Die Glocke von Saint-Paul
«Sie ist nicht mehr da, Monseigneur», stammelte der schreckensbleiche Abbe Vernon und ließ verzweifelt die Schultern sinken.
«Nicht mehr da?» fragte der Bischof, erstaunt aufhorchend, «was soll das heißen?»
«Daß sie verschwunden ist, Monseigneur, spurlos verschwunden.»
«Aber das ist doch nicht möglich... »
«Und dennoch ist es so. Mit diesen meinen eigenen Augen habe ich mich unter dem leeren Glockenstuhl davon überzeugt. Sie ist tatsächlich verschwunden.»
Der Bischof, der bisher am Schreibtisch gesessen, erhob sich und trat auf den ihn entgeistert anstarrenden Abbe zu. Unmut schob seine Brauen zusammen. «Aber eine Glocke pflegt doch nicht mir nichts, dir nichts zu verschwinden? Die trägt doch keiner so ganz einfach davon? »
Abbe Vernon zuckte die Schultern. «Und doch scheint sie fortgetragen worden zu sein.»
«Wie und wann wurde das festgestellt?»
« Monseigneur, es war den Ketzern doch befohlen, recht
zeitig auf Weihnachten hin die Glocke aus ihrem Tempel
herunterzuholen und für die Kathedrale auszuliefern? » «So hatten wir es angeordnet.»
«Und da wir bereits den 23. Dezember haben...»
«Es ist noch nicht Weihnachten, es bleibt ihnen also noch Zeit. »
«Monseigneur, es war aber nichts geschehen, was den Schluß zugelassen hätte, daß Ihrem Befehl auch wirklich nachgelebt wird.»
«Und weiter, was folgert Ihr daraus?»
« So habe ich mich denn verpflichtet gefühlt, vorsorglich bei Piffard vorzusprechen.»
« So ganz von Euch aus? »
«Monseigneur, es geschah in ehrlicher Besorgnis.» «Und was hat dieser Piffard gesagt?»
« C) Monseigneur, der Ketzerpfarrer hat sich, wie wäre
es anders möglich, geradezu empörend betragen.» « Und wie das? »
«Wenn wir die Glocke haben wollten, müßten wir uns schon selber um sie kümmern, hat er uns gesagt.»
«Unverschämt, das ist tatsächlich unverschämt. Und weiter? »
«Auf mein Drängen hin hat mich dann Piffard zum Tempel geführt. Mit einem diabolischen Grinsen, das mir nichts Gutes verhieß. Und dort habe ich entdeckt, nun eben, daß der Glockenstuhl leer, daß die Glocke nicht mehr da ist.»
« Daß die Glocke nicht mehr da ist. Daß sie von den Ketzern gestohlen wurde, daß sie sie irgendwo versteckt halten, daß sie sich geweigert haben, unseren Befehlen zu gehorchen. Daß sie sich der Insubordination schuldig gemacht haben, daß sie es wagen, sich über unsere Verfügungen lächerlich zu machen und damit unsere heilige Kirche zu verhöhnen.»
Hier unterbrach der Bischof, Louis Albe de Roquemartine, der 92. Bischof von Saint-Paul-TroisChäteaux, seine in leidenschaftlichem Ton vorgebrachte Anklage, preßte die Fingerspitzen seiner schönen Hände gegeneinander, atmete tief und hatte nachher, wenigstens äußerlich, seine Ruhe und seine Würde beinahe wiedererlangt. « Das wird seine Folgen haben, mein lieber Abbe. Wir danken Euch für Eure Besorgnis, die, wie mir scheint, unsere Kirche vor einer unwürdigen Situation bewahrt hat. Wir werden uns unverzüglich an den königlichen Kommissär wenden und ihn ersuchen, ein paar Kompanien seiner Soldaten in unsere von ketzerischem Unglauben verseuchte Stadt zu legen und den Anhängern der angeblich reformierten Religion ihren Hochmut und ihre Unverschämtheit auszutreiben.»
Abbe Vernon verabschiedete sich hastig, von einer Zentnerlast befreit und mit Genugtuung im Herzen, dieweil der Bischof, innerlich doch noch nicht völlig im Gleichgewicht, ans Fenster trat und in den Garten hinunterschaute, über den der in kleinen Flocken niederrieselnde Schnee bereits eine dünne Decke gebreitet hatte.
Der Bischof war sich der Tragweite seines Entschlusses durchaus bewußt. Durch seinen Befehl würde mit SaintPaul-Trois-Chäteaux die erste Stadt im Dauphine von königlichen Truppen heimgesucht werden. Ihm, dem Bischof Albe de Roquemartine, war es vorbehalten gewesen, die Brandfackel der öffentlichen Verfolgung in das Gezücht jener zu schleudern, die allen Rechtgläubigen ein Ärgernis, ja ein an Greuel bedeuteten. Sie hatten es gewollt, so sollten sie haben, was sie herausgefordert hatten. Was er heute, am 23. Dezember des Jahres 1682, auslöste, würde in die Geschichte eingehen. Er schloß die Augen und genoß ein paar Herzschläge lang das Bewußtsein der Macht, die ihm gegeben war.
Wenn auch die Glocke der Hugenotten verstummt war, so hatte sie nun doch noch das Sturmzeichen gegeben.
Im Jahre 1682 war, allerdings nur dem Buchstaben nach, das Edikt von Nantes noch immer in Kraft, mit dem Heinrich IV. im Jahr 1598 den Anhängern der reformierten Religion Freiheit in der Ausübung ihres Glaubens für alle Zeiten zugesichert hatte. Dieses Edikt war von Heinrichs Nachfolger, Ludwig XIII., feierlich bestätigt worden, und...