An der Baustelle bleibt der Mann stehen. Eben hatte er es noch so eilig - nun verhält er den Schritt und schaut. Sie arbeiten bei Scheinwerferlicht. November - da will man unter Dach. Auf und nieder rasselt der Aufzug. Der Betonmischer dreht sich dröhnend. Die Arbeiter verständigen sich mit lautem Geschrei. Aber hier unten versteht man kein Wort.
Also wieder ein Haus! denkt der Mann. Ein Häuserblock, ein riesiger Bienenstand mit tausend Körben und Schlupflöchern. Bald wird es darin wimmeln vor lauter Leben. Und all dieses Leben geht dich etwas an! Eigentlich zum Erschrecken - und ist doch eine großartige Sache, so ein Haus! Beton und Steine und Ziegel - gibt es etwas Festgefügteres auf der Welt? Aber was heißt hier sicher! Wenn mal wieder was vom Himmel fällt, nicht von ganz oben, aber vom halben Himmel, ist es hin! Ein junger Mann, ein harmloser junger Mann von irgendwoher, den auch Mutterliebe großgezogen hat, klinkt die Bombe aus. Dann ist es hin. Wieder daheim, irgendwo daheim, trinkt der junge Mann zur Auffrischung eine kräftige Tasse Kaffee. Das Haus aber ist hin. Nichts ist sicher. Sicher ist nur der Tod. Der junge Mann wird sterben. Die vielen Leute im neuen Haus werden sterben. Tiedemann wird sterben. Ich werde sterben. Das ist das einzige, was ganz sicher ist. Sollte man es nicht einkalkulieren?
Der Mann blickt nicht mehr auf den Bau. Für einen Augenblick kneift er ganz fest die Augen zu. Dann geht er weiter. Er geht mit eiligem, federndem, straffem Schritt. Ja, Tiedemann wird sterben. Das ist es, was den Mann im Innersten bewegt. Tiedemann wird in kein neues Haus mehr einziehen. Seine Sehnsucht bleibt unerfüllt. Ein solcher Riesenkasten sollte es ja gar nicht sein, nur ein kleines Haus, ein Bauernhaus, eine Kate, sei sie auch alt, nur mit Stroh gedeckt, aber ein Garten davor mit Stockrosen und bunten Astern, Pferd und Kuh im Stall, einen Misthaufen auf dem Hof, und der Blick vom Strohboden sollte über die Äcker gehen. Beinahe hätte Tiedemann es noch geschafft! Nun muß er sterben ...
Die Straße, auf welcher der Mann geht, ist lang. Sie wirkt grau, obgleich die hohen, schmutzigen Backsteinfassaden eher ins Gelbe weisen. Daran ändern auch die knalligen Neubauten nichts. Denn es ist ein grauer Tag, ein trübseliger, dunstverhangener Abend im November. Die Straßenlaternen und Reklameleuchten haben abenteuerlich geformte Ballons milchigen Nebels um ihren Lichtkern aufgeblasen. Nur wo Trümmergrundstücke gleich Zahnlücken in einem schadhaften Gebiß klaffen, wabert ein Lufthauch in dem Dunst.
Kann man eine solche Straße lieben? fragt sich drr Mann. Natürlich, man müßte es - nicht die Straf>r, nein, die Menschen! Sind sie nicht überall hinter welchen Fassaden sie sich auch bergen? Oder sind hier die Menschen wie ihre Straße : grau ... !
Der Mann wird von vielen Leuten gegrüßt, vor allem von Frauen, die unterwegs sind, um noch vor Ladenschluß das Abendessen einzukaufen. Unentwegt lüftet er den Hut. Und er erwidert die Grüße mit einer hierzulande ungewohnten Beflissenheit. Er ist offenbar die Liebenswürdigkeit in Person. Oder scheint das nur so? Ist wirklich sein Lächeln um eine Idee zu maskenhaft? Wunderlicherweise ist es ein und derselbe Mann, obgleich es gut und gern zwei sein könnten: wohlwollend lächelnd, gewandt grüßend, zutunlich den Hut schwenkend der eine, der andere in sich versunken, im Gestrüpp des Grübelns verfangen, einem Ziel zustrebend, dem verhinderten Bauern Tiedemann, der sterben muß...
Einige der Frauen halten ihn an und versuchen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Nicht immer gelingt es ihm, mit ein paar verbindlichen Redensarten zu entwischen. Eine Alte, kurz, dick, redselig, hält ihn am Mantelärmel fest. »0, Herr Pastor«, keucht sie kurzatmig, »wie schön, daß ich Sie endlich treffe! Ich habe wieder gelegen. Wußten Sie es nicht? Das alte Rheuma! Ich habe immer gedacht, Sie besuchten mich mal ...?« Sie ist sichtlich gekränkt. Sie gibt sich keine Mühe, es zu verbergen. Trotzdem läßt sie seine Hand nicht los und sich von ihrem Redestrom genießerisch vom Hundertsten ins Tausendste treiben
Verlag: R. Brockhaus
Erschienen: 1965
Einband: Taschenbuch
Format: 11 x 18 cm
Seiten: 140