verzog das Gesicht. Sie war riesig. Unwillkürlich grinste sie und wandte sich ab, um im hinteren Teil der Höhle Schutz zu suchen.
Als sie über die Schultern blickte, stand er immer noch mit seinen Kleidern über dem Arm bei der Kiste und blickte in ihre Richtung.
„Noch nie was von Privatsphäre gehört?“
Mit spöttischem Blick erwiderte er: „Auf diese Show soll ich verzichten?“
„Bitte.“
Sollte er sie doch für altmodisch halten, das war ihr egal. Sie hatte ihre Prinzipien und Grenzen und darüber ging sie nicht hinaus, egal wie gut Mister Ich-weiß-alles-besser aussah oder wie heftig die Schmetterlinge tobten. Außerdem ging ihr sein überhebliches Gehabe ganz schön auf die Nerven.
„Schon gut, ich drehe dir den Rücken zu und ziehe mich ebenfalls um.“
Nachdem Anna sich vergewissert hatte, dass er sein Wort hielt, schlüpfte sie hastig aus ihrem T-Shirt, streifte sich das weiße Unterkleid über und schälte sich erst dann aus ihrer Jeans. Nur zur Sicherheit. Dann stieg sie in das grüne Kleid. Am Rücken befanden sich Bänder.
Mühsam versuchte sie, sie zuzuziehen, aber es gelang ihr nicht.
„Soll ich dir helfen?“
Sie wirbelte herum und hielt sich dabei das Kleid vorne über der Brust zusammen.
„Du hast geguckt!“
Ihr Atem geriet ins Stocken. Edward sah in seinen Kleidern noch um einiges attraktiver aus. Nein, edler. Wie ein Ritter mit seinem weißen Hemd, den grünen, pumpähnlichen Hosen, den Strümpfen und den Lederschuhen. Seine grün-grauen Augen blitzten voller Schalk. Sie biss sich auf die Lippen.
„Krieg dich ein, ich habe nichts gesehen. Soll ich dir nun behilflich sein?“
Sie nickte und kehrte ihm den Rücken zu. Während seine Hände sich an den Bändern zu schaffen machten, fuhr sie nervös mit ihrer Zunge über ihre trockenen Lippen.
„Fertig.“
Sie drehte sich um. Es fühlte sich falsch und zugleich richtig an, in diesem fremden Kleid zu sein, das nach Lilien duftete. Das Unterkleid kratzte ein wenig – es war ein grober Stoff. Sie bückte sich, um in die flachen Lederschuhe zu steigen, die ihr Edward gebracht hatte. Sie waren – oh Wunder – nur ein wenig zu groß. Das Kleid raschelte, als sie sich wieder erhob. Sie strich darüber und straffte die Schultern.
Edward streckte ihr mit einer galanten Bewegung die Hand hin und bluffte: „Mylady, Ihr seht heute umwerfend aus. Darf ich?“
Nun gut, bis sie eine passende Erklärung für dieses ganze Phänomen gefunden hatten, konnte sie genauso gut mitspielen. Seine gespielte Freundlichkeit war immer noch besser als das überhebliche Macho-Getue. Sie legte ihre Hand auf die seine und seine warmen Finger umschlossen sie sachte. Hitze stieg in ihre Wangen. Noch nie hatte ein Mann ihre Hand gehalten. Peinlich, aber wahr.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Das hier zählte ebenfalls nicht, denn es war nicht echt.
Sie atmete hörbar aus, als könnte sie damit die Schmetterlinge vertreiben und ihre Knie wieder fest werden lassen.
„Ihr, mein edler Herr, schaut aber auch nicht schlecht aus.“
„Ich bin Edward de la Martignière aus Frankreich, habe aber längere Zeit in England gelebt. Ihr, edle Dame, dürft mich Ed nennen.“
Sie rümpfte die Nase. Seit wann verwendete er den Nachnamen seiner Großeltern?
„Ed de la Martignière?“
„Meine Freunde nennen mich Ed und de la Martignière ist klangvoller als Crowe. Wie ist Euer Name, Mylady?“
„Ich bin Anna Ravin aus Frankreich.“
Er ließ ihre Hand los und sie vermisste seine Wärme sofort.
„Wir sollten uns eine glaubwürdige Geschichte zulegen.“
Sie trat vor die Höhle und ließ ihren Blick über das aufgeschäumte Meer gleiten. Hinter der Burg mit der roten Kreuzfahne drehte eine Windmühle ihre gemächlichen Runden.
Edward schritt vor ihr auf und ab.
„Warum kommt eine so junge, reizende Dame allein auf die Insel?“
Jung und reizend? Wollte er sie veräppeln?
„Keine Ahnung. Verwandte besuchen?“
Die Blätter der Windmühle waren breit und erinnerten sie an Hollands alte Mühlen. Vielleicht war das gar nicht Malta? Aber in Holland sprach man nicht Französisch … Aber auf der kleinen Mittelmeerinsel doch auch nicht, oder doch?
„Wie heißen deine Leute und wo wohnen sie?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ravin wie ich und sie wohnen irgendwo im Dorf. Weiß auch nicht genau wo.“
„Und wenn es da keine Ravins gibt?“
„Tja …“
Sie schürzte die Lippen. Ed kickte einen Stein ins Wasser und drehte sich dann zu ihr.
„Wenn wir Geschwister oder ein Ehepaar spielen, dann können wir einigen unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen.“
Ehepaar? Wellen von Hitze und Kälte wallten durch ihren Körper. Niemals!
„Geschwister.“
„Dann musst du aber mit einigen Verehrern rechnen.“
„Das bezweifle ich.“
Kein Junge hatte je mehr als einen loyalen Kumpel in ihr gesehen. Sie hatte nicht das „gewisse Etwas“, das Männer anzog. Aber zur Sicherheit fügte sie hinzu: „Außerdem sind wir in einigen Stunden wieder zurück.“
Ihre Augen trafen sich und in den seinen glitzerte etwas Undefinierbares.
„Ich will dir ja nicht die Hoffnung rauben, aber falls es länger dauert, bis wir wieder zu Hause sind, dann kann es durchaus sein, dass du dich mit Verehrern treffen musst, um nicht aufzufliegen. Und ein guter Bruder muss seine Schwester einem ehrbaren Ritter zur Frau geben.“
Im Ernst jetzt? Wollte sie mit fremden Männern in einem fremden Land ausgehen? Nein danke, dann doch lieber mit Edward …
„Okay, darauf kann ich verzichten.“
„Wir sind also ein Ehepaar?“ Seine Mundwinkel zuckten belustigt.
„Ja, aber wir spielen es nur.“ Sie betonte das Wort spielen.
„Das heißt?“
Im Gegenlicht hoben sich seine breiten Wangenknochen scharf ab und verstärkten sein attraktives Aussehen. Oh Mann, wie formulierte man das? Anna seufzte, kniff die Augen zusammen und verzog den Mund zu einer gequälten Grimasse.
„Ich kann mir nicht vorstellen, mit dir eine Ehe zu führen, ich meine so richtig, verstehst du?“
Sie blinzelte und sah, wie Ed mit seinem umwerfenden, breiten Grinsen dastand, seine Hände in die Seiten gestemmt.
„Du meinst, du kannst dir nicht vorstellen, Sex zu haben.“
Sie nickte und die Hitze in ihren Wangen verriet ihr, dass sie feuerrot war.
„Und“, sie räusperte sich, um die Enge in ihrem Hals frei zu bekommen, „auch nicht zu küssen.“
Sein Grinsen verstärkte sich.
„Eine edle, unantastbare Jungfrau als Ehefrau? Ich hoffe echt, dass wir nicht zu lange hier sind.“
Das sah ihm wieder ähnlich. Wahrscheinlich konnte Edward sich in London gar nicht retten vor Mädchen, die ihm zu Füßen lagen und alles tun würden, was er wollte. Aber sie war keine von denen.
Grandmère hatte ihr erzählt, dass Eds Arbeitseinsatz eine Art Therapie sei, um wieder auf die „richtige Bahn zu kommen“.
„Ich meine es ernst, Ed.“
„Schon gut. Deal.“ Er machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Und weshalb reist ein so edles Paar nach Malta?“, nahm er den Faden wieder auf.
Sie überlegte. „Wir machen eine Reise oder wollen hier wohnen.“
Der Wind zerrte an ihren Haaren. Wenigstens war ihr nicht mehr so kalt in diesen Kleidern.
„Gut. Woher kommen wir?“
„Woher wohl? Aus Frankreich.“
Welche Sprache sollten sie sonst sprechen?
„Und mein Akzent?“
Sie kräuselte die Nase. Tja, das stimmte. Er war zwar nicht so stark … Ein Satz aus dem Gespräch der beiden Männer fiel ihr wieder ein.
„Haben die Männer nicht etwas von der Reformation gesagt, die in England Fuß gefasst hat? Du könntest dort aufgewachsen sein, bist aber irgendwie in Bedrängnis geraten und als guter Katholik zu deinen Verwandten nach Frankreich geflüchtet.“
„Und dort haben wir uns kennengelernt, ich habe mich unsterblich in dich verliebt und wir haben geheiratet.“ Eds Augenbrauen bewegten sich hoch und runter.
Was? Flirtete er etwa mit ihr? Oder spottete er nur?
„Komm schon, hör auf.“ Das Ganze war ihr immer noch äußerst peinlich.
„Falls es hart auf hart kommt, können wir immer noch Englisch reden, in der Hoffnung, dass uns hier niemand versteht. Du kannst doch Englisch, oder?“
Sie nickte.
„Okay, dann lass mal hören, was du so draufhast.“
Es war ungewohnt, ihn in seiner Muttersprache reden zu hören. Anna kramte ihre Englischkenntnisse hervor und sagte: „We don’t speak about the future and our real lifes.“
„Never.“ Er schüttelte den Kopf und seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
„Was ist?“
„Du hast ein süßes Englisch. Mit Akzent.“
Für einen kurzen Moment sah sie etwas Sanftes in seinen Augen aufblitzen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht versteckte sich hinter der coolen Fassade doch noch ein weicher Kern?
„Gehen wir nun?“, versuchte sie abzulenken.
„Klar, Mylady. Doch zuerst müssen wir uns noch um die hier kümmern.“ Er zeigte in die Höhle auf die verstreuten Kleider.
Sie steckten die Jeans und T-Shirts in die Truhe und traten den Weg in Richtung Dorf an.