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Das Boot
„Geh mit Gott, mein Junge", sagte die Mutter und nahm ihren Sohn noch einmal fest in die Arme.
„Sicher, Mutter", nickte Fred. „Mach dir keine Sorgen und denk daran, was der Vater auf seinem Sterbebett sagte: ‚Ein Vater der Waisen und ein Richter der Witwen ist Gott.' Er wird auch uns nicht verlassen."
Lange schaute die Mutter ihrem Fünfzehnjährigen nach. In ihren Augen standen Tränen. Voller Sorgen kehrte sie dann in ihr gemütliches kleines Wohnzimmer zurück. Dort griff sie nach ihrer Bibel. Wie gut, Gottes Wort zur Hand zu haben! Wie jeden Morgen öffnete sie sie auch jetzt, und dann las sie den 81. Psalm.
Der gute Junge! Er war ihr einziger Sohn. Und erst vor einigen Tagen hatte man seinen Vater zu Grabe getragen. -
In früheren Tagen hatte die kleine Familie auf dem Bauerngütchen reichlich ihr Auskommen gefunden. Vater Blunt war geschickt und fleißig gewesen in Feld und Stall. Mutter Blunt hatte zu haushalten verstanden. Und Fred hatte alles, was an Eiern, Butter, Milch und Honig erübrigt werden konnte, wöchentlich nach Harwich auf den Markt
getragen und dort verkauft.
Aber das Hofgut gehörte ihnen nicht, sondern sie hatten es seit vielen Jahren gepachtet. Der Eigentümer, ein hartherziger, geiziger Mann, hatte schon bald bemerkt, daß Blunt - eben wegen seines Fleißes - sein gutes Auskommen hatte, und das veranlaßte ihn, die Pacht von Jahr zu Jahr zu erhöhen, bis bei Familie Blunt schließlich Not und Mangel aufkam. Vater Blunt arbeitete immer fleißiger, um der Not Herr zu werden; doch dann wurde er krank und starb. Nun war die Not erst recht groß. Was sollte nun werden? Zwar hatte Fred dem Vater viel geholfen im Feld und im Stall. Aber das Hofgut jetzt allein weiterführen, das vermochte er doch nicht, dazu fehlten ihm die nötigen Kräfte und auch die Erfahrung. In ihrer Not wandten sie sich immer wieder an ihren himmlischen Vater, der ihnen verhieß, sie nicht zu verlassen und nicht zu versäumen.
Fred beschloß, sich in der Hafenstadt Harwich nach einem Unterkommen für die Mutter umzusehen. Er kannte sich dort schon ein wenig aus, hatte er doch schon öfter mit jungen Matrosen gesprochen, die ihm vom Leben auf den großen Schiffen und den weiten Reisen um die halbe Welt erzählten. Diese Seeleute brachten von ihren oft monatelangen Reisen jedesmal einen großenKleidersack voll schmutziger, zerrissener Kleidung mit nach Hause, die gewaschen und geflickt werden mußte.
Und eben das besorgten Waschfrauen, die nicht weit von der Reede wohnten und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienten. Fred wußte, daß seine Mutter gut zu nähen und zu waschen verstand. Ob er ihr so nicht zu einer Arbeit verhelfen konnte? Zugleich müßte er für sie auch ein Zimmer besorgen. Lange hatte er sich das überlegt, bevor er mit der Mutter über seine Pläne sprach. Weil sie keinen anderen Ausweg wußte, hatte sie schweren Herzens zugestimmt.
Aber was sollte aus ihm werden? Wo würde er eine Anstellung finden? Sollte er gar auf ein Schiff müssen und den Gefahren der Seefahrt ausgesetzt sein? Doch blieb ihm jetzt, wo der Vater gestorben war und sie von ihrem Hofgütchen fort mußten, überhaupt noch eine andere Wahl, als Seedienste anzunehmen? Die Mutter wollte zunächst nichts davon hören; sie sah ihn im Geist schon von einer hohen Rahe herabstürzen und zerschmettert auf dem Deck liegen. Schließlich gebot die Not, es zu erlauben. -
Nun war Fred auf dem Weg nach Harwich. Es war bereits Mittag, als er dort ankam. Wie jetzt weiter? Er wandte sich der Reede zu, ob er dort wohl Bekannte antraf?
Mit rauher Stimme sprach ihn plötzlich ein alter Seemann an und reichte ihm die sonnengebräunte Hand.
„Ei, potz Tausend, Fred! - mein Junge, wie kommst du denn hierher - was machst du denn hier?"
„Guten Tag, Mister Bobbs!" rief Fred erfreut, der in dem Seemann einen alten Freund seines Vaters wiedererkannte, „seid Ihr auch wieder an Land?"
„Ja, mein Junge, wie du siehst. Nun, wie steht es, möchtest du nicht auch mal eine Seefahrt mitmachen? Jetzt wäre eine gute Gelegenheit . .
„Meine Eltern wollten das durchaus nicht haben, sie hatten viel zu viel Angst um mich. Aber nun - mein Vater ist gestorben, und ..."
„Wie? Dein Vater lebt nicht mehr, der gute Mann? Ach, das tut mir wirklich leid. Er fühlte sich schon nicht mehr so recht wohl, als ich das letzte Mal bei euch war. Doch daß das so schnell gehen würde, hatte ich nicht erwartet. Was hast du denn jetzt vor? Wie alt bist du jetzt?"
„Ich werde bald sechzehn Jahre."
„Dann wird es Zeit, daß du eine Teerjacke bekommst. Aber, Junge, was wird mit deiner Mutter?"
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