Leid
Francke Buchhandlung ISBN 3 920345 72 X
Inhalt
Vorwort
Krankheit
Schwermut
Enttäuschung
Anfechtung
Familienprobleme
Ausweglosigkeit
Alter
Sterben
Krankheit
Warum läßt Gott zu, daß so viele Menschen unter quälenden Schmerzen leiden?
In einem Interview sagte ein Arzt:
„Durch die göttliche Einrichtung ‚Schmerz' kommt der Mensch dazu, über sich selbst nachzudenken. Das ist zwar nicht bei allen Menschen so, aber bei den meisten. In gesunden Tagen erkennen sie ihren Standort in der Welt meist gar nicht. Sie vegetieren. Durch den Schmerz werden .sie gezwungen, über sich selbst nachzudenken.
Aus der Sicht des Arztes: Der Schmerz ist für uns Mediziner eine äußerst wertvolle Einrichtung. Er zeigt uns genau: Hier ist etwas los. Durch ihn können wir meist Ort und Lage eines Krankheitsherdes genau feststellen. Je früher Schmerzen auftreten, desto schneller und vollkommener können wir helfen. Wenn die Menschheits-' geißel Krebs in ihrem Frühstadium schmerzhaft wäre, dann hätten wir sie längst in den Griff bekommen. Aber beim Krebs tritt der Schmerz meist erst dann auf, wenn es zu spät ist. Für mich als Arzt im besonderen, aber auch aus allgemein menschlicher Schau ist der Schmerz etwas durchaus Sinnvolles."
Es stimmt schon: Krankheit und Schmerzen nötigen uns, darüber nachzudenken, ob unser Leben den richtigen Kurs hat. In der Hektik der modernen Arbeitswelt und durch das Überangebot der Freizeitindustrie, das uns im wahrsten Sinne des Wortes „zerstreut", finden die meisten Menschen keine Zeit, um zu überprüfen, ob ihr Verhältnis zu Gott in Ordnung ist. Eine gefährliche Sache, denn die Bibel sagt uns deutlich, daß es dem Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach kommt das Gericht (Hebr. 9, 27).' Mit anderen Worten: Wir müssen früher oder später über unser Leben Rechenschaft ablegen. Weil Gott uns mit einem neuen Leben beschenken möchte, läßt er je und dann unfreiwillige Ruhepausen zu. Er will nicht quälen, sondern retten; will das Leben zielklar - auch unter Schmerzen - auf die Ewigkeit ausrichten, Sünde vergeben und mit einem Leben beschenken, das den Tod überdauert.
Meine Nervenerkrankung ist durch die ständige Behandlung mit Tabletten erträglich geworden. Aber immer dann, wenn ich mich in einem Kreis gläubiger Menschen endlich heimisch fühlte, spürte ich plötzlich Distanz. Man übersieht mich, ich spüre Ablehnung. Ein Gespräch mit dem jetzigen Prediger half mir auch nicht. Ich sehe mich nun gezwungen, die 'Gemeinschaft mit anderen Gotteskindern zu meiden.
Und genau das ist falsch, denn bekanntlich hat der Teufel mit uns ein leichtes Spiel, wenn es ihm gelingt, uns geistlich zu isolieren.
Ihr Problem muß unter zwei Gesichtspunkten gesehen werden. Wie Sie schreiben, ist Ihre Nervenerkrankung durch medikamentöse Behandlung einigermaßen erträglich geworden. Das ist die eine Seite. Die andere aber scheint mir darin zu bestehen, daß Sie empfindlich sind, sich vermutlich beobachtet fühlen, Distanz zu anderen spüren und meinen, man lehne Sie ab.
Vermutlich läßt sich nicht auseinanderdividieren, ob Ihre Empfindlichkeit durch die Nervenerkrankung verursacht ist oder umgekehrt, die Nervenerkrankung durch die Empfindlichkeit begünstigt wird. Wie dem auch sei: Tabletten allein schaffen es nicht. Empfindlichkeit und Kontaktschwäche - dafür wird man bei psychisch Kranken selbstverständlich Verständnis haben müssen - ist auch Sache einer Grundhaltung, die mit unserem Charakter - genauer: mit unserem angeborenen Egoismus - zusammenhängt.
Was ich jetzt sage, mag hart klingen, ist aber gut gemeint: Psychisch Kranke müssen aufpassen, daß sie sich nicht - vielleicht unbewußt - mit ihren Problemen interessant machen, beachtet sein wollen, sich in den Mittelpunkt drängen, kurz: Geltungsbedürfnisse abreagieren, die, genau besehen, nichts anderes sind als raffiniert getarnte Ichsucht, mit der man andere tyrannisiert.
Natürlich ist das ein Ausdruck dafür, daß man sich nicht geliebt fühlt und die vermißte Liebe mit allen nur erdenklichen Mitteln erzwingen möchte. Menschen, die Jesus Christus nicht kennen, tun das. Solche allerdings die ein persönliches Verhältnis zu Jesus Christus haben und wissen, daß Gott Liebe ist, können das Problem meistern, ohne daß sie sich in eine selbstgewählte Isolierung verkriechen.
Wie das geschehen kann?
1. Indem man auch zu einer Nervenerkrankung bewußt ja sagt und Grenzen respektiert. Dadurch hört die unbewußte Auflehnung gegen Gott auf.
2. Indem man sich selbst annimmt und nicht neidisch auf andere sieht, die anscheinend besser dran sind.
3. Indem man sich bewußt macht; die anderen sind nicht nur für dich da, sondern du auch für die anderen.
Konkret: Brechen Sie die Kontakte nicht ab, erbitten Sie sich von unserem Herrn die Kraft, auch vermeintliche Ablehnung zu ertragen, und suchen Sie in Abständen nach wie vor das seelsorgerliche Gespräch mit Ihrem Prediger.
Übrigens: Wie Sie wissen, können uns Empfindungen zuweilen arg täuschen. Wie schnell kann man schuldig werden, weil man nicht gewillt ist, die Dinge auch einmal objektiv zu sehen.
Alles in allem: Weil Jesus Christus Sie bedingungslos liebt und es auch in Zukunft tun wird, geben Sie die empfangene Liebe an andere weiter. Vergeben Sie ihnen im voraus. Vergessen Sie niemals, daß jeder von uns seine Probleme hat und auf Güte angewiesen ist. Akzeptieren Sie andere, so wie sie sind, in dem Wissen: Gottes Liebe kennt keine Grenzen. Gehen Sie in kleinen Schritten auch auf solche zu, die Ihnen unsympathisch sind. Eine gute Therapie, bei der man von seiner unerlaubten Empfindlichkeit geheilt wird.
Nach einer Zeit der aktiven Mitarbeit in der Gemeinde muß ich nun - bedingt durch meinen Gesundheitszustand - passiv sein. Das gefällt mir nun gar nicht! Zuweilen bedrängt mich die Frage, ob es wirklich Gottes Wille ist, daß ich schon so lange in dieser unfreiwilligen Ruhepause bin. Was will mir Gott damit sagen?
Jedes Wachstum vollzieht sich in bestimmten Phasen, die jeweils durch Zeiten scheinbarer Inaktivität gekennzeichnet sind. Und doch wird gerade in den Pausen, in denen nach außen hin kaum etwas geschieht, in Wirklichkeit eine neue Wachstumsstufe vorbereitet.
Der Roggenhalm beispielsweise wächst nicht ununterbrochen, sondern gleichsam in Schüben. Dazwischen liegen Ruhepausen, in denen sich Knotenpunkte bilden, die dem Halm die erforderliche Stabilität geben und zugleich den nächsten Schub vorbereiten. In diesen Knotenpunkten sammeln und konzentrieren sich jene Kräfte, die dann den Halm erneut nach oben treiben; sie sind also Vorbereitungsstadien für die nächste Wachstumsstufe.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wachstum des Glaubens. Die Zeit der Stille, in der scheinbar nichts geschieht, ist nötig, weil in dieser schöpferischen Pause die nächste Wachstumsphase eingeleitet wird.
Paulus hat nach der für ihn so entscheidenden Stunde vor Damaskus „alsbald« - so steht es in den älteren Lutberübersetzungen - damit begonnen, in den Synagogen Jesus Christus als den Sohn Gottes zu verkündigen. Sehr bald aber kam eine unfreiwillige Pause in Arabien, die drei Jahre dauerte. Vermutlich hat Paulus in dieser Zeit seine Christuserfahrungen nach den verschiedensten Seiten hin durchdacht und eingeordnet. Nicht nur das: Wir dürfen annehmen, daß er während der unfreiwilligen Pause in Arabien mit neuen Einsichten und Erkenntnissen beschenkt worden ist, die dann später bei der Verkündigung des Evangeliums seiner Botschaft die Durchschlagskraft gaben.
Ich könnte mir denken, daß Gott in Ruhepausen, die nicht in unsere Pläne passen und uns zuweilen zur Anfechtung werden können, für den nächsten Schritt vorbereitet und damit eine neue Wachstumsstufe des Glaubens einleitet. Sollten wir ihm nicht dafür danken?
Ich suche nach dem Sinn meiner Krankheit, ohne ihn zu finden. Wenn ich gesund wäre, brauchte ich doch meine Familie nicht so belasten. Wieviel Riiclesicht müssen meine Angehörigen nehmen auf meinen Gesundheitszustand. Und - zugegeben - manchmal bin ich über mich selbst ärgerlich, weil ich so ruppig und barsch zu ihnen bin.
Neuerdings spricht man immer häufiger von der sogenannten Gruppendynamik. Sechs bis acht Leute unterziehen sich freiwillig einer bestimmten Streßsituation und beobachten dann miteinander, wie der einzelne reagiert. Nicht selten kommt es dann, wenn die Leute erschöpft und nervlich gereizt sind, zu Haßausbrüchen. Man schreit sich an, ist wütend und aggressiv. Jetzt in der Streßsituation fallen die Masken, und man steht ungeschminkt so da, wie man wirklich ist. Dann wird nach den Ursachen der Aggressionen gefragt. Manche meinen, daß nicht wenige in solchen gruppendynamischen Experimenten wieder zu glücklichen Leuten werden können, weil sie die Möglichkeit haben, gleichsam alle Ventile zu öffnen.
Das ist ein gefährlicher Trugschluß, vor dem gewarnt werden muß, denn glücklich - genauer: heil - wird der Mensch erst in der Begegnung mit Gott. Zu dieser Begegnung aber kommt es weithin erst dann, wenn man über sich selbst erschrickt und nun weiß: So also bist du! Das alles sitzt sprungbereit in deinem Herzen!
Um das deutlich zu machen, läßt Gott je und dann auch eine Krankheit zu. In der Krankheit zeigt sich, wer wir sind. Masken fallen. Was man sonst unterdrückt, kommt nach oben. Manche stellen entsetzt fest: Im Grunde deines Wesens bist du ja gar nicht so nett, wie das andere sagen und wie du das von dir selbst auch meinst. Du bist ruppig, barsch, ungeduldig, aggressiv und benimmst dich wie ein ausgemachter Egoist.
Früher oder später muß Gott uns alle an diesen 'Tiefpunkt führen, um uns zu zeigen, daß wir Jesus Christus brauchen. Er macht nicht nur glücklich. Wenn er rettet, macht er heil. Er vergibt nicht nur den Neid - er befreit auch, und stärker als alle egoistischen Aggressionen ist seine Liebe, mit der alle beschenkt werden, die sich ihm anvertrauen. Auch das ist der Sinn der Krankheit. Müßten Sie nicht Ihre Situation auch von diesem Gesichtspunkt aus sehen und Konsequenzen ziehen?
Eine blinde Schülerin hat uns wie folgt geschrieben:
„Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen für das Leid, das, er mir auferlegt hat, denn nur so habe ich ihn finden können. Auch jetzt taucht noch manchmal die Frage auf: Warum muß gerade ich es sein? Weshalb bin ich blind? Wie leicht vergräbt man sich dann in Selbstmitleid! Gestern wurde mir klar: Alle meine Fragen und Zweifel kamen daher, daß ich zu wenig auf den Willen des Herrn gehört habe. Ich wollte versuchen, eigene Wege zu gehen. Wie froh bin ich, daß der Herr seine Kinder nicht losläßt - auch dann nicht, wenn sie in der Nachfolge untreu werden."
Ich bin schon lange krank, und ich habe mich mehr als einmal gefragt, warum Gott das alles geschickt hat: Schmerzen, Hilflosigkeit und. noch obendrein die Sorge, daß ich vielleicht niemals gesund, werde.
Die Bibel gibt auf solche und 'ähnliche Fragen eine breit gefächerte Antwort. Im Leid will Gott segnen. Auf diesen ‚gemeinsamen Nenner ‚ könnte man viele Aussagen des Alten und des Neuen Testaments bringen, die uns helfen wollen, schwere Lebensführungen richtig einzuordnen. Im 1. Petrusbrief 4, 1 heißt es: „Denn wer am Fleisch gelitten hat, der hat aufgehört mit der Sünde.".
In einer Briefzuschrift war zu lesen: „Vor vielen Jahren bin ich an einem Hüftleiden erkrankt. Dennoch bin ich meinem Herrn dafür dankbar,daß er mir dieses Leiden geschickt.hat. Manchmal schickt uns Gott die Krankheit, weil wir ihm sonst davongelaufen wären."
Ein Herzkranker, den ich gut kenne, sagte mir: „Das muß. so sein." Nach allem, was er mir dann im seelsorgerlidieri Gespräch anvertraute, verstand ich, was er meinte. Die Krankheit hinderte' ihn daran, sexuelles Abenteuer zu suchen.
Im Leid kann uns Gott also sehr wohl vor der Sünde bewahren. Letztlich natürlich muß Sünde immer an der Wurzel angefaßt werden und nicht nur durch. Umstände verhindert werden.
Ubrigens: wir leben in einer schnellebigen Zeit. Man kommt kaum noch zur Stille. Ergebnis: Man verliert immer mehr die Fähigkeit, auf die Impulse des Heiligen Geistes zu achten, verrennt sich in selbstgewählten Wegen, steckt eines Tages in der Sackgasse und zittert vor der Katastrophe. Niemand sollte sagen: »Das kann mir nicht passieren." Wir sind bekanntlich alle zu allem fähig. Gefährdet sind wir alle miteinander.
Könnte es nicht sein, daß uns Gott unfreiwillig Pausen auferlegt, damit wir ihm näher kommen?
Ein erfolgreicher Unternehmer teilte seinen Freunden und Bekannten mit: „Mein Kalender war mit Terminen gefüllt. Dann wurde ich durch eine schwere Erkrankung des Nervensystems auf das Wartegleis geschoben, aus der Aktivität und Vielgestaltigkeit des Lebens in die Stille der Krankheit geführt. Die Zeit - bisher immer zu kurz - steht im Übermaß zur Verfügung. Gott gibt Zeit, das Leben zu überdenken, Sinn und Zielrichtung des Lebens werden an göttlichen Maßstäben gemessen. Im christlichen Glauben habe ich jetzt den Ruhepol, der nicht nur in der gestaltenden Aktivität, sondern auch in der Krankheit Führung aus Gottes Hand erkennt. Nicht aus dem Verstehen, sondern aus dem Vertrauen auf diesen Gott kann das Ja kommen."
Zu diesem Ja finden wir eher, wenn uns bewußt wird, daß unser Herr auch in einer Zeit der Krankheit vor Sünde und Fehlentscheidungen zu bewahren weiß.
Unsere Tochter, begabt, lebensfroh und auch gläubig an Jesus Christus, ist schwer erkrankt und wird voraussichtlich das begonnene Studium nicht fortsetzen können. Es ist so schwer, sie zu trösten. Manchmal fehlen uns einfach die richtigen Worte.
Andere aufzurichten ist eine schwere Aufgabe. Man kann zwar viele gute und richtige Sätze sagen, merkt aber oft: Alles, was ich sage, kommt letztlich nicht an. Das kann enttäuschend sein.
In solchen Situationen sollten wir uns auf die Kraft des biblischen Wortes besinnen. Es vermag viel besser und umfassender zu trösten, als das die meisten für möglich halten. Menschliche Worte erreichen durchaus nicht alle Bewußtseinsschichten; Göttes Wort dagegen vermag selbst dort aufzurichten, wo wir mit allen unseren Bemühungen an letzte Grenzen stoßen. Und darum ist es gewiß nicht falsch, wenn wir betend und gezielt - und selbstverständlich der Situation angemessen - die eine und andere Stelle des Alten Testaments oder des Neuen Testaments sprechen lassen und, wenn nötig, auch durch eigene Erfahrungen erläutern. Wie oft wurden leidgeprüfte Menschen durch ein Wort der Heiligen Schrift mit neuem Lebensmut beschenkt.
Zu ihnen gehört auch ein junges Mädchen, das durch eine Gehirnembolie linksseitig gelähmt das Studium nicht fortsetzen- konnte, mir aber dennoch folgende Sätze zukommen ließ:
»Gelobt sei der Herr täglich! Gott legt uns eine Last auf, aber. er hilft uns auch! (Ps. 68, 20.) Diese Lasten scheinen manchmal über unser Vermögen zu gehen. Wir wehren uns gegen sie und tun das Menschenmögliche, um sie abzuschütteln. Ich bin überzeugt, die einzige Möglichkeit, darunter zu bleiben - für Wochen, für Monate, für Jahre, für das ganze Leben, lange Leben - besteht in dem Geheimnis: Gelobt sei der Herr täglich!« Inzwischen sind einige Jahre vergangen. Die Lähmung ist geblieben. Es gab viele unbeantwortete Fragen. Dennoch ist dieser Mensch geborgen in Jesus Christus - aufgerichtet durch das Wort Gottes.