SCHLAGANFALL - ehe die Bombe fiel - stürmische Wasser - ein Schritt nach dem andern - Ankunft im Rehabilitationszentrum - mein erster Arbeitstag - ich rebelliere - Kameradschaft unter den Körperbehinderten - Probebesuch zu Hause - für immer zu Hause - der Chirurg versucht sich an mir - Tiefpunkt ist erreicht - es geht wieder aufwärts - in den Sonnenschein hinein
Es trug sich alles in dem Häuschen aus roten Ziegelsteinen zu, das unser Zuhause ist. Davor und dahinter waren weite Rasenflächen mit üppigen Bäumen und Sträuchern. In sonnigen Ecken versteckt oder längs der einladenden Pfade, die sich durch den eingezäunten Garten schlängelten, lagen sorgfältig gepflegte Blumenbeete. Jedes kleinste Unkrautpflänzchen, das sich dort hervorwagte, wurde von den beiden Junggesellinnen, die das Haus bewohnten und die in jedem Unkraut einen Todfeind sahen, sofort herausgerissen. Auch die Zinnien und Ringelblumen, die ein dürres Blatt oder eine verwelkende Blüte zu zeigen wagten, wurden energisch zurechtgewiesen - wie Kinder, die man dabei erwischte, daß sie mit offenen Schnürsenkeln oder mit hervorguckendem Unterrock herumlaufen.
Hier lebten meine Hausgenossin und treue Freundin Blanche und ich schon mehr Jahre zusammen, als wir beide uns gern eingestehen. Hier waren wir glücklich und zufrieden gewesen. Wir kannten beide die Schmerzen und Schwierigkeiten, die Freuden und persönlichen Erfolge, mit denen jedes Leben aufwartet. Aber jedes Erlebnis hatte uns um so mehr bereichert, als wir es miteinander geteilt hatten. Wir waren zu der Überzeugung gekommen, daß alles, was einer von uns begegnete, uns beide betraf. Und das machte uns glücklich. Natürlich hatte jede von uns ihr eigenes Zimmer. Aber eine geschlossene Tür bedeutete nichts anderes, als daß man einmal ganz für sich sein wollte. In der Küche, im Wohnzimmer und vor allem im Garten lebten wir in engster Kameradschaft zusammen.
Jede von uns hatte selbstverständlich ihre besonderen Neigungen und Abneigungen. Doch meistens gestaltete das unser Zusammenleben um so angenehmer und reizvoller. Blanche haßte zum Beispiel das Kochen, das mir sehr viel Freude machte, und mir war das Abwaschen zuwider, das Blanche bereitwillig übernahm. Rechnen jeder Art ist schon immer mein Waterloo gewesen; deshalb sorgte Blanche dafür, daß meine Buchführung stimmte und unsre monatlichen Rechnungen bezahlt wurden. Dafür nähte ich ihr die Knöpfe an, besserte ihre Wäsche aus und machte ihre Kleider je nachdem, wie es die Mode gerade verlangte, kürzer oder länger, eine Arbeit, die sie ganz besonders verabscheute. Wir fuhren beide gern Auto, und so wechselten wir alle Stunde den Platz hinter dem Steuer. Bei unsren manchmal sehr weiten Urlaubsreisen brauchte sich keine allzusehr an zustrengen, und jede konnte sich das Land, durch das wir fuhren, genauer ansehen. Vor allem aber liebten wir die gleichen Autoren und entwickelten ein gemeinsames Interesse für viele Gebiete: Archäologie, Natur, Biographie und Religion. An Winterabenden las Blanche oft laut vor, während ich an einem schwierigen Puzzlespiel saß.
So sah also in Kürze das Leben zweier Freundinnen aus, von denen die eine Lektorin war und die andere, eine ehemalige Lehrerin, jetzt zu Hause schriftstellerte. Dann stürzte der Himmel ein, * . Ich hatte einen schweren Schlaganfall, durch den meine linke Seite völlig gelähmt wurde. Auch die linke Halsseite war so stark betroffen, daß allein das Schlucken ein gewagtes Unternehmen war.
Nach diesem Schlaganfall war die Welt für uns beide nie wieder so wie vorher. Ich habe dieses kleine Buch aber geschrieben, um jedem skeptischen Opfer eines Schlaganfalls und denen, die den betroffenen Menschen lieben und betreuen, zu beweisen, daß es durchaus möglich ist, ein neues, wenn auch völlig anderes Leben aufzubauen, in dem man erfolgreich, zufrieden und mit Selbstachtung leben kann, wenn man nur will.
Dieses Aufbauen ist sowohl für den Betroffenen selbst als auch für die, die ihm helfen, eine sehr mühevolle, aber außerordentlich lohnende Angelegenheit. Es kann nicht in einem Tag, ja nicht einmal in einem Jahr geschafft werden, sondern zieht sich durch das ganze weitere Leben des Aufbauenden hin. Doch das Gefühl innerer Befriedigung, das jeder Bemühung folgt, entschädigt in reichem Maße für die körperlichen und seelischen Qualen. Den Preis kann man nicht drücken. Er muß voll bezahlt werden. Aber der kostbare Lohn ist dem gewiß, der sich genug um ihn bemüht.
Ich hoffe, meine zum Teil bestimmt ziemlich schlimmen Erfahrungen werden anderen Schlaganfallopfern zeigen, daß immer etwas übrigbleibt, womit man neu aufbauen kann, wenn man nur bereit ist, es zu versuchen. Dieser Bericht über solch ein Wagnis will auch deutlich machen, in welch hohem Maße die Liebe und das Interesse befreundeter Menschen einen vom Schlaganfall Betroffenen in dem Willen bestärken können, mit dem, was ihm geblieben ist, ein immer reicheres Leben zu führen. Mein Arzt drückte es so aus: „Wo ein wenig Fortschritt ist, und sei er noch so unscheinbar, da gibt es immer noch mehr zu erreichen."
Nun gibt es leider unter den Opfern des Schlaganfalls auch solche, die keine eigenen Anstrengungen machen können, weil sie ihr Bewußtsein völlig verloren haben. Sie haben keinen Willen, ja, sie wissen nicht einmal, wie schlimm es um sie steht. Aber alle, die einen Schlaganfall oder irgendeine andere Art von Lähmung so überlebt haben, daß wenigstens ein Teil des Hirngewebes erhalten geblieben ist, können den Weg zu einem befriedigenden Leben finden.
»Wo auch nur ein klein wenig da ist, kommt immer mehr dazu." Der Kranke darf niemals aufhören, zu hoffen und zu warten, daß „mehr dazukommt". Er muß sich durch jedes Versagen, durch jede Demütigung und auch durch gelegentliche Rückschläge hindurchkämpfen. Er muß das dünnste Fädchen Erfolg zu würdigen wissen, sich daran klammern und es fest in ein neues Leben hineinweben,
Ehe die Bombe fiel
Es war ein schöner Frühlingsabend. Blanche und ich gingen auf dem vorderen Rasenplatz eifrig dem Löwenzahn zu Leibe und schwatzten dabei wie gewöhnlich laut und lebhaft miteinander. Unser Gespräch brach plötzlich ab, als wir unsren Nachbarn, auf zwei Krücken gestützt, langsam vorüberhumpeln sahen. Er hatte im vergangenen Winter einen Schlaganfall erlitten und machte in der zeitig hereinbrechenden Dämmerung seinen gewohnten therapeutischen Spaziergang. Während wir uns wie immer munter einen Gruß zuriefen, drehte sich mir fast das Herz um vor Mitleid, und mir war, als sei es auf einmal eiskalt geworden.
ISBN: 9783789323508
Verlag: R. Brockhaus
Erschienen: 1985
Einband: Taschenbuch
Format: 20,5 x 13 cm
Seiten: 156