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Bahnsteige haben etwas mit Friedhöfen gemeinsam. Auf beiden wird Abschied genommen, und Bande zwischen Menschen werden durchschnitten; an dem einen Ort endgültig, an dem andern auf Zeit.
„Erbärmliches Nest”, murmelte er, und seine Lippen bewegten sich dabei kaum. Der Zug hatte zwanzig Minuten Verspätung gehabt, und Roland Seeger hatte schon im Zug die Hoffnung aufgegeben, bei der Trauung seiner Schwester dabeisein zu können. Es war jetzt kurz vor elf, und auf elf Uhr war die Trauung festgesetzt.
Aus dem Nebel tauchten zwei runde Lichter auf. Ein Taxi nahte sich dem Bahnhofsvorplatz. Roland Seeger winkte den Wagen heran und nannte sein Ziel.
„Wie lange werden Sie denn brauchen?" -„Na, bei dieser Milchsuppe", gab der Fahrer Auskunft, „etwa
- eine Viertelstunde, mindestens eine Viertelstunde."
Okay, dann fahren Sie eben so schnell es geht
Der gesprächige Taxifahrer, ein Sachse, wie sein unverkennbarer Dialekt verriet, ließ sich über die ganze Gegend, vor allen Dingen aber über die Menschen aus. Sein Fahrgast im Fond des Wagens jedoch hatte die Augen geschlossen und schien keinen Wert auf eine Unterhaltung zu legen. Dennoch gelang es dem Fahrer, seinem wortkargen Gast zu entlocken, was ihn an diesem trüben Märzvormittag in diese Gegend geführt hatte.
„Ach, zu 'ner Trauung wollen Sie, na ja, warum soll es andern besser gehen als unsereinem", lachte er. „Die erfahren auch noch früh genug, daß die Mark dann nur noch fünfzig Pfennig wert ist!"
Der Mitfahrer hinter ihm verzog keine Miene. Nach einer knappen Viertelstunde, in der sich der Wagen den Weg durch den Nebel gesucht hatte, bog er von der Hauptstraße ab und kroch einen schmalen, geschotterten Weg hinauf, der links und rechts von dicken Bäumen eingesäumt war.
Aus dem Nebel schälten sich die wuchtigen Mauern einer alten Kirche heraus, an der Turmseite von riesigen Linden bewacht, deren glänzende Äste in das feuchte Grau hineinstachen.
„Hier, stimmt so!" Roland Seeger reichte dem Taxifahrer zwei Mark mehr als dieser verlangte, worauf der Mann überrascht und erfreut an den Rand seiner Kappe tippte und grinste. „Noch viel Vergnügen bei der Hochzeitsfeier Ihrer Schwester."
„Danke, wird schon rumgehen", lachte der andere sarkastisch, dann stapfte er über den knirschenden Kies auf den Eingang der Kirche zu. In der Ferne verlor sich das Gebrumm des Wagens.
Gedämpfte Orgelklänge drangen aus dem Gotteshaus, und der verspätete Gast überlegte: Sollte er noch hineingehen oder die Zeremonie hier draußen abwarten? - Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und sprang die vier ausgetretenen Stufen hinauf. Im schützenden Portal blieb er zögernd stehen. „Hätte ich doch abgesagt, Arbeit vorgeschützt. - Es wäre nicht einmal eine Lüge gewesen."
Er angelte sich eine Zigarettenpackung aus der Manteltasche und zündete sich eine Zigarette an. Im Inneren der Kirche war das Orgelspiel verstummt, und wenig später klang ein dünner Gesang an sein Ohr.
Um den Mund des jungen Mannes huschte ein überlegenes Lächeln. An Gott glaubten die wenigsten, aber für Taufe, Trauungen und ähnliche Anlässe mußten die alten Kirchenmauern noch herhalten. Doch auch diesem überholten Zeug war der Abschied schon eingeläutet, obgleich sich die Wächter der Institution noch für unentbehrlich hielten....
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