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Der Prozeß gegen Jesus ist zu einem zentralen Ereignis der Geschichte geworden. Ohne das Urteil eines Mannes wäre der Glaube, den heute eine Milliarde Menschen teilen, nicht entstanden; zumindest hätte er sich nicht so entwickelt, wie er es getan hat. Die Entscheidung des römischen Präfekten von Judäa an dem »Karfreitag« genannten Tage mag unter dem Druck des Augenblicks gefallen sein, aber sie war bedingt durch die turbulente Politik des Mittelmeerraums in jener Zeit. Was ist wirklich bei diesem berühmtesten aller Prozesse geschehen? Und welche Motive lagen dem Urteil des Pilatus zugrunde: Feigheit, Eigennützigkeit, Notwendigkeit? Woher kam dieser Mann, und was ist später aus ihm geworden, der, ohne es zu wissen, den Strom der Geschichte in eine neue Bahn lenkte? Dieses Buch gibt mehrere Antworten darauf.
Das Quellenmaterial über Pilatus reicht für eine Biographie nicht aus, ist aber für einen Roman im üblichen Sinn zu umfangreich. Es wird hier ein Kompromiß versucht, den man den dokumentarisch-historischen Roman nennen könnte. Dies schien die geeignete Form für einen Fall wie den des Pilatus, in dem es zwar an authentischem Material nicht mangelt, das aber trotzdem lückenhaft ist.
Als ich dieses Buch zu schreiben begann, habe ich zunächst einmal nach allen vorhandenen Fakten geforscht und sie dann zu etwas zusammengefügt, von dem ich hoffe, daß es die wirkliche Laufbahn von Pilatus überzeugend sichtbar macht. Als dokumentarischer Roman unterscheidet sich dieser Roman von den üblichen historischen Romanen darin, daß sich der Autor an die Tatsachen hält: das vorhandene Material wird hier unverändert benutzt. Anmerkungen über die bedeutungsvollsten und widersprüchlichsten Punkte der Forschung befinden sich am Ende dieses Buches. Die meisten von ihnen beziehen sich auf Originalquellen.
Der Genauigkeit wegen habe ich mich an folgende Regeln gehalten:
1. Alle in diesem Buch genannten Personen sind historische Figuren; kein Eigenname ist erfunden - wo er nicht bekannt ist, wird er nicht genannt.
2. Kein Porträt einer Persönlichkeit, keine Schilderung eines Ereignisses, keine Episode oder auch nur Einzelheit widerspricht bekannten historischen Tatsachen (es sei denn durch einen Irrtum des Autors.)
3. Nur wo jeder Beweis fehlt, ist die Geschichte »konstruiert«, beruht sie auf Wahrscheinlichkeiten, mit denen die Lücken gefüllt werden sollen. Aber selbst hier ist so viel authentisches historisches Material wie möglich verwendet worden, ebenso im Dialog.
Dieses Buch versucht, »die größte Geschichte, die je erzählt wurde«, von jenem Punkt aus zu erzählen, von dem aus sie kaum je erzählt worden ist.
Was in Palästina zu Anfang des 1. Jahrhunderts geschehen ist, wird meistens aus einer christlichen oder jüdischen - nicht römischen - Perspektive gesehen. Die Ereignisse in Judäa werden selten mit dem größeren Komplex verbunden, der die Provinz beherrschte: das Römische Reich. Aber der Höhepunkt des Lebens Jesu war nicht die Geschichte einer Stadt, sondern zweier Städte - Jerusalem und Rom. Und das ist der andere Teil der Geschichte.
P.L.M.Western Michigan University 22. Januar 1968
Erstes Kapitel
Trompetengeschmetter hallte durch Rom und grüßte den Sonnenaufgang am 1. April des Jahres 26. Es war das tägliche Signal, die Wasseruhren zu stellen - eine Freundlichkeit der Männer der Prätorianergarde, die in ihrem neuen Lager am Rande der Stadt Quartier bezogen hatte. Der Tag hatte schon eine Stunde früher mit dem ersten Schimmer der Morgenröte begonnen, als die Kaufleute ihre Läden öffneten; doch jetzt, als die Sonne über den östlichen Hügeln von Rom erschien, hörte man in der Stadt eine lärmende Sinfonie von Wagengeklapper, Hammerschlägen und Kindergeschrei; und nur in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten gestattete sich mancher den Luxus, bis sieben Uhr weiterzuschlummern; die späten Zecher freilich schliefen noch länger. Im übrigen nutzten die Bürger Roms jede Stunde, da es hell war, denn die Nächte waren dunkel und die Beleuchtung kärglich.
Von den Kommandohöhen seiner Palastterrasse auf dem Palatin blickte Tiberius Cäsar Augustus gelangweilt über seine laute Hauptstadt, halb hoffend, daß Rom mit dem Morgennebel verschwinde, daß alle vierzehn Bezirke der Stadt sich allmählich im Tiber auflösten und wie so viel anderer Unrat vom Mittelmeer verschluckt würden. Tiberius war jetzt gut zwölf Jahre Princeps, »erster Bürger«, Kaiser Roms, ein hohes Amt, das er seiner Anforderungen wegen weder genießen noch ohne Gefahr niederlegen konnte.
Sachlich und unbefangen Urteilende waren sich darin einig, daß Tiberius überraschend gut regiere, da er doch als Nachfolger seines Stiefvaters, des jetzt göttlichen Augustus, dessen Regierungszeit so glanzvoll gewesen war, einen alles andere als beneidenswerten Stand hatte. Zudem war Tiberius nicht gerade unter schmeichelhaften Umständen an die Macht gekommen, denn Augustus hatte sich erst für Tiberius entschieden, als die ursprünglich vorgesehenen Thronanwärter gestorben waren. Tiberius nährte in sich den dunklen Groll, nur ein »Ersatz-Kaiser« zu sein; er hörte zuviel auf das unvermeidliche Geflüster derer, die ihn mit Augustus oder den anderen Prätendenten verglichen, und brütete zuviel über den an ihm
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