ISBN:9783861223450
Format:18 x 11 cm
Seiten:152
Gewicht:160 g
Verlag:Francke
Erschienen:1997
Einband:Taschenbuch
Was wir bei unserem Abschied Anfang April vorausgesehen haben, mein lieber Sohn, ist eingetreten. Seit Wochen werden keine Briefe mehr befördert, und es können Monate vergehen, ehe ich erfahre, wo Du bist, ehe ich Dir Nachricht geben kann. Da wir unsere Erlebnisse und Gedanken nicht austauschen können, will ich in großen Zügen festhalten, was um mich her und mit mir geschieht in diesen Wochen, um Dir eines Tages den Bericht in die Hände zu legen."
Dieser Bericht bildet den Inhalt des vorliegenden Buches, den die beliebte Autorin im Jahr 1945 für ihren Sohn Ekkehard niederschrieb. In fiktiven Briefen beschreibt sie ihr Erleben der schwierigen Nachkriegszeit.
Osterlau, den 18. Mai 1945 lagerten Betriebe nach Osterlau zu versetzen. Us weiß, wem er diese günstige Wendung verdankte. Jetzt versorgt er mich mit Fleisch und Kartoffeln und bringt mir Briketts aus dem Werkskeller, damit ich mir etwas kochen kann. Ich muß mich immer wieder wundern, mit wieviel Feingefühl Us seine Gaben überreicht.
Die ehemaligen Kriegsgefangenen und die Fremdarbeiter haben sich zusammengetan und auf die verschiedenen Lager in und bei der Stadt so aufgeteilt, daß sie jetzt nach Nationalitäten geordnet beisammen wohnen. „Du immer uns helfen, wir nix Geld, bitte Fleisch dafür nehmen", so sagt er mit verlegenem Lächeln.
In unserem Lager haben sich die Russen einquartiert. In dem ehemaligen Aufenthalts- und Eßraum der deutschen Arbeiter des Betriebes, der an meine Sanitätsstube und somit auch an meinen Wohn- und Schlafraum grenzt, haben die Ukrainer Betten aufgestellt. Ich muß also, um in mein Zimmer zu kommen, durch deren Schlafraum hindurch. Wenn wenigstens Mädchen dort untergebracht wären. So schreite ich jedesmal die Reihen der Männer ab, wenn ich ein und aus gehe.
Die Russen aus den anderen Lagern, die mich nicht von früher kennen, betrachten mich feindselig. Us, ein Ukrainer, hält sie in Schach. Us ist hier im Lager offensichtlich als Sprecher oder eine Art Lagerleiter von seinen Leuten gewählt worden. Mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis. Früher arbeitete er im Uerdinger Werk unseres Betriebes. Dort wurde er krank, und ich kümmerte mich um ihn wie um alle Kranken, die meiner Fürsorge anvertraut waren.
Nach einer Besprechung mit dem Uerdinger Lagerarzt empfahl ich der Werksleitung, Us aus gesundheitlichen Gründen bei Gelegenheit in einen der beiden ver- Merkwürdig und wunderbar zugleich, wie Gott für mich sorgt! Von dem Tage an, da die Frage nach dem täglichen Brot zu einem Problem wurde für die Deutschen in Osterlau und wohl auch anderswo, von dem Tage an brachte mir Us, was ich nötig hatte. Ja, Gott läßt seine Kinder von Raben speisen, wenn es not tut.
Dennoch kann ich hier auf die Dauer nicht bleiben, und ich überlege, was ich beginnen soll, um wieder zu geregelter Arbeit zu kommen. Nachts liege ich oft lange wach, und meine Gedanken wandern. Heute nacht trommelte der Regen auf das Holzdach über mir, und ich fragte mich, wo Du liegen magst, hungernd vielleicht und frierend. Wenn ich nicht die Zuversicht im Herzen trüge, daß Gott nichts umsonst tut, ich könnte um deinetwillen verzagen.