Endlich daheim

 Francke ISBN: 9 783861 229094
Endlich daheim Kristina Roy
Ja, so sind sie, unsere slowakischen Berge, dass du, wenn du sie durchwandern willst, weder Anfang noch Ende findest. Du erklimmst eine Höhe und siehst dahinter ein tiefes Tal, und wieder einen Berg und auch dahinter ein tiefes Tal, und wieder einen Berg und wieder ein Tal, und so ist's zur Rechten wie zur Linken und Reihe um Reihe. Und wenn du Weg und Steg nicht kennst, dann wage dich lieber nicht zu weit hinein; denn die Leute sagen zwar - ob das wahr ist oder nicht, weiß ich nicht, doch ich hörte es von Kind auf—, dass alle Wege nach Rom führen; aber das kann ich dir sagen: So viele Wege es auch gibt in unseren Wäldern, ein jeder fUhrt dich nur tiefer hinein und nicht wieder hinaus, es sei denn, du kehrst um.
Es ist so schön in unseren Wäldern, dass du dich nicht satt sehen kannst. Jeder Baum und jeder Strauch steht so an seinem Platz, dass du ihn dir gar nicht anderswo vorstellen kannst. Die großen, die sich der Sonne entgegenstrecken, breiten ihre dichten Kronen aus, als wollten sie die kleineren vor den Stürmen beschützen. Und gut ist es in unseren Bergen. Wenn du allein sein willst, kannst du stundenlang wandern und begegnest keinem Menschen, der dir ein böses Wort sagen oder einen unfreundlichen Blick

geben könnte. Wenn der Wind durch die Äste und Kronen der Bäume fährt, rauscht es über dir, und zu seinen Füßen murmeln die Bächlein. In den Tälern hallt es wider vom Gesang der Vögel, vom Summen der Bienen, der Hummeln und anderer Insekten. Willst du dich ausruhen? Sieh, dort findest du ein Lager auf weichem Moos! So sind unsere Wälder, wo die Hand der Menschen sie noch nicht unbarmherzig ausgerodet hat, wie ein schönes, geheimnisvolles Märchen. Wenn die Leute wüssten, was sie ihnen zu erzählen hätten, würden sie ihre Arbeit beiseite legen und ihren Geschichten lauschen. Nun, so will ich euch heute etwas von dem mitteilen, was die Wälder mir erzählten, als ich sie noch durchwandern konnte.
Sie erzählten mir einmal von Großmutter Mikula und ihren Kindern.
Großmutter Mikula wohnte seit ihrem 18. Lebensjahr unter dem Berg Plesivec, nicht weit von einer Lichtung, im letzten Häuschen der Kopanitzen von L. Schon mehr als hundert Jahre stand die Hütte an diesem Ort, wo sie der alte Matthias Mikula für seinen Sohn gebaut hatte, damit dieser als Waldhüter keinen weiten Weg in den Wald hätte. Damals noch zogen sich von Osten bis Westen in unübersehbaren Rei hen hohe, alte Stämme hin, gleich einem mächtigen Heer, die, als Großmutter Mikula unter den Plesivec kam, langsam hinsanken wie die Soldaten auf dem Schlachtfeld, und an jener Stelle entstand eine weite, sonnenbeschienene Lichtung. Heute, wo die Haare der Großmutter dem Schnee gleichen, der manchmal noch im August auf den Bergspitzen liegt, erhob sich auf der alten Lichtung ein) unger, frischer Wald mit zahlreichen Himbeer- und Brombeersträuchern und Haselstauden. Im Sommer war er mit Erdbeeren und zahlreichen Blumen übersät, denen, wie der Sohn Gottes sagt, selbst Salomos Pracht nicht gleich war.
So stand das Hüttlein der Mikulas in all diesen Jahren da, als sollte es in Ewigkeit so stehen bleiben, mit dem alten, krummen Birnbaum davor und dem windschiefen, dicht mit Moos bewachsenen Dach, das schon längst durch alte Pfosten oberhalb der Tür gestützt wurde. Aus der Hütte schauten zwei kleine Fenster in die Berge wie zwei alte Augen, die nicht mehr viel sahen.
Vor der Hütte stand eine farbige Bank. Sie musste aus gutem Holz sein, denn die Großmutter hatte schon als junge Frau darauf gesessen, und dann hatten ihre Kinder und später die
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Enkel auf ihrem Schoß gespielt. —Ach ja, zuzeiten war es in der Hütte und drum herum recht lebhaft gewesen. Gar oft sagten die Leute, die mit irgendeinem Anliegen zum Waldhüter kamen (denn dieses Amt vererbte sich in der Familie vom Vater auf den Sohn): „Leutchen, wo kriecht ihr nur alle unter? Ihr könnt euch ja drinnen kaum rühren!"
Aber sie kamen doch alle unter, wie die Küchlein, von denen selbst zwanzig unter den Flügeln der Glucke Platz finden. Und es wuchsen in der Hütte Burschen heran, so schmuck wie die Rosmarinzweige, und breit begehrt. Und ich weiß nicht, woran es lag, aber jeder Mikula bekam auch eine hübsche Frau. Auch die Großmutter war sehr hübsch gewesen. Außer ihrer Schönheit hatte sie Mikula zwar nichts in die Ehe gebracht; aber er bereute das bis zum Tode nicht. Er wusste, dass ihn gar mancher beneiden mochte, denn es gab eben nur eine Betuschka (Betty) Mikula.
Ja, das waren damals fröhliche Tage gewesen, aber was ist auf Erden nicht vergänglich? Erst zerstreuten sich die Kinder nach allen Seiten, die Töchter verheirateten sich, die Söhne lernten ein Handwerk, und keines kehrte mehr nach Hause zurück. Und dann trugen sie auch den alten Waldhüter Mikula ins Dorf hinab. Ein großer Zug gab ihm das Geleit; aber er kam nie wieder zur Großmutter heim; sie blieb allein. Dann kam ein Fieber über die Menschen, wie es hier noch nicht gewesen war; es riss einen jeden von seinen Lieben fort, auch Mutter Mikulas jüngste Tochter Anna mit ihrem Mann. Da sie mehrere Kinder hatten, ließ man der Großmutter das kleinste und schwächste. Aber die Großmutter zog es auf, und heute war es ihr eine gute Stütze und ein rechter Trost.
Sie hätte es niemals vier Stunden weit zur Schule schicken können, darum lehrte sie es selbst Lesen und Schreiben. Großmutter stammte aus einem großen Dorf und hatte einen klugen Vater gehabt. Der hatte sie im Lesen und Schreiben unterrichten lassen, und das war ihr bei ihren eigenen Kindern, besonders aber bei der kleinen Susanne, zugute gekommen. Das Kind war sehr schwach; es hatte erst spät laufen gelernt und wurde noch mit zehn Jahren leicht im Gehen müde; es hätte unmöglich den weiten Weg gehen können. Und die Großmutter hätte es auch nicht mit Schuhen und Kleidern versehen können. Aber als Susannka zwölf Jahre alt war, schickte Großmutter sie für ein halbes Jahr zu einer Nichte ins Dorf. Dort ging sie während
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des Winters zur Schule und zum Konfirmandenunterricht. Nach der Konfirmation kehrte sie wieder zur Großmutter zurück, die sich schon sehr nach ihr gesehnt hatte.
In ihrer Jugend hatte die Großmutter schön sticken können. Von weit und breit hatten die Frauen ihre Ärmel zu ihr getragen. Nun lehrte sie die Enkelin ihre Kunst, und da geschah es, was ja öfters vorkommt, dass die Schülerin die Meisterin übertraf. Das Kind stickte ganz wunderbar, als ob es mit der Nadel malte. Auch spinnen konnte Susannka und spann einen gar feinen Faden. Im Wald kannte sie jedes Kraut, sobald es ihr die Großmutter einmal mit Namen genannt hatte. So pflegten Großmutter und Enkelin einander gut. Susannka stickte, und die Großmutter hielt sich drei Schäfchen, eine Ziege und mehrere Hühner, ja auch Enten, weil ein Bächlein in der Nähe war. Der Wald gab ihnen allerlei Kräuter und Wurzeln, welche die Großmutter trocknete und bei anderen Frauen für Mehl und Getreide eintauschte, auch Erdbeeren, Himbeeren und Pilze. Der kleine Garten rings um die Hütte war vor Wind geschützt und trug so viel, dass sie den ganzen Winter frisches und getrocknetes Obst hatten.
In einem Jahr, als das Obst rar war, hatten sie
sich für den Erlös der Birnen und Äpfel Kleider und Schuhwerk kaufen können.
Wenn die Großmutter Zeit hatte, spann sie langsam; sie wollte für die Enkelin sorgen, dass diese nicht ohne Leintuch zurückbliebe, wenn sie einmal die Augen schlösse. Auch zwei hübsche Federbetten hatte sie ihr vorbereitet. Wenn sie im Winter oder auch im Sommer draußen beisammensaßen, dann erzählte die Großmutter der Enkelin gern von ihrer Jugend und wie sie hier mit dem Großvater in Liebe und Eintracht gelebt hatte. Gar oft, wenn sie die Enkelin loben wollte, sagte sie: „Mein Töchterchen, du kannst es nicht verleugnen, dass du Mikulas Enkelin bist; was du anfängst, das gelingt dir; so war er auch. Er brachte alles fertig. Er spann und konnte Wolle weben wie ein Weber, obwohl er dieses Handwerk niemals gelernt hatte. Alles Tuch für sich und die Knaben fertigte er selbst, und das hielt länger als das, was man heutzutage kauft. Kaum hat man's einige Male getragen, so sind schon die Ellenbogen und die Knie draußen. Ich habe noch ein Stück Tuch, das letzte, das er fertigte. Er brachte es gerade noch von der Mangel, bevor ihn die Krankheit erfasste. Oft schon wollte ich es verkaufen, aber ich kann mich immer nicht dazu entschließen.
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