Herrlichkeit
©Ernst Paulus Verlag
1.
Die moralische Herrlichkeit oder mit anderen Worten der Charakter des Herrn Jesu als Mensch ist der Gegenstand der vorliegenden Betrachtung.
Alles in Ihm stieg als ein Opfer von lieblichem Wohlgeruch zu Gott empor. Jeder Ausdruck von dem, was Er war, wie unscheinbar er auch sein
und an welchen Umstand er sich auch knüpfen mochte, erwies sich als ein duftender Weihrauch. In Ihm, aber auch nur in Ihm, wurde der Mensch mit Gott versöhnt. In Ihm fand Gott wieder Sein Wohlgefallen an dem Menschen, und zwar mit einem unaussprechlichen Gewinn; denn in Jesu ist der Mensch mehr für Gott, als er es in einer Ewigkeit adamitischer Unschuld gewesen sein würde.
Obwohl ich völlig überzeugt bin, daß ich nur einen geringen Teil dieses bewunderungswürdigen Gegenstandes ans Licht stellen kann, hoffe ich dennoch, durch diese Zeilen in anderen Seelen nützliche Gedanken wachzurufen, und das wird immerhin von Segen sein.
Mit der Person des Herrn, als Gott und Mensch in einem Christus, wünsche ich mich zu beschäftigen, wie auch mit Seinem Werke, mit jenem leidensvollen Dienst, mit der am Kreuze geschehenen Blutvergießung, wodurch das Sühnungswerk vollendet wurde, das heute verkündigt wird zur Freude des Glaubens.
Die Herrlichkeit des Herrn Jesu kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Seine persönliche Herrlichkeit verhüllte Jesus, außer wenn der Glaube sie zu entdekken wußte oder das Bedürfnis des Augenblicks ihre Offenbarung nötig machte. Die Herrlichkeit Seiner amtlichen Würde verhüllte Er ebenfalls; Er durchschritt das Land weder als der aus dem Schoße des Vaters gekommene Sohn Gottes, noch als der mit Autorität bekleidete Sohn Davids. Diese beiden Seiten Seiner Herrlichkeit blieben meistens verdeckt, während Er Sich inmitten der mannigfaltigen Umstände des täglichen Lebens hienieden bewegte. Seine moralische Herrlichkeit aber konnte nicht verborgen bleiben: Er konnte in keiner Sache weniger als vollkommen sein, das war der Ihm eigene Charakter, es war mit einem Wort Er Selbst. Diese Herrlichkeit war infolge ihrer Vortrefflichkeit sogar zu blendend für das menschliche Auge, und der Mensch fühlte sich beständig durch sie bloßgestellt und verurteilt. Aber sie warf, mochte der Mensch sie ertragen können oder nicht, ihre Strahlen nach allen Richtungen hin; und jetzt erleuchtet sie die Blätter
der vier Evangelien, wie sie ehemals die Pfade erhellte, auf welchen der Herr hier wandelte.
Es hat jemand von dem Herrn Jesus gesagt, daß Seine Entwicklung als Mensch ganz natürlich gewesen sei. Diese Bemerkung ist sehr schön und wahr. Der letzte Vers des zweiten Kapitels in Lukas setzt dies außer allen Zweifel. Es gab in Jesu nichts von unnatürlichem Wachstum: Er nahm in allem zu in regelrechter Weise. Seine Weisheit hielt gleichen Schritt mit Seiner Statur und Seinem Alter; zuerst war Er ein Kind, dann ein Mann. Als Mann (als der Mann Gottes in dieser Welt) zeugte Er von der Welt, daß ihre Werke böse seien, und Er wurde von ihr gehaßt; aber als Kind (ich möchte sagen, als ein Kind nach dem Herzen Gottes) ist Er Seinen Eltern untertan und befindet sich unter dem Gesetz, und zwar als jemand, der vollkommen ist; und unter solchen Umständen nahm Er zu an Gunst bei Gott und den Menschen.
Aber obschon somit in Ihm ein Fortschreiten stattfand, zeigte sich doch niemals eine verdunkelnde Wolke, niemals etwas Verkehrtes, niemals ein Fehler; und das ist es, was Ihn von jedem anderen Menschen unterscheidet. Von Maria, Seiner Mutter, wird gesagt, daß sie alles, was über Jesum verkündigt worden war, „bewahrt und in ihrem Herzen erwägt" habe; und doch lagerten sich Wolken, Unruhe und selbst Finsternis um ihre Seele, so daß der Herr zu ihr sagen mußte: „Was ist es, daß ihr mich gesucht habt" (Luk 2, 49)? Bei Jesu hingegen zeigte sich das Fortschreiten stets in einer und derselben Form von moralischer Schönheit. Sein Wachstum war immer regelrecht und der Zeit gemäß, und ich darf hinzufügen, daß, so wie Seine Entwicklung als Mensch ganz und gar natürlich war, auch Sein Charakter in allen seinen Kundgebungen sich als durchaus menschlich erwies. Alles, was diesen Charakter offenbarte, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem Menschen eigentümlich.
Er war der „Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit" (Ps 1, 3). Alle Dinge sind nur schön zu ihrer Zeit.
Die moralische Herrlichkeit des „Kindes Jesu" prangte zu ihrer Zeit und an ihrem Platze; und als das Kind zum Manne geworden war, zeigte sich dieselbe Herrlichkeit unter anderen der Zeit gemäßen Formen. Wenn Seine Mutter ihre Ansprüche geltend machte, so wußte Er, wann Er ihnen genügen mußte; Er wußte auch, wann Er ihnen entgegenzutreten, und wann Er sie, selbst ungesucht, anzuerkennen hatte (Luk 2, 51; 8, 21; Joh 19, 27). Und überall, wo wir Seinen Schritten folgen, werden wir dasselbe finden. Er kannte Gethsemane zu seiner Zeit und nach seinem wahren Charakter, und Er kannte auch den heiligen Berg zu seiner Zeit: es waren die Zeiten des Winters und des Sommers für Seine Seele. Er kannte den Brunnen zu Sichar, wie auch den Weg, der Ihn zum letzten Mal nach Jerusalem führte. Er verfolgte jeden Pfad und füllte jeden Platz aus in einer Gesinnung, die stets in Übereinstimmung stand mit dem Charakter, den die Dinge in den Augen Gottes hatten. Und dies war auch bei solchen Gelegenheiten der Fall, in denen mehr Kraft und Energie erforderlich waren. Wenn es sich um die Entweihung des Hauses Seines Vaters handelte, so verwirklichte sich in Ihm das Wort des Psalmisten: „Der Eifer um dein Haus verzehrt mich"; und wenn Ihm von seiten der samaritischen Dorfbewohner ein persönliches Unrecht angetan wurde, ertrug Er alles und setzte ruhig Seinen Weg fort.
Alles war vollkommen, sowohl im Blick auf seine Zusammenstellung und Verbindung, als auch auf die passende Zeit. Er weinte am Grabe des Lazarus, obgleich Er wußte, daß Er das Leben für den Gestorbenen in sich trug. Und obwohl Er soeben erst gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben", vergoß Er doch Tränen. Die göttliche Macht in Ihm hinderte die menschlichen Sympathien nicht, frei und ungehindert auszuströmen. Und gerade diese Verschmelzung oder Vereinigung von Tugenden macht Seine moralische Herrlichkeit aus. Jesus wußte, um den Ausdruck des Apostels zu gebrauchen, „erniedrigt zu sein und Überfluß zu haben"; Er wußte ebensowohl die Augenblicke des Wohlstandes, wenn man sie so nennen darf, wie die Zeiten des Druckes zu verwerten; denn während Er dieses Leben durchschritt, wurde Er mit beiden Zuständen bekanntgemacht.
So wurde Er auf dem Berge der Verklärung für einen Augenblick
in Seine Herrlichkeit eingeführt; und das war in der Tat eine
glorreiche Stunde. Er erschien dort in der Majestät und in den Würden, die Ihm gebührten. Wie die Sonne, die Quelle alle' Lichts, so strahlte Sein Angesicht in überwältigendem Glanz; und ausgezeichnete Personen, wie Mose und Elias, standen Ihm zur Seite, indem sie Seine Herrlichkeit teilten und mit Ihm darin glänzten. Als Er aber von dem Berge herabstieg, befahl Er denen, die „Augenzeugen Seiner Majestät" gewesen waren, „niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten". Und als Er am Fuße des Berges angekommen war und die erstaunte Volksmenge zu Seiner Begrüßung zusammenrief (Mk 9, 15), und Sein Antlitz ohne Zweifel noch einen, wenn auch schwachen Nachglanz der Herrlichkeit, in der Er soeben gestrahlt hatte, zur Schau trug, verweilte Er doch keinen Augenblick, um die Huldigungen der Menge entgegenzunehmen, sondern wandte sich alsbald wieder Seinem gewöhnlichen Dienst zu; denn Er wußte „Überfluß zu haben", und das, ohne daß es Ihn hochmütig machte. Er suchte nicht einen Platz unter den Menschen, sondern Er entäußerte Sich, machte Sich Selbst zu nichts und verhüllte eilig Seine Herrlichkeit, um der Diener zu sein, welcher gegürtet, aber nicht mit Herrlichkeit bekleidet ist.
Ebenso war es mit Ihm, wie uns das zo. Kapitel des Evangeliums Johannes belehrt, bei einer anderen Gelegenheit, als Er aus den Toten auferstanden war. Wir sehen Ihn dort inmitten Seiner Jünger, bekleidet mit einer Herrlichkeit, wie sie dergleichen ein Mensch nie besessen noch angeschaut hatte. Er steht dort als der Überwinder des Todes, als der Zerstörer des Grabes; und dennoch, obwohl Er im Besitz solcher Herrlichkeiten war, ist Er nicht gekommen, um die Glückwünsche Seines Volkes, wie wir zu sagen pflegen, entgegenzunehmen, wie es naturgemäß jeder andere tun würde, der nach ausgestandenen Mühsalen und Gefahren und nach endlichem Sieg in den Schoß seiner Freunde und seiner Familie zurückkehrte. Nicht etwa als ob der Herr Jesus gegen Mitgefühl gleichgültig gewesen wäre; nein, Er verlangte vielmehr danach zu seiner Zeit, und Er entbehrte es tief, wenn Er es nicht fand. Aber jetzt, auferstanden aus den Toten, erscheint Er in der Mitte Seiner Jünger viel mehr wie einer, der sie für einen Tag besucht, als wie ein triumphierender Überwinder; und Er unterhält Sich mit ihnen weit mehr über das, was sie, als was Ihn direkt betraf in den großen Dingen, die sich soeben erfüllt hatten. Das hieß in der Tat von dem Siege einen Gebrauch machen, wie Abraham es tat, nachdem er die verbündeten Könige geschlagen hatte; und dergleichen tun zu können, ist, wie jemand mit Recht bemerkt hat, weit schwieriger, als den Sieg selbst zu erringen. Dies war es also wieder, zu wissen, „Überfluß zu haben".
Aber Jesus wußte auch, „erniedrigt zu sein". Betrachten wir Ihn z. B. bei den Bewohnern Samarias in Lk 9, 51 usw. Von vornherein versetzt Er Sich im Bewußtsein Seiner persönlichen Herrlichkeit in die Tage Seiner „Aufnahme"; und wie jemand, der als eine Person von Ansehen sein Herannahen ankündigt, sendet Er Boten vor Seinem Angesicht her. Jedoch der Unglaube der Samariter verändert den Zustand der Dinge; sie weigern sich, Ihn aufzunehmen. Sie wollen den Füßen des Herrn der Herrlichkeit keine gerade Bahn bereiten, und zwingen Ihn, als der Verworfene den bestmöglichen Pfad für sich ausfindig zu machen. Und diese Stellung, den Platz eines Verworfenen, nimmt Er sofort ein, ohne daß Sein Herz irgendwie darüber gemurrt hätte. Indem Er Sich als der Bethiehemit verworfen sieht, wird Er wieder der Nazarener (siehe Mt z); und Er trägt diesen neuen Charakter jenseits des samaritischen Dorfes ebenso vollkommen, wie Er Sich diesseits in jenem anderen Charakter gezeigt hatte.
So also wußte Jesus, „erniedrigt zu sein". Das gleiche finden wir in Mt 21. Er betritt Jerusalem als „der Sohn Davids"; alles was Ihn in dieser glorreichen Würde zu kennzeichnen vermochte, umringt und begleitet Ihn. Wie Er auf dem heiligen Berge in Seiner himmlischen Herrlichkeit erschienen war, so erscheint Er hier in Seiner irdischen Herrlichkeit, die Ihm von Rechts wegen gehörte; und wenn der Augenblick es erforderte, wußte Er sie in würdiger Weise zu tragen. Aber der Unglaube von Jerusalem, wie früher derjenige von Samaria, verändert die Szene; und Er, Der als König Seinen Einzug in die Stadt gehalten hat, ist gezwungen, sie wiederum zu verlassen, um sich gleichsam ein Nachtlager zu suchen, wo Er es am besten finden kann. Und so befindet Er Sich, indem Er wußte, „erniedrigt zu sein", wie einst außerhalb Samarias, so jetzt außerhalb Jerusalems.
Welch eine Vollkommenheit! Wenn die Finsternis das Licht der persönlichen und amtlichen Herrlichkeit Christi nicht erfaßt, so gibt das nur Seiner moralischen Herrlichkeit Gelegenheit, in um so hellerem Glanze hervorzustrahlen. Denn in sittlicher Hinsicht oder in einem menschlichen Charakter gibt es nichts Vortrefflicheres, als diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung unter die Menschen mit dem Bewußtsein einer durchdringenden Herrlichkeit vor Gott. Wir finden schöne Beispiele von dieser Verbindung in dem Leben etlicher Heiliger. Abraham war während seines ganzen Lebens freiwillig ein Fremdling unter den Kanaanitern, indem er weder einen Fußbreit Land besaß, noch nach einem solchen Besitz trachtete; aber wenn die Gelegenheit sich dazu darbot, verstand er es, sich über Könige zu setzen, in dem Bewußtsein seiner Würde vor Gott und nach dem Ratschluß Gottes. Jakob spricht von seiner Fremdlingschaft, von seinen Tagen, die „kurz und böse" gewesen seien, indem er sich so in den Augen der Welt zu nichts macht; aber zu gleicher Zeit segnet er den Mann, der damals der Höchste auf Erden war, wohl wissend, daß er selbst in den Augen Gottes der „Vorzüglichere" war. David bittet um einen Laib Brot, und er tut es, ohne sich zu schämen; zu gleicher Zeit aber nimmt er die einem König gebührende Huldigung entgegen und empfängt gleichsam aus den Händen Abigails den Tribut seiner Untertanen. Paulus ist mit Ketten gebunden, ein Gefangener im Hause des Landpflegers, und er spricht von seinen Banden; aber zugleich läßt er den Hof und die ihn umringenden Großen der römischen Welt wissen, daß er sich unter ihnen allen als den gesegneten, den allein glücklichen Menschen erkennt.
Diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung vor den Menschen mit dem Bewußtsein der Herrlichkeit und Würde vor Gott findet ihre
erhabenste, glänzendste, ja (wenn wir daran denken, wer Er war), ihre unendliche Offenbarung in unserem Herrn. Und es gibt in dieser
Fähigkeit, zu wissen, „Überfluß zu haben" und „erniedrigt zu sein", „satt zu sein" und „Mangel zu leiden", noch eine andere Schönheit;
denn sie sagt uns, daß das Herz dessen, der in diesen Dingen unterwiesen ist, sich viel mehr mit dem Endziel der Reise, als mit der Reise selbst beschäftigt. Wenn unser Herz an die Reise selbst denkt, werden wir ihre Mühseligkeiten und rauhen Wege sicher nicht gern haben; aber in dem Maß, wie wir das Ziel anschauen, werden wir über jene Dinge hinwegzusehen vermögen. Liegt hierin nicht für uns alle eine lehrreiche Unterweisung?
2.
Indes gibt es in dem Charakter des Herrn noch andere Verbindungen, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sicher war keiner unter den Menschensöhnen, wie jemand von ihm gesagt hat, so gnädig, so herablassend, so zugänglich wie Er. Man bemerkt in Seinem ganzen Wesen eine Zartheit und eine Freundlichkeit, die man vergeblich bei anderen Menschen suchen würde; und dennoch fühlt man immer, daß Er „ein Fremdling" hienieden war. Ja, ein Fremdling hienieden, ein Fremdling, insoweit der Gott widerstrebende Mensch den Schauplatz dieser Welt ausfüllte; aber sobald irgendein Elend oder ein Bedürfnis nach Ihm verlangte, zeigte Er Sich in vertraulicher Nähe. Die Distanz, in der Er Sich hielt, und die Vertraulichkeit, mit der Er nahte, beides war vollkommen. Er betrachtete nicht nur das Ihn umringende Elend, sondern Er nahm Anteil daran, und das mit einem Mitgefühl, das nur in Ihm Selbst seine Quelle hatte; und Er verwarf nicht nur die Ihn umringende Unreinigkeit, sondern Er erhielt auch den Abstand der Heiligkeit vän jeder Berührung mit dem Bösen und jeglicher Befleckung aufrecht.
Betrachten wir Ihn in dieser Distanz und in dieser Nähe, so wie uns das 6. Kapitel in Markus Ihn darstellt. Es ist eine rührende Szene. Die Jünger kehren nach ermüdendem Tagewerk zu Jesu zurück. Er ist besorgt für sie, nimmt Anteil an ihrer Müdigkeit, und im Blick auf sie sagt Er zu ihnen: „Kommet ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruhet ein wenig aus". Doch da die Volksmenge ihm bereits vorausgeeilt ist, wendet Er Sich mit derselben Liebe auch dieser zu, nimmt Kenntnis von ihrer Lage, und setzt Sich dann nieder,
um sie zu unterweisen, da sie in Seinen Augen wie Schafe waren, welche keinen Hirten hatten. In diesem allen sehen wir, wie der Herr Jesus den mannigfaltigen Bedürfnissen gegenüber, die sich vor Ihm erhoben, nahe war; mochte es sich um die Müdigkeit der Jünger oder um die Unwissenheit und den Hunger der Menge handeln. Er trug Sorge für das eine wie für das andere. Doch die Jünger, unzufrieden über die Sorgfalt, die Er der Menge widmet, fordern Ihn auf, sie zu entlassen. Das aber entspricht nicht den Gedanken des Herrn; und sofort bildet sich zwischen Ihm und Seinen Jüngern eine Entfremdung, die sich kurz nachher darin kundgibt, daß Er sie in ein Schiff zu steigen nötigt, damit sie vor Ihm an das jenseitige Ufer fahren sollten, während Er die Volksmenge entlassen will. Diese Trennung hat für die Jünger eine neue Not im Gefolge. Der Wind und die Wellen sind ihnen entgegen auf dem See; aber als die Gefahr aufs höchste gestiegen ist, erscheint Jesus wieder in ihrer Nähe, um ihnen zu helfen und ihnen Mut einzuflößen.
Welch eine Harmonie ist in dieser Verschmelzung von Heiligkeit und Gnade! Jesus ist uns nahe, wenn wir müde sind, wenn wir Hunger leiden oder uns in Gefahr befinden; aber Er ist fern von den Regungen unseres natürlichen Charakters, fern von unserer Selbstsucht. Seine Heiligkeit machte Ihn zu einem völligen Fremdling in einer unreinen Welt; Seine Gnade erhielt Ihn stets tätig in einer Welt voll Leiden und Bedürfnisse. Und gerade hierin zeigt sich die moralische Herrlichkeit des Lebens unseres Heilands in ganz besonderem Licht: obwohl Er durch den Charakter von dem, was Ihn umgab, notwendigerweise zu einem einsamen Mann wurde, veranlaßten Ihn dennoch das Elend und die Leiden um Ihn her, ununterbrochen tätig zu sein. Und da diese Tätigkeit sich allen Arten von Menschen gegenüber offenbarte, mußte sie sich auch in die verschiedensten Formen kleiden. Christus hatte mit Widersachern, mit einer Volksmenge, mit Seinen zwölf Jüngern und mit einzelnen Personen zu tun; und diese hielten Ihn nicht nur ununterbrochen, sondern auch auf mannigfaltige Art in Tätigkeit; und Er mußte wissen (und wußte es sicher in vollkommener Weise), welche Antwort Er einem jeden zu geben hatte.
Die Herrlichkeit Jesu Christi, unseres Herrn, als Mensch - Bellett J.G.
„Wenn jemand die Opfergabe eines Speisopfers dem HERRN darbringen will, so soll seine Opfergabe Feinmehl sein; und er soll Öl darauf gießen und Weihrauch darauf legen. Und er soll es zu den Söhnen Aarons, den Prie stern, bringen; und er nehme davon seine Hand voll, von seinem Feinmehl und von seinem iDI samt all seinem Weihrauch, und der Priester räuchere das Gedächtnisteil desselben auf dem Altar: es ist ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem HERRN" (3. Mo 2, 1. 2).1.
Die moralische Herrlichkeit oder mit anderen Worten der Charakter des Herrn Jesu als Mensch ist der Gegenstand der vorliegenden Betrachtung.
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Alles in Ihm stieg als ein Opfer von lieblichem Wohlgeruch zu Gott empor. Jeder Ausdruck von dem, was Er war, wie unscheinbar er auch sein
und an welchen Umstand er sich auch knüpfen mochte, erwies sich als ein duftender Weihrauch. In Ihm, aber auch nur in Ihm, wurde der Mensch mit Gott versöhnt. In Ihm fand Gott wieder Sein Wohlgefallen an dem Menschen, und zwar mit einem unaussprechlichen Gewinn; denn in Jesu ist der Mensch mehr für Gott, als er es in einer Ewigkeit adamitischer Unschuld gewesen sein würde.
Obwohl ich völlig überzeugt bin, daß ich nur einen geringen Teil dieses bewunderungswürdigen Gegenstandes ans Licht stellen kann, hoffe ich dennoch, durch diese Zeilen in anderen Seelen nützliche Gedanken wachzurufen, und das wird immerhin von Segen sein.
Mit der Person des Herrn, als Gott und Mensch in einem Christus, wünsche ich mich zu beschäftigen, wie auch mit Seinem Werke, mit jenem leidensvollen Dienst, mit der am Kreuze geschehenen Blutvergießung, wodurch das Sühnungswerk vollendet wurde, das heute verkündigt wird zur Freude des Glaubens.
Die Herrlichkeit des Herrn Jesu kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Seine persönliche Herrlichkeit verhüllte Jesus, außer wenn der Glaube sie zu entdekken wußte oder das Bedürfnis des Augenblicks ihre Offenbarung nötig machte. Die Herrlichkeit Seiner amtlichen Würde verhüllte Er ebenfalls; Er durchschritt das Land weder als der aus dem Schoße des Vaters gekommene Sohn Gottes, noch als der mit Autorität bekleidete Sohn Davids. Diese beiden Seiten Seiner Herrlichkeit blieben meistens verdeckt, während Er Sich inmitten der mannigfaltigen Umstände des täglichen Lebens hienieden bewegte. Seine moralische Herrlichkeit aber konnte nicht verborgen bleiben: Er konnte in keiner Sache weniger als vollkommen sein, das war der Ihm eigene Charakter, es war mit einem Wort Er Selbst. Diese Herrlichkeit war infolge ihrer Vortrefflichkeit sogar zu blendend für das menschliche Auge, und der Mensch fühlte sich beständig durch sie bloßgestellt und verurteilt. Aber sie warf, mochte der Mensch sie ertragen können oder nicht, ihre Strahlen nach allen Richtungen hin; und jetzt erleuchtet sie die Blätter
der vier Evangelien, wie sie ehemals die Pfade erhellte, auf welchen der Herr hier wandelte.
Es hat jemand von dem Herrn Jesus gesagt, daß Seine Entwicklung als Mensch ganz natürlich gewesen sei. Diese Bemerkung ist sehr schön und wahr. Der letzte Vers des zweiten Kapitels in Lukas setzt dies außer allen Zweifel. Es gab in Jesu nichts von unnatürlichem Wachstum: Er nahm in allem zu in regelrechter Weise. Seine Weisheit hielt gleichen Schritt mit Seiner Statur und Seinem Alter; zuerst war Er ein Kind, dann ein Mann. Als Mann (als der Mann Gottes in dieser Welt) zeugte Er von der Welt, daß ihre Werke böse seien, und Er wurde von ihr gehaßt; aber als Kind (ich möchte sagen, als ein Kind nach dem Herzen Gottes) ist Er Seinen Eltern untertan und befindet sich unter dem Gesetz, und zwar als jemand, der vollkommen ist; und unter solchen Umständen nahm Er zu an Gunst bei Gott und den Menschen.
Aber obschon somit in Ihm ein Fortschreiten stattfand, zeigte sich doch niemals eine verdunkelnde Wolke, niemals etwas Verkehrtes, niemals ein Fehler; und das ist es, was Ihn von jedem anderen Menschen unterscheidet. Von Maria, Seiner Mutter, wird gesagt, daß sie alles, was über Jesum verkündigt worden war, „bewahrt und in ihrem Herzen erwägt" habe; und doch lagerten sich Wolken, Unruhe und selbst Finsternis um ihre Seele, so daß der Herr zu ihr sagen mußte: „Was ist es, daß ihr mich gesucht habt" (Luk 2, 49)? Bei Jesu hingegen zeigte sich das Fortschreiten stets in einer und derselben Form von moralischer Schönheit. Sein Wachstum war immer regelrecht und der Zeit gemäß, und ich darf hinzufügen, daß, so wie Seine Entwicklung als Mensch ganz und gar natürlich war, auch Sein Charakter in allen seinen Kundgebungen sich als durchaus menschlich erwies. Alles, was diesen Charakter offenbarte, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem Menschen eigentümlich.
Er war der „Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit" (Ps 1, 3). Alle Dinge sind nur schön zu ihrer Zeit.
Die moralische Herrlichkeit des „Kindes Jesu" prangte zu ihrer Zeit und an ihrem Platze; und als das Kind zum Manne geworden war, zeigte sich dieselbe Herrlichkeit unter anderen der Zeit gemäßen Formen. Wenn Seine Mutter ihre Ansprüche geltend machte, so wußte Er, wann Er ihnen genügen mußte; Er wußte auch, wann Er ihnen entgegenzutreten, und wann Er sie, selbst ungesucht, anzuerkennen hatte (Luk 2, 51; 8, 21; Joh 19, 27). Und überall, wo wir Seinen Schritten folgen, werden wir dasselbe finden. Er kannte Gethsemane zu seiner Zeit und nach seinem wahren Charakter, und Er kannte auch den heiligen Berg zu seiner Zeit: es waren die Zeiten des Winters und des Sommers für Seine Seele. Er kannte den Brunnen zu Sichar, wie auch den Weg, der Ihn zum letzten Mal nach Jerusalem führte. Er verfolgte jeden Pfad und füllte jeden Platz aus in einer Gesinnung, die stets in Übereinstimmung stand mit dem Charakter, den die Dinge in den Augen Gottes hatten. Und dies war auch bei solchen Gelegenheiten der Fall, in denen mehr Kraft und Energie erforderlich waren. Wenn es sich um die Entweihung des Hauses Seines Vaters handelte, so verwirklichte sich in Ihm das Wort des Psalmisten: „Der Eifer um dein Haus verzehrt mich"; und wenn Ihm von seiten der samaritischen Dorfbewohner ein persönliches Unrecht angetan wurde, ertrug Er alles und setzte ruhig Seinen Weg fort.
Alles war vollkommen, sowohl im Blick auf seine Zusammenstellung und Verbindung, als auch auf die passende Zeit. Er weinte am Grabe des Lazarus, obgleich Er wußte, daß Er das Leben für den Gestorbenen in sich trug. Und obwohl Er soeben erst gesagt hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben", vergoß Er doch Tränen. Die göttliche Macht in Ihm hinderte die menschlichen Sympathien nicht, frei und ungehindert auszuströmen. Und gerade diese Verschmelzung oder Vereinigung von Tugenden macht Seine moralische Herrlichkeit aus. Jesus wußte, um den Ausdruck des Apostels zu gebrauchen, „erniedrigt zu sein und Überfluß zu haben"; Er wußte ebensowohl die Augenblicke des Wohlstandes, wenn man sie so nennen darf, wie die Zeiten des Druckes zu verwerten; denn während Er dieses Leben durchschritt, wurde Er mit beiden Zuständen bekanntgemacht.
So wurde Er auf dem Berge der Verklärung für einen Augenblick
in Seine Herrlichkeit eingeführt; und das war in der Tat eine
glorreiche Stunde. Er erschien dort in der Majestät und in den Würden, die Ihm gebührten. Wie die Sonne, die Quelle alle' Lichts, so strahlte Sein Angesicht in überwältigendem Glanz; und ausgezeichnete Personen, wie Mose und Elias, standen Ihm zur Seite, indem sie Seine Herrlichkeit teilten und mit Ihm darin glänzten. Als Er aber von dem Berge herabstieg, befahl Er denen, die „Augenzeugen Seiner Majestät" gewesen waren, „niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten". Und als Er am Fuße des Berges angekommen war und die erstaunte Volksmenge zu Seiner Begrüßung zusammenrief (Mk 9, 15), und Sein Antlitz ohne Zweifel noch einen, wenn auch schwachen Nachglanz der Herrlichkeit, in der Er soeben gestrahlt hatte, zur Schau trug, verweilte Er doch keinen Augenblick, um die Huldigungen der Menge entgegenzunehmen, sondern wandte sich alsbald wieder Seinem gewöhnlichen Dienst zu; denn Er wußte „Überfluß zu haben", und das, ohne daß es Ihn hochmütig machte. Er suchte nicht einen Platz unter den Menschen, sondern Er entäußerte Sich, machte Sich Selbst zu nichts und verhüllte eilig Seine Herrlichkeit, um der Diener zu sein, welcher gegürtet, aber nicht mit Herrlichkeit bekleidet ist.
Ebenso war es mit Ihm, wie uns das zo. Kapitel des Evangeliums Johannes belehrt, bei einer anderen Gelegenheit, als Er aus den Toten auferstanden war. Wir sehen Ihn dort inmitten Seiner Jünger, bekleidet mit einer Herrlichkeit, wie sie dergleichen ein Mensch nie besessen noch angeschaut hatte. Er steht dort als der Überwinder des Todes, als der Zerstörer des Grabes; und dennoch, obwohl Er im Besitz solcher Herrlichkeiten war, ist Er nicht gekommen, um die Glückwünsche Seines Volkes, wie wir zu sagen pflegen, entgegenzunehmen, wie es naturgemäß jeder andere tun würde, der nach ausgestandenen Mühsalen und Gefahren und nach endlichem Sieg in den Schoß seiner Freunde und seiner Familie zurückkehrte. Nicht etwa als ob der Herr Jesus gegen Mitgefühl gleichgültig gewesen wäre; nein, Er verlangte vielmehr danach zu seiner Zeit, und Er entbehrte es tief, wenn Er es nicht fand. Aber jetzt, auferstanden aus den Toten, erscheint Er in der Mitte Seiner Jünger viel mehr wie einer, der sie für einen Tag besucht, als wie ein triumphierender Überwinder; und Er unterhält Sich mit ihnen weit mehr über das, was sie, als was Ihn direkt betraf in den großen Dingen, die sich soeben erfüllt hatten. Das hieß in der Tat von dem Siege einen Gebrauch machen, wie Abraham es tat, nachdem er die verbündeten Könige geschlagen hatte; und dergleichen tun zu können, ist, wie jemand mit Recht bemerkt hat, weit schwieriger, als den Sieg selbst zu erringen. Dies war es also wieder, zu wissen, „Überfluß zu haben".
Aber Jesus wußte auch, „erniedrigt zu sein". Betrachten wir Ihn z. B. bei den Bewohnern Samarias in Lk 9, 51 usw. Von vornherein versetzt Er Sich im Bewußtsein Seiner persönlichen Herrlichkeit in die Tage Seiner „Aufnahme"; und wie jemand, der als eine Person von Ansehen sein Herannahen ankündigt, sendet Er Boten vor Seinem Angesicht her. Jedoch der Unglaube der Samariter verändert den Zustand der Dinge; sie weigern sich, Ihn aufzunehmen. Sie wollen den Füßen des Herrn der Herrlichkeit keine gerade Bahn bereiten, und zwingen Ihn, als der Verworfene den bestmöglichen Pfad für sich ausfindig zu machen. Und diese Stellung, den Platz eines Verworfenen, nimmt Er sofort ein, ohne daß Sein Herz irgendwie darüber gemurrt hätte. Indem Er Sich als der Bethiehemit verworfen sieht, wird Er wieder der Nazarener (siehe Mt z); und Er trägt diesen neuen Charakter jenseits des samaritischen Dorfes ebenso vollkommen, wie Er Sich diesseits in jenem anderen Charakter gezeigt hatte.
So also wußte Jesus, „erniedrigt zu sein". Das gleiche finden wir in Mt 21. Er betritt Jerusalem als „der Sohn Davids"; alles was Ihn in dieser glorreichen Würde zu kennzeichnen vermochte, umringt und begleitet Ihn. Wie Er auf dem heiligen Berge in Seiner himmlischen Herrlichkeit erschienen war, so erscheint Er hier in Seiner irdischen Herrlichkeit, die Ihm von Rechts wegen gehörte; und wenn der Augenblick es erforderte, wußte Er sie in würdiger Weise zu tragen. Aber der Unglaube von Jerusalem, wie früher derjenige von Samaria, verändert die Szene; und Er, Der als König Seinen Einzug in die Stadt gehalten hat, ist gezwungen, sie wiederum zu verlassen, um sich gleichsam ein Nachtlager zu suchen, wo Er es am besten finden kann. Und so befindet Er Sich, indem Er wußte, „erniedrigt zu sein", wie einst außerhalb Samarias, so jetzt außerhalb Jerusalems.
Welch eine Vollkommenheit! Wenn die Finsternis das Licht der persönlichen und amtlichen Herrlichkeit Christi nicht erfaßt, so gibt das nur Seiner moralischen Herrlichkeit Gelegenheit, in um so hellerem Glanze hervorzustrahlen. Denn in sittlicher Hinsicht oder in einem menschlichen Charakter gibt es nichts Vortrefflicheres, als diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung unter die Menschen mit dem Bewußtsein einer durchdringenden Herrlichkeit vor Gott. Wir finden schöne Beispiele von dieser Verbindung in dem Leben etlicher Heiliger. Abraham war während seines ganzen Lebens freiwillig ein Fremdling unter den Kanaanitern, indem er weder einen Fußbreit Land besaß, noch nach einem solchen Besitz trachtete; aber wenn die Gelegenheit sich dazu darbot, verstand er es, sich über Könige zu setzen, in dem Bewußtsein seiner Würde vor Gott und nach dem Ratschluß Gottes. Jakob spricht von seiner Fremdlingschaft, von seinen Tagen, die „kurz und böse" gewesen seien, indem er sich so in den Augen der Welt zu nichts macht; aber zu gleicher Zeit segnet er den Mann, der damals der Höchste auf Erden war, wohl wissend, daß er selbst in den Augen Gottes der „Vorzüglichere" war. David bittet um einen Laib Brot, und er tut es, ohne sich zu schämen; zu gleicher Zeit aber nimmt er die einem König gebührende Huldigung entgegen und empfängt gleichsam aus den Händen Abigails den Tribut seiner Untertanen. Paulus ist mit Ketten gebunden, ein Gefangener im Hause des Landpflegers, und er spricht von seinen Banden; aber zugleich läßt er den Hof und die ihn umringenden Großen der römischen Welt wissen, daß er sich unter ihnen allen als den gesegneten, den allein glücklichen Menschen erkennt.
Diese Verbindung einer freiwilligen Erniedrigung vor den Menschen mit dem Bewußtsein der Herrlichkeit und Würde vor Gott findet ihre
erhabenste, glänzendste, ja (wenn wir daran denken, wer Er war), ihre unendliche Offenbarung in unserem Herrn. Und es gibt in dieser
Fähigkeit, zu wissen, „Überfluß zu haben" und „erniedrigt zu sein", „satt zu sein" und „Mangel zu leiden", noch eine andere Schönheit;
denn sie sagt uns, daß das Herz dessen, der in diesen Dingen unterwiesen ist, sich viel mehr mit dem Endziel der Reise, als mit der Reise selbst beschäftigt. Wenn unser Herz an die Reise selbst denkt, werden wir ihre Mühseligkeiten und rauhen Wege sicher nicht gern haben; aber in dem Maß, wie wir das Ziel anschauen, werden wir über jene Dinge hinwegzusehen vermögen. Liegt hierin nicht für uns alle eine lehrreiche Unterweisung?
2.
Indes gibt es in dem Charakter des Herrn noch andere Verbindungen, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sicher war keiner unter den Menschensöhnen, wie jemand von ihm gesagt hat, so gnädig, so herablassend, so zugänglich wie Er. Man bemerkt in Seinem ganzen Wesen eine Zartheit und eine Freundlichkeit, die man vergeblich bei anderen Menschen suchen würde; und dennoch fühlt man immer, daß Er „ein Fremdling" hienieden war. Ja, ein Fremdling hienieden, ein Fremdling, insoweit der Gott widerstrebende Mensch den Schauplatz dieser Welt ausfüllte; aber sobald irgendein Elend oder ein Bedürfnis nach Ihm verlangte, zeigte Er Sich in vertraulicher Nähe. Die Distanz, in der Er Sich hielt, und die Vertraulichkeit, mit der Er nahte, beides war vollkommen. Er betrachtete nicht nur das Ihn umringende Elend, sondern Er nahm Anteil daran, und das mit einem Mitgefühl, das nur in Ihm Selbst seine Quelle hatte; und Er verwarf nicht nur die Ihn umringende Unreinigkeit, sondern Er erhielt auch den Abstand der Heiligkeit vän jeder Berührung mit dem Bösen und jeglicher Befleckung aufrecht.
Betrachten wir Ihn in dieser Distanz und in dieser Nähe, so wie uns das 6. Kapitel in Markus Ihn darstellt. Es ist eine rührende Szene. Die Jünger kehren nach ermüdendem Tagewerk zu Jesu zurück. Er ist besorgt für sie, nimmt Anteil an ihrer Müdigkeit, und im Blick auf sie sagt Er zu ihnen: „Kommet ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruhet ein wenig aus". Doch da die Volksmenge ihm bereits vorausgeeilt ist, wendet Er Sich mit derselben Liebe auch dieser zu, nimmt Kenntnis von ihrer Lage, und setzt Sich dann nieder,
um sie zu unterweisen, da sie in Seinen Augen wie Schafe waren, welche keinen Hirten hatten. In diesem allen sehen wir, wie der Herr Jesus den mannigfaltigen Bedürfnissen gegenüber, die sich vor Ihm erhoben, nahe war; mochte es sich um die Müdigkeit der Jünger oder um die Unwissenheit und den Hunger der Menge handeln. Er trug Sorge für das eine wie für das andere. Doch die Jünger, unzufrieden über die Sorgfalt, die Er der Menge widmet, fordern Ihn auf, sie zu entlassen. Das aber entspricht nicht den Gedanken des Herrn; und sofort bildet sich zwischen Ihm und Seinen Jüngern eine Entfremdung, die sich kurz nachher darin kundgibt, daß Er sie in ein Schiff zu steigen nötigt, damit sie vor Ihm an das jenseitige Ufer fahren sollten, während Er die Volksmenge entlassen will. Diese Trennung hat für die Jünger eine neue Not im Gefolge. Der Wind und die Wellen sind ihnen entgegen auf dem See; aber als die Gefahr aufs höchste gestiegen ist, erscheint Jesus wieder in ihrer Nähe, um ihnen zu helfen und ihnen Mut einzuflößen.
Welch eine Harmonie ist in dieser Verschmelzung von Heiligkeit und Gnade! Jesus ist uns nahe, wenn wir müde sind, wenn wir Hunger leiden oder uns in Gefahr befinden; aber Er ist fern von den Regungen unseres natürlichen Charakters, fern von unserer Selbstsucht. Seine Heiligkeit machte Ihn zu einem völligen Fremdling in einer unreinen Welt; Seine Gnade erhielt Ihn stets tätig in einer Welt voll Leiden und Bedürfnisse. Und gerade hierin zeigt sich die moralische Herrlichkeit des Lebens unseres Heilands in ganz besonderem Licht: obwohl Er durch den Charakter von dem, was Ihn umgab, notwendigerweise zu einem einsamen Mann wurde, veranlaßten Ihn dennoch das Elend und die Leiden um Ihn her, ununterbrochen tätig zu sein. Und da diese Tätigkeit sich allen Arten von Menschen gegenüber offenbarte, mußte sie sich auch in die verschiedensten Formen kleiden. Christus hatte mit Widersachern, mit einer Volksmenge, mit Seinen zwölf Jüngern und mit einzelnen Personen zu tun; und diese hielten Ihn nicht nur ununterbrochen, sondern auch auf mannigfaltige Art in Tätigkeit; und Er mußte wissen (und wußte es sicher in vollkommener Weise), welche Antwort Er einem jeden zu geben hatte.
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