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Juli Der Mann am Strand zog den Reißverschluß seiner Windjacke hoch und schob seine Hände in die Hosentaschen. Erneut starrte er auf das kleine, puppenhausähnliche Haus, das er nun schon über eine Stunde lang beobachtete. Dann wandte er sich um und ging davon. Sie haue das Ferienhaus heute abend nicht verlassen. Gestern und vorgestern war sie stets noch etwas spazieren gegangen. Heute abend jedoch nicht. Er konnte einen sanften Lichtschimmer hinter den zugezogenen Vorhängen erkennen, und einmal war auch die Tür gerade soweit geöffnet worden, daß die kleine weißgraue Katze hindurch schlüpfen konnte.
Aber er hatte nicht einmal einen Blick von der Frau erhaschen können, bevor diese wieder hinter der Tür verschwand. Er hielt inne und sah zum Pier hinüber. Sein Blick fiel auf den weißen Leuchtturm, dessen rotes Licht durch die dickdüstere Dämmerung
flackerte. Die Luft, die vom Ericsee herüberwehte, war feucht und schwer — ungewöhnlich kühl für einen Juliabend.
Einige Sekunden später strich er sich mit der Hand durchs Haar und ließ diese schließlich müde an seinem Nacken hinuntergleiten. Darauf hin ging er mit großen Schritten weiter. Er eilte eine schmale Straße zwischen einfachen Ferienhäusern hinunter, überquerte ein kleines Gäßchen und bog in eine dunkle, menschenleere Straße ein. Nachdem er seine staubige schwarze Limousine aufgeschlossen hatte, sah er sich noch einmal um. Dann glitt er schnell hinter das Steuer und streifte mit seinem Kopf das Autodach. Er steckte den Schlüssel in die Zündung und drückte auf die automatische Türverriegelung. Ungeduldig war tete er darauf, daß der Motor warm wurde, während seine Hände am Lenkrad zitterten.
Er sah auf seine Armbanduhr und zog dann eine kleine Taschen lampe aus dem Handschuhfach hervor. Er leuchtete auf den Sitz
neben sich und blätterte die Seiten eines schwarzen Ringbuchordners durch, bis er fand, was er suchte. Lange surrte er das Zeitungsfoto unter der transparenten Schutzhülle an. Schließlich fiel sein Blick auf den Text unter dem Bild. Er senkte die Taschenlampe etwas und über flog den Artikel, der vor drei Jahren aus dem Nasbville Banner ausgeschnitten worden war. Vali Tremayne ist noch immer nicht bereit^ Aussagen über ihre Zukunftspläne zu machen. Die Sängerin, die steh seit zwei Jahren an der Spitze der modernen christlichen Musikszene befindet, soll einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, nachdem ihr Verlobter, der Komponist und Sänger Paul Alexander, bei einem Flugzeugabsturz über den Appalachen auf tragische weise ums Leben gekommen ist.
Joanne Seidon, Miss Tremaynes Agentin, weigerte sich ebenfalls, die Pläne ihrer Klientin preiszugeben. Quellen zufolge soll sich
Miss Tremayne jedoch wieder ^erholt" haben und sich gegenwärtig in einem Seebad im Norden Ohios befinden. Sollte diese Information korrekt sein, so könnte dies bedeuten, daß Miss Tremayne sich dazu entschlossen hat, in der Nähe der Familie Alexander zu wohnen.
Die Mutter des verstorbenen Musikers, die bekannte Romanautorin und Literaturpreisträgerin Leda Alexander, lebt in Sandusky, Ohio. Sein Zwillingsbruder, Dr. Graham Alexander, ist ein bekannter und höchst angesehener Wissenschaftler und Gründer des Alexander Zentrums, eines der größten und einflußreichsten Forschungszentren des Landes. Es befindet sich ebenfalls im Norden Ohios. Dr. Alexander selbst wohnt in Port Clinton.
Der Mann in der schwarzen Limousine sah von dem Zeitungsausschnitt hoch und legte eine Kassette ein. Einige Augenblicke saß er ruhig und unbeweglich in seinem Sitz und starrte vor sich hin, während seine Einger auf dem Steuer gedankenverloren die Musik auf der Kassette mitklopften.
Minuten später knipste er die Taschenlampe wieder aus, rollte mit seinem Wagen langsam vom Parkplatz und fuhr in Richtung Landstraße. Gleichzeitig beugte er sich nach vorne und stellte die Musik lauter, um die Stimme Vali Tremaynes in ihrer ganzen Fülle hören zu können
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Vali hatte ihn heute nacht wieder gesehen. Dies war nun bereits die dritte Nacht hintereinander, daß er hier draußen gewesen war. Doch nie hatte sie mehr gesehen als nur eine vage Silhouette hinter der Scemauer. Mit einem unwilligen Stirnrunzeln ließ sie den Vorhang wieder zurückfallen, wandte sich hastig vom Fenster ab und sah sich nervös im Wohnzimmer um. Normalerweise sprühte es mit seinen zitronengelben Wänden und dem Chintz mit dem Blumenmuster nur so von fröhlicher Farbenprächtigkeit, doch nun lag es etwas versunken im Schatten des schwachen Scheins der gläsernen Tischlampe. Ihr Blick fiel auf ein Foto, welches zwischen unzähligen Büchern und Keramikschüsseln auf den Regalen neben dem Kamin stand.
Sie durchquerte den Raum und nahm das eingerahmte Foto mit einem etwas traurigen Lächeln aus dem Regal. Ein dunkelhaariger Mann mit einem angenehmen und schönen Gesicht lachte sie an. Zärtlich strich sie mit ihrem Zeigefinger über das Glas, so als könne sie dadurch das Bild zum Sprechen bringen. Paul Sie stellte es wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück und empfand beinahe so etwas wie Schuldgefühle. Graham wollte schon lange, daß sie das Bild seines Bruders endlich wegnahm. Anfangs hatte er ihr nur vorgeschlagen, daß sie dieses letzte Erinnerungsstück an Paul doch besser entfernen sollte. Später war aus diesem Vorschlag eine Forderung geworden.
Sie wollte Graham nicht verletzen, aber sie konnte sich auch nicht dazu überwinden, es zu tun. Sie berührte das Foto nun nicht mehr, sondern starrte es nur noch an. Jener Tag kam ihr wieder in den Sinn, der Tag, an dem es aufgenommen worden war. Wie hatte Paul doch gelacht, als er ihr erzählte, daß sein Agent ihn sich für die Werbefotos etwas ernsthafter und nachdenklicher wünsche ...
„Ich soll ernsthafter aussehen^, hatte er ihr erzählt und dabei sein Gesicht gewollt ernst verzogen. Doch nach nur einer Sekunde war er schließlich wieder in sein so vertrautes Lachen ausgebrochen.
Paul war ein Mann mit Sonne im Herzen und in den Augen gewesen ... Er war immer so fröhlich, so zufrieden, so zuversichtlich. Bis dann jedoch all die hellen und wundervollen Eigenschaften, die Paul ausge macht hatten, in einem brennenden Flugzeug an einem kalten schwarzen Berghimmel ausgelöscht wurden.
Sie preßte die Fingerspitzen ihrer Hand gegen ihre Schläfe, um das schwache und schmerzhafte Pochen abzuwehren, welches sich einstellen wollte. Es kam immer dann, wenn sie sich nicht gegen ihre
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