Als das Leben begann

 Francke Buch ISBN: 3 88224 949 8
Als das Leben begann - Kristina Roy
Es war Abend, und die Sonne versank hinter den Bergen. Ich stand am Saum des kleinen Föhrenwäldchens und sah auf das slowakische Dorf Topolova hinab, das mir nun Heimat werden sollte. Obwohl es mir noch fremd war, erschien es mir in dieser Stunde wie ein Paradies. Die Bäume prangten jetzt, zur Herbstzeit, im schönsten Farbenschmuck, freundlich spannte sich der Himmel darüber, und still lagen die Wiesen. Doch im Gegensatz zu diesem harmonischen Bild der Natur ragte zwischen den niedrigen, mit Stroh gedeckten Hütten ein verwahrlostes Gebäude empor. Früher mochte es von einem Zaun umgeben gewesen sein, jetzt waren davon nur noch ein paar Pfähle zu sehen.
„Sicher das Schulhaus!" dachte ich mir. „Wenn es von außen so aussieht, wie wird es da drinnen zugehen? Was für Menschen werden das sein, die hier leben?"
Etwas beklommen ging ich hinunter ins Dorf und trat in die erste Hütte. Hier wollte ich fragen, wer mir den Schlüssel Zu meiner neuen Wohnstatt geben könne und ob meine Sachen, die ich schon vor einer Woche abgeschickt hatte, angekommen seien. Ich hatte jetzt nur ein Köfferchen mit den nötigsten Gegenständen und etwas Proviant bei mir.
Doch ich fand niemanden, dem ich meine Frage vortragen konnte. Die Hütte schien unbewohnt.
Ich trat in eine leere, verräucherte Küche. Neben der verlassenen Feuerstätte lag ein Bund frischen Strohs und auf ihm - ein Mann, ein Schlafender.
Schon wollte ich mich leise wieder zurückziehen, aber ein Blick in dieses Gesicht hielt mich fest. Wie wächsern blaß es war! Wie das eines Toten.

Ich trat näher an den Fremden heran, der, ein Soldat in abgetragener Uniform, hier ruhte. Ja, wirklich, hier lag ein Toter! Lag mutterseelenallein auf einem Häuflein Stroh. Seine Stirn war kalt, die Hände starr. Barmherziger Gott, wie mochte er hierher gekommen sein!
Jetzt kamen Schritte. Eine Frau betrat den Raum und blickte mich verwundert an. Ich grüßte und erklärte ihr, was mich hierhergeführt hatte.
„So, Sie sind also der neue Lehrer?" meinte sie erfreut. „Gut, daß ich Sie treffe! Den Schlüssel zum Schulhaus habe ich. Die Stube habe ich schon ein wenig gereinigt und wollte gerade frisches Wasser und Holz holen. Schon gestern, als Ihre Sachen gebracht wurden, haben wir Sie erwartet, aber es ist dann doch alles wieder liegengeblieben." Sie wies auf den Toten. „Ich konnte den Armen dort ja nicht gut allein lassen, obwohl er nichts mehr braucht. Der Herr Doktor und der Herr Richter werden auch gleich kommen. Unsere Männer haben es ihnen angezeigt, daß wir ihn heute mittag tot vorgefunden haben."
»Wer ist es denn?"
„Martin Zapola, der Eigentümer dieser Hütte. Er ist erst heute morgen aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen und war schon längst für tot erklärt. Sogar die Leichenpredigt hat ihm der Pfarrer schon gehalten. Erst waren Nachbarn heimgekehrt, die behaupteten, daß sie ihn unter den Toten gesehen hätten. Dann kam die amtliche Bestätigung an die Gemeinde und ans Pfarramt. Er hatte eine Frau, die sehr um ihn trauerte. Erst nach vierjahren hat sie sich mit einem Bahnangestellten verheiratet. Weil ein Sohn von ihm da ist, erlaubte die Obervormundschaft nicht, daß die Hütte verkauft wurde, und so stand sie leer. Und so fand er sie auch, aber Weib und Kind nicht mehr. Ich habe noch nie mals einen Menschen so weinen gesehen, wie er geweint hat. Wir konnten nicht erfahren, wie es möglich sei, daß er lebe. Wir riefen ihn zu uns, aber er wollte nicht. Nur ein wenig Stroh bat er sich aus, da er müde sei. Als wir nach Tisch kamen, um nach ihm zu sehen, fanden wir ihn so. Aber ich muß sagen, dem Armen ist wohl, denn mit solch einem Herzeleid hätte er nicht weiterleben können. Seine Frau hat mit ihrem zweiten Mann auch schon ein Kind. Sie sind ordentlich verheiratet. Was wäre das geworden?!"
Eine Weile schwiegen wir traurig, dann meinte ich: „Wissen Sie, ich werde bei diesem Bedauernswerten bleiben und warten, bis die Herren kommen. Seien Sie so gut und besorgen Sie inzwischen meine Sachen."
„Wenn Sie bleiben wollen, bin ich froh. Ich werde Sie nicht lange warten lassen."
Die Frau ging fort, und ich war allein mit dem Toten.
„Armer Mann", dachte ich, „wie magst du dich nach dieser Heimkehr gesehnt, wie magst du sie erbangt und erfleht haben, wie mag dir der Gedanke an Frau und Kind in Not und Entbehrung Trost und Halt gewesen sein, und dann diese Enttäuschung! Diese Enttäuschung, die dich vernichtete! Aber vielleicht war es gut so. Vielleicht weilst du nun dort, wo es keine Not und kein Leid mehr gibt. . ."
Ja, vielleicht! Wie aber, wenn dieser Soldat, was doch sehr wahrscheinlich war, sein Leben noch nicht mit Gott in Ordnung gebracht hatte, wenn er, statt erlöst, für ewig verloren war?
Eine Welle jähen Mitleids, ja der Angst erschütterte mich. Ich fand keine Ruhe bei dem Gedanken an den ewigen Tod dieses Mannes, und, wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, begann ich, Belebungsversuche anzustellen. Als ich dabei das Lid des rechten Auges zu öffnen suchte und mit
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meiner Taschenlampe hineinleuchtete, schien es mir, als wenn das Auge gar nicht gebrochen sei, sondern unter dieser Bewegung zusammenzucke. Das spornte mich an, nicht müde zu werden in meinen Bemühungen um das Leben dieses Menschen, und während ich tat, was meine Kraft vermochte, flehte ich um Kraft und Beistand von oben.
Da - wirklich - die Brust des Mannes hob sich, das Herz begann zu schlagen, es konnte keine Täuschung sein. Jetzt kam ein Stöhnen über seine Lippen: „Wasser!« Ich zog schnell meine Thermosflasche mit Kaffee hervor und träufelte ihm davon ein. Das warme, starke Getränk belebte den Geschwächten. Er öffnete die Augen und richtete sich überraschend schnell auf.
Ich vermochte dies Wunder kaum zu fassen und wußte nichts Besseres zu sagen als ein erstauntes: „Wie, wie geht es Ihnen?"
„Es ist wieder vorbei", antwortete er leise. „Ich danke Ihnen, Herr Lehrer, Sie haben mir das Leben gerettet."
Erschüttert kniete ich neben ihm nieder und dankte Jesus Christus für seine hier sichtbar gewordene Hilfe.
„Können Sie aufstehen?" fragte ich dann.
„Wenn Sie mir ein wenig helfen möchten, ja."
Ich half ihm, und bald ging er in der Küche umher.
„Bitte, kommen Sie mit mir ins Schulhaus", bat ich, „ich stütze Sie. Hier können Sie nicht bleiben."
‚ja", nickte er. „Sie haben recht. Wenn ich hierbliebe, würde alles Weh und damit auch der Herzkrampf wiederkehren."
„Also war es ein Krampf, der diesen Scheintod verursacht hat?"
‚ja. Im Krieg habe ich ihn infolge der schrecklichen Erlebnisse zum ersten Mal bekommen. Dann wieder während einer furchtbaren Schlacht. Damals wurde ich mit Leichen fortgeschafft. Daher die Nachricht von meinem Tod und mein Unglück jetzt. - Herr Lehrer, wenn Sie mir soviel Liebe erwiesen haben, dann nehmen Sie mich mit sich."
„Gerne, kommen Sie nur! Aber woher wissen Sie denn, daß ich der Lehrer bin?"
„Ich war in dem Krampfzustand bei Bewußtsein und hörte, wie Sie kamen und was die Nachbarin Ihnen erzählte. Ich hörte auch, wie Sie für mich beteten und voll Sorge um mich waren, daß ich nicht aus diesem Leid in das ewige Leid gehen möge. Und", fügte er leise und ernst hinzu, „ich wäre sicherlich dahin gegangen, wenn Sie mich gelassen hätten, denn ich bin ein schlechter, verdorbener Mensch."
Ich erlaubte ihm nicht, weiter zu reden, denn er geriet in innere Erregung, was in seinem schwachen Zustand nicht gut war. Als wir langsamen Schrittes zur Schule kamen, fanden wir die Frau von eben dabei, mein Bett zu machen. Erschrocken fuhr sie auf, als sie uns beide sah, und war zunächst keines Wortes mächtig. Rasch erklärte ich ihr, wie Zapola erwacht war. Dann aber fiel ihr etwas ein, sie lief hinaus und kehrte bald mit einem großen Bund Stroh zurück, den sie in einen Winkel auf den Fußboden legte. Ich nahm aus meinem Gepäck noch ein Bettuch, das sie darüber breitete.
Ich fand vom ersten Tag an keine Zeit, in dem neuen Haus über Langeweile zu klagen. In der Stube waren außer meinen Koffern und dem geöffneten Ballen Bettzeug sowie einem kleinen Koffer nur ein altes, wackeliges Bett, ein ebensolcher Tisch und Stühle. Das Bewußtsein, daß ich einen Menschen hier hatte, dem ich mit Gottes Hilfe das Leben retten durfte, erfüllte mein ganzes Denken. Wozu hatte ich ihm sein Leben retten dürfen? Gewiß nicht darum, ihn
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neuem irdischen Elend zuzuführen, sondern ganz gewiß doch nur, uni ihn auf die himmlische Heimat hinzuweisen und ihm den wahren Erlöser vor Augen zu stellen. Das würde neben meiner Arbeit als Lehrer hier im Dorf auch meine Aufgabe sein.
Erst am anderen Tag kam der Doktor, um den toten Soldaten zu besehen. Er war bei seinen Kranken über Land gewesen und hatte den vermeintlichen Toten darum noch eine Nacht sich selbst überlassen. Inzwischen hatte er schon von den Ereignissen erfahren. Er erklärte mir kurz sein verspätetes Kommen und bat um Aufklärung der Ereignisse von gestern.
Ich führte den Arzt zu Zapola, der, trotz seines Sträubens in meinem Bett lag und einigermaßen ausgeruht war, während ich mit dem Strohlager vorliebgenommen hatte. Anschließend winkte mich der Arzt allein zu sich.
„Sie haben den Mann ins Leben zurückgerufen, Herr Lehrer, aber kaum auf lange Zeit. Das Herz ist sehr schwach, die ganze Leibeshülle vollkommen erschöpft. Ich will ihn ins Krankenhaus bringen lassen und dafür sorgen, daß er erstklassige Kost bekommt. Er muß liegen und viel schlafen, vielleicht kann ihn das ein wenig wiederherstellen. Es ist nur schlimm, daß die Krankenhäuser jetzt alle durch Infektionskrankheiten überfüllt sind."
„Erlauben Sie, Herr Doktor«, unterbrach ich ihn. „Sie sagen, er werde nicht mehr lange leben. Was dieser Mann für den kurzen Rest seines Lebens braucht, ist Liebe. Die findet er im Krankenhaus nicht. Dort wird er erlöschen als einer von vielen. Dazu hat mir Gott nicht aufgetragen, ihn ins Leben zurückzurufen. Wenn er sich nur quälen soll bis zu seinem Tod, dann könnte er es schon überstanden haben,"
„Originell!" lachte der Doktor. „Es ist also etwas Beson-
deres, wozu Sie diesen Menschen wieder lebendig gemacht haben?"
‚ja, nämlich damit er erkennen möge, daß einer ihn liebt." „Sie etwa, oder wer sonst?"
„Gewiß, ich auch. Ich meine jetzt aber vor allem Jesus Christus, den Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist, sich gerade der Verlorenen anzunehmen und sie zu erretten. Lassen Sie also Zapola getrost bei mir."
‚ja, ja, damit Sie ihm wieder Ihr Bett überlassen und selber auf Stroh schlafen können!"
„Ich habe ausgezeichnet geschlafen", lachte ich fröhlich. „Mir macht das wenig aus."
„Sie sind ein sonderbarer Heiliger! Aber gesetzt den Fall, ich lasse Ihnen den Kranken hier: Womit wollen Sie ihn ernähren? Das Haus ist so wüst wie nach einer Plünderung, da wartet Ihrer ja die reinste Robinsonade. Oder hat man Ihnen etwa Ihr Gehalt auf ein halbes Jahr vorausbezahlt?"
„Das allerdings nicht. So schnell ist man da nicht bei der Hand, das wissen Sie ja auch. Aber mit Gottes Hilfe werden wir schon zurechtkommen."
„Ich sagte eben schon: Zapola muß erstklassige Kost haben. Wo wollen Sie die hernehmen?"
„Nun, so ganz ohne Mittel stehe ich nicht da."
„Aha, Sie sind also ein kleiner Krösus!« lachte der Doktor. „Nun, wenn Sie durchaus wollen —! Aber da bringt man Ihnen ja das Frühstück. Wohl bekomm's!"
Eine Nachbarin trat ein und unterbrach unser Gespräch. Während ich verschiedenes mit der Frau beriet und sie bat, unsere Bedienung zu übernehmen, bis sich die Verhältnisse ein wenig geordnet hätten, ging der Doktor noch einmal zu Zapola hinein.
„Ich schicke Ihnen Arznei und alles Nötige für den Kran-
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ken, vorläufig wäre er sowieso noch nicht transportfähig", sagte er beim Abschied. »Alles weitere werden wir ja sehen. Leben Sie wohl, Herr Krösus! Sollte Zapola den ganzen Tag schlafen, müssen Sie ihn gewaltsam wecken und ihm einige Löffel Suppe und alle zwei Stunden einen Löffel von dem Wein einflößen, den ich noch senden werde."
„Wenn ich wüßte, woran es liegt, daß die Zeit so schnell verfliegt«', so könnte ich singen, denn seit meiner Ankunft in Topolova sind schon vierzehn Tage vergangen. Was habe ich inzwischen alles erlebt, wieviel wunderbare Hilfe Gottes habe ich erfahren! Nicht nur Elias hatte seine Raben, sie fanden den Weg auch zu uns. Die ersten kamen aus der Küche der Frau Doktor und brachten einen Korb mit allerlei guten Sachen. Ihr Mann hatte einen Zettel dazu geschrieben, darauf stand: „Für Freitag und Robinson". Vielleicht wollte er damit sagen, daß Robinson die Absicht hatte, Freitag zu Gott zu führen wie ich Zapola zum Heiland führen wollte. Am Nachmittag brachten die Eltern ihre Kinder zum Einschreiben. Es war kein Haus in Topolova, das nicht vertreten war, denn alle hatten zum wenigsten den Wunsch, den Heimgekehrten zu sehen, den ich freilich, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht erfüllen konnte. Sie wunderten sich sehr, daß ich ihn wirklich bei mir behalten wollte, da ich doch nicht eingerichtet sei und niemanden habe.
„Wundert euch nicht", entgegnete ich mit freundlichem Ernst, „er ist mein unglücklicher Bruder, der ebenso niemanden hat wie ich. Wenn ich Hilfe brauche, werdet Ihr, meine Freunde, mir sicher gerne beistehen, nicht wahr!" Die Frauen versprachen es eifrig, die Männer drückten mir die Hand. Als ich mit dem Einschreiben der Kinder fertig war, wartete eine freudige Überraschung), auf mich. Die Frauen hatten die kleine Stube neben der Küche aufgewaschen und im Kachelofen angeheizt, denn draußen war es empfindlich kalt und drinnen infolge der Feuchtigkeit noch mehr. Als ich in die Stube trat, empfing mich nicht nur angenehme Wärme, sondern auch ein schön hergerichtetes Bett. Eine freundliche Alte stellte sich mir als die Witwe von Zapolas Onkel, also seine Tante, vor. Sie hatte das Bett für ihn herschaffen lassen. Es gehörte samt den Federbetten ihrer Tochter, die seit Jahren in Amerika lebte, die Sachen aber zurückgelassen hatte. Sie lieh uns auch eine Bank mit Lehne und einen kleineren Tisch.
Unter meiner Aufsicht betteten die Nachbarn den Kranken gegen Abend um. Inzwischen hatte Frau Zelka, die Nachbarin, meine Federbetten gelüftet und frisch überzogen, und die übrigen trugen auch mein Bett herüber, denn ich konnte und wollte den Kranken nachts nicht allein lassen. Großmutter Zapola brachte ein Körbchen mit frischen Eiern und etwas Milch. Bis zum Abend war meine Stube in eine Speisekammer umgewandelt mit Brot, Eiern, Käse, Butter, Obst, Mohn, Kartoffeln und sonst noch allerlei darin.
„Ich sage es ja, der richtige Robinson!" scherzte der Doktor am anderen Tag, als ich ihm unsere Schätze zeigte und mitteilte, daß Zapola heute von seiner Tante Hühnersuppe bekomme.
„Sehen Sie, Gott hat dafür gesorgt und wird auch weiter dafür sorgen, daß unser Patient seine erstklassige Kost bekommt!"
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