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Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich für Wladimir Horowitz gearbeitet und für alle seine Konzerte und Aufnahmen die Flügel gestimmt. Diese Aufgabe «erbte» ich von Bill Hupfer, der fünfzig Jahre lang Cheftechniker bei Steinway und mit so berühmten Pianisten wie Paderewski und Rachmaninoff unterwegs gewesen war. Bill Hupfer war schon fast eine Institution; eine Legende. Ich begann bei Steinway zunächst als sein Assistent. Bill ging einmal im Monat zu Horowitz und nahm mich mit. Später ließ er mich dann allein gehen;
In jenen frühen Tagen bekam ich Horowitz nie zu Gesicht. Horowitz war sehr scheu und lebte betont zurückgezogen. Normalerweise schlief er bis weit in den Vormittag hinein und blieb, auch nachdem er aufgestanden war, im oberen Stockwerk. Während ich am Flügel arbeitete, brachte mir James, der äußerst distinguierte Butler der Horowitz', jeweils eine Tasse Tee auf einem silbernen Tablett. Ober Monate hinweg war er der einzige Mensch, den ich im Haus sah. Doch eines Tages kam schließlich. Horowitz selbst die Treppe herunter. Er schien mich zu mögen, und ganz allmählich wurden wir gute Freunde. Er setzte sich auf den Rand seiner Couch und redete und hörte mir zu, während ich seinen Flügel stimmte.
Das war in jenen stillen Jahren, als Horowitz nicht in der Öffentlichkeit auftrat. Allerdings spielte er während jener Zeit in den berühmten Columbia-Plattenstudios in der 30. Straße eine ganze Menge
Werke ein. Es war meine Aufgabe, ihn dorthin zu begleiten und mich um sein Instrument zu kümmern.
Oft wurde ich auch darum gebeten, neben Horowitz zu sitzen und ihm während des Spiels die Seiten umzublättern. Das war jedesmal eine sehr nervenaufreibende Angelegenheit, denn bei Horowitz wußte man nie, wann er explodieren würde.
Wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit nicht so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte (das eigene Spiel konnte ihn ebenso ärgern wie ein äußerer Umstand), bekam er einen Wutanfall. Und es konnte ihn alles ärgern - selbst ein schmutziges Glas oder ein staubiger Tisch in der Garderobe! Ich unterließ es dann tunlichst, etwas mit ihm zu reden - aus lauter Angst, ich könnte etwas Falsches sagen. Ich erinnere mich noch gut an einen bestimmten Tag, an dem er auf sich selbst so irrsinnig wütend wurde, weil ihm bestimmte Passagen, die er gerade spielte, nicht so gelingen wollten, wie er es sich vorstellte: Er schlug mit den Fäusten auf die Tastatur (er war sehr kräftig!), dann sprang er auf, rannte um den Flügel herum und schlug mit der Faust gegen die Stange, die den Deckel offenhält, so daß der Deckel mit Getöse herunter-krachte!
Zum Glück gingen solche Anfälle rasch vorüber. Danach beruhigte sich Horowitz jeweils schnell wieder. Aber an Aufnahmen war dann nicht mehr zu denken—er mußte aufhören und sich erholen. Einmal, als er im Studio in der 30. Straße einen Wutanfall hatte, rollten wir ein Bett für ihn herein, und er legte sich an Ort und Stelle hin, um sich auszuruhen.
Während einer Probe in der Carnegie Hall schrie er mich einmal dermaßen an, daß mir regelrecht übel wurde! Er machte immer ein Riesentheater um die genaue Position des Flügels; er schob ihn von hier nach dort und wieder zurück, einen Zentimeter in diese und einen in jene Richtung, etwas nach vorn, etwas nach hinten, etwas mehr zur Seite... Dann ließ er den Vorhang hinter der Bühne um eine Handbreit öffnen - und wieder schließen. Er probierte alles so lange aus, bis er vollständig zufrieden war.
An jenem Tag konnte er in der Carnegie Hall einfach keine Stelle finden, an der er mit der Akustik zufrieden war. Einer der Bühnenarbeiter schlug schließlich vor: «Maestro, am besten ist es, wir bewegen den Flügel, während Sie spielen, und Sie sagen uns dann, wo wir stillstehen sollen. Wir haben genug kräftige Männer hier. Vielleicht finden wir so die richtige Stelle.» Horowitz hielt das für einen guten Einfall, und so schoben ein paar der Männer, während er spielte, seinen Hocker und den Flügel herum
langsam, ganz langsam. Plötzlich rief Horowitz: «Hal! Halt!>' Er dachte, er hätte die richtige Position gefunden. Alles atmete erleichtert auf, und ich ging von der Bühne und setzte mich zu den anderen, die unten im Saal zusahen und zuhörten.
Doch auf einmal fing er an zu toben und zu schreien: <cFranz! Franz! Wo ist Franz? Ich falle von diesem Flügel herunter; dieser Flügel steht nicht gerade. Wo ist Franz? Wo steckt er denn? FRANZ!!!»
Während ich voller Panik auf die Bühne stürzte, überlegte ich fieberhaft: «Was meint er bloß mit <gerade>?» Neben ihm stand ein kleiner Beistelltisch mit einem Glas Wasser, und als er mich kommen sah, griff er nach dem Glas und wollte mit diesem nach mir werfen. Doch plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne und stellte das Glas zurück. Nun, wir besahen uns den Flügel von allen Seiten und schoben ihn ein bißchen nach hier, ein bißchen nach dort, nur einige Millimeter. Wir haben jedoch nie herausgefunden, was er eigentlich gemeint hatte und warum er explodiert war. So etwas konnte immer wieder passieren; ohne jegliche Vorwarnung.
Zwölf Jahre lang, von 1953 bis 1965, hielt sich Horowitz von der Konzertbühne fern Dann war ein Konzert in der Carnegie Hall angesetzt. Die Spannung war ungeheuer. Wenn einem Künstler von seinen früheren Konzerten und Plattenaufnahmen her ein solcher Ruhm vorauseilt, dann sind die Erwartungen riesengroß. Horowitz war damals so berühmt, daß sich vor der Kartenausgabe in der Carnegie Hall eine Schlange bildete bis in die West Fifty-seventh Street, dann um die Ecke zur Sixth Avenue und um den ganzen Block herum - und das zwei Tage, bevor der Vorverkauf begann! Als Horowitz davon hörte, daß die Leute so geduldig
darauf warteten, ihre Karten kaufen zu können, ließ er ein paar Lieferwagen kommen und in der ganzen Fifty-seventh Street Kaffee und Kuchen an die Wartenden verteilen!
Das nächste Konzert fand in der Orchestra Hall in Chicago statt. Horowitz trat immer nur sonntags auf, und die Generalprobe war jeweils am Samstag. Nach der Probe sagte seine Frau Wanda zu mir: «Für das Konzert ist alles in Ordnung. Ich habe zwei Karten. Wollen Sie sich nicht zu mir in die Loge setzen? Dann sitzen Sie auch einmal unter den Zuhörern!»
Wie alle Klavierstimmer saß ich sonst immer hinter der Bühne, um im Notfall sofort zur Stelle zu sein. Jenes Konzert in Chicago war das erste und letzte Mal, daß ich bei einem Auftritt von Horowitz im Publikum saß. Warum? Das will ich gleich erzählen! Die Atmosphäre war wie vor jedem Horowitz-Konzert voll gespannter Erwartung. Die Luft war wie elektrisch geladen, und alle waren furchtbar nervös. Ich war natürlich immer in besonderer Unruhe wegen des Flügels. Aber am angespanntesten war vermutlich Horowitz selbst
An jenem Abend in Chicago spielte er als erstes, Stück eine Haydn-Sonate. Danach ging er hinter die Bühne ... und kam eine ganze Weile nicht wieder zum Vorschein. Mir war schon etwas mulmig zumute, und ich fragte mich, was wohl los sei. Dann wurde die Tür zu unserer Loge geöffnet. Einer der Bühnenarbeiter steckte den Kopf herein und fragte: «Ist der Klavierstimmer hier?» Ich sprang auf und rannte so schnell ich konnte die Treppe hinunter, direkt hinter die Bühne. Als ich dort ankam, war Horowitz außer sich. «Franz», sagte er, «ich habe so. furchtbar falsch gespielt. Irgend jemand war an meiner Bank. Sie ist zu hoch!»
«Maestro», erwiderte ich, «was soll ich tun?»
«Nun, drehen Sie sie niedriger!» sagte er. «Drehen Sie sie niedriger.»
«Aber wieviel, Maestro?'>
Darauf zeigte er mir mit den Fingern etwa einen halben Zentimeter. Während also das Publikum darauf wartete, daß er sich wieder zeigen würde, trat nun ich im dunklen Anzug auf die Bühne.
Die Leute lachten und klatschten, so daß ich mich mehrmals verbeugte, während ich zum Flügel hinüberging und den Hocker etwa einen halben Zentimeter niedriger drehte - unter
dem anhaltenden Applaus des T Dann ging ich zurück
hinter den Vorhang, und Horowitz kam heraus und setzte sein. Konzert fort. Nach diesem Erlebnis setzte ich mich während eine Horowitz-Konzertes nie wieder in den Saal.
Normalerweise kann während eines Klavierkonzerts nicht viel schiefgehen; aber für den Notfall muß ich doch zur Verfügung stehen. In all den Jahren, in denen ich für Horowitz die Flügel stimmte, ist nur zweimal eine Saite gerissen. Einmal, während eines Auftritts in der Carnegie Hall, passierte es ihm sogar mitten im Stück. Die As-Saite der Kleinen Oktave riß mit einem lauten Knall. Er versuchte zwar weiterzuspielen, aber es war unmöglich. Denn die Saite lag quer über den anderen Saiten und verursachte ein summendes Geräusch. Ich saß hinter der Bühne und kam nun hervor, um die kaputte Saite zu entfernen. Da es für den Ton immer noch zwei Saiten gab, konnte Horowitz trotzdem weiterspielen.
Dasselbe passierte in Berlin. Doch hier muß ich etwas weiter ausholen. 1986 war Horowitz mit riesigem Erfolg in Berlin aufgetreten. Das nächste Konzert sollte vierzehn Tage später in Hamburg stattfinden. Ich wollte in der Zwischenzeit nach Hause fliegen und rechtzeitig zum Hamburger Konzert wieder in Deutschland sein. Doch kaum war ich vom Flughafen zu Hause angekommen - ich hielt den Koffer noch in der Hand -‚ da hörte ich von drinnen schon das Telefon klingeln. Der Anruf kam aus Berlin, von Peter Gelb, dem Manager von Horowitz.
«Franz», sagte er, «Sie müssen sofort zurückkommen. Horo-witz will am Samstag noch ein Konzert geben - - - Ja, natürlich, wenn Sie am Mittwoch wieder hier sind, ist das in Ordnung Oh, übrigens,
Horowitz hat Sie gerade berühmt gemacht. Er hat den Reportern gesagt, es hänge alles davon ab, ob Franz zurück-
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